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Baruch de Spinoza Theologisch-politische Abhandlung (Tractatus theologico-politicus)

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Baruch de Spinoza

Theologisch-politische Abhandlung

(Tractatus theologico-politicus)

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2Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung

Vorrede

Wenn die Menschen alle ihre Angelegenheitennach einem festen Plan zu besorgen vermöchten, oderwenn das Glück ihnen immer günstig wäre, so wür-den sie in keinem Aberglauben befangen sein. Alleinoft gerathen sie in Verlegenheiten, wo sie sich nichtzu rathen wissen, und meist verlangen sie nach denungewissen Glücksgütern so maasslos, dass sie jäm-merlich zwischen Furcht und Hoffnung hin und herschwanken, und ihre Seele deshalb Alles zu glaubenbereit ist. In solchen Zweifeln genügen schwacheGründe, um sie bald hier- bald dorthin schwanken zulassen, und in höherem Maasse geschieht dies, wennsie zwischen Angst und Hoffnung eingeklemmt sind,während sie sonst zuversichtlich, prahlerisch und auf-geblasen sind.

Ich meine, dies weiss Jedermann, obgleich die Mei-sten schwerlich sich selbst kennen mögen. Denn werunter den Menschen gelebt hat, weiss, wie im Glückselbst die Thörichten sich so von Weisheit erfüllt hal-ten, dass sie es übel nehmen, wenn man ihnen einenRath geben will. Aber im Unglück wissen sie nicht,wohin sie sich wenden sollen. Dann flehen sie Jedwe-den um Rath an und folgen selbst den verkehrtesten,unsinnigsten und eitelsten Vorschlägen. Ebenso

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genügen die geringsten Umstände, um sie auf Besse-res hoffen oder wieder Schlimmeres befürchten zu las-sen. Wenn ihnen, während sie in Furcht sind, etwasbegegnet, was sie an ein früheres Glück oder Unglückerinnert, so nehmen sie es für die Ankündigung einesguten oder übeln Ausganges der Sache, und wenn sieauch hundertmal betrogen worden sind, so nennen siees doch eine gute oder schlimme Vorbedeutung.Sehen sie etwas Ungewöhnliches, so staunen sie undhalten es für ein Wunderzeichen, was den Zorn derGötter oder des höchsten Wesens verkünde, und so-wohl die Abergläubischen wie die Ungläubigen mei-nen, es sei Unrecht, wenn man sie deshalb nicht durchOpfer und Gelübde zu versöhnen suche. Sie erdichtenin dieser Weise Unzähliges und erklären die Natur aufso wunderbare Weise, als wenn sie selbst mit ihnentoll geworden wäre.

Während sich dieses so verhält, sieht man, dass vorAllen Diejenigen am meisten allen Arten von Aber-glauben zugethan sind, welche das Ungewisse unmäs-sig begehren, und dass alle Menschen vorzüglichdann, wenn sie in Gefahr sind und sich nicht zu helfenwissen, mit Gelübden und weibischen Thränen diegöttliche Hülfe erflehen und die Vernunft blind unddie menschliche Weisheit eitel schelten, weil sie ihnenden Weg zur Erfüllung ihrer eitlen Wünsche nichtzeigen kann. Dagegen halten sie die Tollheiten,

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Träume und kindischen Einfälle ihrer Phantasie fürgöttliche Offenbarungen; sie meinen sogar, Gott hassedie Weisen und verkünde seine Beschlüsse nicht demGeiste, sondern habe sie den Eingeweiden der Thiereeingeschrieben, und Thoren, Wahnsinnige und Vögelverkündeten sie im göttlichen Anhauch und Instinkt.Zu solchem Wahnsinn treibt die Furcht den Men-schen; die Ursache also, aus der der Aberglaube ent-springt, durch die er erhalten und genährt wird, ist dieFurcht.

Verlangt man neben dem bereits Gesagten noch be-sondere Belege hierfür, so nehme man Alexander denGrossen; dessen Geist wurde erst dann von demAberglauben erfasst und wandte erst dann den Wahr-sagern sich zu, als er das erste Mal an seinem Glückin den Engpässen von Cilicien zu zweifeln begann.(Man sehe Curtius' Geschichte, Buch V. Kap. 4.)Nach Besiegung des Darius hörte er dagegen auf,Zeichendeuter und Wahrsager zu befragen, bis er wie-der durch die Unbill der Zeiten erschreckt wurde, alsdie Baktrier abgefallen waren, die Skythen ihn zumKampfe reizten, und er selbst erschöpft an einerWunde darnieder lag. Da, wie Curtius Bd. VII. Kap.7 sagt, »wandte er sich wieder dem Aberglauben, demSpielwerk des menschlichen Geistes, zu und hiess denAristander, dem er seine Leichtgläubigkeit mitge-theilt hatte, den Ausgang der Sache durch Opferthiere

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ermitteln.«Solcher Beispiele liessen sich noch die Menge bei-

bringen; sie zeigen auf das Deutlichste, dass die Men-schen nur in der Furcht dem Aberglauben sich erge-ben, dass Alles, was sie in solchem eiteln Glaubenverehrt haben, nur Phantasien und irrsinnige Einfälleeines traurigen und furchtsamen Gemüthes gewesensind, und dass die Wahrsager immer dann am meistendas Volk beherrscht haben und den Königen amfurchtbarsten gewesen sind, wenn die Noth des Staa-tes am grössten war. Allein ich enthalte mich dessen,da dies Jedermann genügend bekannt sein wird.

Aus dieser Ursache des Aberglaubens folgt offen-bar, dass die Menschen von Natur für Aberglaubenempfänglich sind, wenn auch Andere meinen, eskomme davon, dass die Menschen nur verworreneVorstellungen von Gott haben. Solcher Aberglaubemuss natürlich sehr wechseln und schwanken, wiealles Spielwerk des Geistes und wie die Anfälle derWuth. Er kann sich nur durch Hoffnungen, Hass,Zorn oder List schützen, weil er nicht aus der Ver-nunft, sondern nur aus einem blossen Affekt, undzwar einem sehr kräftigen entspringt. So leicht esdaher ist, die Menschen in jede Art von Aberglaubeneinzufangen, so schwer ist es, sie in demselben festzu-halten. Die Menge, die immer gleich elend bleibt,mag deshalb niemals lange bei einem Aberglauben

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aushalten; nur das Neue gefällt ihr am meisten, wasnoch nicht betrogen hat. Aus dieser Unbeständigkeitsind viele Aufstände und verheerende Kriege hervor-gegangen; denn, wie aus dem Obigen erhellt, undCurtius B. IV. Kap. 10 treffend sagt: »Nichts regiertdie Menge wirksamer als der Aberglaube.« Deshalblässt sie unter dem Schein der Religion sich verleiten,bald ihre Könige wie Götter anzubeten und bald wie-der zu verwünschen und als die gemeinsame Pest desMenschengeschlechts zu verfluchen.

Um diese Uebel zu vermeiden, hat man mit unend-licher Sorgfalt die wahre oder falsche Religion imäussern Gottesdienst und den Gebräuchen so ausge-schmückt, dass sie allen Verleitungen überlegen bliebund im höchsten Gehorsam von Allen gepflegt wurde.Am besten ist dies den Türken gelungen, die sogaralles Streiten darüber für Unrecht halten und den Ver-stand des Einzelnen mit so viel Vorurtheilen beladen,dass in der Seele für die gesunde Vernunft kein Platz,nicht einmal für den Zweifel, übrig bleibt.

Wenn es in monarchischen Staaten als das wichtig-ste Geheimmittel gilt, und es da vor Allem darauf an-kommt, die Menschen im Irrthum zu erhalten und dieFurcht, mit der man sie bändigt, unter dem glänzen-den Namen der Religion zu verhüllen, damit sie fürihre Sklaverei, als wäre es ihr Glück, kämpfen und esnicht für schmählich, sondern für höchst ehrenvoll

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halten, ihr Blut und Leben für den Uebermuth einesMenschen einzusetzen: so kann doch für Freistaatennichts Unglücklicheres als dies erdacht und versuchtwerden, da es der allgemeinen Freiheit geradezu wi-derspricht, wenn das freie Urtheil des Einzelnen durchVorurtheile beengt oder sonst gehemmt wird. JeneAufstände aber, die unter dem Schein der Religion er-regt werden, entspringen nur daraus, dass man überspekulative Fragen Gesetze erlässt, und dass blosseMeinungen wie Verbrechen für strafbar erklärt undverfolgt werden. Die Vertheidiger und Anhänger sol-cher Meinungen werden nicht dem Wohle des Staats,sondern nur der Wuth und dem Hasse der Gegner ge-opfert. Wenn nach dem Rechte eines Staates nurHandlungen verfolgt würden, Worte aber für straf-los gälten, so könnten solche Aufstände mit keinemRechtsvorwande beschönigt werden, und blosseStreitfragen würden sich in keine Aufstände verwan-deln.

Da ich das seltene Glück geniesse, in einem Frei-staate zu leben, wo Jeder die volle Freiheit des Ur-theils hat, wo er Gott nach seiner Ueberzeugung ver-ehren darf, und wo die Freiheit als das theuerste undliebste Besitzthum gilt, so schien es mir kein undank-bares noch unnützes Unternehmen, wenn ich zeigte,dass diese Freiheit nicht blos ohne Schaden für dieFrömmigkeit und den Frieden des Freistaats gewährt

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werden kann, sondern dass sie auch nicht aufgehobenwerden kann, ohne gleichzeitig diesen Frieden und dieFrömmigkeit aufzuheben. Dies ist es hauptsächlich,was ich in dieser Abhandlung darzulegen mir vorge-setzt habe. Zu dem Ende muss ich die erheblichstenVorurtheile in Betreff der Religion, d.h. die Spureneiner alten Knechtschaft andeuten; ebenso aber auchdie Vorurtheile in Betreff des Rechts der höchstenStaatsgewalt, welches Viele in ausgelassener Frech-heit sich zum grossen Theile anmassen, um unter demSchein der Religion die Gesinnungen der Menge, dienoch dem heidnischen Aberglauben ergeben ist,davon abzuwenden und Alles wieder in die Knecht-schaft zurückzustürzen. Die Ordnung, in der ich diesausführen will, werde ich mit wenig Worten angeben;vorher aber möchte ich die Gründe mittheilen, diemich zu dieser Schrift bestimmt haben.

Ich habe mich oft gewundert, wie Menschen, diesich rühmen, der christlichen Religion, also der Liebe,der Freude, dem Frieden, der Mässigkeit und derTreue gegen Jedermann, zugethan zu sein, vielmehr inUnbilligkeit mit einander kämpfen und täglich den er-bittertsten Hass gegen einander zeigen können. Mankann deshalb die Gesinnung des Einzelnen eher aussolchem Benehmen als aus jener Religion entnehmen,und es ist längst so weit gekommen, dass man dieChristen, Türken, Juden und Heiden nur an ihrer

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äusseren Tracht und Benehmen, oder nach dem Got-teshause, was sie besuchen, oder nach den Meinun-gen, an denen sie festhalten, und dem Lehrer, auf des-sen Worte sie zu schwören pflegen, unterscheidenkann, während der Lebenswandel selbst bei Allen dergleiche ist. Indem ich den Ursachen dieses Uebelstan-des nachspürte, schien er mir unzweifelhaft darausentstanden zu sein, dass es bei der Menge als Religi-on galt, wenn die Aemter der Kirche als Würden, ihrDienst als ein Einkommen behandelt, und ihre Geist-lichen mit Ehren überhäuft wurden. Als dieser Miss-brauch in der Kirche begann, so wurden gerade dieschlechtesten Personen von der Leidenschaft erfasst,die heiligen Aemter zu verwalten; der Eifer in Aus-breitung der göttlichen Religion artete in schmutzigenGeiz und Ehrsucht aus; der Tempel selbst wurdedamit zu einer Schaubühne, wo man nicht die geistli-chen Lehrer, sondern Redner hörte, denen es nichtauf Belehrung des Volkes ankam, sondern die nur be-wundert sein und die Andersdenkenden öffentlichblossstellen wollten. Man lehrte nur das Neue und dasnoch nicht Gehörte, was die Menge am meisten mitStaunen erfüllte. Daraus musste nothwendig vielStreit, viel Neid und Hass entstehen, der durch keinenZeitverlauf besänftigt werden konnte.

Es ist daher natürlich, dass von der alten Religionnur die äusseren Gebräuche geblieben sind, in denen

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die Menge Gott mehr zu schmeicheln als anzubetenscheint, und dass der Glaube jetzt in Leichtgläubig-keit und Vorurtheile sich umgewandelt hat; und inwelche Vorurtheile! In solche, die den vernünftigenMenschen zu einem Thiere machen, die verhindern,dass man sein Urtheil frei gebrauche und das Wahrevon dem Falschen unterscheide, und die absichtlichdazu ausgedacht sind, das Licht des Verstandes völligzu verlöschen. Die Frömmigkeit, o unsterblicherGott! und die Religion bestellt aus verkehrten Ge-heimmitteln; wer die Vernunft gänzlich verachtet undden Verstand wegen seiner natürlichen Verderbnissverwirft und verabscheut, der gilt, - und das ist dasHärteste, - als der Inhaber des göttlichen Lichts.Wenn sie nur einen Funken des göttlichen Lichts hät-ten, könnten sie nicht so frech wahnwitzige Redenführen, sondern würden lernen, Gott klüger zu vereh-ren; nicht durch Hass, sondern durch Liebe würdensie vor den Uebrigen sich auszeichnen; nicht mitfeindlicher Gesinnung würden sie Andersdenkendeverfolgen, sondern sich ihrer vielmehr erbarmen, inSorge um deren Heil und nicht um die eigne Macht.

Auch würde ihre Lehre es zeigen, wenn sie etwasvon dem göttlichen Licht besässen; allein ich sehewohl, dass sie die tiefsten Geheimnisse der Bibelimmer auf das Höchste bewundert haben, aber gelehrthaben sie nichts, ausser die Aristotelische und

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Platonische Philosophie, welche sie überdem, damites nicht scheine, sie folgten den Heiden nach, derBibel angepasst haben. Sie begnügten sich nicht, mitden Griechen wahnwitzig zu reden; sie wollten auch,dass die Propheten dasselbe gethan. Dies zeigt, dasssie die Göttlichkeit der Bibel nicht einmal im Traumerkannt haben. Je mehr sie deren Geheimnisse anstau-nen, desto mehr zeigen sie, dass sie an die Bibel nichtglauben, sondern ihr nur beitreten. Dies erhellt auchdaraus, dass man für deren Verständniss und die Er-mittelung des wahren Sinnes in der Regel als Grund-satz hinstellt, die Bibel sei überall wahrhaftig undgöttlich. Ein solcher Satz sollte nur in Folge derenVerständnisses und als Ergebniss einer strengen Prü-fung aufgestellt werden; aber statt dessen stellen siegleich an der Schwelle als Regel der Auslegung dashin, was weit besser erst aus der Bibel abgeleitet wer-den könnte, die der menschlichen Erdichtungen nichtbedarf.

Indem ich so bei mir erwog, wie das natürlicheLicht nicht blos verachtet, sondern von Vielen selbstals Quelle der Gottlosigkeit verdammt wird; wiemenschliche Erdichtungen für göttliche Lehren gelten;wie die Leichtgläubigkeit für Glauben gehalten wird;wie die Streitigkeiten der Philosophen in der Kircheund im Rathhause mit der grössten Leidenschaft ver-handelt werden, und daraus wüthender Hass und

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Unfriede, der die Menschen selbst bis zu dem Auf-stande treibt, und Anderes entsteht, das hier aufzuzäh-len zu lang sein würde: so beschloss ich, ernstlich dieBibel von Neuem mit vollem und freiem Geiste zuprüfen und nur das von ihr zu behaupten und als ihreLehre zuzulassen, was unzweifelhaft aus ihr sich er-giebt.

Mit solcher Vorsicht habe ich mein Verfahren fürAuslegung der heiligen Schriften eingerichtet, und aufsolches gestützt, habe ich vor Allem ermittelt, was dieWeissagung sei, und in welcher Weise Gott sich denPropheten geoffenbart habe, und weshalb diese vonGott erwählt worden; ob es wegen der erhabenen Ge-danken geschehen sei, die sie von Gott und von derNatur gehabt, oder blos um ihrer Frömmigkeit willen.Nachdem ich hierüber Gewissheit erlangt, konnte ichleicht erkennen, dass das Ansehn der Propheten nur inden Dingen Bedeutung hat, welche den Lebenswandelund die wahre Tugend betreffen, und dass im Uebri-gen ihre Ansichten uns nicht berühren.

Nach Feststellung dessen ermittelte ich weiter,weshalb die Juden die Auserwählten Gottes genanntworden sind. Als ich erkannte, dass dies blos gesche-hen, weil Gott ihnen ein besonderes Land auf dieserErde ausgewählt, wo sie sicher und gemächlich lebenkonnten, so erkannte ich auch, dass die von Gott demMoses offenbarten Gesetze nur das Recht des

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besonderen jüdischen Staats bezeichnen, weshalbNiemand ausser ihnen sie anzunehmen braucht, unddass selbst Diese nur für die Dauer ihres Reichesdaran gebunden waren.

Um ferner zu wissen, ob man aus der Bibel folgernkönne, dass der menschliche Verstand von Natur ver-derbt sei, so ermittelte ich, ob die katholische Religi-on oder das göttliche Gesetz, was durch die Prophetenund Apostel dem ganzen Menschengeschlechte geof-fenbart worden, von der verschieden sei, welche dasnatürliche Licht lehrt; und ferner, ob Wunder gegendie Ordnung der Natur geschehen sind, und ob dasDasein und die Vorsehung Gottes sicherer und klarerdurch Wunder bewiesen werde, als durch die Dinge,welche wir klar und deutlich nach ihren obersten Ur-sachen erkennen. So fand ich, dass in den ausdrückli-chen Lehren der Bibel nichts enthalten ist, was mitdem Verstande nicht Übereinstimmt oder ihm wider-spricht, und dass die Propheten nur ganz einfacheDinge gelehrt haben, die Jedermann leicht begreifenkonnte, und dass sie nur dieselben mit solchen Aus-drücken verziert und mit solchen Gründen unterstützthaben, welche die Gemüther der Menge am meistenzur Ehrfurcht gegen Gott bewegen konnten. Ich über-zeugte mich, dass die Bibel die Freiheit der Vernunftvöllig unbeschränkt lässt, dass sie nichts mit der Phi-losophie gemein hat, und dass sowohl diese wie jene

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auf ihren eignen Füssen steht. Um dies aber zweifel-los darzulegen und die Sache zu entscheiden, zeigeich die Art, wie die Bibel auszulegen ist, und wie dieganze Kenntniss von ihr und von den geistlichen Din-gen aus ihr allein und nicht aus dem, was man mitdem natürlichen Licht erfasst, abgeleitet werdenmuss.

Sodann decke ich die Vorurtheile auf, die darausentstanden sind, dass die Menge, welche dem Aber-glauben ergeben ist und die Religion der Zeit mehr alsdie Ewigkeit selbst liebt, lieber die Bücher der Bibelals Gottes Wort selbst anbetet. Demnächst zeige ich,dass das Wort Gottes nicht in einer bestimmten Zahlvon Büchern offenbart ist, sondern die einfache Vor-stellung des göttlichen Geistes ist, wie er sich denPropheten offenbart hat, und zwar dahin, Gott mitganzem Herzen zu gehorchen und die Gerechtigkeitund Liebe zu pflegen. Ich zeige, dass in der Bibel diesgemäss der Fassungskraft und Kenntniss Derer ge-lehrt wird, denen die Propheten und Apostel das WortGottes zu predigen pflegten, und dass sie es so gethanhaben, damit die Menschen es ohne Widerstreben undmit ganzem Gemüthe ergriffen.

Nachdem ich so die Grundlagen des Glaubens dar-gelegt habe, folgere ich, dass der Gegenstand der ge-offenbarten Erkenntniss nur der Gehorsam sei, unddeshalb von der natürlichen Erkenntniss sowohl dem

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Gegenstande, wie den Grundlagen und Mitteln nachgänzlich verschieden sei, mithin beide nichts mit ein-ander gemein haben, sondern jede ihr Reich ohnealles Widerstreben der andern besitze und keine dieMagd der andern zu sein brauche. Da ferner der Geistder Menschen verschieden ist, und dem Einen diese,dem Andern jene Meinung besser gefällt, und da das,was den Einen zum Glauben, den Andern zum Lachenbestimmt, so folgere ich ferner, dass Jedem die Frei-heit seines Urtheils und das Recht, die Grundlagendes Glaubens nach seiner Einsicht auszulegen, gelas-sen werden müsse, und dass der Glaube eines Jedennur nach seinen Werken, ob diese fromm oder gottlos,beurtheilt werden dürfe. Denn dann werden Alle vonganzem Herzen und frei Gott gehorchen können, undnur die Gerechtigkeit und Liebe wird bei Allen imWerthe stehen.

Nachdem ich diese Freiheit, welche das geoffenbar-te göttliche Gesetz Jedem gewährt, dargelegt, gehe ichzu dem zweiten Theil der Untersuchung über undzeige, dass diese Freiheit auch ohne Gefahr für denFrieden des Staats und die Rechte der höchstenStaatsgewalt bewilligt werden kann, ja muss, undohne Gefährdung des Friedens und ohne Schaden fürden Staat nicht genommen werden kann. Ich beginnezum Beweise dessen mit dem natürlichen Rechtejedes Einzelnen. Dies erstreckt sich so weit, als sein

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Begehren und seine Macht reicht, und Niemand istnach dem Naturrecht gehalten, nach eines AndernWillen zu leben, sondern Jeder ist Herr über seineFreiheit. Ich zeige ferner, dass Niemand dieses Rech-tes verlustig geht, ausser wenn er seine Macht, sich zuvertheidigen, auf einen Andern überträgt, und dassDerjenige nothwendig und unbedingt dieses natürli-che Recht erhalte, auf den der Andere das Recht, nachseinem Willen zu leben, zugleich mit der Macht, ihnzu vertheidigen, übertragen hat. Damit zeige ich, dassdie Inhaber der höchsten Staatsgewalt ein Recht aufAlles haben, so weit ihre Macht reicht; dass sie alleindie Bewahrer des Rechts und der Freiheit sind, unddass die Uebrigen in ihrem ganzen Handeln nur dieAnordnungen Jener zu befolgen haben. Allein da Nie-mand sich der Macht, sich zu vertheidigen, so bege-ben kann, dass er ein Mensch zu sein aufhört, so fol-gere ich daraus, dass Niemand seines natürlichenRechtes ganz beraubt werden kann, und dass die Un-terthanen Manches gleichsam nach dem Naturrechtbehalten, was ihnen ohne grosse Gefahr für den Staatnicht genommen werden kann, und was ihnen deshalbentweder stillschweigend zugestanden wird, oder wassie Denen gegenüber, die die Staatsgewalt inne haben,ausdrücklich sich vorbehalten.

Nach diesen Betrachtungen gehe ich auf den jüdi-schen Staat über und zeige, auf welche Weise und

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durch welche Beschlüsse die Religion hier die Krafteines Gesetzes zu erhalten begann, und erwähne danebenbei auch noch Anderes ausführlich, was desWissens werth ist. Demnächst zeige ich, dass die In-haber der höchsten Staatsgewalt nicht blos die Be-wahrer, sondern auch die Ausleger, sowohl von dembürgerlichen wie von dem geistlichen Recht sind, unddass sie allein befugt sind, zu bestimmen, was rechtund unrecht, was fromm und gottlos sein soll. Endlichschliesse ich damit, dass dieses Recht am besten be-wahrt und diese Herrschaft sicher erhalten werde, so-fern nur Jedem das, was er will, zu denken, und das,was er denkt, zu sagen gestattet ist.

Dies biete ich den philosophischen Lesern zur Prü-fung. Ich hoffe, sie werden es gern aufnehmen, da derGegenstand sowohl des ganzen Werks wie der einzel-nen Kapitel bedeutend und nutzbringend ist. Ichwürde noch mehr sagen, allein diese Vorrede sollnicht zu einem Bande anschwellen, und das Haupt-sächlichste ist ja bereits dem Philosophen genügendbekannt, während es nicht meine Absicht ist, denUebrigen diese Abhandlung zu empfehlen, da ihnenschwerlich darin etwas in irgend einer Beziehung ge-fallen wird. Denn ich weiss, wie hartnäckig gerade dieVorurtheile dem Geist anhaften, die unter dem Scheinder Frömmigkeit aufgenommen worden sind, und ichweiss auch, dass es gleich unmöglich ist, der Menge

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den Aberglauben wie die Furcht zu benehmen; ichweiss endlich, dass die Hartnäckigkeit der Mengezähe ist, und dass sie sich nicht durch die Vernunftleiten, sondern durch die Leidenschaft zum Lob undTadel hinreissen lässt. Ich lade deshalb den grossenHaufen und Alle, welche die gleichen Leidenschaftenmit ihm hegen, zum Lesen dieser Schrift nicht ein,vielmehr ist es mir lieber, sie legen sie ganz bei Seite,als dass sie sie wie Alles verkehrt auslegen und damitlästig fallen. Sie haben dann davon keinen Nutzenund schaden Anderen, die freisinniger philosophirenwürden, wenn sie nicht meinten, die Vernunft müssedie Magd der Theologie bleiben; denn Diesen würdesicherlich dieses Werk von grossem Nutzen sein.

Endlich haben vielleicht Viele weder die Müssenoch die Absicht, die ganze Schrift durchzulesen; ichmuss deshalb hier ebenso, wie es am Schluss dersel-ben geschehen ist, erinnern, dass ich Alles, was ichschreibe, gern und willig dem Urtheil der höchstenStaatsgewalt meines Vaterlandes unterbreite. Solltediese finden, dass das, was ich sage, im Widerspruchmit den Gesetzen des Landes stehe oder dein allge-meinen Wohl Schaden bringe, so will ich es nicht ge-sagt haben; denn ich weiss, dass ich ein Mensch binund irren kann. Indess habe ich mich ernstlich vor Irr-thümern zu bewahren gesucht und vor Allem gesorgt,dass Alles, was ich schrieb, mit den Gesetzen meines

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Landes, mit der Frömmigkeit und den guten Sittendurchaus übereinstimme.

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Erstes Kapitel

Ueber die Weissagung.

Weissagung oder Offenbarung ist die von Gottdem Menschen geoffenbarte sichere Erkenntniss einerSache. Prophet ist aber Der, welcher das von GottOffenbarte Denen erklärt, welche keine sichere Kennt-niss der von Gott geoffenbarten Dinge haben können,und die deshalb mit dem blossen Glauben die Offen-barungen aufnehmen müssen. Der Prophet heisst beiden Juden Nabi, d.h. Redner und Dolmetscher; aberin der Bibel gilt er immer als Dolmetscher Gottes, wieaus Exod. VII. 1. erhellt, wo Gott dem Moses sagt:»Siehe, ich bestimme Dich zu dem Gott des Pharao,und Dein Bruder Aaron wird Dein Prophet sein;« alswenn Gott sagte: Weil Aaron durch Verdolmetschungdessen, was Du sagst, an Pharao das Amt eines Pro-pheten übernimmt, wirst Du gleichsam der Gott desPharao sein, oder Der, welcher Gottes Stelle vertritt.

Ueber die Propheten werde ich in dem nächstenKapitel handeln; hier aber über die Weissagung. Ausihrer obigen Definition erhellt, dass die Weissagungeine natürliche Erkenntniss genannt werden kann.Denn das, was wir mit dem natürlichen Licht erken-nen, hängt blos von der Erkenntniss Gottes und

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seinem ewigen Rathschluss ab. Allein da diese natür-liche Erkenntniss allen Menschen gemein ist und vonden allen Menschen gemeinsamen Grundlagen ab-hängt, so wird sie von der Menge, die immer nachdem Seltenen und Unnatürlichen strebt und die natür-lichen Gaben verachtet, nicht hochgeschätzt, und des-halb soll sie von der prophetischen Erkenntniss ver-schieden sein. Die natürliche Erkenntniss kann jedochmit gleichem Rechte, wie jede andere, eine göttlicheheissen, da Gottes Natur, soweit wir daran Theilhaben und Gottes Rathschluss uns diese Kenntnissgleichsam mittheilt, und sie von der, welche allgemeinals die göttliche gilt, nur darin sich unterscheidet,dass letztere Über die Grenzen der natürlichen hinaus-geht, und dass die Gesetze der menschlichen Natur fürsich nicht ihre Ursache sein können. Allein rücksicht-lich der Gewissheit, welche der natürlichen Erkennt-niss beiwohnt und der Quelle, aus welcher sie sich ab-leitet, nämlich von Gott, steht sie in keiner Weise derprophetischen Erkenntniss nach, es müsste denn Je-mand meinen oder vielmehr träumen, dass die Pro-pheten zwar einen menschlichen Körper, aber keinemenschliche Seele gehabt, und dass deshalb ihrWahrnehmen und Wissen von ganz andrer Natur wiedas unsrige gewesen sei.

Allein wenn auch das natürliche Wissen göttlichist, so können doch die Verbreiter desselben keine

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Propheten genannt werden; denn das, was Jene lehren,können die übrigen Menschen mit gleicher Gewiss-heit und Selbstständigkeit wie Jene erfassen und auf-nehmen; des blossen Glaubens bedarf es dazu nicht.Da mithin unsere Seele dadurch allein, dass sie GottesNatur gegenständlich in sich enthält und an derselbenTheil nimmt, die Macht hat, Begriffe zu bilden, wel-che die Natur der Dinge darlegen und die Einrichtungdes Lebens lehren, so kann mit Recht die Natur derSeele in diesem Sinne als die erste Ursache der göttli-chen Offenbarung gelten; denn Alles, was wir klarund deutlich einsehen, theilt uns, wie gesagt, die Ideeund Natur Gottes mit; zwar nicht durch Worte, aberauf eine viel bessere Weise, die mit der Natur derSeele vortrefflich übereinstimmt, und Jeder, der dieGewissheit des Verstandes gekostet hat, hat unzwei-felhaft die eigne Erfahrung davon gemacht. Dies We-nige über das natürliche Licht mag hier genügen, dameine Absicht in dieser Schrift nur auf das gerichtetist, was die Bibel allein betrifft. Ich gehe deshalb zuden Ursachen und Mitteln über, durch welche Gottden Menschen das offenbart, was die Schranken dernatürlichen Erkenntniss überschreitet, und selbst das,was diese Schranken nicht überschreitet; denn nichtshindert Gott, den Menschen selbst das, was sie durchdas natürliche Licht erkennen, auch auf andere Weisemitzutheilen, darüber will ich nun ausführlicher

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handeln.Alles, was hierüber zu sagen ist, muss aber aus der

Bibel selbst entnommen werden. Denn was kann manüber Dinge, welche die Grenzen unsres VerstandesÜberschreiten, sagen, als das, was uns aus demMunde oder der Schrift des Propheten selbst verkün-det wird, und da es heutzutage, so viel ich weiss,keine Propheten giebt, so bleibt nur übrig, die vonden Propheten uns hinterlassenen heiligen Schriftenaufzuschlagen, und zwar mit dem Vorbehalt, dass wirüber dergleichen nichts aus uns selbst entnehmen,noch den Propheten etwas zutheilen, was sie nichtselbst deutlich erklärt haben. Hier ist es besonders er-heblich, dass die Juden niemals der Mittel oder derbesondern Ursachen erwähnen und sich darum küm-mern, sondern der Religion und Frömmigkeit halberoder, wie man gewöhnlich sagt, der Ehrfurcht wegenimmer Alles auf Gott unmittelbar beziehen. Z.B.wenn sie im Handel Geld gewonnen haben, so sagensie, Gott habe es ihnen zugewendet, und wenn sieetwas sich wünschen, so hat Gott ihr Herz bewegt,und wenn sie etwas denken, so heisst es: Gott habe esihnen gesagt. Deshalb darf nicht Alles, was nach derBibel Gott Jemand gesagt hat, für Weissagung undübernatürliche Erkenntniss gehalten werden, sondernnur das, wo die Bibel dies ausdrücklich sagt, oder dieUmstände der Erzählung klar ergeben, dass es eine

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Weissagung oder Offenbarung gewesen ist.Geht man nun die heiligen Schriften durch, so sieht

man, dass alle Offenbarungen Gottes an die Prophe-ten entweder durch Worte oder sichtbare Zeichen oderdurch Beides, Worte und Zeichen, geschehen sind.Diese Worte waren theils wirkliche, die der Prophetsich nicht blos einbildete zu hören oder zu sehen,theils waren sie eingebildete, indem die Einbildungs-kraft des Propheten auch im Wachen so beeinflusstwurde, dass er bestimmt glaubte, etwas zu hören oderzu sehen.

Mit wirklichen Worten hat Gott dem Moses dieGesetze geoffenbart, die er den Juden geben wollte,wie aus Exod. XXV., 22, erhellt, wo Gott sagt: »Undich werde bereit für Dich sein, und ich werde zu Dirsprechen von jener Seite des Zeltes, welches zwischenden beiden Cherubim ist.« Denn dieses zeigt, dassGott der wirklichen Worte sich bedient hat, da Moses,sobald er wollte, Gott daselbst zum Sprechen bereitfand. Dies allein waren wirkliche Worte, wodurchnämlich das Gesetz verkündet wurde, wie ich gleichzeigen werde.

Ebenso würde ich die Stimme, mit der Gott den Sa-muel rief, für eine wirkliche halten, weil es 1. SamuelIII. im letzten Vers heisst: »Und wiederum erschienGott dem Samuel in Shilo, weil Gott dem Samuel inShilo durch das Wort Gottes geoffenbart worden«, als

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wenn es hiesse: Gottes Erscheinung bestand für Sa-muel nur darin, dass Gott sich durch sein Wort ihmoffenbarte, oder dass Samuel Gott sprechen hörte. In-dess muss man, da zwischen der Weissagung desMoses und der übrigen Propheten ein Unterschied ge-macht werden muss, diese von Samuel gehörte Stim-me für eine eingebildete erklären; was auch daraus er-hellt, dass sie der Stimme des Heli, die Samuel vor-züglich zu hören pflegte, ähnelte; denn nachdem erdreimal von Gott gerufen worden, glaubt er, er werdevon Heli gerufen. Auch die Stimme, die Abimelechhörte, war eingebildet; denn es heisst Gen. XX. 6:»Gott sagte ihm im Traume u.s.w.« Deshalb konnte erden Willen Gottes nicht im Wachen, sondern nur imTraume hören, wo die Einbildungskraft am meistengeeignet ist, sich nicht vorhandene Dinge vorzustel-len.

Nach der Meinung einzelner Juden sind die Worteder zehn Gebote nicht von Gott gesprochen worden,sondern die Israeliten haben nur ein Getöse gehört,das keine Worte sprach, aber während dessen erfass-ten sie die zehn Gebote mit ihrem blossen Verstände.Auch ich habe früher dies geglaubt, weil die Worteder zehn Gebote im 2. Buch Mosis von denen im 5.Buch Mosis abweichen, und da Gott nur einmal gere-det hat, so scheinen deshalb die zehn Gebote nicht dieeignen Worte Gottes, sondern nur seinen Willen zu

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enthalten. Will man indess der Bibel nicht Gewalt an-thun, so muss man zugeben, dass die Israeliten einewirkliche Stimme gehört haben. Denn es heisst Deut.V. 4 ausdrücklich: »Von Angesicht zu Angesicht hatGott mit Euch gesprochen;« d.h. so, wie zwei Men-schen ihre Gedanken gegenseitig vermittelst ihrer bei-den Körper sich mitzutheilen pflegen. Es wird des-halb mehr mit der Bibel übereinstimmen, anzuneh-men, dass Gott wirklich eine Stimme erzeugt hat, wel-che die zehn Gebote offenbarte. Weshalb aber dieWorte und Gründe derselben in dem einen BucheMosis von denen in dem andern abweichen, wird spä-ter im achten Kapitel dargelegt werden. Indess istauch damit nicht alle Schwierigkeit gehoben; denn esläuft gegen die Vernunft, anzunehmen, dass ein er-schaffenes Ding, was ebenso wie alles Andere vonGott abhängt, das Wesen oder Dasein Gottes durchseine Person in Thaten oder Worten auszudrückenoder zu erklären vermöchte. Es heisst nämlich in er-ster Person: »Ich bin Dein Jehova«. Und wenn auchunter dem durch den Mund gesprochenen Wort: »Ichhabe erkannt«, Niemand den Mund, sondern die Seeledes sprechenden Menschen versteht, so gehört dochder Mund zur Natur des so sprechenden Menschen,und auch der, dem es gesagt wird, hat die Natur derSeele gekannt und versteht die Seele des sprechendenMenschen leicht durch Vergleichung mit sich selbst.

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Allein wenn Jene von Gott vorher nur den Namen ge-kannt hatten und ihn anzureden verlangten, um seinesDaseins sich zu versichern, so verstehe ich nicht, wieihrem Verlangen durch ein Geschöpf Genüge geleistetwerden konnte, das Gott nicht mehr ähnelte, als allesandere Geschaffene, und nicht damit zu Gottes Naturgehörte, dass es sprach: »Ich bin Gott«. Ich frage,wenn Gott die Lippen Mosis, oder was will ichMosis; wenn er die irgend eines wilden Thieres zurAussprache dieser Worte: »Ich bin Gott«, gepressthätte, ob sie daraus das Dasein Gottes abnehmenkonnten? Deshalb scheint die Bibel zu meinen, dassGott selbst gesprochen habe, zu welchem Ende er ausdem Himmel auf den Berg Sinai herabgestiegen sei;und die Juden haben ihn nicht blos sprechen gehört,sondern die Vornehmsten haben ihn auch gesehen.(Vergl. Exod. XXIV.) Auch gebietet das dem Mosesgeoffenbarte Gesetz, dem nichts hinzugefügt oder ab-genommen werden darf, und das als das Recht desLandes eingeführt wurde, nirgends, Gott für unkör-perlich und ohne alle bildliche Gestalt zu halten; son-dern es gebietet nur, um den Glauben an Gottes Da-sein zu erhalten, und dass er allein angebetet und vonseinem Dienst nicht abgefallen werden dürfe, dassman ihm keine bildliche Gestalt geben und kein Bildvon ihm machen solle. Denn da sie die Gestalt Gottesnicht gesehen hatten, so konnten sie kein Bild

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machen, was Gott gliche, sondern nur einem erschaf-fenen Dinge, das sie gesehen hatten; und wenn siedeshalb Gott in solchem Bilde anbeteten, so dachtensie nicht an Gott, sondern an das Ding, das diesemBilde gliche, und gaben so die Ehre und die Anbetungnicht Gott, sondern diesem Dinge. Die Bibel deutetsogar deutlich an, dass Gott eine Gestalt habe, unddass Moses, als er Gott sprechen hörte, dessen Gestaltgeschaut, aber Gott nur von hinten gesehen habe.Deshalb scheint mir hier ein Geheimniss verborgen zusein, worüber ich später ausführlicher sprechenwerde. Hier fahre ich in Aufzeigung der Stellen derBibel fort, welche die Mittel angeben, durch welcheGott seinen Willen den Menschen offenbart hat.

Dass die Offenbarung durch blosse Gesichte erfolgtist, erhellt aus 1. Chronik. XXII., wo Gott dem Davidseinen Zorn durch einen Engel verkündet, der einSchwert in der Hand hat. Dasselbe geschah demBalam. Wenn Maimonides und Andere diese Erzäh-lung, wie alle andern, welche von Engels-Erscheinun-gen berichten, z.B. die mit Manna und Abraham, woer seinen Sohn zu opfern glaubte u.s.w., nur als imTraum geschehen annehmen, und nicht wirklich, weilNiemand einen Engel mit offenen Augen sehen könne,so ist dies nur leeres Geschwätz, womit sie versuch-ten, aus der Bibel Aristotelische Possen und ihre eig-nen Erfindungen herauszupressen, was mir sehr

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lächerlich vorkommt.Durch Gesichte, die nicht wirklich waren, sondern

nur in der Einbildung des Propheten bestanden, hatGott dem Joseph seine zukünftige Herrschaft offen-bart. Durch Gesichte und Worte hat Gott dem Josuaoffenbart, dass er für sie streiten werde; er zeigte ihmnämlich einen Engel mit dem Schwert, und Josuahatte es von dem Engel gehört. Auch dem Esaiaswurde, wie im sechsten Kapitel erzählt wird, durchBilder mitgetheilt, dass Gottes Vorsehung das Volkverlasse; er sah nämlich Gott dreimal heilig auf demhöchsten Thron und die Israeliten von dem Schmutzder Sünden befleckt und wie im Koth versunken undso von Gott weit abstehend. Er verstand darunter denelenden Zustand des Volkes; dessen wirkliche späternLeiden wurden ihm dagegen durch Worte, als hätteGott sie gesprochen, offenbart. Danach konnte ichnoch viele Beispiele aus der heiligen Schrift beibrin-gen, wenn ich nicht sie für genügend bekannt hielte.

Alles dies wird noch deutlicher durch die StelleNum. XII. 6, 7 bestätigt, wo es heisst: »Wenn Einervon Euch ein Prophet Gottes ist, so werde ich ihm ineinem Gesicht offenbaren (d.h. durch Gestalten undHieroglyphen; denn von der Weissagung des Mosessagt er, es sei ein Gesicht ohne Hieroglyphen) undwerde im Traume zu ihm Sprechen (d.h. nicht mitwirklichen Worten und wahrer Stimme). Aber Moses

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werde ich es nicht so (offenbaren); ich rede zu ihmvon Mund zu Mund und durch Gesichte, aber nicht inRäthseln, und er schaut das Bild Gottes,« d.h. er wirdmich schauen als Genösse, und er wird ohne Er-schrecken mit mir sprechen, wie es Exod. XXXIII. 12steht. Deshalb haben unzweifelhaft die übrigen Pro-pheten die wahre Stimme nicht gehört, und dies wirddurch Deut. XXXIV. 10 noch mehr bestätigt, wo esheisst: »und es ist niemals in Israel ein Prophet wieMoses erstanden (eigentlich auferstanden), welchenGott erkannt hat von Angesicht zu Angesicht.« Diesist nämlich blos von der Stimme zu verstehen, dennauch Moses hat das Angesicht Gottes niemals gese-hen; Exod. XXXIII.

Ausser diesen Mitteln finde ich in der heiligenSchrift keine weiter, durch die Gott sich den Men-schen mitgetheilt hat; deshalb darf man auch, wie er-wähnt, keine weiter erdichten und zulassen. Aller-dings kann Gott sicherlich auch unmittelbar demMenschen sich mittheilen; denn er theilt sein Wesenunserem Geist ohne Hülfe von körperlichen Mittelnmit; allein wenn ein Mensch durch seinen blossenVerstand etwas erfassen wollte, was nicht in den ur-sprünglichen Grundlagen unserer Erkenntniss enthal-ten ist und auch nicht daraus abgeleitet werden kann,so müsste seine Seele viel vollkommener und vortreff-licher als die menschliche sein. Ich glaube deshalb,

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dass ausser Christus Niemand, zu einer solchen Voll-kommenheit vor Andern gelangt ist; nur Christas sinddie Beschlüsse Gottes, die die Menschen zum Heilführen, ohne Worte und Gesichte, unmittelbar offen-bart worden, und Gott hat durch den Geist Christisich den Aposteln so offenbart, wie ehedem demMoses durch die Stimme der Luft. Deshalb kann dieStimme Christi, wie die, welche Mosis hörte, dieStimme Gottes genannt werden, und in diesem Sinnekann man auch sagen, die Weisheit Gottes, d.h. eineübermenschliche Weisheit habe in Christo menschli-che Natur angenommen, und Christus sei das Heil derWelt gewesen.

Ich muss indess hier bemerken, dass ich über das,was einige Kirchen über Christus festsetzen, nichtspreche, aber es auch nicht bestreite; denn ich gesteheoffen, dass ich es nicht verstehe. Was ich hier behaup-tet habe, entnehme ich aus der Bibel selbst. Nirgendshabe ich aber gelesen, dass Gott Christus erschienensei und mit ihm gesprochen habe, sondern es heisst,dass Gott durch Christus den Aposteln offenbart wor-den, dass Christus der Weg des Heiles sei, und dassdas alte Gesetz durch einen Engel, aber nicht unmit-telbar von Gott mitgetheilt worden sei. Hat daherMoses mit Gott von Angesicht zu Angesicht, wie einMensch zu seinem Nachbar (d.h. vermittelst zweierKörper) gesprochen, so hat Christus mit Gott von

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Geist zu Geist verkehrt.Ich behaupte daher, dass ausser Christus Niemand

die Offenbarungen Gottes anders als mit Hülfe derEinbildungskraft, d.h. mit Hülfe von Worten und Ge-sichten empfangen hat, und dass deshalb zur Weissa-gung es keines höhern Geistes, sondern nur einer le-bendigen Einbildungskraft bedarf, wie ich im folgen-den Kapitel klar darlegen werde.

Hier ist nun zu ermitteln, was die heilige Schriftunter dem Geist Gottes versteht, welcher den Prophe-ten eingeflösst worden, oder aus dem die Prophetengesprochen haben. Zu dem Ende ist zunächst die Be-deutung des hebräischen Wortes ruagh zu ermitteln,was gemeinhin mit »Geist« übersetzt wird. DiesesWort bezeichnet, wie bekannt, eigentlich den Wind,aber dient auch zur Bezeichnung von vielem Andern,was sich davon ableitet. Man gebraucht es 1) für denHauch; so Psalm CXXXV. 17: »es ist auch keinGeist in ihrem Munde;« 2) für das Leben oder dasAthmen; so 1. Samuel XXX. 12: »und es ist ihm derGeist wiedergekehrt«, d.h. er hat wieder geathmet.Davon kommt 3) seine Bezeichnung für Lebendigkeitund Kraft; so Josua II. 11: »und es bestand später inkeinem Manne der Geist«; ebenso Ezechiel II. 2:»und es kam in mich der Geist (oder die Kraft), dermich auf meinen Füssen stehen liess«. Deshalb be-zeichnet es 4) die Güte und Tauglichkeit; so Hiob

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33Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung

XXXII. 8: »sicherlich ist sie der Geist im Menschen«,d.h. die Wissenschaft ist nicht blos bei den Greisen zusuchen, denn ich sehe, dass sie von einer besondernKraft und Anlage des Menschen abhängt. So Num.XXVII. 18: »ein Mann, in dem der Geist ist«. Es be-zeichnet ferner 5) die Gedanken der Seele; so Num.XIV. 24: »weil ihm ein anderer Geist kam«, d.h. einanderer Gedanke und eine andere Meinung. AuchSprüchwörter I. 23: »ich werde Euch meinen Geistsagen« (d.h. meine Meinung). In diesem Sinne dientes auch zur Bezeichnung des Willens oder Beschlus-ses, des Begehrens und Verlangens der Seele; so Eze-chiel I. 12: »sie gingen, wohin ihnen der Geist zugehen war« (d.h. der Wille). Ebenso Esaias XXX. 1:»und um den Geist auszugiessen und nicht aus mei-nem Geiste« und XXIX. 10: »weil Gott über sie denGeist (das Verlangen) zu schlafen ausgoss«, undRichter VIII. 3: »dann ist ihr Geist milde geworden«(d.h. ihre Leidenschaft). Auch Sprüchwörter XVI. 32:»wer seinen Geist bezähmt (oder seine Begierden), istbesser, als wer Staaten erobert«. So XXV. 28: »EinMann, der seinen Geist nicht bezähmt«, und EsaiasXXXIII. 11: »Euer Geist ist ein Feuer, was Euch ver-zehrt«. - Insofern das Wort ruagh die Seele bedeutet,dient es auch zur Bezeichnung aller Leidenschaftenund Gaben derselben; so »hoher Geist« für Stolz,»gebeugter Geist« für Demuth, »böser Geist« für

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34Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung

Hass und Trübsinn, »guter Geist« für Wohlthätigkeit,»Geist der Eifersucht«, »Geist (d.h. Begierde) der Hu-rerei«, »Geist der Weisheit, des Rathes, der Tapfer-keit«; d.h. (denn in dem Hebräischen gebraucht manlieber Hauptworte statt Beiworte) ein weiser, kluger,tapferer Verstand oder die Tugend der Weisheit, derBesonnenheit, der Tapferkeit; »Geist des Wohlwol-lens« u.s.w. Ferner bedeutet das Wort »Geist« dieSeele selbst, so Prediger Salom. III. 19: »der Geist(oder die Seele) ist dieselbe für Alle, und der Geistkehrt zu Gott zurück.« Endlich bedeutet es 7) dieWeltgegenden (wegen der Winde, die von daher kom-men) und auch die Seiten einer Sache, die nach diesenWeltgegenden gerichtet sind. So Ezechiel XXXVII.9, XLII. 16, 17, 18, 19 u. f.

Es ist ferner festzuhalten, dass eine Sache auf Gottbezogen und Gottes genannt wird: 1) weil sie zurNatur Gottes gehört und gleichsam ein Theil Gottesist; so, wenn es heisst: »die Macht oder die AugenGottes«; 2) weil sie in Gottes Gewalt ist und nach sei-nem Winke handelt; so heissen in der Bibel die Him-mel »die Himmel Gottes«, weil sie das ViergespannGottes und seine Wohnung sind. Assyrien heisst dieGeissel Gottes, und Nebucadnezar der Knecht Gottesu.s.w.; 3) weil sie Gott geweiht ist, wie der »TempelGottes«, »der Nazarener Gottes«, »das Brod Gottes«;4) weil sie durch Propheten verkündet und nicht durch

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das natürliche Licht offenbart ist; deshalb heisst dasGesetz Mosis »das Gesetz Gottes«; 5) um den höch-sten Grad eines Dinges auszudrücken; so »die BergeGottes«, d.h. die höchsten Berge; »der Schlaf Got-tes«, d.h. der tiefste Schlaf, und in diesem Sinne istdie Stelle Amos IV. II auszulegen, wo Gott sospricht: »Ich habe Euch niedergeworfen, wie die Nie-derwerfung Gottes Sodom und Gomorra (gestürzthat)«, d.h. wie es bei jener merkwürdigen Zerstörunggeschehen ist; denn da Gott selbst spricht, so kann esnicht wohl anders verstanden werden. Auch Salomo'snatürliche Weisheit wird die Weisheit Gottes genannt,d.h. eine solche, die göttlich ist und die gewöhnlicheübertrifft. In den Psalmen werden auch »Cedern Got-tes« erwähnt, um ihre ungewöhnliche Grosse auszu-drücken. In 1. Samuel XI. 7 heisst es, um eine grosseFurcht zu bezeichnen: »es fiel die Furcht Gottes überdas Volk«. So pflegten die Juden Alles, was ihre Be-griffe überstieg, und dessen natürliche Ursachen siedamals nicht kannten, auf Gott zu beziehen. Deshalbhiess der Sturm ein »Schelten Gottes«, und der Don-ner und die Blitze hiessen die Pfeile Gottes. Sieglaubten, dass Gott die Winde in Höhlen eingeschlos-sen hielte, die die Schatzkammern Gottes hiessen, undsie unterschieden sich hierbei von den Heiden nurdarin, dass sie Gott und nicht den Aeolus als denHerrscher der Winde ansahen. Aus demselben Grunde

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wurden die Wunder die Werke Gottes genannt, d.h.staunenswerthe Werke; denn fürwahr ist alles Natürli-che Gottes Werk, und es besteht und wirkt nur durchdie Macht Gottes allein. In diesem Sinne nennt derPsalmist die Wunder in Aegypten die Macht Gottes,weil sie den Juden, die dergleichen nicht erwarteten,in der höchsten Noth den Weg zum Heil eröffnetenund von ihnen deshalb angestaunt wurden.

Wenn somit ungewöhnliche Erscheinungen derNatur die Werke Gottes, und ungewöhnlich grosseBäume Bäume Gottes genannt werden, so kann esnicht auffallen, dass in der Genesis sehr starke undgrosse Menschen, trotzdem, dass sie gottlose Räuberund Hurer waren, Gottes Söhne genannt werden; dennnicht blos die alten Juden, sondern auch die Heidenpflegten überhaupt Alles, worin Jemand die Andernübertraf, auf Gott zurückzuführen. So sagte Pharaobei Anhörung der Auslegung seines Traumes, dassdem Joseph der Geist Gottes innewohne, und auchNebucadnezar sagte von Daniel, dass er den Geist derheiligen Götter habe. Selbst bei den Lateinern findetsich dies häufig; von meisterhaften Arbeiten sagensie, dass sie von göttlicher Hand gefertigt seien, undwollte man dies in das Hebräische übersetzen, somüsste man sagen: »es sei von der Hand Gottes gefer-tigt«, wie den Kennern des Hebräischen bekannt ist.

Hiernach können die Stellen der Bibel, wo des

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Geistes Gottes Erwähnung geschieht, leicht verstan-den und erklärt werden. Denn der »Geist Gottes« undder »Geist Jehova's« bedeutet in einzelnen Stellen nureinen sehr starken, trocknen und verderblichen Wind;so Esaias XL. 7: »der Wind des Jehova weht ihn an«,d.h. ein sehr trockner und schädlicher Wind. So Gen.I. 2: »und der Wind Gottes (d.h. ein sehr heftigerWind) wehte über den Wassern«. Dann bedeutet eseinen hohen Geist; so heist der Geist Gideon's undSamson's in der heiligen Schrift »der Geist Gottes«,d.h. ein kühner, zu Allem bereiter Geist. So heisstauch jede ungewöhnliche Tugend oder Kraft »derGeist« oder »die Tugend Gottes«; so Exod. XXXI. 3:»und ich werde ihn (nämlich Betzaliel) mit dem GeistGottes erfüllen«, d.h. (wie die Schrift selbst erläutert)mit einem Geist und Geschick, was das gewöhnlicheMaass übertrifft. So Esaias XI. 2: »und es wird derGeist Gottes über ihm ruhn«, d.h., wie der Prophetnach einer in der heiligen Schrift sehr gebräuchlichenSitte es später selbst erläutert, die Tugend der Weis-heit, der Besonnenheit, der Tapferkeit u.s.w. So heisstder Tiefsinn Saul's der »böse Geist Gottes«, d.h. einesehr starke Schwermuth; denn die Knechte Saul's, dieseine Schwermuth die Schwermuth Gottes nannten,liessen ihm einen Musiker holen, der ihn durch seinSaitenspiel wieder herstellte; dies zeigt, dass sie unter»Schwermuth Gottes« nur eine natürliche

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Schwermuth verstanden haben. Ferner bedeutet der»Geist Gottes« die eigne Seele des Menschen; soHiob XXVII. 3: »und der Geist Gottes in meinerNase«, indem er auf die Stelle in der Genesis anspielt,wo Gott den Lebensodem dem Menschen durch dieNase eingeblasen hat. So sagt Ezechiel, wo er denTodten prophezeit, XXXVII. 14: »und ich werdeEuch meinen Geist geben, und Ihr werdet leben«, d.h.ich werde Euch das Leben wiedergeben. In diesemSinne heisst es Hiob XXXIV. 14: »Wenn er (nämlichGott) will, so wird er seinen Geist (d.h. die Seele, dieGott ausgegeben hat) und sein Leben wieder zu sichnehmen«. So ist auch die Stelle Gen. VI. 3 zu ver-stehn: »mein Geist wird in keinem Menschen nach-denken (d.h. er wird sich nicht entschliessen), weil erFleisch ist«, d.h. der Mensch wird hinfort nach denAntrieben des Fleisches und nicht des Geistes, den ichihm zur Erkenntniss des Guten gegeben habe, han-deln. So heisst es auch Psalm LI. 12, 13: »Schaffemir, o Gott, ein reines Herz und erneuere in mir einensittsamen (d.h. gemässigten) Geist (d.h. Begierde),verstosse mich nicht aus Deinem Angesicht und nimmmir nicht die Kenntniss Deiner Heiligkeit«! Manglaubte, die Sünden entsprängen blos aus dem Flei-sche, die Seele aber rathe nur zu dem Guten; deshalbruft er die Hülfe Gottes gegen die Begierden des Flei-sches an und bittet dagegen nur, dass ihm die Seele,

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die der heilige Gott ihm gegeben, von Gott erhaltenwerde. Da die Bibel Gott nach Art eines Menschen zuschildern pflegt und Gott eine Seele, einen Geist, Af-fekte und auch einen Körper und Athem wegen derschwachen Fassungskraft der Menge zutheilt, deshalbwird der »Geist Gottes« in der Bibel oft für die Seele,das Leben, die Affekte, die Kraft und den Athem desMundes Gottes gebraucht. So sagt Esaias XL. 13:»Wer hat den Geist Gottes bestimmt«, d.h. wer ausserGott selbst hat die Seele Gottes zum Wollen be-stimmt? und LXIII. 10: »und sie selbst erfüllten denGeist seiner Heiligkeit mit Trübsinn und Traurig-keit«. Deshalb pflegt man auch das Gesetz Mosisdamit zu bezeichnen, weil es gleichsam den GedankenGottes ausdrückt, wie Esaias ebendaselbst v. 11 sagt:»Wo (Jener) ist, der in die Mitte dessen den Geist sei-ner Heiligkeit gestellt hat«, nämlich das GesetzMosis, wie aus dem Zusammenhang der ganzen Rededeutlich erhellt; auch Nehemias sagt IX. 20: »und Duhast den Geist oder Deine gute Seele ihnen verliehn,damit Du sie einsichtiger machtest«; er spricht näm-lich von der Zeit des Gesetzes, und darauf spielt auchDeut. IV. 6 an, wo Moses sagt: »weil es (nämlich dasGesetz) Bure Wissenschaft und Klugheit ist u.s.w.«So heisst es auch Psalm. CXLIII. 10: »Dein guterGeist wird mich auf ebener Erde führen«, d.h. Deinuns offenbarter Geist wird mich auf den rechten Weg

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führen. Der »Geist Gottes« bezeichnet auch, wie er-wähnt, den Athem Gottes, der Gott ebenso uneigent-lich, wie die Seele und der Körper in der Bibel beige-legt wird; so Psalm. XXXIII. 6: »Denn auch die Ge-walt, Kraft oder Tugend Gottes«; so heisst es HiobXXXIII. 4: »Der Geist Gottes hat mich gemacht«,d.h. die Kraft oder Macht Gottes, oder wenn man lie-ber will, der Rathschluss Gottes; denn der Psalmistdrückt sich dichterisch aus und sagt auch, dass aufden Befehl Gottes die Himmel gemacht worden undauch durch den »Geist« oder den Hauch seines Mun-des (d.h. durch seinen Beschluss, der gleichsam miteinem Hauch ausgesprochen worden) alle Heerschaa-ren desselben. Ebenso heisst es Psalm. CXXXIX. 7:»Wohin soll ich gehn (oder sein) vor Deinem Geiste,oder wohin soll ich fliehn vor Deinem Anblick«, d.h.(wie aus den eignen Zusätzen des Psalmisten erhellt)wohin sollte ich gehn, um ausserhalb Deiner Machtund Gegenwart zu sein? Endlich bedeutet der »GeistGottes« in der Bibel auch die Gefühle Gottes, seineGüte, seine Barmherzigkeit; so Micha. II. 7: »Ist dennder Geist Gottes eingeschränkt? (d.h. die Barmherzig-keit Gottes) und sind denn dies (nämlich die Grau-samkeiten) seine Werke?« Ebenso heisst es Zachar.IV. 6: »nicht durch ein Heer, nicht durch Gewalt, son-dern blos durch meinen Geist«, d.h. blos durch meineBarmherzigkeit. In diesem Sinne ist meines Erachtens

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auch derselbe Prophet VII. 12 zu verstehn, wo ersagt: »und sie machten ihr Herz sicher, dass sie demGesetz nicht gehorchten und den Befehlen, die Gottdurch die ersten Propheten aus seinem Geist gesandthat« (d.h. aus seiner Barmherzigkeit). In diesemSinne sagt auch Haggai II. 5: »und mein Geist (odermeine Gnade) bleibt unter Euch; fürchtet Euch des-halb nicht«. Wenn aber Esaias XLVIII. 16 sagt:»Aber jetzt hat mich der Herr, mein Gott, gesandt undsein Geist«, so kann darunter wohl die Seele Gottesverstanden werden und die Barmherzigkeit oder auchsein durch das Gesetz geoffenbarter Wille; denn ersagt: »Von Anfang (d.h. wenn ich zuerst zu Euch ge-kommen bin, um Euch den Zorn Gottes und seinengegen Euch gefällten Spruch zu verkünden) habe ichnicht im Geheimen gesprochen, sondern von der Zeitab, wo es geschehen, bin ich da gewesen (wie erselbst im siebenten Kapitel bezeugt); jetzt bin ichaber ein fröhlicher Bote, und Gottes Barmherzigkeitsendet mich, dass ich auch Eure Wiederaufnahme ver-künde.« - Es kann auch, wie gesagt, darunter derdurch das Gesetz offenbarte Wille Gottes gemeintsein, weil jener auch schon in Folge des Gebots desGesetzes, nämlich Levit. XIX. 17 kam, um sie zuwarnen. Deshalb vermahnt er sie in derselben Weiseund mit denselben Bedingungen, wie Moses pflegte,und endlich schliesst er, ebenso wie Moses, mit der

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Verkündigung ihrer Wiederaufnähme. Indess scheintmir die erste Auslegung die richtigere zu sein.

Aus alle dem werden, um endlich zu meiner Aufga-be zurückzukehren, die Ausdrücke der Bibel ver-ständlich, wie »der Geist des Propheten war der GeistGottes«; »Gott hat seinen Geist über die Menschenausgegossen«; »die Menschen sind von dem GeisteGottes und von dem heiligen Geiste erfüllt« u.s.w. Siesagen nur, dass die Propheten eine besondere und un-gewöhnliche Tugend besassen, und dass sie die Fröm-migkeit mit besonderer Geistesstärke pflegten; ferner,dass sie Gottes Willen oder Ausspruch erfassten.Denn ich habe gezeigt, dass »Geist« im Hebräischensowohl die Seele wie den Gedanken der Seele bedeu-tet, und deshalb wurde das Gesetz selbst, welches denWillen Gottes aussprach, »der Geist« oder der WilleGottes genannt. Mit gleichem Rechte konnte die Ein-bildungskraft der Propheten, soweit dadurch die Rath-schlüsse Gottes offenbart wurden, die Seele Gottesgenannt werden, und von den Propheten konnte ge-sagt werden, dass sie die Seele Gottes gehabt haben.Allerdings sind unserer Seele auch die Seele Gottesund seine ewigen Aussprüche eingegraben, und des-halb verstehen wir, um mit der Bibel zu sprechen, dieSeele Gottes; allein da die natürliche Erkenntniss eineallgemeine Gabe ist, so wird sie, wie gesagt, nicht sohoch geschätzt, und dies galt vorzüglich bei den

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Juden, die sich rühmten, Alle zu übertreffen, ja dieAlle und folglich auch die Allen gemeinsame Erkennt-niss zu verachten pflegten. Endlich sagte man von denPropheten, dass sie den »Geist Gottes« besässen, weildie Menschen die Gründe der prophetischen Erkennt-niss nicht kannten, sondern sie bewunderten und des-halb, wie alles Ausserordentliche, auf Gott zu bezie-hen und die Erkenntniss Gottes zu nennen pflegten.

Ich kann mithin nunmehr ohne Bedenken behaup-ten, dass die Propheten nur mit Hülfe der Einbil-dungskraft die Offenbarungen Gottes erfasst haben,d.h. vermittelst Worte und Bilder, die entweder wirk-lich oder eingebildet waren. Denn da man in der Bibelkeine anderen Mittel neben diesen findet, so darf manauch, wie erwähnt, keine anderen erdichten. Nachwelchen Naturgesetzen dies nun vor sich gegangenist, gestehe ich nicht einzusehen. Ich könnte zwar, wieAndere, sagen, es sei durch Gottes Macht geschehen,allein dies würde nur ein leeres Geschwätz sein; eswäre ebenso, als wenn ich das Wesen einer einzelnenSache mittelst eines transscendentalen Kunstaus-druckes erklären wollte; denn durch Gott ist, Alles ge-macht. Da die Macht der Natur nur die eigene MachtGottes ist, so erkennen wir offenbar Gottes Macht soweit nicht, als wir die natürlichen Ursachen nicht ken-nen, und es ist also thöricht, auf Gottes Macht sich zuberufen, wenn man die natürliche Ursache eines

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Gegenstandes, d.h. die Macht Gottes selbst nichtkennt. Indess brauche ich auch die Ursachen der pro-phetischen Erkenntniss nicht zu wissen; denn ich will,wie gesagt, hier nur die Urkunden der heiligen Schriftuntersuchen, um aus denselben, als Thatsachen derNatur, meine Folgerungen abzuleiten; dagegen küm-mere ich mich nicht um die Ursachen dieser Urkun-den.

Wenn sonach die Propheten mit Hülfe ihrer Einbil-dungskraft die Offenbarungen Gottes erfasst haben,so haben sie unzweifelhaft Vieles erfassen können,was ausserhalb der Grenzen der menschlichen Er-kenntniss liegt; denn aus Worten und Bildern lassensich viel mehr Gedanken machen, wie aus blossenPrinzipien und Begriffen, auf welche unsere ganze na-türliche Erkenntniss aufgebaut ist.

So erklärt es sich, weshalb die Propheten beinahAlles in Gleichnissen und Räthseln erfassen und leh-ren, und weshalb sie alles Geistige in Körperlicheskleiden; es entspricht mehr der Natur der Einbil-dungskraft. Es kann deshalb nicht auffallen, dass dieBibel oder die Propheten so uneigentlich und dunkelüber den Geist Gottes oder seine Seele sprechen, wieNum. XI. 17; 1. Könige XXII. 21 u.s.w., und wes-halb Micha Gott sitzend, Daniel als einen mit weissenKleidern angethanen Greis, Ezechiel wie ein Feuer,und die Gefährten Christi den heiligen Geist wie eine

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herabkommende Taube, und die Apostel wie feurigeZungen, und endlich Paulus bei seiner ersten Bekeh-rung wie ein grosses Licht erblickt haben. Dies Allespasst zu den Vorstellungen, welche die Menge vonGott und den Geistern sich gebildet hatte. Die Einbil-dungskraft ist ferner unbeständig und schwankend;deshalb haftete die Weissagung nicht lange an denPropheten; sie war auch nicht häufig, sondern sehrselten, und sie wurde nur bei sehr wenig Menschenund auch bei diesen nur selten angetroffen. Ist diesrichtig, so fragt es sich, woher konnte den Prophetendie Ueberzeugung in Dingen kommen, die sie nur mitder Einbildungskraft und nicht nach den festen Regelndes Verstandes erfassten? Auch die Antwort hieraufmuss indess aus der Bibel entlehnt werden, da man,wie erwähnt, von diesen Dingen keine wahre Erkennt-niss hat und sie aus den ersten Ursachen nicht ablei-ten kann. Was nun die Bibel von dieser Ueberzeu-gung der Propheten lehrt, werde ich im nächsten Ka-pitel darlegen, wo ich von den Propheten handelnwill.

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Zweites Kapitel

Von den Propheten.

Aus dem vorigen Kapitel erhellt, dass, wie gesagt,die Propheten nicht mit einem vollkommneren Geist,sondern nur mit einer lebhafteren Einbildungskraftbegabt gewesen sind, und die Erzählungen der Bibelbestätigen dies zum Ueberfluss. So weiss man vonSalomo, dass er an Weisheit, aber nicht an propheti-schen Gaben hervorgeragt hat. Auch die WeisenHeman, Darda, Kalchol waren keine Propheten; dage-gen besassen bäurische Personen ohne alle Erziehung,selbst Weiber, wie Hagar, die Magd Abraham's, dieprophetische Gabe. Dies stimmt mit der Erfahrungund Vernunft auch überein; denn wo die Einbildungs-kraft am mächtigsten ist, da fehlt es an der Fähigkeitzur reinen Erkenntniss, und wo der Verstand über-wiegt und ausgebildet ist, da ist die Einbildungskraftgemässigt, unterwürfig und gezügelt, so dass sie denVerstand nicht verwirrt. Wenn also Jemand Weisheitund die Erkenntniss der natürlichen und geistigenDinge aus den Büchern der Propheten erlangen will,so ist er auf dem ganz falschen Wege. Da die Zeit, diePhilosophie und die Sache selbst es erfordert, so willich dies hier ausführlich darlegen, und ich werde mich

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nicht darum kümmern, dass der Aberglaube sein Ge-schrei erhebt, der gerade Die am meisten hasst, wel-che die Wahrheit in der Wissenschaft und im Lebensuchen. Fürwahr, wie schmerzlich! schon ist es soweit gekommen, dass Die, welche offen gestehen, vonGott keine Vorstellung zu haben und Gott nur durchdie erschaffenen Dinge zu kennen, deren Ursachen sienicht kennen, doch nicht sich scheuen, die Philoso-phen des Atheismus anzuklagen.

Um den Gegenstand ordnungsmässig zu behandeln,werde ich zeigen, dass die Weissagung nicht blosnach der Einbildungskraft und dem Temperament derPropheten, sondern auch nach den Meinungen, vondenen sie befangen waren, gewechselt hat. Die Weis-sagung hat deshalb die Propheten niemals gelehrtergemacht, wie ich gleich ausführlicher zeigen werde.Vorher will ich jedoch von der den Propheten inne-wohnenden Ueberzeugung sprechen, da es theils zudiesem Kapitel gehört, theils zu dem beiträgt, was ichbeweisen will.

Da die menschliche Einbildungskraft ihrer Naturnach keine Gewissheit für die Wahrheit ihrer Bildergiebt, wie sie bei jeder klaren und deutlichen Vorstel-lung Statt hat, vielmehr jener Kraft, wenn man ihrenBildern Glauben schenken soll, noch die vernünftigeUeberlegung hinzutreten muss, so folgt, dass dieWeissagung an sich keine Gewissheit von ihrer

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Wahrheit geben kann, da sie, wie erwähnt, von derblossen Einbildungskraft ausgeht. Deshalb vertrautenauch die Propheten durch die Offenbarung selbst ihrnoch nicht als einer göttlichen, sondern wurden erstdurch irgend ein Zeichen sicher, wie Abraham be-weist, der (Gen. XV. 8), nachdem er das VersprechenGottes vernommen hatte, um ein Zeichen bat. Abra-ham glaubte wohl Gott und verlangte nicht deshalbein Zeichen, weil er Gott nicht traute, sondern um sichzu vergewissern, dass das Versprechen von Gottkomme.

Noch deutlicher ist dies bei Gideon, denn er sagt zuGott (Richter VI. 17): »Gieb mir ein Zeichen (damitich weiss), dass Du mit mir sprichst.« Auch zu Mosessagt Gott: »Und dies (sei) das Zeichen, was ich Dirgesandt habe.« Ezechias, welcher längst wusste, dassEsaias ein Prophet war, verlangte ein Zeichen, als erihm seine Genesung voraussagte.

Hieraus erhellt, dass die Propheten immer ein Zei-chen gehabt haben, was ihnen die Gewissheit von derWahrheit ihrer prophetischen Bilder gewährte, unddeshalb ermahnt Moses (Deut. XVIII. letzter Vers),von den Propheten ein Zeichen zu verlangen, d.h. dasEintreffen einer zukünftigen Sache. Insoweit steht dieWeissagung der natürlichen Erkenntniss nach, diekeines Zeichens bedarf, sondern in sich selbst die Ge-wissheit trägt. Denn diese prophetische Gewissheit

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war keine mathematische, sondern nur eine morali-sche. Auch aus der Bibel erhellt dies; denn Deut.XIII. sagt Moses, dass, wenn ein Prophet neue Götterverkünden wolle, er zum Tode verurtheilt werdensolle, wenn er auch seine Lehre mit Zeichen undWundem bekräftige; denn, fährt Moses fort, Gottgiebt auch Zeichen und Wunder, um das Volk zu ver-suchen, und auch Christus ermahnte in dieser Weiseseine Jünger, wie aus Matth. XXIV. 24 erhellt. Eze-chiel lehrt sogar XIV. 8 geradezu, dass Gott mitunterdie Menschen durch falsche Offenbarungen täuscht; ersagt: »Und wenn der Prophet (nämlich der falsche)hereingeführt worden und gesprochen habe, so habenicht Gott diesen Propheten eingeführt.« Auch Micha(1. Könige XXII. 21) bezeugt dies von den ProphetenAhab's.

Obgleich hiernach die Weissagung und Offenba-rung sich als sehr zweifelhaft ergeben, so gewährtensie doch, wie erwähnt, eine starke Ueberzeugung.Denn Gott täuscht die Frommen und Auserwähltenniemals, sondern Gott gebraucht dieselben nach demalten Sprüchwort (1. Samuel XXIV. 13) und ausweis-lich der Geschichte Abigail's und ihrer Rede, wie dieWerkzeuge seiner Frömmigkeit und die Gottlosen wiedie Vollstrecker und Vermittler seines Zornes. Dieserhellt auch deutlich aus dem oben angeführten Falldes Micha. Denn obgleich Gott beschlossen hatte, den

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Ahab durch Propheten zu täuschen, so gebraucht erdoch nur falsche Propheten dazu; dem frommen aberoffenbarte er die Wahrheit und liess ihn dieselbe ver-künden. - Indess ist, wie gesagt, die Ueberzeugungdes Propheten nur eine innerliche, denn Niemandkann sich vor Gott rechtfertigen und sich rühmen, dasInstrument der Frömmigkeit Gottes zu sein. Dies lehrtdie Bibel und ergiebt die Sache selbst; so verleiteteGottes Zorn den David zur Zahlung des Volkes, ob-gleich dessen Frömmigkeit genügend in der Bibel be-zeugt ist.

Die ganze der Weissagung innewohnende Gewiss-heit ruht sonach auf Dreierlei: 1) darauf, dass mansich die geoffenbarten. Dinge so lebhaft vorstellt, wieman im Wachen von den Gegenständen erregt zu wer-den pflegt; 2) auf einem Zeichen; und 3) und haupt-sächlich, dass die Propheten einen nur dem Billigenund Guten zugewandten Sinn hatten. Allerdings er-wähnt die Bibel nicht immer eines Zeichens, alleinman muss annehmen, dass die Propheten immer einsolches gehabt haben, da die Bibel nicht immer alleNebenumstände und Bedingungen zu erzählen pflegt,wie ich schon mehrfach bemerkt habe, und da sieManches als bekannt voraussetzt. Auch kann maneinräumen, dass die Propheten, welche nichts Neues,sondern nur das, was in dem Gesetz Mosis stand, ver-kündeten, kein Zeichen gebraucht haben, da schon das

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Gesetz deren Bestätigung war. So wurde die Weissa-gung des Jeremias von der Zerstörung Jerusalem'sdurch die der übrigen Propheten und durch die Dro-hungen des Gesetzes bestätigt; sie brauchte daher keinZeichen. Dagegen bedurfte Ananias eines solchen, daer entgegen allen Propheten die schnelle Wiederher-stellung des Staates prophezeite; wo nicht, so mussteman seine Prophezeiung so lange bezweifeln, bis dasEintreffen des von ihm vorausgesagten Ereignisses siebestätigte. Man sehe Jerem. XXVIII. 8.

Wenn so die Gewissheit, welche die Prophetendurch diese Zeichen erlangten, keine mathematische(d.h. eine aus der Nothwendigkeit der Wahrnehmungder wahrgenommenen oder gesehenen Sache fol-gende), sondern nur eine moralische war, und die Zei-chen nur zur Ueberzeugung der Propheten gegebenwurden, so folgt, dass diese Zeichen den Ansichtenund Fähigkeiten des Propheten entsprechend gegebenwurden, und so konnte ein Zeichen, was dem einenPropheten Gewissheit für seine Prophezeiung gewähr-te, einen andern, der andere Ansichten hatte, keines-wegs überzeugen. Deshalb waren die Zeichen je nachden Propheten verschieden, und so wechselte auch,wie erwähnt, bei dem einzelnen Propheten die Offen-barung selbst nach der Beschaffenheit seines Tempe-raments, seiner Einbildungskraft und der Ansichten,die er früher angenommen hatte. In Bezug auf das

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Temperament zeigte sich der Wechsel so, dass denheiteren Propheten Siege, Frieden und Alles, was denMenschen zur Freude stimmt, offenbart wurden, dadies einer solchen Gemüthsstimmung entspricht.Einem traurigen Propheten wurden dagegen Kriege,Hinrichtungen und allerlei Uebel offenbart, und jenachdem ein Prophet mitleidig, gefällig, zornig,streng u.s.w. war, war er mehr für diese wie für jeneOffenbarungen geeignet. Der Wechsel nach der Be-schaffenheit der Einbildungskraft zeigt sich darin,dass ein gebildeter Prophet den Gedanken Gottesauch in gebildeter Weise auffasste, ein ungebildeterProphet aber verworren, und dies gilt auch in Betreffder durch Bilder erfolgenden Offenbarungen. War derProphet ein Bauer, so sah er Ochsen und Kühe; war erein Soldat, dann sah er Feldherren und Heere; war erein Hofmann, so sah er den königlichen Thron undAehnliches. Endlich wechselte die Weissagung auchnach den Meinungen der Propheten; den Magiern(Matth. II.), welche an die Possen der Sterndeuterglaubten, wurde die Geburt Christi durch einen einge-bildeten, im Morgen aufgegangenen Stern offenbart;den Wahrsagern des Nebukadnezar (Ezechiel XXI.21) wurde die Zerstörung Jerusalem's durch die Ein-geweide der Opferthiere offenbart, welche dieserKönig auch durch Orakel und aus der Richtung von indie Höhe geschossenen Pfeilen entnahm; dagegen

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offenbarte sich Gott den Propheten, welche an dieWillensfreiheit und eigne Macht des Menschen glaub-ten, als gleichgültig und ohne Kenntniss der kommen-den menschlichen Handlungen, wie ich es jetzt an deneinzelnen Fällen aus der Bibel selbst darlegen werde.

Das Erste erhellt aus dem Fall mit Elisa (2. KönigeIII. 15), welcher, um dem Jerobeam zu prophezeien,ein Saitenspiel verlangte und die Gedanken Gotteserst erfassen konnte, nachdem er sich an der Musikdes Saitenspiels ergötzt hatte. Dann prophezeite erdem Jerobeam und seinen Gefährten gute Dinge, wasfrüher nicht geschehen konnte, weil er auf den Königerzürnt war, und Zornige wohl Böses, aber nichtsGutes für Die, welchen sie zürnen, sich ausdenkenkönnen. Andere sagen zwar, Gott offenbare sich denTraurigen und Zornigen nicht; allein dies ist ein Irr-thum; denn Gott offenbarte ja dem auf Pharao erzürn-ten Moses jene klägliche Ermordung der Erstgeburt(Exod. XI. 5), und zwar ohne Benutzung eines Saiten-spiels. Auch dem wüthenden Kain hat Gott sich of-fenbart, und dem vor Zorn ungeduldigen Ezechiel istdas Elend und die Hartnäckigkeit der Juden offenbartworden (Ezechiel III. 14), und Jeremias weissagte dasUnglück der Juden, als er tief traurig und von Lebens-überdruss erfasst war. Josias wollte sogar deshalbnicht ihn, sondern eine Frau gleichen Alters befragen,da diese nach ihrem weiblichen Sinn vielleicht mehr

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geeignet wäre, Gottes Barmherzigkeit zu offenbaren(2. Chronik XXXIV.). Auch Micha hat dem Ahabniemals etwas Gutes prophezeit, obgleich es von an-deren Propheten geschah, wie 1. Könige XX. ergiebt;vielmehr prophezeite er ihm nur alle Uebel aus sei-nem Leben (1. Könige XXII. 7 und deutlicher 2.Chronik XVIII. 7).

Die Propheten waren daher nach ihrem Tempera-ment mehr zu diesen als zu anderen Prophezeiungengeeignet. Auch die Ausdrucksweise der Prophetenwechselte nach ihrer Beredsamkeit; die Prophezeiun-gen des Ezechiel und Amos sind nicht in der feinenWeise des Esaias und Nahum, sondern in gröberenWendungen geschrieben, und wenn der Kenner desHebräischen sich davon näher unterrichten will, somöge er nur die betreffenden Kapitel gleichen Inhaltsvon verschiedenen Propheten vergleichen, und er wirdden grossen Unterschied in der Ausdrucksweise be-merken. Man vergleiche z.B. I. 11-20 des HofmannesEsaias mit V. 21-24 des bäurischen Amos; und dieOrdnung und die Gründe der Weissagung des Jeremi-as, die er Kap. 49 zu Edom schreibt, mit der Ordnungund den Gründen des Obadia; ferner Esaias XL. 19,20 und XLIV. 8 mit VIII. 6 und XIII. 2 von Hoseas.Aehnliches gilt von den Uebrigen. Dies zeigt bei rich-tiger Erwägung, dass Gott keine besondere Aus-drucksweise hat, sondern dass diese je nach der

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Gelehrsamkeit und Fähigkeit des Propheten bald fein,gedrängt oder streng, rauh oder weitschweifig unddunkel ist.

Auch die prophetischen Erscheinungen und Hiero-glyphen wechselten selbst bei dem gleichen Gegen-stande; denn dem Esaias erschien der Ruhm Gottes,der den Tempel verlässt, anders als dem Ezechiel. DieRabbiner behaupten zwar, dass die Erscheinung fürBeide dieselbe gewesen sei, und dass nur Ezechiel,als ein Bauer, sie übermässig angestaunt und sie des-halb ausführlich mit allen Nebenumständen geschil-dert habe. Allein wenn sie darüber keine sichereUeberlieferung erhalten haben, was ich bezweifle, sosind ihre Angaben reine Erdichtungen. Denn Esaiassah Seraphim mit sechs Flügeln, Ezechiel aber Thieremit vier Flügeln; Esaias erblickte Gott bekleidet undauf dem Throne sitzend, Ezechiel aber wie ein Feuer.Jeder hat also unzweifelhaft Gott so gesehn, wie erihn sich bildlich vorzustellen pflegte.

Die prophetischen Erscheinungen wichen auchnicht blos in der Art, sondern auch in der Klarheit voneinander ab; die des Zacharias waren so dunkel, dasser selbst sie ohne Erläuterung nicht verstehen konnte,wie auch deren Erzählung ergiebt, und die des Danielkonnten selbst nach ihrer Erläuterung von dem Pro-pheten selbst nicht verstanden werden. Dies kam nichtvon der Dunkelheit der geoffenbarten Sache, da sie

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menschliche Angelegenheiten betraf, die nur, wenn sienoch in der Zukunft liegen, die menschliche Fas-sungskraft übersteigen, sondern davon, dass die Ein-bildungskraft des Daniel im Wachen nicht so wie imTraume prophezeien konnte; was daraus erhellt, dasser gleich bei dem Beginn der Offenbarung so bestürztwar, dass er seinen eigenen Kräften nicht mehr traute;also wurde die Sache nur wegen der Schwäche seinerPhantasie und seiner Kräfte so dunkel vorgestellt,dass er sie selbst nach der Erklärung nicht verstand.Dies zeigt, dass die von Daniel gehörten Worte, wieich oben dargethan habe, nur eingebildet gewesensind, und es ist dann nicht wunderbar, dass er in sei-ner damaligen Verwirrung die Worte so verworrenund dunkel sich in seiner Einbildung zusammenge-setzt, dass er nachher keinen Sinn herausbringenkonnte. Wenn gesagt wird, Gott habe sich dem Danielnicht deutlich offenbaren wollen, so hat man dieWorte des Engels nicht gelesen, der ausdrücklich sagt(X. 14): »er sei gekommen, um Daniel zu wissen zuthun, was seinem Volke in späteren Zeiten zustossenwerde.« Diese Dinge blieben nur deshalb so dunkel,weil damals Niemand eine solche starke Einbildungs-kraft besass, um sie deutlicher offenbaren zu kön-nen. - Endlich wollten auch die Propheten, welchenoffenbart worden, dass Gott den Elias entführenwerde, den Elisa überreden, dass er nur an einen

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andern Ort gebracht worden, wo sie ihn noch findenkonnten; dies zeigt deutlich, dass sie die OffenbarungGottes falsch verstanden hatten.

Es ist nicht nöthig, dies noch weitläufiger darzut-hun; denn die Bibel ergiebt klar, dass Gott den einenPropheten mehr als den andern mit der Gnade desProphezeiens beschenkt hat. Dagegen will ich sorgfäl-tiger und ausführlicher darlegen, dass die Weissagun-gen und Erscheinungen je nach den die Propheten be-herrschenden Meinungen wechselten, und dass diePropheten verschiedene und selbst entgegengesetzteMeinungen und Vorurtheile gehabt haben, was sichaber nur auf rein spekulative Gegenstände bezieht undnicht auf Frömmigkeit und guten Lebenswandel, woes nicht gelten kann. Dieser Umstand ist von grosserErheblichkeit; denn ich werde daraus ableiten, dassdie Weissagung die Propheten nicht umsichtiger ge-macht, sondern in ihren vorgefassten Meinungen be-lassen hat, und dass wir mithin in rein spekulativenFragen durch sie in keiner Weise gebunden sind.

Mit einer wunderbaren Uebereilung ist man vonjeher überzeugt gewesen, dass die Propheten Alles ge-wusst, was dem menschlichen Verstande erreichbarsei, und wenn Stellen der Bibel auf das Deutlichstesagen, dass die Propheten Manches nicht gewussthaben, so will man doch lieber die Schrift in diesenStellen nicht verstehn, als zugeben, die Propheten

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hätten etwas nicht gekannt, oder man verdreht dieWorte der Schrift zu einem Sinne, der nicht darin ent-halten ist. Wäre dies gestattet, so wäre es freilich mitder ganzen Bibel vorbei; denn jeder Beweis aus derBibel ist dann vergeblich, wenn das Klarste in ihr fürdunkel und unergründlich erklärt oder nach Beliebenausgelegt werden darf. So ist z.B. nichts in der Bibeldeutlicher, als dass Josua und vielleicht auch der Ver-fasser seiner Geschichte geglaubt, die Sonne drehesich um die Erde, die Erde stehe still, und die Sonnehabe eine Zeit lang auch still gestanden. Allein Viele,welche keine Veränderung am Himmel zulassen wol-len, legen die Stelle so aus, dass sie nichts dergleichensage, und Andere mit besseren Naturkenntnissen, wel-che wissen, dass die Erde sich bewegt und die Sonnestill steht und nicht um die Erde sich bewegt, suchenmit der grössten Mühe einen solchen Sinn aus derBibel herauszubringen, obgleich das offenbar gegenihre Absicht läuft. Man kann darüber nur staunen;denn ich frage: sollen wir glauben, dass der SoldatJosua die Astronomie genau verstand? oder dass nur,wenn Josua die Ursache kannte, das Wunder ihm of-fenbart und die Sonne länger als gewöhnlich überdem Horizont bleiben konnte? Mir scheinen beideAnnahmen lächerlich; ich sage deshalb lieber offen,dass Josua die wahre Ursache des längeren Leuchtensnicht gekannt hat und deshalb mit seinen Leuten

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gemeint hat, die Sonne drehe sich täglich um die Erdeund habe nur an diesem Tage eine Zeit lang still ge-standen, und deshalb sei es länger Tag geblieben. Erhat also nicht bedacht, dass von einer grossen Eisan-häufung, welche sich damals in der Luft befand(Josua X. II) eine ungewöhnlich starke Zurückwer-fung der Sonnenstrahlen entstehen konnte, oder etwasAehnliches, was ich jetzt nicht untersuche. - Ebensowurde dem Esaias das Zeichen des zurückweichendenSchattens nach seiner Fassungskraft offenbart, näm-lich durch das Zurückweichen der Sonne; denn aucher glaubte, dass die Sonne sich bewege und die Erderuhe, und an Nebensonnen hat er wohl niemals, auchim Traume nicht, gedacht. Dies anzunehmen, ist unsgewiss gestattet, denn das Zeichen konnte wirklichgeschehen und dem Könige von Esaias vorausgesagtwerden, wenn auch der Prophet dessen wahre Ursachenicht kannte. - Dasselbe gilt von dem Bau Salomo's,wenn ihm dieser von Gott offenbart worden; nämlichdass alle Maasse desselben nach der Fassungskraftund den Kenntnissen Salomo's ihm offenbart wurden;denn wir brauchen nicht zu glauben, dass Salomo einMathematiker gewesen sei, und wir können behaup-ten, dass er das Verhältniss zwischen Umring undDurchmesser des Kreises nicht gekannt hat, und dasser es mit den gemeinen Handarbeitern wie drei zu einsangenommen. Wenn man behaupten darf, dass ich

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den Text 1. Könige VII. 23 nicht verstehe, so weissich wahrhaftig nicht, was überhaupt in der Bibel ver-standen werden kann; denn dort wird einfach und reinhistorisch der Bau beschrieben, und wenn man anneh-men darf, dass die Bibel es anders gemeint, aber ausirgend einem uns unbekannten Grunde es so ausge-drückt habe, so wird damit die Bibel überhaupt überden Haufen gestossen; denn dann kann Jeder mit glei-chem Rechte dasselbe von jeder Stelle der Bibel be-haupten, und alles Verkehrte und Schlechte, wasmenschliche Bosheit sich nur erdenken kann, wirddann auf Grund des Ansehns der Bibel vertheidigtund verübt werden dürfen. - Dagegen enthält meineAnnahme nichts Gottloses; denn wenn auch Salomo,Esaias, Josua und Andere Propheten waren, so blie-ben sie doch auch Menschen, und alles Menschlichewar ihnen nicht fremd. Ebenso wurde dem Noah nachseiner Fassungskraft offenbart, dass Gott das mensch-liche Geschlecht verderbe, weil er glaubte, dass dieWelt ausserhalb Palästina unbewohnt sei, und diePropheten konnten ohne Verstoss gegen die Fröm-migkeit nicht blos dergleichen, sondern noch vielwichtigere Dinge nicht kennen und haben sie auch inWahrheit nicht gekannt. Denn sie lehrten nichts Be-sonderes über die göttlichen Eigenschaften, sondernhegten die gewöhnlichen Meinungen über Gott, unddanach wurden auch die Offenbarungen eingerichtet,

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wie ich jetzt mit vielen Stellen der Bibel belegen will.Der Leser kann daraus entnehmen, dass die Prophetennicht wegen der Grösse und Vortrefflichkeit ihresVerstandes, sondern wegen ihrer Frömmigkeit undBeständigkeit Lob und grosse Empfehlung verdienen.

Adam, dem Gott sich zuerst offenbarte, wusstenicht, dass Gott allgegenwärtig und allwissend ist;denn er verbarg sich vor Gott und suchte seine SündeTor Gott, wie vor einem Menschen, zu entschuldigen.Gott offenbarte sich ihm auch nach seinen Begriffenals einen Solchen, der nicht überall ist, den Ort unddie Sünde Adam's nicht kennt. Denn Adam hörte odermeinte Gott zu hören, wie er durch den Garten ging,ihn rief und suchte, und dann hat er in Anlass seinerScham ihn gefragt, ob er von dem verbotenen Baumgegessen habe. Adam kannte sonach keine andere Ei-genschaft von Gott, als dass er der Schöpfer allerDinge gewesen. Auch dem Kain offenbarte sich Gottnach seiner Fassungskraft als einen Solchen, der diemenschlichen Dinge nicht kennt; auch brauchte Kainkeine höhere Kenntniss Gottes zu haben, um seineSünde zu bereuen. Dem Laban offenbarte sich Gottals den Abraham's, weil Jener glaubte, dass jedesVolk seinen besonderen Gott habe. Man sehe Gen.XXXI. 29. Auch Abraham wusste nicht, dass Gottallgegenwärtig ist und alle Dinge vorausweiss; dennbei dem Hören des Spruchs gegen die Sodomiter bat

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er Gott, ihn nicht zu vollstrecken, bevor er nichtwusste, dass Alle die Strafe verdient hätten; denn ersagt (Gen. XVIII. 24): »Vielleicht werden fünfzig Ge-rechte in jener Stadt gefunden.« und Gott selbst offen-barte es nicht anders, denn er sagt nach dem, wieAbraham zu hören meint: »Ich werde jetzt herabstei-gen und sehen, ob sie nach der schweren Klage, diebei mir angebracht worden, gehandelt haben, und ichwerde erfahren, wenn es sich nicht so verhält.« Dasgöttliche Zeugniss für Abraham (Gen. XVIII. 18) be-trifft auch nur seinen Gehorsam, und dass er sein Ge-sinde zum Gerechten und Guten anhielt; aber nicht,dass er eine höhere Erkenntniss von Gott besessen.Auch Moses wusste nicht bestimmt, dass Gott allwis-send ist, und dass alle menschlichen Handlungen nachseinem Rathschluss erfolgen. Denn obgleich Gott ihmgesagt hatte (Exod. III. 18), dass die Israeliten ihmgehorchen würden, so wurde er doch wieder zweifel-haft und erwiderte (Exod. IV. 1): »Wie aber, wenn siemir nicht glauben und mir nicht gehorchen?« Daherhat Gott selbst sich ihm als einen Solchen offenbart,der sich zu den menschlichen Dingen gleichgültig ver-hält und sie nicht kennt; denn er gab ihm zwei Zei-chen und sagte (Exod. IV. 8): »Wenn sie dem erstenZeichen nicht glauben wollten, so werden sie dochdem andern glauben, und wenn sie auch diesem nichtglauben sollten, so nimm dann Wasser aus dem

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Flusse« u.s.w. Wer die Reden Mosis ohne Vorurtheilerwägt, wird sicher finden, dass er Gott für ein Wesengehalten, was immer gewesen ist, was besteht undimmer sein wird; deshalb nennt er ihn Jehova, wel-ches Wort im Hebräischen die drei Zeitformen aus-drückt; aber von seiner Natur hat er sonst nur gelehrt,dass er barmherzig und gütig u.s.w. und höchst eifer-süchtig sei, wie viele Stellen der Bücher Mosis erge-ben. Er glaubte und lehrte endlich, dass dieses Wesenvon allen anderen sich dadurch unterscheide, dass esdurch kein Bild einer sichtbaren Sache bezeichnetwerden könne, und zwar nicht wegen der Unmöglich-keit der Sache, sondern weil er wegen der Schwächeder Menschen von ihnen nicht geschaut werdenkönne; ferner, dass seine Macht eine besondere undeinzige sei. Er gab zu, dass es Wesen gebe, welche(ohne Zweifel nach Anordnung und Geheiss Gottes)die Stelle Gottes verträten, d.h. Wesen, denen Gottdas Ansehn, das Recht und die Macht zur Leitung derVölker und zu ihrer Fürsorge und Pflege gegeben;aber jenes Wesen, das sie verehren sollten, sei derhöchste und erhabene Gott oder (um einen hebräi-schen Ausdruck zu gebrauchen) der Gott der Götter,und deshalb sagt er in dem Lobgesang des 2. BuchMosis (XV. 11): »Wer unter den Göttern ist Dirgleich, Jehova?« und Jetro sagt (Exod. XVIII. 11):»Jetzt weiss ich, dass Jehova grösser als alle Götter

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ist,« d.h. endlich muss ich Moses zugestehen, dass Je-hova grösser als alle Götter und von besondererMacht ist. Dagegen ist es zweifelhaft, ob Moses vondiesen Wesen, welche Gottes Stelle vertreten, glaubte,dass Gott sie geschaffen habe; denn er sagt nichtsüber ihre Erschaffung und ihren Anfang, und er lehrtausserdem, dass dieses Wesen, nämlich Gott, diesichtbare Welt aus dem Chaos in die Ordnung über-geführt habe (Gen. I. 2) und der Natur den Samen ein-gepflanzt, und dass es deshalb über Alles das höchsteRecht und die höchste Gewalt habe, und dass es nachdiesem höchsten Recht und Macht (Deut. X. 14, 15)sich allein die jüdische Nation ausgewählt habe undein bestimmtes Land der Erde (Deut. IV. 20; XXXII.8, 9), dagegen die übrigen Völker und Länder den an-deren von ihm bestellten Göttern überlassen habe.Deshalb wurde er selbst der Gott Israels und der GottJerusalem's (2. Chronik XXXII. 19), die übrigen Göt-ter aber die Götter der anderen Völker genannt. Des-halb glaubten auch die Juden, dass dieses Land, wasGott sich auserwählt, einen besonderen und von demanderer Länder ganz verschiedenen Dienst Gottes ver-lange und den Dienst anderer Götter, wie er in ande-ren Ländern hergebracht sei, nicht vertragen könne.Deshalb glaubten die Völker, welche der assyrischeKönig nach Judäa führte, sie würden von Löwen zer-rissen werden, weil sie den Dienst Gottes in diesem

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Lande nicht kannten (2. Könige XVII. 25, 26). Des-halb sagte auch Jacob, wie Aben Hezra meint, seinenSöhnen, als er nach einem neuen Wohnsitz suchte, siesollten sich auf einen neuen Dienst und fremde Göttergefasst machen, d.h. den Dienst der Götter des Lan-des, wo sie damals waren, verlassen (Gen. XXXV. 2,3). Auch David sagte dem Saul, als er wegen dessenVerfolgung das Vaterland verlassen musste, dass ervon dem Erbtheil Gottes vertrieben und zur Vereh-rung anderer Götter gesandt werde (1. Sam. XXVI.19). Endlich glaubte er, dass dieses Wesen oder Gottseinen Wohnsitz im Himmel habe (Deut. XXXIII.27), welche Meinung unter den Heiden sehr verbreitetwar.

Betrachtet man nun die dem Moses geschehenenOffenbarungen, so zeigt sich, dass sie diesen Meinun-gen angepasst sind. Da er glaubte, Gottes Wesen seisolchen Zuständen unterworfen, wie dem Mitleiden,der Güte u.s.w., so hat sich Gott ihm auch nach dieserMeinung und in diesen Zuständen offenbart (Exod.XXXIV. 6, 7, wo erzählt wird, wie Gott Moses er-schienen ist, und von den Zehn Geboten v. 4, 5). Fer-ner heisst es XXXIII. 18, Moses habe Gott gebeten,dass er ihn sehen dürfe; allein da Moses, wie erwähnt,keine sinnliche Vorstellung von Gott bei sich hattebilden können, und Gott, wie ich gezeigt habe, sichden Propheten nur nach dem Zustande ihrer

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Einbildungskraft offenbart hat, so erschien ihm Gottauch in keiner Gestalt, und ich meine deshalb, weildies nach der Einbildungskraft des Moses nicht an-ging. Denn andere Propheten bezeugen, dass sie Gottgesehen haben; so Esaias, Ezechiel, Daniel u.s.w.Deshalb antwortete Gott dem Moses: »Du wirst meinAntlitz nicht sehen können,« und da Moses Gott fürsichtbar hielt und meinte, dies widerspreche seinergöttlichen Natur nicht, denn sonst hätte er es sichnicht erbeten, so fügt Gott hinzu: »weil Niemandmich schauen und leben wird.« Gott giebt also einenGrund an, der den Ansichten des Moses entspricht; ersagt nicht, dass dies seiner göttlichen Natur wider-sprechend sei, wie es in Wahrheit ist, sondern es seinur wegen der menschlichen Schwäche nicht ausführ-bar. - Als dann Gott dem Moses offenbarte, dass dieIsraeliten wegen der Anbetung des Kalbes den übri-gen Völkern gleich gemacht worden, sagt er XXXIII.2, 3, er wolle einen Engel schicken, d.h. ein Wesen,was an Stelle des Höchsten für die Israeliten sorgenwerde, und er selbst wolle nicht mehr unter ihnensein. Damit blieb für Moses Nichts, woraus hervor-ging, dass die Israeliten Gott lieber waren als die üb-rigen Völker, welche Gott auch der Sorge andererWesen oder Engel übergeben hatte, wie aus v. 16 des-selben Kapitels erhellt. Endlich offenbarte sich Gott,weil Moses glaubte, dass er im Himmel wohne,

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demselben so, als wenn er von dem Himmel auf denBerg herabsteige, und Moses stieg selbst zur AnredeGottes auf den Berg, was nicht nöthig gewesen wäre,wenn er Gott sich hätte überall als gleich zugänglichvorstellen können. Die Israeliten wussten beinahnichts von Gott, obgleich er sich dem Moses offenbarthat; dies zeigte sich, als sie nach wenig Tagen seineEhre und seinen Dienst auf ein Kalb übertrugen undes für jene Götter hielten, durch welche sie ausAegypten geführt wurden. Auch ist es nicht glaublich,dass Menschen, welche an den Aberglauben derAegypter gewöhnt waren, in ihrer Rohheit und ge-beugt durch eine harte Sklaverei, etwas Gesundes vonGott gewusst haben, und dass Moses ihnen mehr alsden Lebenswandel gelehrt habe, wobei er aber nichtals Philosoph von der Freiheit des Willens ausging,sondern als Gesetzgeber durch die Strenge des Geset-zes sie zu einem guten Lebenswandel nöthigte. Des-halb war für sie ein guter Lebenswandel oder einwahres Leben und die Anbetung und Liebe zu Gottmehr ein Joch als eine wahre Freiheit und Gnade undGeschenk Gottes; er hiess sie Gott lieben und seineGesetze befolgen, damit sie Gott für die erhaltenenWohlthaten (nämlich für die Befreiung aus der ägypti-schen Sklaverei) Dank abstatteten, und er erschrecktsie durch Drohungen, wenn sie diese Gebote übertre-ten sollten; dagegen versprach er ihnen viel Gutes,

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wenn sie sie befolgen würden. So behandelte er sieebenso, wie es die Eltern mit ihren noch unverständi-gen Kindern zu machen pflegen, und es ist klar, dasssie die Vortrefflichkeit der Tugend und die wahre Se-ligkeit nicht kannten.

Jonas meinte dem Anblick Gottes sich entziehen zukönnen; daher scheint auch er geglaubt zu haben, dassGott die Sorge für andere Länder, ausser Juda, ande-ren Mächten, die er als Stellvertreter gesetzt, überge-ben habe. Im Alten Testament hat Niemand vernünfti-ger als Salomo über Gott gesprochen, der im natürli-chen Licht alle seine Zeitgenossen übertraf. Deshalbstellte er sich über das Gesetz; denn es ist nur Denengegeben, die der Vernunft und der Zeugnisse der na-türlichen Einsicht entbehren; er achtete alle Gesetze,die den König betrafen und hauptsächlich aus dreienbestanden, gering (Deut. XVII. 16, 17); ja er übertratsie, worin er jedoch irrte und sich eines Philosophennicht würdig benahm, indem er sich den Lüsten über-liess; er lehrte, dass alle Glücksgüter der Sterblicheneitel seien (Prediger Salomo), und dass die Menschennichts Besseres als ihren Verstand hätten, und dassdie Thorheit ihre härteste Strafe sei (Sprüchw. XVI.23).

Ich muss jedoch zu den Propheten zurückkehrenund deren abweichende Ansichten darlegen. Die Rab-biner, welche uns die noch vorhandenen Bücher der

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Propheten hinterlassen haben (wie in der Abhandlungvon Sabbatus I. Blatt 13 S. 2 erzählt wird), haben dieAussprüche des Ezechiel so im Widerspruch mitdenen des Moses gefunden, dass sie schwankten, obsie die Bücher Jenes unter die kanonischen mit auf-nehmen sollten; sie hätten sie ganz unterschlagen,wenn nicht ein gewisser Ananias aus eigenem Antrie-be ihre Auslegung begonnen gehabt hätte. Sie sagen,dies sei mit grosser Mühe und mit Eifer von ihm ge-schehen, aber das Nähere geben sie nicht an, ob ernämlich etwa einen Kommentar geschrieben, der wie-der verloren gegangen, oder ob er die eigenen Worteund Reden des Ezechiel dreist geändert und in seinemSinne zurechtgelegt habe. Mag nun geschehen sein,was da wolle, so scheint zweifellos Kap. 18 nicht mitExod. XXXIV. 7 und mit Jerem. XXXII. 18 überein-zustimmen. Samuel glaubte, dass Gott nie einen sei-ner früheren Beschlüsse bereue (1. Sam. XV. 29),denn er sagte zu Saul, der seine Sünden bereute undzu Gott beten und seine Verzeihung erbitten wollte:»Gott werde seinen Beschluss in Betreff seiner nichtändern.« Dagegen wurde dem Jeremias offenbart(XVIII. 8, 10), dass Gott, wenn er etwas Uebles oderetwas Gutes über ein Volk verhängt habe, es dann be-reue, wenn die Menschen nachher sich bessern oderverschlechtern. Dagegen lehrte Joel, dass Gott nur dasUeble bereue (Joel II. 13). Endlich ergiebt sich aus

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Gen. IV. 7 deutlich, dass der Mensch die Versuchun-gen zur Sünde überwinden und gut handeln kann;denn dies wird Kain gesagt, der doch, wie aus derBibel und aus Josephus erhellt, sie nie überwundenhat. Dasselbe ergiebt sich aufs Klarste aus dem obengenannten Kapitel im Jeremias; denn es heisst, Gottbereue einen auf Strafe oder Wohlthat der Menschengerichteten Beschluss, wenn die Menschen ihren Le-benswandel und ihre Sitten ändern wollen. Dagegensagt Paulus ganz offenbar, dass die Menschen keineGewalt über die Versuchungen des Fleisches haben,soweit nicht Gott sie besonders auserwählt und be-gnadigt habe (Brief an die Römer IX. 10); und wenner III. 5 und VI. 19 Gott die Gerechtigkeit zutheilt, soberuhigt er sich damit, dass er hier in menschlicherWeise und wegen der Schwäche des Fleisches sospreche.

Aus alledem erhellt also zur Genüge, dass, wie ichbehauptet, Gott seine Offenbarungen der Fassung undden Meinungen der Propheten anbequemt hat, unddass die Propheten Dinge, welche die blosse Spekula-tion und nicht die Liebe und den Lebenswandel betra-fen, nicht zu wissen brauchten und auch wirklichnicht gewusst, sondern das Entgegengesetzte gemeinthaben. Es kann deshalb durchaus keine Belehrungüber natürliche und geistige Gegenstände von ihnengeholt werden, und daraus folgt, dass wir den

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Propheten nur so weit zu glauben schuldig sind, als esden Zweck und das Wesen der Offenbarung betrifft;im Uebrigen ist das Glauben in Jedes Belieben ge-stellt. So lehrt uns z.B. die Offenbarung an Kain nur,dass Gott ihn zu einem wahren Leben ermahnt habe;denn das ist die Absicht und das Wesen dieser Offen-barung, aber nicht eine Belehrung über die Willens-freiheit und philosophische Fragen. Wenn also auchin den Worten dieser Ermahnung und ihren Gründendie Willensfreiheit auf das Klarste enthalten ist, sodürfen wir doch das Gegentheil annehmen, da jeneWorte und Gründe nur der Fassungskraft des Kainangepasst worden sind. So will auch die Offenbarungvon Micha nur sagen, dass Gott dem Micha den wah-ren Ausgang der Schlacht des Achab gegen Aram of-fenbart habe, und deshalb brauchen wir auch nur dieszu glauben; was sonst darin enthalten ist über denwahren und falschen Geist Gottes und über das zubeiden Seiten Gottes stehende Heer des Himmels unddie anderen Nebenumstände, Alles dies geht unsnichts an, und Jeder mag davon glauben, was mit sei-nen Einsichten sich vertragt. Dasselbe gilt von denGründen, mit denen Gott dem Hiob seine Macht überAlles darlegt, wenn es nämlich wahr ist, dass hier eineOffenbarung vorliegt, und dass der Verfasser nur er-zählt und nicht, wie Einige meinen, seine eigenen Ge-danken vorgetragen hat. Auch diese Gründe sind nur

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auf die Fassungskraft Hiob's und für seine Ueberzeu-gung eingerichtet, aber sie sind nicht allgemein für Je-dermanns Ueberzeugung gültig. Dies gilt auch für dieGründe Christi, mit denen er die Pharisäer der Hart-näckigkeit und Unwissenheit überführt und seine Jün-ger zum wahren Leben ermahnt; sie sind den Meinun-gen und Grundsätzen der Einzelnen anbequemt.Wenn er z.B. den Pharisäern sagt (Matth. XII. 26):»Und wenn der Satan den Satan vertreibt, so ist er insich selbst gespalten, und wie kann dann sein Reichbestehen?« so wollte er die Pharisäer nur mit ihren ei-genen Lehren schlagen, aber nicht lehren, dass esböse Geister und ein Reich solcher gebe. Wenn er sei-nen Jüngern sagt (Matth. XVIII. 10): »Sorget, dassIhr Keinen dieser Kleinen verachtet, denn ich sageBuch, ihre Engel u.s.w.,« so will er nur sie ermahnen,nicht stolz zu sein und Niemand zu verachten; abernichts weiter, was sonst in seinen Gründen enthaltenist, die er mehr zur besseren Ueberzeugung der Jüngerherbeinimmt. Dasselbe gilt unbedingt von den Aus-führungen und Zeichen der Apostel; ich brauche diesnicht weiter darzulegen, denn ich würde nicht zu Endekommen, wollte ich alle Stellen der Bibel beibringen,die nur für Menschen und ihre Fassungskraft einge-richtet sind, und die nur zum grossen Schaden derPhilosophie als göttliche Lehren vertheidigt werdenkönnen; es genügt, einige allbekannte erwähnt zu

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haben; die übrigen kann der eifrige Leser selbst erwä-gen.

Wenn nun auch das, was ich hier Über die Prophe-ten und die Weissagung gesagt habe, vorzugsweise zumeiner Aufgabe, die Philosophie von der Religion zutrennen, gehört, so dürfte es doch, da ich die Frage imAllgemeinen behandelt habe, auch zweckmässig sein,zu untersuchen, ob die prophetische Gabe den Judenallein beigewohnt hat, oder ob sie ein Gemeingut allerVölker ist, und was von der Berufung der Juden zuhalten ist. Dies wird den Inhalt des folgenden Kapi-tels bilden.

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Drittes Kapitel

Ueber die Berufung der Juden, und ob dieprophetische Gabe ihnen allein eigen gewesen.

Das wahre Glück und die wahre Seligkeit einesJeden besteht mir in dem Genuss des Guten, abernicht in dem Ruhme, dass er es allein und mit Aus-schluss der Anderen geniesse. Denn wer sich deshalbfür glücklicher hält, weil nur er und nicht auch dieUebrigen sich wohl befinden, oder weil er glücklicherals die Anderen ist, der kennt das wahre Glück unddie wahre Seligkeit nicht, und die Fröhlichkeit, derener geniesst, ist nur eine kindische, die blos aus Neidund Bosheit entspringt. So besteht z.B. das wahreGlück und die Seligkeit des Menschen nur in derWeisheit und Erkenntniss der Wahrheit, aber nichtdarin, dass er hierbei den Anderen überlegen sei, oderdass Diese der wahren Kenntniss entbehren; dies kannseine Weisheit, d.h. sein wahres Glück durchaus nichtvermehren. Wer deshalb daran sich erfreut, ist nei-disch und boshaft und kennt weder die wahre Weis-heit noch die Ruhe des wahren Lebens. Wenn deshalbdie Bibel, um die Juden zum Gehorsam des Gesetzeszu ermahnen, sagt, dass Gott sie vor anderen Völkernsich erwählt habe (Deut. X. 15); dass er ihnen nahe

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sei und den Uebrigen nicht so (Deut. IV. 4, 7); dass ernur ihnen gute Gesetze gegeben (ebendaselbst 8) undnur ihnen, mit Zurücksetzung der Uebrigen, sich of-fenbart habe (daselbst 32) u.s.w., so spricht sie nurihrer Fassungskraft gemäss, da die Juden, wie in demvorgehenden Kapitel gezeigt worden und Moses be-zeugt (Deut. IX. 6, 7), die wahre Seligkeit nicht kann-ten. Denn sie wären fürwahr nicht weniger glücklichgewesen, wenn Gott Alle in gleicher Weise zum Heilberufen hätte, und Gott würde ihnen deshalb nichtweniger günstig gewesen sein, wenn er auch den An-deren ebenso nahe gewesen wäre, und ihre Gesetzewürden nicht weniger gerecht und sie selbst nicht we-niger weise gewesen sein, wenn jene auch Allen gege-ben worden wären, und die Wunder Gottes würdenseine Macht nicht weniger dargelegt haben, wenn sieauch anderer Völker wegen geschehen wären, und dieJuden wären nicht weniger verpflichtet zur VerehrungGottes gewesen, wenn Gott alle diese Gaben an Allegleich ausgetheilt hätte. Wenn aber Gott dem Salomosagt (1. Kön. III. 12), dass Niemand nach ihm wiederso weise wie er sein werde, so scheint dies nur eineRedensart für die Bezeichnung seiner ausserordentli-chen Weisheit gewesen zu sein; und sei es, was eswolle, so kann man nicht glauben, dass Gott zur Ver-mehrung von Salomo's Glück ihm versprochen habe,später Niemand mehr solche Weisheit zuzutheilen;

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denn dies hätte die Einsicht Salomo's nicht vermehrt,und ein kluger König würde für ein so grosses Ge-schenk nicht weniger gedankt haben, auch wenn Gottgesagt, dass er Alle mit gleicher Weisheit beschenkenwerde.

Wenn ich nun auch annehme, dass Moses in denerwähnten Stellen seiner Bücher nach der Fassungs-kraft der Juden gesprochen habe, so will ich dochnicht bestreiten, dass Gott die Gesetze Mosis nurihnen allein gegeben hat, und dass er nur zu ihnen ge-sprochen hat, und dass die Juden so viel Wunderbareswie kein anderes Volk erfahren haben. Ich will nursagen, dass Moses in dieser Weise und durch solcheGründe die Juden überzeugen wollte, um sie nachihrer geringen Fassungskraft mehr der VerehrungGottes zuzuwenden; auch habe ich damit zeigen wol-len, dass die Juden nicht durch Wissenschaft nochFrömmigkeit, sondern durch etwas ganz Anderes dieübrigen Völker übertroffen haben, oder dass, wie dieBibel in ihrer Weise sagt, die Juden nicht vor den An-deren zum wahren Leben und erhabenen Wissen-schaften ausgewählt worden, obgleich sie oft dazu er-mahnt worden sind, sondern zu einem ganz andernZwecke. Welcher dies gewesen, werde ich hier derOrdnung nach darlegen.

Ehe ich indess hiermit beginne, will ich mit Weni-gem erklären, was ich unter der Regierung Gottes,

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unter dem äusseren und innerlichen Beistand Gottes,unter der Auserwählung Gottes und endlich unterSchicksal im Folgenden verstehe.

Unter Gottes Regierung verstehe ich die feste undunveränderliche Ordnung der Natur, oder die Verket-tung der natürlichen Dinge; denn ich habe schon obengesagt und an einem andern Orte gezeigt, dass die all-gemeinen Naturgesetze, nach denen Alles geschiehtund sich bestimmt, nur die ewigen Beschlüsse Gottessind, welche immer die ewige Wahrheit und Noth-wendigkeit einschliessen. Es ist daher dasselbe, obich sage, Alles geschieht nach den Gesetzen derNatur, oder Alles ordnet sich nach dem Beschluss undder Leitung Gottes. Ferner ist die Macht aller natürli-chen Dinge nur die Macht Gottes, durch die alleinAlles geschieht und bestimmt wird; daraus folgt, dassAlles, was der Mensch, der ja selbst nur ein Theil derNatur ist, zu seiner Unterstützung und Erhaltung thut,oder Alles, was die Natur ohne sein Zuthun ihm bie-tet, ihm Alles nur von der göttlichen Macht zukommt;sei es, dass sie durch die Natur des Menschen oderdurch die Dinge ausserhalb des Menschen wirkt. Mankann deshalb mit Recht Alles, was die menschlicheNatur nach ihrer Macht zu ihrer Erhaltung vermag,die innere Hülfe Gottes, und Alles, was sonst aus derMacht äusserer Ursachen ihm Nützliches zufällt, dieäussere Hülfe Gottes nennen. Hieraus ergiebt sich

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auch, was unter der Erwählung Gottes zu verstehenist. Denn da Jedermann nur handelt, wie es die vor-herbestimmte Ordnung der Natur mit sich bringt, d.h.nach Gottes ewigem Rathschluss und Leitung, sofolgt, dass Jedermann sich nur die Lebensweise wäh-len und das bewirken kann, wozu Gott ihn besondersberuft, und wie er ihn vor Anderen zu diesem Werkeund zu dieser Lebensweise ausgewählt hat. Endlichverstehe ich unter Schicksal nur die Regierung Gottes,soweit sie durch äussere und unerwartete Ursachendie menschlichen Angelegenheiten bestimmt. Diesvorausgeschickt, kehre ich zu meiner Aufgabe zurückund untersuche, weshalb das jüdische Volk das vonGott erwählte genannt worden ist. Dies wird sich fol-gendermassen zeigen lassen:

Alles, was man rechtlicher Weise begehrt, beziehtsich wesentlich auf Dreierlei; 1) die Dinge aus ihrenobersten Ursachen zu erkennen, 2) die Leidenschaftenzu bändigen oder die Tugend sich zur Gewohnheit zumachen, und 3) sicher und gesund zu leben. Die Mit-tel für die beiden ersten Ziele, die als die nächsten undwirksamsten Ursachen gelten können, bietet diemenschliche Natur selbst; ihr Erwerb hängt deshalbwesentlich nur von unserer Macht oder nur von denGesetzen der menschlichen Natur ab, und deshalbmüssen diese Güter nicht als die besonderen einesVolkes, sondern als die gemeinsamen des

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menschlichen Geschlechts angesehen werden; manmüsste denn sich einbilden, dass die Natur ehedemverschiedene Gattungen von Menschen hervorge-bracht habe. Dagegen beruhen die Mittel für ein si-cheres Leben und die Bewahrung der Gesundheit vor-zugsweise auf äusseren Dingen, und man nennt siedeshalb Gaben des Glücks, da sie hauptsächlich vondem uns unbekannten Gange der äusseren Ursachenabhängen, und ein Dummer daher hierin ebenso vielGlück oder Unglück wie ein Kluger haben kann. Den-noch vermag die menschliche Fürsorge und Wach-samkeit viel für die Schonung des Lebens und für denSchutz gegen den Schaden von anderen Menschenund Thieren. Kein besseres Mittel lehrt in dieser Be-ziehung die Vernunft und die Erfahrung, als eine Ge-sellschaft mit festen Gesetzen zu bilden, einen be-stimmten Landstrich einzunehmen und alle Kraft fürdie Gesellschaft, gleich wie für einen Körper, zu ver-wenden. Denn zur Bildung und Erhaltung solcher Ge-sellschaft gehört keine geringe Klugheit und Wach-samkeit; deshalb wird eine solche Gesellschaft siche-rer, beständiger und den Unfällen des Schicksals we-niger ausgesetzt sein, wenn sie vorzüglich von klugenund wachsamen Männern gegründet und regiert wird,während eine, die nur aus ungebildeten Menschen be-steht, grösstentheils vom Glück abhängt und wenigerBestand hat. Dauert sie doch länger, so dankt sie dies

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nicht ihrer, sondern fremder Leitung, und wenn siegrosse Gefahren überwindet, und ihre Angelegenhei-ten gut gehen, so muss sie Gottes Regierung bewun-dern und anbeten, insofern dann Gott durch verbor-gene äussere Ursachen, und nicht insofern er durchdie Natur der Seele der Menschen wirkt; denn dannbegegnet ihr etwas ganz Unerwartetes gegen dieRegel, was in Wahrheit als ein Wunder gelten kann.

Die Völker unterscheiden sich daher nur durch dieArt ihrer Verbindung und Gesetze, unter denen sieleben und regiert werden, und das jüdische Volk istdeshalb nicht wegen seiner Einsicht oder Seelenruhevor Anderen von Gott auserwählt worden, sondernwegen seiner Verfassung und des Glückes, dass eseine Herrschaft gewonnen und viele Jahre behaltenhat. Die Bibel selbst ergiebt dies auf das Deutlichste.Schon ein leichtes Durchgehen derselben zeigt, dassdie Juden die anderen Völker nur darin übertrafen,dass sie die zur Sicherheit des Lebens nöthigen Dingeglücklich vollbracht, grosse Gefahren überstandenhaben und dies hauptsächlich dem äusseren BeistandeGottes verdankten, während im Uebrigen sie den An-deren gleich waren, und Gott Allen gleich gnädig undgewogen war.

Was nämlich den Verstand anlangt, so erhellt nachdem in dem vorigen Kapitel Dargelegten, dass sieüber Gott und die Natur nur sehr gewöhnliche

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Begriffe gehabt haben; deshalb waren sie rücksicht-lich des Verstandes von Gott nicht bevorzugt undebenso wenig rücksichtlich der Tagend und des wah-ren Lebens; denn auch darin standen sie den übrigenVölkern gleich, und nur sehr Wenige waren auserle-sen. Deshalb bestand deren Erwählung und Berufungnur in dem zeitlichen Glück der Herrschaft und derVortheile, und ich wüsste nicht, dass Gott den Erzvä-tern und ihren Nachfolgern etwas Weiteres verheissenhätte; vielmehr werden ihnen selbst in Mosis Gesetzfür ihren Gehorsam nur die glückliche Fortdauer ihrerHerrschaft und die sonstigen Genüsse des Lebens ver-heissen, und dagegen der Untergang des Reiches unddie schwersten Uebel angedroht, wenn sie ungehor-sam werden und das Uebereinkommen brechen soll-ten. Das ist auch nichts Wunderbares; denn der ganzeZweck der Gemeinschaft und des Staates ist, wie dasObige ergiebt und später ausführlicher gezeigt werdenwird, die Sicherheit und Bequemlichkeit des Lebens;ein Staat kann aber nur mit Gesetzen bestehen, denenJeder unterworfen ist; und wollten alle Glieder einerGemeinschaft den Gesetzen Lebewohl sagen, so wür-den sie damit die Gemeinschaft auflösen und denStaat zerstören.

Gott konnte also der Gemeinschaft der Juden fürihre treue Beobachtung der Gesetze nur ein sicheresund bequemes Leben verheissen, und umgekehrt

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konnte er ihnen als Strafe ihres Ungehorsams nur denUntergang des Reichs und die daraus folgenden Uebelneben denen voraussagen, die sie aus dem Untergangeihres besondern Staats noch besonders treffen würden,worüber ich hier nicht ausführlicher zu sprechen brau-che. Nur das Eine bemerke ich, dass die Gesetze desAlten Testaments blos den Juden offenbart und gege-ben worden sind; denn da Gott sie zur Begründungeiner besondern Gemeinschaft und Staates sich auser-wählt, so mussten sie nothwendig auch besondere Ge-setze haben; ob aber Gott auch andern Völkern be-sondere Gesetze gegeben und deren Gesetzgebern sichprophetisch offenbart habe, nämlich unter den Eigen-schaften, unter denen sie sich Gott vorzustellen pfleg-ten, dies kann ich nicht sicher behaupten. Indess er-hellt aus der Bibel, dass auch andere Völker durchGottes äussere Leitung ein besonderes Reich mit be-sondern Gesetzen gehabt haben, und ich kann dafürzwei Stellen aus derselben beibringen. In Gen. XIV.18, 19, 20 wird erzählt, dass Melchisedek, König vonJerusalem, ein Hoherpriester Gottes gewesen, unddass er den Abraham gesegnet habe, wie dies der Ho-hepriester konnte (Num. VI. 23), und endlich, dassAbraham, der Liebling Gottes, den zehnten Theil derBeute dem Hohenpriester Gottes gegeben habe. DiesAlles zeigt, dass Gott, schon ehe er das IsraelitischeVolk vereinigte, Könige und Hohepriester in

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Jerusalem eingesetzt hat und ihnen Gebräuche undGesetze gegeben hat; nur steht es nicht fest, ob es,wie gesagt, prophetisch geschehen ist; doch bin ichwenigstens überzeugt, dass Abraham während seinesdortigen Aufenthalts nach diesen Gesetzen gelebt hat,denn Abraham erhielt keine besondern Gebräuche vonGott vorgeschrieben, und doch heisst es Gen. XXVI.5, dass Abraham den Gottesdienst, die Gebote, Ein-richtungen und Gesetze Gottes, was ohne Zweifel diedes Melchisedek gewesen sind, befolgt habe. Mala-chias macht I.10, 11 den Juden die Vorhaltung: »Werunter Euch schliesst die Pforten (d.h. meines Tem-pels), damit das Feuer nicht vergeblich auf meinenAltar gebracht werde; an Euch habe ich keinen Gefal-len u.s.w. Denn vom Aufgang der Sonne bis zum Nie-dergang ist mein Name gross unter den Völkern, undüberall werden mir Weihrauch und reine Geschenkegespendet; denn mein Name ist gross unter den Völ-kern, sagt Gott der Heerschaaren.« Mit diesen Wor-ten, die, wenn man ihnen nicht Gewalt anthun will,nur die gegenwärtige Zeit bezeichnen, ist genügendbezeugt, dass die Juden zu jener Zeit von Gott nichtmehr als andere Völker geliebt wurden, ja, dass Gottdamals andern Völkern durch Wunder bekannter ge-wesen als den Juden, welche damals ohne Wunder dasReich zum Theil wieder erlangt hatten, und dass dieVölker damals Gott wohlgefällige Gebräuche und

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Sitten gehabt haben. Ich lasse indess dies bei Seite, dazu meinem Zweck der Beweis genügt, dass die Er-wählung der Juden sich nur auf das zeitliche Glückdes Körpers und die Freiheit bezogen hat, oder aufdas Reich und die Mittel und Wege, wodurch sie eserlangt, und folglich auch auf die Gesetze, soweit siezur Befestigung dieses besondern Reiches nothwendigwaren, und auf die Art ihrer Offenbarung. Dagegensind sie im Uebrigen und in dem, was die wahreGlückseligkeit des Menschen ausmacht, den Anderngleich gewesen. Wenn es deshalb in der Bibel (Deut.IV. 7) heisst, dass keinem Volke seine Götter so nahegewesen, wie den Juden Gott, so ist dies nur vonihrem Staate und von jener Zeit, wo ihnen so vielWunder begegneten, zu verstehen; denn in Bezug aufEinsicht und Tugend, d.h. in Bezug auf Seligkeit, istGott, wie gesagt und durch die Vernunft selbst bewie-sen worden, Allen gleich gnädig, wie auch aus derBibel selbst genügend erhellt; denn es sagt der Psal-mist (Psalm. CXLV. 18): »Gott ist Allen nahe, dieihn rufen und Allen, die ihn wahrhaft rufen.« Derselbesagt daselbst v. 9: »Gott ist Allen liebevoll, und seineBarmherzigkeit besteht für Alles, was er gemachthat.« Auch heisst es im Psalm. XXXIII. 15 deutlich,dass Gott Allen den gleichen Verstand gegeben habe;die Worte sind: »er bildet auf gleiche Weise ihrHerz.« Das Herz galt nämlich bei den Juden für den

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Sitz der Seele und des Verstandes, wie Allen bekanntsein wird.

Ferner erhellt aus Hiob XXVIII. 28, dass Gott demganzen Menschengeschlecht das Gesetz gegebenhabe, ihn zu verehren und sich der schlechten Werkezu enthalten, d.h. Gutes zu thun, und deshalb warHiob, obgleich ein Heide, von Allen Gott der Liebste,da er Alle an Frömmigkeit und Religion übertraf. -Ferner erhellt deutlich aus Jonas IV. 2, dass Gottnicht blos für die Juden, sondern für Alle gnädig,barmherzig, langmüthig und voller Liebe ist und dasUnglück bemitleidet. Denn Jonas sagt: »deshalb hatteich vorher beschlossen, nach Tharsus zu fliehn, weilich wusste (nämlich aus den Worten Mosis in Exod.XXXIV. 6), dass Du, mein Gott, gnädig, barmherzigu.s.w. bist« und deshalb werde er auch den Heiden inNinive vergeben. Es ergiebt sich hieraus, da GottAllen gleich gewogen ist, und die Juden nur in Bezie-hung auf ihre Gemeinschaft und ihren Staat von Gottauserwählt worden, dass der einzelne Jude ausserhalbdieser Gemeinschaft und dieses Staats, für sich be-trachtet, keine Gabe von Gott vor den Andern emp-fangen hat, und dass kein Unterschied zwischen ihmund den Heiden besteht. Ist es daher richtig, dass GottAllen in gleicher Weise gütig und barmherzig ist, unddass das Amt der Propheten war, nicht die besondernGesetze des Landes, sondern die wahre Tugend zu

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lehren und die Menschen dazu zu ermahnen, so habenoffenbar alle Völker ihre Propheten gehabt, und dieprophetische Gabe war keine den Juden eigenthümli-che. Dieses bestätigen auch in Wahrheit die weltlichewie die heilige Geschichte. Wenn auch aus der heili-gen Geschichte des Alten Testaments nicht erhellt,dass die andern Völker so viel Propheten wie dieJuden gehabt haben, ja, dass Gott keinen Heiden aus-drücklich als Propheten den Völkern gesandt hat, somacht dies nichts aus, da die Juden nur für die Auf-zeichnung ihrer Ereignisse, aber nicht derer andrerVölker sorgten. Es genügt, dass nach dem Alten Te-stament Heiden und Unbeschnittene, wie Noah, Cha-noch, Abimelech, Bileam u.s.w., prophezeit haben,und dass die jüdischen Propheten von Gott nicht blosihrem Volke, sondern auch vielen andern Völkern ge-sandt worden sind; denn Ezechiel hat allen damals be-kannten Völkern prophezeit; Hobadias, so viel wirwissen, mir den Idumäern, und Jonas war vorzüglichder Prophet für die Bewohner Ninive's. Esaias beklagtnicht blos das Elend der Juden und weissagt und be-singt nicht blos ihre Rückkehr, sondern auch die an-derer Völker; denn er sagt XVI. 9: »deshalb werde ichmit Thränen Jazerem beklagen«, und XIX. sagt er erstdas Unglück der Aegypter und nachher ihre Wieder-befreiung voraus. Man sehe XIX. 19, 20, 21, 25;nämlich Gott werde ihnen einen Retter senden, der sie

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befreien wird, und Gott werde ihnen bekannt werden,und die Aegypter würden zuletzt Gott mit Opfern undGeschenken verehren. Zuletzt nennt er dieses Volk:»das gesegnete ägyptische Volk Gottes«, Aussprüche,die wohl zu beachten sind. Auch Jeremias heisst nichtder Prophet der Juden, sondern nur der Prophet derVölker (Jerem. I. 5), wo er in seinen Weissagungendas Unglück der Völker beweint und ihre Wiederher-stellung verkündet; denn er sagt XLVIII. 31 über dieMoabiter: »deshalb werde ich über Moab jubeln, undich schreie auf für ganz Moab, so laut wie einePauke«; und endlich weissagt er ihre Wiederherstel-lung und auch die der Aegypter, Ammoniter und Ela-miter. Unzweifelhaft haben daher andere Völker, wiedie Juden, ihre Propheten gehabt, die ihnen und denJuden weissagten. Wenn auch die Bibel nur des einenBileam erwähnt, dem die Zukunft der Juden und ande-ren Völkern offenbart worden, so ist es doch nichtglaublich, dass Bileam blos bei dieser Gelegenheitgeweissagt habe; denn es ergiebt sich aus der ganzenErzählung auf das Deutlichste, dass er schon langevorher geweissagt und durch göttliche Gaben geglänzthat. Denn als Balak ihn zu sich kommen heisst, sagter (Num. XXII. 6): »weil ich weiss, dass der, den Dusegnest, gesegnet, und der, den Du verfluchst, ver-flucht ist.« Deshalb hatte er dieselbe Kraft, die GottAbraham gegeben hatte (Geil. XII. 3). Dann

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antwortet Balam, der an die Weissagungen gewöhntwar, den Abgesandten, sie sollten bei ihm bleiben, bisGott ihm seinen Willen offenbart haben werde. Beidem Weissagen, d.h. bei der Verkündung des wahrenWillens Gottes, pflegte er von sich zu sagen: »DasWort dessen, der die Worte Gottes hört, der das Wis-sen (oder die Gedanken oder das Voraussehn) desHöchsten kennt, der die Erscheinung des Allmächti-gen sieht, niederfallend und mit verdeckten Augen.«Zuletzt beginnt er, nachdem er die Juden im AuftrageGottes gesegnet hat, den andern Völkern, wie ge-wöhnlich, zu weissagen und ihnen das Zukünftigevorauszusagen. Dies Alles lehrt zur Genüge, dass erimmer ein Prophet gewesen ist, und dass er, was hiernoch erheblich ist, das gehabt, was die Propheten vor-züglich von der Wahrheit ihrer Weissagungen über-zeugte, nämlich eine nur dem Gerechten und Gutenzugewendete Seele. Denn er segnete und fluchte nicht,wen er wollte, wie Balak meinte, sondern nur die, dieGott gesegnet oder verflucht haben wollte, und er ant-wortete deshalb Balak: »Wenn mir auch Balak so vielSilber und Goldes gäbe, dass ich sein Haus damit fül-len könnte, so kann ich doch das Gebot Gottes nichtüberschreiten und nicht nach Belieben das Gute unddas Böse thun; ich werde sprechen, was Gott spricht.«Wenn Gott ihm auf der Reise zürnte, so geschah diesauch dem Moses so, als er im Auftrage Gottes nach

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Aegypten reiste (Exod. IV. 24); und wenn er Geld fürseine Weissagungen nahm, so that dies auch Samuel(1. Samuel IX. 7, 8), und wenn er wo gesündigt hat(2. Brief Petri II. 15, 16 und Judae 11), »so ist Nie-mand so gerecht, dass er immer gut handelt und nie-mals sündigt« (Predig. Salom. VII. 21). Auch müssenseine Reden immer viel bei Gott gegolten haben, undseine Macht, zu verfluchen, war sicherlich gross, daes so oft in der Bibel vorkommt, wenn die Barmher-zigkeit Gottes gegen die Israeliten nachgewiesen wer-den soll, dass Gott den Bileam nicht hat hören wol-len, und dass er dessen Fluch in Segen verwandelthabe (Deut. XXIII. 5, Josua XXIV. 10, Nehem. XIII.2). Er war daher unzweifelhaft Gott sehr angenehm;denn die Reden und Verwünschungen der Gottlosenrühren Gott nicht. War Bileam daher ein wahrer Pro-phet, den Josua (XIII. 22) einen »göttlichen« oder»Wahrsager« (augur) nennt, so erhellt, dass dieserKäme auch im guten Sinne gebraucht wurde, und dassDie, welche die Heiden so nannten, wahre Prophetengewesen sind, und dass Die, welche die Bibel häufiganklagt und verurtheilt, falsche Propheten gewesensind, die die Völker ebenso, wie die falschen Prophe-ten die Juden, betrogen, wie auch aus andern Stellender Bibel sich ergiebt.

Ich nehme daraus ab, dass die Gabe der Weissa-gung keine Eigenthümlichkeit der Juden gewesen,

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sondern allen Völkern zugekommen ist. Die Pharisäerbehaupten allerdings eifrig das Gegentheil, und dassdie übrigen Völker nur aus einer, ich weiss nicht wel-cher teuflischen Kraft (denn was erfindet nicht derAberglaube) die Zukunft vorhergesagt. Die Hauptstel-le des Alten Testaments, auf die sie sich zum Beweisedessen berufen, ist Exod. XXXIII. 16, wo Moses zuGott sagt: »Woran soll man erkennen, dass ich undDein Volk Gnade vor Deinen Augen gefunden haben?Gewiss, wenn Du von uns gehst, werden ich und DeinVolk von allen Völkern, die auf der Erde sind, ge-trennt sein.« Sie wollen daraus folgern, dass MosesGott gebeten, den Juden gegenwärtig zu bleiben undihnen sich prophetisch zu offenbaren, aber dieseGnade keinem andern Volke zu erweisen. Es wäre in-dess wahrhaftig zum Lachen, wenn Moses andernVölkern die Gegenwart Gottes nicht gegönnt undGott um so etwas zu bitten gewagt hätte. Vielmehrverhält es sich so, dass Moses den widerspenstigenSinn und Charakter seines Volkes kannte und klareinsah, wie sie ohne die grössten Wunder und den be-sondern äusserlichen Beistand Gottes das Unterneh-men nicht vollenden, sondern ohne solche Hülfe zuGründe gehn würden. Deshalb, damit erhellt, dassGott sie erhalten wolle, bat er Gott um seinen beson-dern Beistand. Denn so sagt er XXXIV. 9: »Wenn ichGnade vor Deinen Augen gefunden habe, o Herr, so

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gehe, ich bitte Dich, unter uns, denn dieses Volk istungehorsam u.s.w.« Hiernach bittet er also ausdrück-lich Gott um Hülfe, weil das Volk ungehorsam war,und die Antwort Gottes zeigt noch deutlicher, dassMoses nur diesen äussern Beistand erbeten habe;denn Gott antwortet sofort (daselbst v. 10): »Siehe,ich schliesse einen Bund, dass ich vor Deinem ganzenVolke Wunder verrichten werde, wie sie auf der gan-zen Erde nicht geschehen sind und bei keinem Volkeu.s.w.« Demnach spricht Moses hier von der Erwäh-lung der Juden nur in dem von mir dargelegten Sinneund hat nur dies von Gott erbeten.

Indess ist in Pauli Briefe an die Römer eine erheb-lichere Stelle, wo (III. 1) Paulus etwas Anderes, alsich hier, zu lehren scheint, indem er sagt: »Welchesist also der Vorzug von Juda, und was der Nutzen derBeschneidung? ein grosser in aller Weise; das Für-nehmste ist, dass ihm die Aussprüche Gottes anver-traut worden.« Betrachtet man indess die Lehre, wel-che Paulus vorzüglich darlegen will, so findet sichNichts, was der meinigen widerspricht; vielmehr lehrter dasselbe, wie ich, denn er sagt v. 29, dass Gott derGott der Juden und Heiden sei und (II. 25, 26), »dasswenn ein Beschnittener von dem Gesetz abtrünnigwerde, so werde die Beschneidung zur Vorhaut wer-den, und wenn umgekehrt die Vorhaut das Gesetzes-gebot befolge, so werde dessen Vorhaut für

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Beschneidung gelten.« Dann sagt er (III. 9), dassAlle, die Juden wie die Heiden, in der Sünde gewesen,dass es aber ohne Gebot und Gesetz keine Sündegebe. Hieraus erhellt deutlich, dass das Gesetz Allenunbedingt (wie auch oben aus Hiob XXVIII. 28 ge-zeigt worden) offenbart gewesen ist und Alle unterdemselben gelebt haben, nämlich das nur die Tugendbetreffende Gesetz, und nicht das, was nach den Ver-hältnissen und der Verfassung eines einzelnen Staateserrichtet und dem Geist des besondern Volkes ange-passt wird. Endlich folgert Paulus, dass, weil Gott derGott aller Völker ist, d.h. allen gleich gnädig ist, undalle unter dem Gesetz und der Sünde gewesen sind,dass Gott seinen Christus allen Völkern geschickthabe, um sie alle gleich aus der Knechtschaft des Ge-setzes zu erlösen, damit sie ferner nicht mehr des Ge-setzgebots wegen, sondern aus eignem beharrlichemBeschluss gut handelten. Paulus lehrt sonach genau,was ich behaupte. Wenn er daher sagt: »nur denJuden seien die Aussprüche Gottes anvertraut wor-den«, so heisst dies entweder, dass nur sie mit einemgeschriebenen Gesetz betraut worden, die andern Völ-ker aber nur mit einem durch Offenbarung und imVerstande mitgetheilten; oder man muss annehmen,dass Paulus, indem er nur die möglichen Einwürfe derJuden beachtet, nach der Fassungskraft und den da-mals herrschenden Meinungen derselben antwortet;

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denn nach dem, was er theils gesehen, theils gehörthatte, war er ein Grieche mit den Griechen und einJude mit den Juden.

Ich habe nun nur noch auf einige Gegengründe zuantworten, aus denen folgen soll, dass die Erwählungder Juden keine bloß zeitliche, auf ihren Staat bezüg-liche, sondern eine ewige sei. Man sagt, die Judenseien trotz des Verlustes ihres Reiches und ihrer Zer-streuung durch so lange Zeit und trotz ihrer Trennungvon allen Völkern, doch erhalten geblieben, was kei-nem andern Volke begegnet sei. Ferner sollen vieleStellen der heiligen Schriften ergeben, dass Gott sichdie Juden in Ewigkeit erwählt habe, und dass siedaher auch nach dem Verlust ihres Reiches die Auser-wählten Gottes bleiben. Diese Stellen sind hauptsäch-lich: 1) Jerem. XXXII. 36, wo der Prophet bezeugt,dass der Same Israels in Ewigkeit das Volk Gottesbleiben werde, indem er sie mit der festen Ordnungder Himmel und der Natur vergleicht; ferner 2) Eze-chiel XX. 32 u. f., wo er sagen will, Gott werde,trotzdem dass die Juden absichtlich den Dienst Gottesverlassen hätten, sie doch aus allen Ländern, in die siezerstreut worden, wieder sammeln und in die Wüsteder Völker, wie er deren Vorfahren in die WüstenAegyptens geführt, und endlich von da werde er,nachdem er die Widerspenstigen und Abtrünnigen ge-sondert, sie zum Berge seiner Heiligkeit führen, wo

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der ganze Stamm Israels ihn verehren werde.Die Pharisäer pflegen zwar noch einige andere

Stellen anzuführen, indess glaube ich, es wird genü-gen, wenn ich auf diese beiden antworte, was leichtgeschehen kann, nachdem ich aus der Bibel nachge-wiesen haben werde, dass Gott die Juden nicht inEwigkeit auserwählt, sondern nur unter den Bedin-gungen, wie früher die Kananiter, die auch, wie ge-zeigt worden, Hohepriester hatten, welche Gott gläu-big verehrten, und welche Gott doch wegen ihrer Uep-pigkeit, ihrer Trägheit und ihres schlechten Gottes-dienstes verwarf. Moses ermahnt nämlich (Lev.XVIII. 27, 28) die Israeliten, sich nicht mit Unzuchtzu beflecken, wie die Kananiter, damit nicht die Erdesie ausspeie, wie sie es mit jenen Völkern that, diedieses Land bewohnten, und er droht ihnen (Deut.VIII. 19, 20) ausdrücklich den völligen Untergang,indem er sagt: »Ich sage Euch heute, dass Ihr gänzlichuntergehen werdet, wie die Völker, welche Gott ausEurer Gegenwart hat untergehen lassen, so werdet Ihruntergehn«. In dieser Weise finden sich noch andereStellen in den Büchern Mosis, die ausdrücklich sagen,dass Gott nicht unbedingt und nicht in Ewigkeit dasjüdische Volk erwählt habe. Wenn daher die Prophe-ten ihnen ein neues und ewiges Bündniss mit demGott der Erkenntniss, Liebe und Gnade voraussagten,so erhellt leicht, dass dies nur den Frommen galt;

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denn in dem eben erwähnten Kapitel des Ezechielheisst es ausdrücklich, dass Gott die Widerspenstigenund Abtrünnigen von ihnen sondern werde, und in Ze-phania III. 12, 13 heisst es, dass Gott die Hoffärtigenaus ihrer Mitte nehmen und nur die Armen übrig las-sen werde. Da nun diese Erwählung sich nur auf diewahre Tugend bezieht, so kann sie nicht blos denfrommen Juden mit Ausschluss der übrigen verspro-chen sein, sondern die wahren Propheten der Heiden,die, wie gezeigt, bei allen Völkern bestanden haben,werden dasselbe auch den Getreuen ihrer Völker ver-heissen und sie damit getröstet haben. Deshalb istdieser ewige Bund mit dem Gott der Erkenntniss undLiebe ein allgemeiner, wie auch aus Zephania III. 10,11 klar erhellt.

Hiernach bestellt hier kein Unterschied zwischenJuden und Heiden und für jene keine andere, als diebereits erwähnte, besondere Erwählung. Wenn diePropheten diese Erwählung, die blos die wahre Tu-gend betrifft, mit Opfern und andern Gebräuchen undmit dem Wiederaufbau des Tempels und der Stadtvermengen, so haben sie nach der Sitte und Natur derWeissagung die geistigen Dinge durch solche Wen-dungen erläutern wollen, dass sie den Juden, derenPropheten sie waren, zugleich die Herstellung desReichs und Tempels, die zu Cyrus' Zeit zu erwartensei, andeuteten. Deshalb haben die heutigen Juden

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durchaus nichts vor den andern Völkern voraus, undwenn sie so viele Jahre in der Zerstreuung ohne Reichausgehalten haben, so ist dies nicht auffallend, da siesich von allen Völkern abgesondert und sich den Hassaller aufgeladen haben, und dies nicht blos in äussern,den andern Völkern widersprechenden Gebräuchen,sondern auch in dem Zeichen der Beschneidung aufdas Gewissenhafteste festgehalten wird. Die Erfah-rung lehrt aber, dass der Hass der Völker sie erhält.Als der König von Spanien einst die Juden zwang,entweder die Religion seines Staates anzunehmenoder in die Verbannung zu gehen, nahmen sehr vieleJuden die katholische Religion an, und indem diesealle Vorrechte der eingebornen Spanier erhielten undin allen Ehrenrechten ihnen gleichgestellt wurden, sovermischten sie sich sofort mit den Spaniern in derArt, dass nach kurzer Zeit keine Spur und kein An-denken von ihnen geblieben ist. Das Gegentheil ereig-nete sich bei denen, welche der König von Portugalzwang, die Landesreligion anzunehmen; sie bliebentrotzdem immer von den Übrigen Einwohnern ge-trennt, weil sie aller Ehrenrechte für unwürdig erklärtworden waren.

Ich glaube auch, dass die Sitte der Beschneidung somächtig ist, dass sie allein dieses Volk in Ewigkeit er-halten kann; ja, wenn die Grundlagen seiner Religionihren Geist nicht verweichlichten, so würde ich sicher

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glauben, dass sie einst bei passender Gelegenheit undbeim Wechsel der menschlichen Schicksale ihr Reichwieder aufrichten werden, und Gott sie von Neuem er-wählen werde. Ein merkwürdiges Beispiel der Arthaben wir an den Chinesen, welche ebenfalls ein Zei-chen am Kopfe, durch das sie sich von allen Andernunterscheiden, ängstlich bewahren. Denn sie haben indieser Trennung Jahrtausende von Jahren sich erhal-ten, und das chinesische Volk übertrifft im Alter alleandern Völker; auch haben sie nicht immer die Herr-schaft gehabt; aber wenn sie sie verloren hatten, er-langten sie sie auch wieder, und sie werden sie auchjetzt unzweifelhaft wieder gewinnen, wenn der Geistder Tartaren durch die Ueppigkeit des Reichthumsund durch Trägheit erschlafft sein wird.

Wollte endlich Jemand dabei beharren, dass dieJuden aus diesem oder einem andern Grunde von Gottin Ewigkeit auserwählt seien, so will ich ihm nichtentgegen sein, wenn er nur anerkennt, dass diese zeit-liche oder ewige Erwählung, soweit sie die Juden al-lein betrifft, sich nur auf ihr Reich und die Bequem-lichkeiten des Lebens bezieht, was allein ein Volkvon dem andern unterscheiden kann. Dagegen kannrücksichtlich des Verstandes und der wahren Tugendkein Volk mehr haben als das andere, und keineskann deshalb hierin von Gott vor andern auserwähltsein.

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Viertes Kapitel

Ueber das göttliche Gesetz.

Das Wort »Gesetz« an sich bezeichnet das, wonachjeder Einzelne, seien es Alle oder Einige einer Gat-tung, auf dieselbe feste und bestimmte Weise handelt;es hängt entweder von der Naturnothwendigkeit odervon dem Belieben der Menschen ab. Ersteres folgtaus der Natur oder Definition des Gegenstandes selbstmit Nothwendigkeit; das Gesetz aus dem Belieben derMenschen, was eigentlich das Recht genannt wird, istdagegen das, was die Menschen zur Sicherheit undBequemlichkeit des Lebens oder aus andern Gründensich und Andern aufgelegt haben. So ist es z.B. dasGesetz, wonach alle Körper bei dem Stoss gegen klei-nere so viel von ihrer Bewegung verlieren, als siejenen mittheilen, ein allgemeines für alle Körper, wasaus ihrer Natur nothwendig folgt. Ebenso ist es einaus der menschlichen Natur nothwendig folgendesGesetz, dass der Mensch bei der Erinnerung einerSache sich auch sofort der ähnlichen oder der mitjener früher zugleich gehabten Vorstellung erinnert.Dagegen hängt es von dem menschlichen Belieben ab,dass die Menschen ihr natürliches Recht abtreten oderabtreten müssen und einer bestimmten Lebensweise

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sich unterwerfen.Wenn ich auch zugebe, dass Alles nach allgemei-

nen Naturgesetzen sich zum Dasein und zum Wirkenin scharfer und fester Weise bestimmt, so meine ichdoch, dass diese Gesetze von dem Belieben der Men-schen abhängen: 1) weil der Mensch selbst ein Theilder Natur ist und deshalb auch einen Theil ihrer Kraftausmacht. Was daher aus der Nothwendigkeit dermenschlichen Natur folgt, d.h. aus der Natur selbst,soweit wir sie durch die menschliche Natur bestimmtvorstellen, das folgt, obgleich nothwendig, dennochauch aus der menschlichen Macht. Deshalb kann manganz richtig sagen, dass die Feststellung jener Gesetzevon dem Belieben der Menschen abhängt, weil siewesentlich von der Macht des menschlichen Geistesso abhängen, dass nichtsdestoweniger der menschli-che Geist, soweit er die Dinge unter dem Gesichts-punkt des Wahren und Falschen auffasst, sie auchohne diese Gesetze klar auffassen könnte, aber nichtohne das nothwendige Gesetz, wie ich es eben erklärthabe. 2) Ich habe gesagt, dass diese Gesetze auch des-halb von dem Belieben der Menschen abhängen, weilman die Dinge nach ihren nächsten Ursachen bestim-men und erläutern muss, und weil jene allgemeineAuffassung des Schicksals und der Verkettung derUrsachen uns für die Bildung und Ordnung unsererKenntniss der besondern Dinge nicht weiter bringt.

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Dazu kommt, dass die Reihenfolge und Verkettungder Dinge, wie sie in Wahrheit sich folgen und ver-knüpft sind, ganz unbekannt ist, und es ist deshalb fürdas Leben besser, ja nothwendig, die Dinge als mög-lich zu nehmen. So viel über das Gesetz an sich be-trachtet.

Allein dieses Wort wird durch Uebertragung auchauf natürliche Dinge angewendet, und man verstehtmeist unter Gesetz nur einen Befehl, den die Men-schen befolgen oder vernachlässigen können, weil esdie menschliche Macht in gewisse Schranken stellt,über die sie an sich hinausreicht, und weil es nichtetwas darüber hinaus verlangt. Hiernach ist das Ge-setz im engem Sinne eine Weise zu leben, die derMensch sich oder Andern zu einem Zwecke vor-schreibt. Da indess der Zweck der Gesetze nur Weni-gen bekannt zu sein pflegt, und die Meisten zu dessenVerständniss ganz ungeschickt sind und nichts weni-ger als nach der Vernunft leben, so haben die Gesetz-geber, um Alle gleich zu verpflichten, ein anderes,von dem aus der Natur des Gesetzes nothwendig fol-genden ganz verschiedenes Ziel gesetzt, indem sie denVerfechtern der Gesetze das versprechen, was dieMenge am meisten liebt, und den Gesetzesverletzerndas androhn, was sie am meisten fürchtet. So habensie gesucht die Menge, gleich ein Pferd durch denZügel, soweit als möglich in Ordnung zu halten, und

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daher ist es gekommen, dass vorzugsweise die Le-bensweise, die den Menschen durch Anderer Befehlvorgeschrieben wird, unter Gesetz verstanden wird,und dass von Denen, welche den Gesetzen folgen, esheisst, sie leben unter den Gesetzen und scheinen zudienen, während in Wahrheit Der, welcher dem An-dern nur das Seine giebt, weil er den Galgen fürchtet,lediglich in Folge des in des Andern Befehl und indem Uebel liegenden Zwanges so handelt und nichtgerecht heissen kann, sondern nur Der, welcher Jedemdas Seine giebt, weil er die wahre Natur der Gesetzeund ihre Nothwendigkeit kennt und mit Festigkeit undaus eignem, nicht aber aus fremdem Entschluss han-delt. Deshalb verdient nur dieser gerecht genannt zuwerden. Dies hat wohl auch Paulus mit den Wortensagen wollen, »dass, wer unter dem Gesetz lebe,durch das Gesetz nicht gerechtfertigt werden könne«.Denn die Gerechtigkeit ist nach der gebräuchlichenDefinition der feste und beharrliche Wille, Jedem dasSeine zu geben. Deshalb sagt Salomo (Sprüchwört.XXI. 15): »Der Gerechte freut sich über das Gericht;aber die Ungerechten sind voll Furcht«.

Wenn sonach das Gesetz nur die Lebensweise ist,welche die Menschen sich oder Andern zu einemZwecke vorschreiben, so muss das Gesetz in das gött-liche und menschliche eingetheilt werden. Unter letz-terem verstehe ich die Lebensweise, welche nur dem

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102Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung

Schutz des Lebens und dem Staate dient, unter demgöttlichen aber, welche blos auf das höchste Gut, d.h.auf die wahre Kenntniss und Liebe Gottes abzielt.Wenn ich dieses Gesetz das göttliche nenne, so ge-schieht es wegen der Natur des höchsten Guts, die ichmit Wenigem hier möglichst klar darlegen will.

Da der bessere Theil in uns die Einsicht ist, somüssen wir, wenn wir wahrhaft unserem Besten nach-streben wollen, vor Allem diese Einsicht nach Mög-lichkeit zu vervollkommnen suchen; denn in derenVervollkommnung muss unser höchstes Gut bestehen.Da ferner alle unsere Kenntniss und Gewissheit, dieallen Zweifel beseitigt nur von der Erkenntniss Gottesabhängt, theils weil ohne Gott Nichts sein und Nichtserkannt werden kann, theils auch, weil man über Alleszweifeln kann, so lange man keine klare und deutlicheVorstellung von Gott hat, so folgt, dass unser höch-stes Gut und unsere Vollkommenheit nur von der Er-kenntniss Gottes abhängt u.s.w.

Wenn so Nichts ohne Gott bestehn oder erkanntwerden kann, so enthält jedes Ding in der Natur denBegriff Gottes nach Verhältniss seines Wesens undseiner Vollkommenheit und drückt ihn nur aus, und jemehr wir also die natürlichen Dinge erkennen, destomehr steigt auch und vervollkommnet sich unsere Er-kenntniss Gottes; oder, da die Erkenntniss der Wir-kung durch die Ursache nur die Erkenntniss einer

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103Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung

Eigenschaft der Ursache enthält, so erkennen wir dasWesen Gottes, das die Ursache von Allem ist, um sovollkommner, je mehr man die natürlichen Dinge er-kennt. So hängt unsere ganze Erkenntniss, d.h. unserhöchstes Gilt, nicht blos von der Erkenntniss Gottesab, sondern besteht Überhaupt darin. Dies ergiebtsich auch daraus, dass ein Mensch nach der Natur undVollkommenheit einer Sache, die er vor andern liebt,vollkommner ist, und daher derjenige Mensch amvollkommensten ist und an der höchsten Seligkeit ammeisten Theil nimmt, welcher die geistige ErkenntnissGottes, als des vollkommensten Wesens, über Allesliebt und sich daran am meisten erfreut.

So läuft unser höchstes Gut und unsre Seligkeit aufdie Erkenntniss und Liebe Gottes hinaus. Deshalbkönnen die Mittel, welche dieses Ziel aller menschli-chen Handlungen, nämlich Gott selbst verlangt, so-weit dessen Vorstellung in uns ist, die Gebote Gottesheissen, weil sie gleichsam uns von Gott selbst, so-weit er in unsrer Seele besteht, vorgeschrieben wor-den sind, und deshalb heisst die Lebensweise, die die-ses Ziel vor Augen hat, mit Recht das göttliche Ge-setz. Welche Mittel dies nun sind, und welche Le-bensweise dieses Ziel verlangt, und wie daraus dieGrundlagen der besten Staatsgemeinschaft, sowie derVerkehr zwischen den Menschen hervorgehen, das ge-hört zur allgemeinen Ethik; hier fahre ich nur in

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104Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung

Darlegung des Gesetzes überhaupt fort.Wenn sonach die Liebe zu Gott das höchste Glück

und die Seligkeit des Menschen bildet und das letzteZiel und der Zweck aller menschlichen Handlungenist, so erhellt, dass nur Derjenige das göttliche Gesetzbefolgt, welcher sorgt, dass er Gott liebe; nicht ausFurcht vor Strafen, nicht aus Liebe zu andern Dingen,wie Lust, Ruhm u.s.w., sondern nur, weil er Gottkennt, oder weil er weiss, dass die Erkenntniss Gottesund die Liebe zu ihm das höchste Gut ist. Das Wesendes göttlichen Gesetzes und sein oberstes Gebot ist,Gott als das höchste Gut zu lieben, d.h. wie gesagt,nicht aus Furcht vor einem Uebel oder einer Strafe,nicht aus Liebe zu einem andern Gegenstand, an demman sich ergötzen kann, denn die Vorstellung Gottessagt, dass Gott unser höchstes Gut ist, oder dass dieErkenntniss Gottes und seine Liebe das höchste Zielsind, nach dem alle unsere Handlungen sich richtenmüssen. Der fleischliche Mensch vermag jedoch nichtdies einzusehen, weil er eine zu nüchterne Kenntnissvon Gott hat, und weil er in diesem höchsten Gutenichts findet, was er schmecken oder verzehren könn-te, oder was das Fleisch, woran er sich am meisten er-freut, erregte, da es in blosser Spekulation und reinemVerstande besteht. Nur Die, welche wissen, dass dieEinsicht und der gesunde Verstand das Vortrefflichstesind, werden dies ohne Zweifel als das Beste

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105Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung

erkennen.Somit habe ich dargelegt, worin das Gesetz haupt-

sächlich besteht, und welches die menschlichen Ge-setze sind, die nach einem andern Ziele streben, wennsie nicht aus der Offenbarung stammen; denn in dieserHinsicht werden die Dinge auf Gott bezogen, wie ichoben gezeigt habe, und in diesem Sinne kann das Ge-setz Mosis, obgleich es kein allgemeines, sondern nurfür die Erhaltung eines Volkes eingerichtet war, dochdas Gesetz Gottes oder das göttliche Gesetz genanntwerden, sofern man nämlich glaubt, dass es durch dasprophetische Licht gegeben worden sei.

Achtet man nun auf das Wesen des natürlichengöttlichen Gesetzes, so ergiebt sich, 1) dass es allge-mein ist, oder für alle Menschen gültig; denn wirhaben es aus der allgemeinen Natur des Menschen ab-geleitet; 2) dass es keiner geschichtlichen Beglaubi-gung bedarf, mag diese sein, welcher Art sie wolle;denn wenn dieses natürliche göttliche Gesetz aus derblossen Betrachtung der menschlichen Natur sich er-giebt, so ist klar, dass wir es ebenso in Adam wie injedem andern Menschen, und ebenso in dem mit An-dern lebenden wie in dem einsamen Menschen erken-nen können, und der Glaube an die Geschichten,wenn er auch noch so fest ist, kann uns weder die Er-kenntniss Gottes, noch die Liebe zu ihm gewähren.Denn die Liebe zu Gott geht aus der Erkenntniss

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desselben hervor; diese Erkenntniss muss aber ausden gemeinsamen Begriffen, die in sich gewiss undbekannt sind, geschöpft werden; deshalb ist durchausder Glaube an Geschichten nicht dazu nöthig, damitwir das höchste Gut erlangen.

Obgleich somit dieser Glaube an die Geschichtenuns die Erkenntniss Gottes und die Liebe zu ihm nichtgeben kann, so bestreite ich doch nicht, dass dasLesen derselben für das bürgerliche Leben sehr nütz-lich ist. Denn je besser man die Sitten und Zuständeder Menschen beobachtet und kennt, was am bestenaus ihren Handlungen geschehen kann, desto vorsich-tiger kann man unter denselben leben und seine Hand-lungen und sein Leben besser nach ihrem Sinn, soweites die Vernunft gestattet, einrichten. Es ergiebt sichferner, 3) dass dieses natürliche göttliche Gesetzkeine Gebräuche, d.h. keine Handlungen verlangt, diean sich gleichgültig sind und blos durch die Einrich-tung für gut gelten, oder die ein zum Heile nöthigesGut vorstellen oder, wenn man lieber will, Handlun-gen, deren Grund die menschliche Fassungskraftübersteigt. Denn das natürliche Licht verlangt nichts,was dieses Licht nicht betrifft, sondern nur, was unsdeutlich anzeigt, dass es gut oder ein Mittel für unsreSeligkeit ist. Alles aber, was blos auf Anordnung undEinrichtung gut ist, oder weil es etwas Gutes symbo-lisch darstellt, kann unsre Einsicht nicht vermehren,

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ist nur ein leerer Schatten und kann nicht zu denHandlungen gerechnet werden, die das Erzeugnissund die Frucht der Einsicht und des gesunden Geistessind, wie ich nicht weiter auseinander zu setzen brau-che; 4) endlich ergiebt sich, dass der höchste Lohndes göttlichen Gesetzes die Erkenntniss des Gesetzes,d.h. Gottes ist und die Liebe zu ihm aus wahrer Frei-heit und von ganzem und beharrlichem Gemüthe. DieStrafe ist dagegen die Beraubung dessen und dieKnechtschaft des Fleisches, oder ein unbeständigerund schwankender Sinn.

Nach diesem bleibt noch zu ermitteln: 1) ob mannach natürlichem Licht Gott sich als Gesetzgeber odereinen den Menschen Gesetze vorschreibenden Fürstenvorstellen könne; 2) was die Bibel über dieses natürli-che Licht und Gesetz lehre; 3) zu welchem Zweckehedem die Gebräuche eingeführt worden sind, und 4)was die Kenntniss und der Glaube an die heilige Ge-schichte bedeutet. Heber die beiden ersten Fragen sollin diesem Kapitel, über die beiden andern in dem fol-genden gehandelt werden.

Die Antwort auf die erste Frage ergiebt sich leichtaus der Natur des Willens Gottes, der sich von derEinsicht Gottes nur in der Auffassung durch unsereVernunft unterscheidet; d.h. Gottes Wille und Ein-sicht sind in Wahrheit ein und dasselbe; sie werdennur in unseren Gedanken zweierlei, welche wir über

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die Einsicht Gottes bilden. Geben wir z.B. nur daraufAcht, dass die Natur des Dreiecks in der göttlichenNatur von Ewigkeit her als eine ewige Wahrheit ent-halten ist, dann sagen wir, dass Gott den Begriff desDreiecks habe oder die Natur des Dreiecks erkenne;aber geben wir dann darauf Acht, dass die Natur desDreiecks in dieser Weise nur aus der Nothwendigkeitder göttlichen Natur darin enthalten ist und nicht ausder Nothwendigkeit des Wesens und der Natur desDreiecks, vielmehr, dass die Nothwendigkeit des We-sens und der Eigenschaften des Dreiecks, als ewigeWahrheiten aufgefasst, blos von der Nothwendigkeitder göttlichen Natur und Einsicht abhängen, so nen-nen wir dann dies Gottes Willen oder Rathschluss,was wir vorher Gottes Einsicht genannt haben. Des-halb bejahen wir in Bezug auf Gott ein und dasselbe,wenn wir sagen, dass Gott von Ewigkeit beschlossenund gewollt habe, dass die drei Winkel des Dreieckszweien rechten gleich seien, oder dass Gott dies ein-gesehen habe. Deshalb enthalten die Bejahungen undVerneinungen Gottes immer eine ewige Wahrheitoder Nothwendigkeit.

Wenn daher Gott z.B. dem Adam gesagt hat, erwolle nicht, dass Adam von dem Baume der Erkennt-niss des Guten und Bösen esse, so enthält es einenWiderspruch, wenn Adam doch von diesem Baumeessen gekonnt hätte, und es war deshalb dies

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unmöglich; denn jener göttliche Befehl musste eineewige Nothwendigkeit und Wahrheit enthalten. Wenndaher die Bibel doch erzählt, dass Gott es dem Adamverboten, dieser aber doch davon gegessen habe, soerhellt nothwendig, dass Gott dem Adam nur einUebel offenbart hat, was aus dem Essen von diesemBaume nothwendig folgen würde, aber nicht, dassdieses Uebel nothwendig eintreten müsse. Deshalb istes gekommen, dass Adam diese Offenbarung nicht alseine ewige und nothwendige Wahrheit auffasste, son-dern wie ein Verbot, d.h. als eine Bestimmung, wel-che einem Vortheil oder einem Nachtheil folgen lässt,nicht aus der Nothwendigkeit und Natur der Hand-lung des Erzvaters, sondern nach dem Belieben undblossen Befehl eines Fürsten. Deshalb war diese Of-fenbarung blos für Adam und blos wegen des Man-gels seiner Einsicht ein Gebot, und Gott nur deshalbGesetzgeber oder Fürst; und aus diesem Grunde,wegen Mangels an Einsicht waren die zehn Gebotenur in Bezug auf die Juden ein Gebot. Denn nur weilsie Gottes Dasein und ewige Wahrheit nicht erkannthatten, mussten sie das, was ihnen in den zehn Gebo-ten offenbart wurde, nämlich dass Gott ist und alleinanzubeten ist, als ein Gebot auffassen; hätte aber Gottohne Anwendung körperlicher Mittel und unmittelbarzu ihnen gesprochen, so würden sie dies nicht als einGebot, sondern als eine ewige Wahrheit aufgefasst

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haben.Das hier über die Israeliten und Adam Gesagte gilt

von allen Propheten, die im Namen Gottes Gebote er-lassen haben; sie haben nämlich die Beschlüsse Got-tes nicht zureichend, wie ewige Wahrheiten, erfasst.So muss man z.B. selbst von Moses sagen, dass eraus der Offenbarung oder aus den ihm offenbartenGrundlagen die Weise erkannt habe, wie das israeliti-sche Volk in einem gewissen Landstriche am bestenvereint werden und eine rechte Gemeinschaft oderStaat errichten könne; ebenso die Weise, wie dasVolk am besten zum Gehorsam angehalten werdenkönne; aber es ist ihm nicht geboten und offenbartworden, dass diese Weise die beste sei, noch dass ausdem gemeinsamen Gehorsam des Volkes in solchemLande nothwendig das Ziel sich ergeben werde, nachdem sie strebten. Deshalb verordnete Moses diesesAlles nicht als ewige Wahrheiten, sondern als Geboteund Einrichtungen und als Gesetze Gottes, und des-halb wurde Gott als mildthätiger und gerechter Regie-rer, Gesetzgeber und König vorgestellt, während diesdoch Alles nur Eigenschaften der menschlichen Naturund von der göttlichen Natur ganz abzuhalten sind.Dies galt indess nur von den Propheten, die imNamen Gottes Gesetze erliessen, aber nicht von Chri-stus. Vielmehr muss man von Christus, wenn es unsauch scheint, dass er ebenfalls Gesetze im Namen

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Gottes gegeben, doch annehmen, er habe die Sachewahrhaft und zureichend erkannt; denn Christus warnicht sowohl Prophet, als der Mund. Gottes. DennGott hat durch den Geist Christi, wie im ersten Kapi-tel gezeigt worden, sowie früher durch Engel, d.h.durch eine erschaffene Stimme, durch Gesichte u.s.w.dem Menschengeschlecht Mehreres offenbart. Des-halb wäre es ebenso verkehrt, anzunehmen, dass Gottseine Offenbarungen den Meinungen Christi anbe-quemt habe, als dass Gott früher seine Offenbarungenden Meinungen der Engel anbequemt hätte, d.h. deneneiner erschaffenen Stimme und der Gesichte, um diezu offenbarenden Dinge den Propheten mitzutheilen.Man konnte nichts Verkehrteres annehmen, zumalChristus nicht blos zur Belehrung der Juden, sonderndes ganzen Menschengeschlechts abgesandt worden.Deshalb hätte es nicht zugereicht, dass er seinen Sinnnur den Meinungen der Juden anbequemt hätte, son-dern er hätte ihn den allgemeinen Ansichten und Ur-kunden des Menschengeschlechts, d.h. den gemeinsa-men und wahren Begriffen anbequemen müssen. Viel-mehr muss daraus, dass Gott sich Christus oder des-sen Geist unmittelbar offenbart hat und nicht, wie denPropheten, durch Worte und Bilder, entnommen wer-den, dass Christus die Offenbarungen wahrhaft er-fasste oder erkannte; denn eine Sache wird dann ein-gesehn, wenn sie mit dem reinen Verstande ohne

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Worte und Bilder aufgefasst wird. Christus hat des-halb die Offenbarungen wahrhaft und zureichend er-fasst, und wenn er sie wo als Gesetze ausspricht, sothut er dies wegen der Unwissenheit und Hartnäckig-keit des Volkes. Er handelte in dieser Hinsicht wieGott, dass er sich dem Verstande des Volkes anbe-quemt, und er hat deshalb zwar etwas deutlicher alsdie übrigen Propheten gesprochen, allein er theiltedoch die Offenbarungen dunkel und meist in Gleich-nissen mit, namentlich wenn er zu Solchen sprach,denen das Verständniss des Himmelreiches nicht ge-geben war (Matth. XIII. 10 u. f.). Dagegen hat er un-zweifelhaft Denen, welchen die Erkenntniss der Ge-heimnisse des Himmels gegeben war, die Dinge wieewige Wahrheiten gelehrt und nicht in Gesetze geklei-det, und er hat sie so von dem Zwange des Gesetzesbefreit und dennoch das Gesetz mehr bestätigt und be-festigt und ganz ihren Herzen eingeprägt. Auch Pau-lus scheint dies in einigen Stellen anzudeuten; so imBrief an die Römer VII. 6 und III. 28. Indess willauch er nicht offen sprechen, sondern, wie er selbstIII. 5 und VI. 19 dieses Briefes sagt, in menschlicherWeise. Dies sagt er ausdrücklich, wo er Gott gerechtnennt, und so ertheilt er unzweifelhaft wegen derSchwachheit des Fleisches Gott auch die Barmherzig-keit, die Gnade, den Zorn u.s.w. und bequemt seineWorte dem Verstande des Volkes oder, wie er selbst

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in dem ersten Brief an die Corinther III. 1, 2 sagt,dem Verstande der fleischlichen Menschen an. DennRom. IX. 18 sagt er bestimmt, dass Gottes Zorn undBarmherzigkeit nicht von den Werken der Menschen,sondern von der blossen Berufung, d.h. dem WillenGottes abhänge, und dass Niemand durch seineWerke gerecht werde, sondern blos durch seinenGlauben (Röm. III. 28), worunter er nur die volle Zu-stimmung der Seele versteht, und endlich, dass Nie-mand selig werde, der nicht den Geist Christi in sichhabe (Röm. VIII. 9), worunter er nämlich die GesetzeGottes als ewige Wahrheiten versteht.

Hieraus ergiebt sich, dass Gott nur nach der Fas-sungskraft der Menge und aus blosser Schwäche desVerstandes als Gesetzgeber und Fürst geschildert undgerecht und barmherzig genannt wird; vielmehr wirktund leitet in Wahrheit Gott Alles nach seiner Naturund nach der Nothwendigkeit seiner Vollkommenheitallein; seine Beschlüsse und Gebote sind ewigeWahrheiten und enthalten immer die Nothwendigkeit.

Dies war der erste Gegenstand, den ich zu erklärenund zu beweisen hatte. Ich gehe jetzt zu dem zweitenüber und gehe die Bibel durch, um zu sehen, was sieüber das natürliche Licht und dieses göttliche Gesetzlehrt. Das Erste, was uns hier begegnet, ist die Ge-schichte des ersten Menschen, wo es heisst, Gott habeAdam verboten, von der Frucht des Baumes der

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Erkenntniss des Guten und Bösen zu essen. Diesscheint zu sagen, dass Gott dem Adam geboten, dasGute zu thun und es um sein selbst willen aufzusu-chen, und nicht als Gegensatz des Bösen, d.h. er solledas Gute aus Liebe zum Guten suchen und nicht ausFurcht vor dem Uebel. Denn wer das Gute aus wahrerErkenntniss und Liebe zu demselben thut, der handelt,wie ich gezeigt habe, frei und mit festem Sinn; wer esaber aus Furcht vor dem Uebel thut, handelt vielmehraus Zwang und knechtisch und lebt unter dem Geboteines Andern. Hiernach umfasst dieses eine GebotGottes an Adam das ganze natürliche göttliche Gesetzund stimmt vollständig mit dem Gebot des natürli-chen Lichts. Es wäre nicht schwer, die ganze Erzäh-lung von dem ersten Menschen oder diese Parabelnach diesem Grundsatz zu erklären; allein ich unter-lasse es, da ich schwanke, ob meine Auffassung mitder Absicht des Verfassers übereinstimmt. Denn dieMeisten fassen diese Erzählung nicht gleichnissartigauf, sondern nehmen sie als eine einfache Geschichte.Es ist deshalb besser, andere Stellen der Bibel herbei-zunehmen; insbesondere solche, die von dem verfasstsind, der in Kraft des natürlichen Lichtes spricht,worin er alle Weisen seiner Zeit übertroffen hat, unddessen Aussprüche das Volk ebenso heilig hält wiedie der Propheten. Ich meine den Salomo, von demnicht sowohl die Weissagung und Frömmigkeit, als

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die Klugheit und Weisheit in der Bibel gerühmt wird.Dieser nennt in seinen Sprüchwörtern den menschli-chen Verstand die Quelle des wahren Lebens undsetzt das Unglück nur in die Thorheit. So sagt er XVI.22: »Die Quelle des Lebens (ist) der Verstand seinesHerrn und die Strafe der Thoren ist die Thorheit«.1 Esist hier zu bemerken, dass im Hebräischen mit»Leben« ohne Zusatz das wahre Leben gemeint ist,wie aus Deut. XXX. 19 erhellt.

Hiernach besteht die Frucht der Einsicht lediglichin dem wahren Leben, und die Strafe lediglich im des-sen Beraubung, was genau mit dem unter 4) Über dasnatürliche göttliche Gesetz Gesagte übereinstimmt.Dass aber diese Quelle des Lebens, oder dass die blo-sse Einsicht, wie gezeigt, den Weisen die Gesetzevorschreibt, wird ausdrücklich von diesem Weisengelehrt; denn er sagt XIII. 14: »Das Gesetz des Klu-gen ist die Quelle des Lebens«, d.h. wie aus der vor-her erwähnten Stelle sich ergiebt, die Einsicht. Fernerlehrt er III. 13 ausdrücklich, dass die Einsicht derMenschen selig und glücklich mache und die wahreSeelenruhe gewähre; denn er sagt: »Selig ist derMensch, der die Wissenschaft erfunden, und des Men-schen Sohn, welcher die Einsicht ermittelt,« undzwar, wie er v. 16 und 17 fortfährt, weil »sie unmit-telbar die Länge der Tage2 und mittelbar Reichthumund Ehre gewährt; dessen Wege (welche nämlich die

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Wissenschaft zeigt) sind angenehm und all seinePfade der Frieden.« Also leben auch nach der Ansichtdes Salomo nur die Weisen in friedlichem und beharr-lichem Geiste; nicht wie die Gottlosen, deren Gemüthin entgegengesetzten Leidenschaften wogt, und diedeshalb (wie auch Esaias sagt LVII. 20) weder Frie-den noch Ruhe haben. Am wichtigsten aber ist ausdiesen Sprüchen Salomonis die Stelle in dem zweitenKapitel, welche meine Ansicht auf das Klarste bestä-tigt. Denn er beginnt da v. 3: »Denn wenn Du dieKlugheit angerufen haben wirst und Deine Stimmeder Einsicht gegeben haben wirst u.s.w., dann wirstDu die Furcht Gottes verstehn und die Weisheit Got-tes (oder vielmehr die Liebe, denn das Wort ›Jadaa‹bezeichnet Beides) finden, denn (man merke wohl)Gott giebt die Weisheit; aus seinem Munde (fliesst)die Wissenschaft und die Klugheit.« Mit diesen Wor-ten sagt er auf das Deutlichste, dass die blosse Weis-heit oder Einsicht uns lehrt, Gott weise zu fürchten,d.h. in wahrer Religion zu verehren. Ferner sagt er,dass die Weisheit und Wissenschaft aus GottesMunde fliesst, dass Gott sie verleiht, wie ich obenauch gezeigt habe, nämlich dass unsere Einsicht undWissenschaft nur von der Erkenntniss Gottes ab-hängt, entspringt und sich vollendet. Salomo sagtdann v. 9 ausdrücklich weiter, dass diese Wissen-schaft die wahre Ethik und Politik enthalte, und dass

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beide aus ihr sich ableiten. »Dann wirst Du die Ge-rechtigkeit und das Gericht verstehn und das Rechtund jeden guten Pfad,« und damit noch nicht zufrie-den, fährt er fort: »Wenn die Wissenschaft in DeinHerz eingehn wird und die Weisheit Dir angenehmsein wird, dann wird Deine Vorsicht3 und DeineKlugheit Dich bewachen.« - Dies Alles stimmt genaumit der natürlichen Erkenntniss; denn auch diese lehrtdas Sittliche und die wahre Tugend, nachdem man dieErkenntniss der Dinge erlangt und den Vorzug derWeisheit geschmeckt hat. Deshalb hängt auch nachder Ansicht Salomo's das Glück und die Ruhe Des-sen, der nach natürlicher Einsicht strebt, nicht von derMacht des Glücks (d.h. von der äussern Hülfe Got-tes), sondern von seiner, innern Tugend (d.h. von derinnern Hülfe Gottes) vorzüglich ab; denn er schütztsich vorzüglich durch Wachsamkeit, Thätigkeit undgute Rathschläge. Endlich darf hier auch eine StellePauli in dem Briefe an die Römer I. 20 nicht uner-wähnt bleiben, wo er (nach des Tremellius Ueberset-zung aus dem Syrischen) sagt: »Das, was Gott ver-borgen hat von den Grundlagen der Welt, kann vonseinen Geschöpfen durch Einsicht erblickt werdenund seine Tugend und Göttlichkeit, die in Ewigkeitist, so dass sie keine Ausflucht haben.« Damit zeigt erdeutlich, dass Jedweder durch sein natürliches LichtGottes Tugend und ewige Göttlichkeit einsehen und

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daraus wissen und abnehmen könne, was zu suchenund was zu fliehen sei; deshalb, schliesst er, hat Kei-ner eine Ausflucht, und Keiner kann sich mit Unwis-senheit entschuldigen, was doch der Fall sein würde,wenn er von einem übernatürlichen Lichte sprächeund von dem fleischlichen Leiden und AuferstehnChristi u.s.w. Deshalb fährt er in v. 24 fort: »Deshalbhat Gott sie übergeben an die unreinen Begierden desHerzens Derer u.s.w.« Bis zu Ende dieses Kapitels,wo er die Fehler der Unwissenheit beschreibt, sie alsderen Strafe aufzählt, was ganz mit dem erwähntenSprüchwort Salomo's XVI. 22 stimmt, nämlich »dieThorheit ist die Strafe der Thoren«; es ist deshalbnicht auffallend, dass Paulus sagt: »Die Bösen seiennicht zu entschuldigen«, denn sowie ein Jeder säet, sowird er ernten und aus Bösem entsteht nothwendigBöses, wenn es nicht weise verbessert wird, und ausGutem Gutes, wenn es von der Beständigkeit begleitetist; danach empfiehlt die Bibel unbedingt das Lichtund das natürliche göttliche Gesetz, und damit ist das,was ich mir in diesem Kapitel vorgesetzt, erledigt.

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Fünftes Kapitel

Weshalb die gottesdienstlichen Gebräucheeingeführt worden, und über den Glauben an dieGeschichten; weshalb und für wen derselbe nöthig

ist.

Im vorigen Kapitel habe ich gezeigt, dass das gött-liche Gesetz, was die Menschen wahrhaft selig machtund sie das wahre Leben lehrt, allen Menschen ge-mein ist, und ich habe es aus der menschlichen Naturso abgeleitet, dass anzunehmen, es sei dem menschli-chen Geiste angeboren und gleichsam eingeschrieben.Da nun die Gebräuche, wenigstens die in dem AltenTestament, blos für die Juden eingerichtet und derenStaate so angepasst waren, dass sie grösstentheils nurvon der ganzen Gemeinschaft, aber nicht von demEinzelnen verrichtet werden konnten, so ist gewiss,dass sie nicht zu dem göttlichen Gesetz gehören unddeshalb auch zur Seligkeit und Tugend nicht beitra-gen; vielmehr betreffen sie nur die Erwählung derJuden, d.h. nach dem im dritten Kapitel Ausgeführten,nur das zeitliche Glück des Körpers und die Ruhe desStaats, und sie konnten deshalb nur während des Be-standes ihres Staates von Nutzen sein. Wenn sie imAlten Testamente auf das Gesetz Gottes bezogen

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werden, so geschah es nur, weil sie durch die Offen-barung oder auf offenbarten Grundlagen eingerichtetwaren.

Indess wollen selbst die kräftigsten Gründe bei derMasse der Theologen wenig sagen; ich möchte des-halb diese Sätze auch durch das Ansehn der Bibel be-kräftigen und dann zu näherer Deutlichkeit zeigen,weshalb und wie diese Gebräuche zur Befestigungund Erhaltung des jüdischen Reiches beigetragenhaben. - Aus Esaias ergiebt sich ganz klar, dass dasgöttliche Gesetz an sich jenes allgemeine Gesetz be-zeichnet, was in dem wahren Lebenswandel und nichtin Gebräuchen besteht. Denn I. 10 ruft der Prophetseinem Volk, dass es das göttliche Gesetz von ihmvernehme. Daraus sondert er vorher alle Arten vonOpfer und alle Festtage aus und lehrt erst dann dasGesetz (man sehe v. 16, 17) und fasst dasselbe in we-nigen Worten zusammen, nämlich in die Reinigungder Seele, in die Hebung und Gewohnheit der Tugendoder der guten Handlungen und endlich in die Unter-stützung der Armen. Ein ebenso klarer Beleg ist dieStelle Psalm. XL. 7, 9, wo der Psalmist Gott anredet:»Du hast kein Opfer und Geschenk gewollt4, Du hastmeine Ohren durchstochen; hast keine Brandopferund kein Sühnopfer für meine Sünden verlangt; Dei-nen Willen, mein Gott, habe ich vollführen wollen,denn Dein Geist ist in meinen Eingeweiden.« Er nennt

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also nur das Gottes Gesetz, was den Eingeweidenoder der Seele eingeschrieben ist, und trennt davondie Gebräuche; denn diese sind nur vermöge der Ein-richtung, aber nicht von Natur gut und deshalb auchder Seele nicht eingeschrieben.

Ausser diesen Stellen sind noch andere in derBibel, die dasselbe bezeugen; doch werden diese zweigenügen. Dass aber die Gebräuche für die SeligkeitNichts helfen, sondern nur auf das zeitliche Glück desStaats sich beziehen, erhellt aus der Bibel selbst, dasie für diese Gebräuche nur Vortheile und Annehm-lichkeiten des Körpers verheisst, die Glückseligkeitaber nur für das allgemeine göttliche Gesetz. In dennach Moses benannten fünf Büchern wird, wie er-wähnt, nur dieses zeitliche Glück verheissen, d.h.Ehren, Ruhm, Siege, Reichthümer, Genüsse und Ge-sundheit; und wenn auch diese Bücher neben den Ge-bräuchen viel Moralisches enthalten, so ist es dochnicht in der Form von moralischen, allen Menschengemeinsamen Lehren darin enthalten, sondern nur alsBefehle, die der Fassungskraft und dem Verstande desjüdischen Volkes vorzugsweise angepasst sind, unddie deshalb auch nur den Nutzen ihres Reiches be-zwecken. So lehrt z.B. Moses die Juden nicht als Leh-rer oder Prophet, dass sie nicht tödten und nicht steh-len sollen, sondern er verbietet es als Gesetzgeber undFürst; er stützt die Lehren nicht auf die Vernunft,

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sondern fügt seinen Befehlen Strafen bei, die, wie dieErfahrung lehrt, nach dem Charakter der Völkerwechseln können und müssen. So hat er auch bei demVerbot des Ehebruchs nur das Wohl des Staates undReiches im Auge; denn hätte er einen moralischenSatz ihnen lehren wollen, der nicht blos den Nutzendes Staates, sondern die Ruhe der Seele und die wahreSeligkeit des Einzelnen bezweckte, so würde er nichtblos die äussere Handlung verdammen, sondern auchdie innere Gesinnung, wie Christus that, der nur allge-meine Lehren gab (Matth. V. 28), und deshalb ver-spricht auch Christus einen geistigen Lohn und nicht,wie Moses, einen körperlichen. Denn Christus ist, wiegesagt, nicht zur Erhaltung des Reiches und zur Ein-setzung von Gesetzen, sondern nur zur Lehre des all-gemeinen Gesetzes gesandt worden und daraus er-hellt, dass Christus keineswegs das Gesetz Mosis auf-gehoben hat, da Christus überhaupt keine neuen Ge-setze für den Staat geben wollte, sondern nur morali-sche Lehren, und diese von den Gesetzen des Staatessondern wollte, vorzüglich um der Unwissenheit derPharisäer willen, welche meinten, dass Derjenigeselig lebe, welcher das Recht des Staates oder das Ge-setz Mosis vertheidige; obgleich doch dies nur, wieerwähnt, den Staat im Auge hatte und den Juden nichtzur Belehrung, sondern zum Zwange dienen sollte.

Ich gehe jedoch auf meinen Gegenstand zurück und

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will noch weitere Stellen der Bibel beibringen, welchefür die Gebräuche nur körperliche Vortheile und nurfür das allgemeine göttliche Gesetz die Seligkeit ver-heissen. Unter den Propheten sagt dies Niemand deut-licher wie Esaias; denn nachdem er in Kap. 58 dieHeuchelei verdammt hat, empfiehlt er die Freigebig-keit und Liebe zu sich und den Nächsten und ver-spricht dafür: »Dann wird Dein Licht wie die Mor-genröthe hervorbrechen, und Deine Gesundheit wirdfortblühen, und Deine Gerechtigkeit wird vor Dirwandeln, und der Ruhm Gottes wird Dich5 vergam-meln u.s.w.« Dann empfiehlt er auch den Sabbath, fürdessen fleissige Beobachtung er verspricht: »Dannwirst Du Dich mit Gott ergötzen,6 und ich werdeDich reiten7 lassen über die Höhen der Erde und ichwerde machen, dass Du die Erbschaft Jacob's DeinesVaters issest, wie des Jehovah Mund gesagt hat.«Hier sieht man, wie der Prophet für die Freiheit undLiebe eine gesunde Seele in einem gesunden Körperund Gottes Ruhm auch nach dem Tode verspricht;aber für die Gebräuche nur die Sicherheit des Reiches,die Wohlfahrt und das Glück des Körpers. - In denPsalmen XV. und XXIV. werden die Gebräuche nichterwähnt, sondern nur moralische Lehren; denn siehandeln nur von der Seligkeit; nur sie wird vorge-stellt, wenn auch nur gleichnissweise; denn offenbarwerden da unter dem Berge Gottes, unter seinem Zelte

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und deren Bewohnung der Seligkeit Seelenruhe, abernicht der Berg zu Jerusalem und die Laubhütte Mosisgemeint; denn diese Orte wurden von Niemand be-wohnt und nur von den zu Stamm Levi Angehörigenverwaltet. - Ferner verheissen alle im vorigen Kapitelbeigebrachten Aussprüche Salomo's nur für die Pflegeder Einsicht und Weisheit die wahre Seligkeit, näm-lich, dass nur daraus die Furcht Gottes verstanden unddie Erkenntniss Gottes erlangt werde. Dass die Judennach Zerstörung des Reiches nicht mehr an die Beob-achtung der Gebräuche gebunden sind, erhellt aus Je-remias, der bei seinem Gesicht von der nahe bevorste-henden Zerstörung der Stadt sagt: »Gott liebe nurDie, welche wissen und einsehen, dass er selbst dieBarmherzigkeit, das Gericht und die Gerechtigkeitübt. Deshalb werden in Zukunft nur Die des Lobeswürdig erachtet werden, die dieses wissen werden«(man sehe IX. 23), d.h. Gott verlange nach der Zer-störung der Stadt nichts Besonderes von den Judenund in Zukunft nur die Beobachtung des natürlichenGesetzes, wie es für alle Sterbliche gelte. Das NeueTestament bestätigt dies; denn darin werden, wie ge-sagt, nur moralische Kegeln gegeben, und nur dafürwird das Himmelreich verheissen; dagegen beseitigtendie Apostel die Gebräuche, nachdem Sie das Evange-lium auch anderen Völkern zu lehren begannen, derenStaatsrecht ein anderes war. Wenn die Pharisäer nach

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dem Untergange des Reiches diese Gebräuche, wenig-stens zum grösseren Theil, beibehielten, so geschahes mehr aus Gegnerschaft gegen die Christen, als umGott zu gefallen. Denn nach der ersten Verwüstungder Stadt, als sie nach Babylon in die Gefangenschaftkamen, vernachlässigten sie, da sie damals, so viel ichweiss, noch nicht in Sekten gespalten waren, sofortdie Gebräuche, ja sagten dem Gesetze Mosis ganz Le-bewohl und übergaben das väterliche Recht, als über-flüssig, der Vergessenheit und begannen sich mit denübrigen Völkern zu vermischen, wie aus Hezra undNehemia genügend erhellt. Deshalb sind die Judenunzweifelhaft nach Auflösung ihres Reiches nichtmehr so an das Gesetz Mosis gebunden, wie vor Be-ginn ihrer Gemeinschaft und ihres Staates. Denn solange sie unter anderen Völkern vor dem Auszug ausAegypten lebten, hatten sie keine besonderen Gesetzeund waren nur an das Naturrecht und unzweifelhaft andas Recht des Staates, in dem sie lebten, gebunden,soweit es dem göttlichen Gesetze nicht widersprach,und wenn die Erzväter Gott Opfer gebracht haben, soist es, glaube ich, geschehen, weil sie ihren Geist, dervon Kindheit ab an die Opfer gewöhnt war, mehr zurAndacht anregen wollten. Denn alle Völker hatten seitder Zeit Enoch's sich an die Opfer gewöhnt und fan-den darin die meiste Anregung zur Andacht. Deshalbopferten die Erzväter nicht auf Geheiss eines

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göttlichen Gesetzes oder in Folge der Belehrung überdie allgemeinen Grundlagen des göttlichen Gesetzes,sondern blos in Folge der Sitte der damaligen Zeit,und wenn es auf Jemandes Befehl geschah, so wardies nur der des Rechts des Staates, in dem sie lebten,und das sie auch verpflichtete, wie ich hier und imdritten Kapitel bei Gelegenheit des Melchisedek be-merkt habe.

Hiernach glaube ich meine Ansicht mit dem An-sehn der Bibel unterstützt zu haben, und ich habe nurnoch zu zeigen, wie und weshalb diese Gebräuche zurBewahrung und Erhaltung des jüdischen Reiches bei-trugen. Dies kann mit Wenigem geschehen und ausallgemeinen Gründen dargelegt werden. Die Gemein-schaft ist nicht blos gut zum Schutz gegen die Feinde,sondern zur Beschaffung vieler Dinge, und selbstnothwendig; denn wollten die Menschen einandernicht gegenseitig helfen, so wurde ihnen das Geschickund die Zeit fehlen, um sich, soweit es möglich ist, zuernähren und zu erhalten. Denn Jeder ist nicht zu Jed-wedem geschickt, und Niemand vermag Alles dassich zu verschaffen, dessen er nöthig bedarf. DieKräfte und die Zeit, sage ich, würden Jedem fehlen,wenn er für sich allein pflügen, säen, ernten, mahlen,kochen, weben, nähen und vieles Andere zum LebenErforderliche machen wollte, ohne der Künste undWissenschaften zu gedenken, die zur

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Vervollkommnung der menschlichen Natur und zurSeligkeit höchst nöthig sind. Man sieht, dass Die,welche roh, ohne staatliche Verbindung leben, einelendes und beinah thierisches Leben führen undselbst das Wenige, Elende und Rohe, welches sie be-sitzen, ohne gegenseitige Hülfe, sei sie, welche siewolle, nicht erlangen.

Wären daher die Menschen von Natur so ange-wöhnt, dass sie nur das wahrhaft Vernünftige verlang-ten, so brauchte die Gesellschaft keine Gesetze, son-dern es genügte die Unterweisung der Menschen inden moralischen Lehren, um freiwillig und von selbstdas wahrhaft Nützliche zu thun. Allein die menschli-che Natur ist ganz anders beschaffen; denn Alle su-chen zwar ihren Vortheil, aber nicht nach Vorschriftder gesunden Vernunft, sondern sie begehren in derRegel nur die Dinge im Antrieb von Lüsten und Af-fekten der Seele, ohne Rücksicht auf die Zukunft undandere Dinge; und sie entscheiden sich danach überden Nutzen. Deshalb kann keine Gesellschaft ohneoberste Gewalt und Macht und folglich nicht ohneGesetze bestehen, welche die Begierden der Men-schen und die zügellose Hast massigen und hemmen.Indess lässt sich die menschliche Natur nicht unbe-dingt zwingen, und wie der Tragiker Seneca sagt, diegewaltsame Herrschaft dauert nicht lange, wohl aberdie gemässigte. Denn so lange die Menschen blos aus

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Furcht handeln, thun sie eigentlich nur das, was sieverabscheuen, und nehmen auf die Nützlichkeit undNothwendigkeit ihres Thuns keine Rücksicht, sondernsorgen nur, dass sie nicht in die Todes- oder in eineandere Strafe verfallen. Ja, sie müssen sich an demUebel und Schaden des Herrschers erfreuen, selbstwenn sie auch grossen Nachtheil davon haben, undsie wünschen ihm alle Uebel und fügen sie ihm zu,soweit sie vermögen. Auch ertragen die Menschennichts weniger, als die Knechtschaft unter Ihresglei-chen und die Herrschaft derselben. Deshalb ist nichtsschwerer, als den Menschen die einmal bewilligteFreiheit wieder zu nehmen.

Daraus folgt, 1) dass die ganze Gemeinschaft, womöglich gemeinsam, die Herrschaft führen muss,damit Jeder so sich selbst und Niemand Seinesglei-chen gehorche; haben aber Einige oder Einer dieHerrschaft, so muss Dieser etwas über die gemeineMenschennatur zum Voraus haben oder wenigstensmit allen Kräften dies der Menge einzureden versu-chen. 2) müssen die Gesetze in jedem Staate so einge-richtet werden, dass die Menschen weniger durchFurcht, als durch die Hoffnung auf einen vorzüglichgewünschten Vortheil in Zucht gehalten werden; denndann wird Jeder gern das ihm Obliegende thun. Weil3) der Gehorsam darin besteht, dass die Befehle blosvermöge der Autorität des Befehlenden befolgt

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werden, so folgt, dass derselbe in einer Gemeinschaft,wo die Herrschaft bei Allen ist, und die Gesetze nachallgemeiner Uebereinstimmung erlassen werden, kei-nen Platz hat, und dass in einem solchen Staate,mögen die Gesetze vermehrt oder vermindert werden,das Volk dennoch gleich frei verbleibt, weil es nichtnach dem Ansehn eines Andern, sondern nach seinereignen Uebereinstimmung handelt. Das Gegentheilfindet statt, wo Einer allein die Herrschaft unbe-schränkt führt; da vollziehen Alle auf Grund der Au-torität des Einzigen die Gebote des Reiches. Sind siedaher von Anfang ab nicht so erzogen, dass sie nurauf den Mund des Herrschers sehen, so wird erschwer die nöthigen neuen Gesetze geben und demVolke die einmal zugestandene Freiheit nehmen kön-nen.

Nach diesen allgemeinen Betrachtungen komme ichauf den jüdischen Staat zurück. Als die Juden ausAegypten auszogen, waren sie dem Rechte keines an-dern Volkes mehr unterworfen; sie konnten dahernach Belieben neue Gesetze erlassen und neue Rechteund einen Staat ordnen, wo sie wollten, und wo siedas Land in Besitz nehmen wollten. Allein sie warenzu Nichts weniger geeignet, als sich weise Gesetze zugeben und die Herrschaft selbst gemeinsam zu behal-ten; denn ihr Geist war ungebildet, und sie warendurch die harte Sklaverei verderbt. Die Herrschaft

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musste deshalb bei Einem bleiben, der die Anderenbefehligte, sie mit Gewalt zwang, Gesetze gab und siespäter auslegte. Diese Herrschaft konnte Moses leichtsich erhalten, da er in göttlicher Kraft die AnderenÜbertraf und das Volk Überzeugte, dass er solche be-sass und dies durch viele Zeugnisse bewies (Exod.XIV. letzter Vers; XIX. 9). Dieser gab also vermögeder göttlichen Kraft, die ihn mächtig erfüllte, demVolke Gesetze und sorgte dabei, dass das Volk nichtsowohl aus Furcht, sondern freiwillig denselben ge-horchte. Zweierlei nöthigte ihn besonders hierzu,nämlich der widerspenstige Geist des Volkes (der sichmit Gewalt nicht zwingen liess) und der bevorste-hende Krieg. Damit dieser glücklich geführt würde,mussten die Soldaten mehr ermahnt, als mit Strafenund Drohungen erschreckt werden; denn dann beeifertsich Jeder, durch Tugend und Geistesgrösse zu glän-zen, und denkt nicht blos, wie er die Strafe vermeide.Aus diesem Gründe setzte Moses mit Kraft und aufgöttlichen Befehl die Religion in seinem Staate ein,damit das Volk seine Pflicht nicht sowohl aus Furcht,sondern aus Ergebenheit erfülle. Dann verpflichtete eres durch Wohlthaten und versprach ihm von SeitenGottes Vieles für die Zukunft und gab keine zu stren-gen Gesetze, wie Jeder, der sie genau erforscht, mirleicht zugeben wird; insbesondere wenn er die Neben-umstände beachtet, die zur Verurtheilung eines

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Angeklagten nöthig waren. Damit endlich das Volk,was sich nicht selbst regieren konnte, dem Herrschergehorsam wäre, liess er diesen an die Knechtschaftgewohnten Menschen Nichts für ihr Belieben übrig;das Volk konnte Nichts beginnen, ohne dass es desGesetzes zu gedenken und die Gebote zu vollziehenhatte, die blos von dem Belieben des Herrschers ab-hingen. Denn es war nicht nach Belieben, sondernnach festen und bestimmten Anordnungen des Geset-zes erlaubt, zu pflügen, zu säen, zu ernten. Ebensodurfte man nichts essen, anziehen, das Haupt und denBart nicht scheeren, sich nicht freuen noch sonstetwas vornehmen, als nach den in den Gesetzen vor-gesehenen Anordnungen und Befehlen. Damit nichtgenug, mussten sie an den Thürpfosten, an den Hän-den und unter den Augen gewisse Zeichen haben, diesie immer an den Gehorsam erinnerten. Es war alsodas Ziel der Gebräuche, dass diese Menschen Nichtsaus eigenem Willen, sondern nur nach dem Geboteines Andern thaten, und dass sie in allen ihren Hand-lungen und Gedanken ihre Unselbstständigkeit undUnterwürfigkeit anerkannten. Daraus erhellt, dass dieGebräuche mit der Seligkeit nichts zu thun haben, unddass die in dem Alten Testamente enthaltenen, ja dasganze Gesetz Mosis, nur auf den jüdischen Staat undmithin nur auf körperliche Vortheile abgezielt haben.

Was nun die christlichen Gebräuche anlangt, die

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Taufe, das Abendmahl, die Feste, die Predigten undAnderes, was dem Christenthum immer gemeinsamgewesen, so sind sie, wenn sie überhaupt von Chri-stus oder den Aposteln eingesetzt worden, was mirnoch zweifelhaft scheint, nur als äussere Zeichen derallgemeinen Kirche eingesetzt, aber nicht, um zur Se-ligkeit beizutragen, und mit einer inneren Heiligkeit.Daher sind diese Gebräuche zwar nicht des Staateswegen, aber doch um der ganzen Gemeinschaft wegeneingesetzt, und deshalb ist Der, welcher für sich alleinlebt, an sie nicht gebunden; ja, wenn er in einem Staa-te lebt, wo die christliche Religion verboten ist, hat ersich derselben zu enthalten und kann doch selig leben.Ein Beispiel dazu giebt das japanesische Reich, wodie christliche Religion verboten ist, und die dortwohnenden Niederländer auf Anordnung der ostindi-schen Gesellschaft sich aller äusseren gottesdienstli-chen Handlungen zu enthalten haben. Ich brauchedies jetzt durch keine weitere Autorität zu unterstüt-zen, und wenn es auch leicht aus den Grundlagen desNeuen Testaments darzulegen und mit deutlichenZeugnissen zu belegen wäre, so lasse ich es dochgern, da es mich zu Anderem drängt.

Ich gehe also zu dem zweiten Gegenstande diesesKapitels über, nämlich: Für welche Personen und auswelchen Gründen der Glaube an die biblische Ge-schichte nöthig ist. Um dies nach natürlichem Lichte

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zu ermitteln, werde ich so zu verfahren haben.Wenn Jemand will, dass die Menschen etwas glau-

ben oder nicht glauben, was nicht von selbst bekanntist, so muss er zu diesem Zweck seine Behauptungaus Zugestandenem ableiten und sie durch Erfahrungoder die Vernunft überzeugen, also durch Dinge, diesie sinnlich wahrgenommen haben, oder aus geisti-gen, von selbst bekannten Grundsätzen. Ist die Erfah-rung nicht klar und deutlich eingesehen, so kann siedoch vielleicht den Menschen überzeugen, aber siekann den Verstand nicht ebenso bestimmen und seineNebel zerstreuen, als wenn die Sache blos durch dieKraft des Verstandes und die Regeln seiner Einsichtdargelegt wird; namentlich wenn es sich um geistigeDinge handelt, die nicht in die Sinne fallen. Indess er-fordert eine solche Ableitung aus geistigen Begriffenmeist eine lange Verkettung der Sätze und auch gro-sse Vorsicht und Schärfe des Verstandes und hoheAusdauer, die selten sich bei den Menschen finden;deshalb ziehen die Menschen lieber die Belehrungdurch die Erfahrung vor und mögen ihre Ansichtennicht aus wenigen obersten Grundsätzen ableiten undmit einander verknüpfen. Will daher Jemand einemganzen Volke oder gar dem ganzen menschlichen Ge-schlechte eine Lehre beibringen, die Alle verstehensollen, so muss er sie durch die Erfahrung belegenund seine Gründe und seine Definitionen vor Allem

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der Fassungskraft des niedrigen Volkes, was dengrössten Theil des Menschengeschlechts ausmacht,anbequemen; aber er darf nicht verknüpfen und keineDefinitionen bieten, wie sie zur bessern Verkettungder Gründe dienen. Ohnedem mag er lieber für dieGelehrten schreiben, d.h. für nur einen kleinen Theilder Menschen, wo er verstanden werden wird. Da nundie ganze Bibel zuerst für ein ganzes Volk und späterfür das ganze Menschengeschlecht offenbart worden,so musste ihr Inhalt der Fassungskraft des niederenVolkes vor Allem anbequemt und durch die Erfah-rung bestätigt werden.

Ich will mich noch deutlicher ausdrücken. Das blosSpekulative, was die Bibel lehrt, ist, dass es einenGott giebt oder ein Wesen, was Alles geschaffen hat,Alles mit der höchsten Weisheit leitet und erhält, undwas für die Menschen sorgt, d.h. für die Frommenund Rechtlichen; dagegen die Anderen mit hartenStrafen belegt und von den Guten sondert. Dies belegtdie Bibel blos mit Erfahrungen, nämlich den in ihrerGeschichte erzählten Vorfällen; aber Definitionengiebt sie davon nicht, sondern passt ihre Worte undGründe dem Verstande des niederen Volkes an. Danun aber die Erfahrung keine klare Erkenntniss vondiesen Sätzen geben und nicht darlegen kann, wasGott ist, und wie er Alles erhält und regiert und fürdie Menschen sorgt, so kann sie die Menschen nur so

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weit belehren und unterrichten, als zureicht, Gehor-sam und Frömmigkeit ihren Seelen einzuprägen.

Dies ergiebt deutlich, für wen und weshalb derGlaube an die in der Bibel enthaltenen Erzählungennöthig ist; denn es folgt aus dem eben Dargelegten,dass diese Kenntniss und dieser Glaube dem niederenVolke höchst nothwendig ist, dessen Verstand dieseDinge nicht deutlich und klar einsehen kann. Fernerist Der gottlos, welcher sie leugnet, weil er an keinenGott glaubt und nicht an dessen Sorge für die Weltund die Menschen; wer aber diese Geschichten mirnicht kennt, aber doch durch sein natürliches Lichtweiss, dass Gott ist, sammt den Anderen, und hier-nach einen wahren Lebenswandel führt, der ist selig,ja seliger als die Masse, weil er neben den wahrenMeinungen auch noch eine klare und deutliche Er-kenntniss hat. Hiernach ist Der, welcher diese Ge-schichten der Bibel nicht kennt und auch nach natürli-chem Lichte nichts weiss, wenn auch nicht gottlosund ungehorsam, doch unmenschlich und beinah thie-risch und ohne eine Gabe Gottes.

Indess verstehe ich mit diesem Satze, dass dieKenntniss der Geschichte dem niederen Volke höchstnöthig sei, nicht die Kenntniss aller Geschichten,welche die Bibel enthält, sondern nur der vorzügliche-ren, die, auch ohne die anderen, die erwähnten Sätzeam deutlichsten darlegen und das Gemüth der

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Menschen am meisten bewegen können. Denn wenndie Kenntniss aller Geschichten der Bibel für den Be-weis ihrer Lehre nöthig wäre, und keine Folgerungohne umfassende Betrachtung aller darin erzähltenThatsachen gezogen werden konnte, so würde der Be-weis ihrer Lehre und die Ableitung derselben nichtblos den Verstand und die Kräfte des gemeinen Vol-kes, sondern aller Menschen übersteigen. Denn Nie-mand konnte auf eine so grosse Zahl von Erzählungenzugleich Acht haben und auf so viele Umstände undTheile der Lehre, die aus so vielen und verschiedenenErzählungen entnommen werden müssen. Ich fürmeine Person wenigstens kann daher nicht glauben,dass Die, welche uns die Bibel, so wie sie ist, hinter-lassen haben, einen so grossen Verstand besessenhaben und einer solchen Schlussfolgerung fähigwaren; und noch weniger, dass die Bibellehre nichteingesehen werden könne, ohne den Streit Isaak's,ohne die Rathschläge, welche Ahitophel dem Absa-lom gegeben, ohne die Bürgerkriege zwischen denJuden und Israeliten und ohne andere dergleichen Be-richte zu kennen, und dass den Juden zu Mosis Zeitdiese Lehre aus ihren Geschichten nicht ebenso guthabe gelehrt werden können, wie den Juden zur ZeitEsra's. Hierüber werde ich später noch ausführlichersprechen.

Das niedere Volk braucht also nur die Geschichten

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zu kennen, welche seinen Sinn am meisten zum Ge-horsam und zur Frömmigkeit bewegen können; aberein Urtheil kann dieses niedere Volk darüber nichtfällen, vielmehr erfreut es sich nur an der Erzählungder einzelnen unerwarteten Vorfälle und nicht an derLehre dieser Geschichten. Deshalb bedarf es nebendem Lesen dieser Geschichte noch der Prediger oderKirchenbeamten, die es seiner Schwäche gemäss be-lehren. Um indess von der Sache nicht abzuschweifen,schliesse ich meine Aufgabe damit, dass der Glaubean die Geschichten aller Art nicht zu dem göttlichenGesetz gehört, dass er die Menschen durch sich nichtselig macht, und dass der Nutzen dieser Geschichtenblos in der Belehrung liegt, in welcher Hinsicht dieeine Geschichte besser als die andere sein kann. Des-halb sind die Erzählungen im Alten und Neuen Testa-ment besser als die weltlichen, und von jenen ist dieeine besser als die andere; lediglich je nach den heil-samen Lehren, die aus denselben sich ergeben. HatJemand daher die ganzen Geschichten der Bibel gele-sen, und glaubt er an alle, hat er aber auf die Lehre,die darin geboten werden soll, nicht geachtet und sei-nen Lebenswandel nicht gebessert, so ist es ebenso,als hätte er den Koran oder die Schauspiele der Dich-ter oder die gemeinen Geschäftsbücher mit der Auf-merksamkeit des gemeinen Volkes gelesen, und um-gekehrt ist Der selig, der diese Geschichten nicht

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kennt, aber doch die heilsamen Grundsätze hat undeinen wahren Lebenswandel führt; Dieser hat inWahrheit den Geist Christi in sich.

Die Juden sind jedoch anderer Ansicht; sie Sägen,dass die wahre Liebe und der wahre Lebenswandelzur Seligkeit nichts nützt, so lange die Menschen diesblos mit dem natürlichen Licht erfassen und nicht alsdie durch Moses offenbarten Lehren. Maimonideswagt dies offen in der Stelle Könige VIII. 9 mit denWorten auszusprechen: »Jeder, der die sieben Gebo-te8 in sich aufgenommen hat und sie fleissig erfüllthat, gehört zu den Frommen in den Völkern und istein Erbe der zukünftigen Welt; wenn dies nämlichdeshalb von ihm geschehen ist, weil Gott sie in die-sem Gesetze gegeben, und weil durch Moses offen-bart worden, dass sie ehedem den Söhnen Noah's ge-geben worden seien. Hat er es aber blos gethan, weilseine Vernunft ihn dazu geführt hat, so ist Dieser keinEinwohner und gehört nicht zu den Frommen undWeisen in den Völkern.« - Dieses sind die Worte desMaimonides; ihnen fügt R. Joseph, Sohn von ShemTob, in seinem »Kebod Elohim« oder »Die Ehre Got-tes« genannten Buche hinzu: dass wenn auch Aristo-teles, welcher nach seiner Meinung die beste Ethikgeschrieben hat, und den er hochschätzt, in seinemLebenswandel nichts zur wahren Ethik Gehöriges undin seiner Ethik Enthaltenes unterlassen, sondern Alles

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sorgfältig beobachtet hätte, so würde ihm das doch zuseinem Heile nichts genutzt haben, weil er seineLehre nicht als göttlich offenbart, sondern blos alsvon der Vernunft geboten erfasst habe.

Dem aufmerksamen Leser wird indess nicht entge-hen, dass dies Alles nur reine Einbildungen sind, diesich auf keine Gründe und auf kein Ansehn der Bibelstützen; es genügt deshalb deren Erwähnung zu ihrerWiderlegung. Auch will ich nicht die Ansicht Dererwiderlegen, welche meinen, dass das natürliche Lichtnichts Gesundes über das zum wahren Heile Gehörigelehren könne. Denn da sie selbst sich keine gesundeVernunft zutheilen, so können sie dies auch durchVernunft nicht beweisen, und wenn sie etwas darüberhinaus zu besitzen meinen, so ist dies reine Einbil-dung, welche tief unter der Vernunft steht, wie schonihr gewöhnlicher Lebenswandel erkennen lässt. Ichbrauche also hierüber nichts weiter zu sagen; nur daswill ich noch bemerken, dass man Jedermann nur ausseinen Thaten erkennen kann; wer daher an FrüchtenUeberfluss zeigt, d.h. an Liebe, Freudigkeit, Frieden,Langmuth, Güte, Wohlthätigkeit, Treue, Sanftmuth,Mässigkeit, für Diesen (wie Paulus in seinem Briefean die Galater V. 22 sagt) ist das Gesetz nicht gege-ben; der ist, mag er blos durch die Vernunft oder blosdurch die Bibel belehrt worden sein, in Wahrheit vonGott belehrt und ein Seliger. Damit ist alles über das

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göttliche Gesetz zu Sagende erledigt.

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Sechstes Kapitel

Ueber die Wunder.

So wie eine Erkenntniss, welche die menschlicheFassungskraft übersteigt, eine göttliche genannt zuwerden pflegt, so wird auch ein Werk, dessen Ursachedie Menge nicht einsieht, das Werk Gottes genannt.Denn die Menge glaubt, dass die Macht und Vorse-hung Gottes sich dann am deutlichsten offenbare,wenn etwas Ungewöhnliches in der Natur geschieht,was gegen die gewöhnliche Meinung läuft; vorzüglichwenn es zum Gewinn und Vortheil derselben aus-schlägt Sie glaubt, dass das Dasein Gottes nicht deut-licher dargelegt werden könne, als wenn die Naturihre Regeln, wie sie meint, nicht innehält. Wenndaher Jemand die Dinge und die Wunder auf natürli-che Weise zu erklären und einzusehen sucht, so meintsie, er wolle Gott selbst oder seine Vorsehung nichtanerkennen. Die Menge glaubt, Gott sei so lange unt-hätig, als die Natur regelmässig wirkt, und umge-kehrt, die Macht der Natur und die natürlichen Kräfteseien so lange müssig, als Gott handle. Man stelltsich so zwei verschiedene Mächte vor, die Macht Got-tes und die Macht der natürlichen Dinge, die nur ingewisser Weise von Gott geregelt oder, wie die

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Meisten heutzutage annehmen, von Gott geschaffenist. Niemand weiss aber dabei, was sie unter diesenMächten und was sie unter Gott und der Natur mei-nen; vielmehr stellt man sich die Macht Gottes wiedie Herrschaft einer königlichen Majestät und die derNatur wie eine Kraft oder einen Stoss vor. Deshalbnennt die Menge die ungewohnten Werke der NaturWunder oder Werke Gottes, und sie mag theils ausFrömmigkeit, theils aus Widerspruchsgeist gegenDie, welche die Naturwissenschaft pflegen, von dennatürlichen Ursachen nichts wissen und nur dashören, was sie gar nicht versteht und deshalb am mei-sten anstaunt. Die Menge kann Gott nur anbeten undAlles auf seine Macht und seinen Willen beziehen,wenn sie keine natürlichen Ursachen anerkennt unddie Ereignisse gegen die Natur sich vorstellt; sieglaubt die Macht Gottes dann am meisten zu bewun-dern, wenn sie die Macht der Natur wie von Gott un-terjocht sich vorstellt. Dies scheint von den erstenJuden sich herzuschreiben, welche die Heiden ihrerZeit, die die sichtbaren Götter, wie Sonne, Mond, dieErde, das Wasser, die Luft anbeteten, widerlegen, undihnen zeigen wollten, dass ihre Götter schwach undwankelmüthig wären und unter der Herrschaft des un-sichtbaren Gottes ständen. Deshalb erzählten sie seineWunder, aus denen hervorgehen sollte, dass die ganzeNatur auf ihres angebeteten Gottes Geheiss nur zu

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ihrem Vortheil regiert werde. Dies gefiel den Men-schen so gut, dass man seitdem bis jetzt nicht aufge-hört hat, Wunder zu erdichten, um dadurch als dieLieblinge Gottes und als das Endziel, weshalb GottAlles geschaffen und erhalten habe, zu gelten. So er-laubt sich die Thorheit der Menge Alles, ohne dochvon Gott und der Natur einen gesunden Begriff zuhaben; sie vermengt die Beschlüsse Gottes mitmenschlichen und stellt sich die Natur so beschränktvor, dass ihr der Mensch als der vornehmste Theil er-scheint.

Damit habe ich die Meinungen und Vorurtheile derMenge Über die Natur und die Wunder hinreichenddargelegt; um indess die Frage gründlich zu erschöp-fen, werde ich zeigen: 1) dass Nichts sich gegen dieNatur ereignet, sondern dass sie eine feste und unver-änderliche Ordnung innehält, und zugleich, was unterWunder zu verstehen ist; 2) dass durch die Wunderweder das Wesen noch das Dasein Gottes und folg-lich auch nicht seine Vorsehung erkannt werden kann,sondern dass dies Alles viel besser aus der festen undunveränderlichen Ordnung der Natur erhellt; 3) werdeich aus einigen Beispielen der Bibel zeigen, dass sieselbst unter den Beschlüssen und dem Willen Gottesund mithin unter seiner Vorsehung nur die Ordnungder Natur versteht, die aus seinen ewigen Gesetzenhervorgeht; 4) endlich werde ich über die Auslegung

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der Wunder in der Bibel und über das handeln, washauptsächlich von den Berichten über die Wunder zuhalten ist. Dies gehört wesentlich zum Gegenstandedieses Kapitels und wird ausserdem den Zweck mei-nes ganzen Werkes erheblich fördern.

Der erste Satz ergiebt sich leicht aus dem, was ichin Kap. 4 über das göttliche Gesetz dargelegt habe,wonach Alles, was Gott will oder bestimmt, eineewige Notwendigkeit oder Wahrheit einschliesst. Ichhabe daraus, dass der Wille und die Einsicht Gottesdasselbe sind, gezeigt, dass wir dasselbe sagen, wennwir von Gottes Willen sprechen, oder dass Gott etwaseinsieht, und mit derselben Nothwendigkeit, mit deraus der göttlichen Natur und Vollkommenheit folgt,dass Gott ein Ding, wie es ist, erkennt, folgt, dassGott es, wie es ist, will. Da nun Alles seine Wahrheitnur aus den göttlichen Beschlüssen hat, so folgt, dassdie Naturgesetze nur die reinen Beschlüsse Gottessind, wie sie aus der Nothwendigkeit und Vollkom-menheit der göttlichen Natur folgen. Geschähe also inder Natur etwas gegen ihre allgemeinen Gesetze, sowürde es nothwendig auch der göttlichen Einsicht,Natur und ihren Beschlüssen widersprechen, undwenn Jemand annähme, dass Gott etwas gegen dieNaturgesetze thue, der müsste auch annehmen, Gotthandle gegen seine eigne Natur, was nicht verkehrtersein könnte. Dies ergiebt sich ebenso leicht daraus,

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dass die Macht der Natur die göttliche Macht undKraft selbst ist, und dass die göttliche Macht das ei-gentliche Wesen Gottes ist; doch lasse ich dieses hierjetzt bei Seite.

Somit geschieht in der Natur nichts,9 was ihren all-gemeinen Gesetzen widerspricht, und nichts, wasdamit nicht übereinstimmt oder aus ihnen nicht folgt;vielmehr geschieht Alles, was geschieht, mit GottesWillen und ewigem Beschluss, d.h. wie gesagt, es ge-schieht Alles nach Gesetzen und Regeln, welche eineewige Notwendigkeit enthalten, und die Natur befolgtdiese Gesetze und Regeln, welche die ewige Noth-wendigkeit und Wahrheit einschliessen, immer, wennwir sie auch nicht kennen, und ebenso ihre feste undunverbrüchliche Ordnung. Keine gesunde Vernunftkann der Natur eine beschränkte Macht und Kraft zu-theilen und annehmen, dass ihre Gesetze nur für Ein-zelnes und nicht für Alles passen; denn die Kraft undMacht der Natur ist die Kraft und Macht Gottesselbst, und die Gesetze und Regeln der Natur sind dieeigenen Beschlüsse Gottes; deshalb ist die Macht derNatur als unendlich anzusehen, und ihre Gesetze sindso ausgedehnt, dass sie Alles, was die göttliche Ein-sicht erkennt, umfassen. Sonst müsste man annehmen,Gott habe die Natur so ohnmächtig geschaffen undihre Gesetze und Regeln so dürftig bestellt, dass er ihrwiederholt von Neuem beistehen müsse, um sie zu

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erhalten und um die Dinge nach seinem Willen gehenzu machen, was durchaus verkehrt sein würde.

Aus diesem Grunde also, dass in der Natur Allesnur nach ihren Gesetzen erfolgt, und dass diese Geset-ze auf Alles, was die göttliche Einsicht vorstellt, sicherstrecken, und dass die Natur eine feste und unverän-derliche Ordnung innehält, folgt auf das Klarste, dassdas Wort »Wunder« nur auf die Meinungen der Men-schen sich bezieht und nur ein Werk bedeutet, dessennatürliche Ursache wir an dem Beispiel eines andernbekannten Gegenstandes nicht erklären können, oderwo wenigstens Der, der dies nicht kann, das Wunderniederschreibt oder erzählt. Ich könnte zwar sagen,ein Wunder sei das, dessen Ursache aus den Prinzipi-en der natürlichen Dinge, soweit sie dem natürlichenLichte bekannt sind, sich nicht erklären lasse; alleinda die Wunder für den Verstand der Menge geschah-en, welche die obersten Grundsätze der natürlichenDinge gar nicht kannte, so haben offenbar die Altendas für ein Wunder gehalten, was sie nicht in derWeise erklären konnten, wie die Menge die natürli-chen Dinge zu erklären pflegt, d.h. durch Benutzungder Erinnerung an einen andern ähnlichen Fall, densie ohne Staunen sich vorzustellen pflegt; denn dieMenge meint eine Sache dann genügend einzusehen,wenn sie sich nicht darüber verwundert. Die Altenund Alle bis ziemlich auf den heutigen Tag hatten nur

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diesen Maassstab für die Wunder; es kann deshalbnicht auffallen, wenn in der Bibel Vieles als Wunderberichtet wird, dessen Ursachen aus bekannten Natur-gesetzen leicht erklärt werden kann. So habe ich diesschon in Kap. 2 gethan, bei dem Stillstehn der Sonnefür Josua und bei ihrem Zurückgehen zur Zeit desAchaz; indess werde ich darüber bald noch ausführli-cher sprechen bei der Erklärung der Wunder, die ichin diesem Kapitel zugesagt habe.

Es ist aber nun Zeit, zu dem zweiten Punkt überzu-gehen, wonach wir Gottes Wesen und Dasein undVorsehung nicht durch die Wunder, sondern viel bes-ser aus der festen und unveränderlichen Ordnung derNatur erkennen. Ich werde das in folgender Weisedarlegen.

Da Gottes Dasein nicht von selbst klar ist, so musses aus Begriffen gefolgert werden, deren Wahrheit sofest und unerschütterlich ist, dass keine Macht mög-lich und denkbar ist, die sie verändern könnte. Wenig-stens müssen sie uns von der Zeit ab so gelten, wowir das Dasein Gottes aus ihnen folgern, wenn wiraus ihnen dasselbe erhaben über jeden zufälligenZweifel folgern wollen. Denn wenn man sich vorstel-len könnte, dass diese Begriffe von irgend einerMacht verändert werden könnten, so wäre derenWahrheit zweifelhaft und folglich auch unser Schlussfür das Dasein Gottes, und es gäbe keine Gewissheit

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für irgend, einen Gegenstand. - Ferner kann nur dasmit der Natur in Uebereinstimmung oder Widerspruchsein, was mit ihren Prinzipien stimmt oder denselbenwiderspricht. Nähme man daher an, dass in der Naturetwas von irgend einer Macht, sei sie, welche siewolle, geschehen könnte, was der Natur widerspräche,so würde es auch jenen Begriffen widersprechen undmüsste deshalb als widersinnig verworfen werden,oder man müsste an diesen obersten Begriffen, wiegezeigt, und folglich auch an Gott und an allen Re-geln überhaupt zweifeln. Die Wunder sind also weitentfernt, als Werke, die der Ordnung der Natur wider-sprechen, das Dasein Gottes uns zu beweisen; viel-mehr müssten sie uns daran zweifeln lassen, da manohne sie dessen unbedingt gewiss sein konnte, sofernman nämlich weiss, dass Alles in der Natur eine festeund unveränderliche Regel befolgt.

Wenn man aber annimmt, dass ein Wunder das sei,was aus natürlichen Ursachen sich nicht erklärenlässt, so kann dies in zwiefachem Sinne gemeint sein;einmal so, dass es zwar seine natürlichen Ursachenhabe, die der menschliche Verstand nur nicht ermit-teln könne, oder dass es keine Ursache ausser Gottoder Gottes Willen habe. Allein da Alles, was aus na-türlichen Ursachen geschieht, auch nur durch GottesMacht und Willen geschieht, so muss man dahin ge-langen, dass das Wunder, mag es natürliche Ursachen

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haben oder nicht, ein Werk ist, was aus Ursachennicht erklärt werden kann, d.h. ein Werk, was die Be-griffe der Menschen übersteigt. Aber aus einemWerke, und insbesondere aus einem, was unsern Ver-stand übersteigt, kann man nichts begreifen; dennAlles, was man klar und deutlich einsieht, muss durchsich selbst oder durch ein Anderes erkannt werden,was durch sich selbst erkennbar ist. Deshalb kannman aus einem Wunder oder einem Werke, was unsreBegriffe übersteigt, weder Gottes Wesen noch Daseinnoch irgend etwas über Gott und seine Natur erken-nen, vielmehr folgt, wenn Alles von Gott bestimmtund angeordnet ist, und die Wirkungen der Natur ausGottes Wesen sich ergeben, und die Naturgesetze nurdie ewigen Beschlüsse und Bestimmungen Gottessind, dass wir Gott und seinen Willen um so bessererkennen, je besser wir die natürlichen Dinge erken-nen und einsehen, wie sie von ihrer obersten Ursacheabhängen, und wie sie nach den ewigen Naturgesetzenwirken.

Deshalb können in Bezug auf ungern Verstand mitweit mehr Recht die Werke, welche man klar unddeutlich erkennt, Gottes Werke heissen und auf seinenWillen bezogen werden, als die, welche man nichtkennt, wenn sie auch die Einbildungskraft sehr be-schäftigen und die Menschen zum Anstaunen hinrei-ssen. Nur die Werke der Natur, welche klar und

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bestimmt erkannt sind, machen die Erkenntniss Got-tes erhabener und lehren den Willen und die Be-schlüsse Gottes auf das Klarste. Diejenigen treibenalso ein leeres Spiel, welche, wo sie einen Gegenstandnicht verstehen, zum Willen Gottes ihre Zuflucht neh-men; fürwahr eine lächerliche Art, seine Unwissenheitzu bekennen!

Selbst wenn man aus den Wundern etwas folgernkonnte, so konnte es doch in keinem Falle das DaseinGottes sein. Denn das Wunder ist ein begrenztesWerk und druckt nur eine gewisse und begrenzteMacht aus; man kann daher daraus nicht das Daseineiner Ursache folgern, deren Macht unendlich ist, son-dern höchstens eine Ursache von grösserer Macht. Ichsage »höchstens«, denn es kann auch aus dem Zusam-menwirken vieler Ursachen ein Werk hervorgehen,dessen Gewalt und Macht schwächer ist wie dieMacht dieser Ursachen zusammen, und doch grösserals die Macht jeder einzelnen Ursache. Allein wenndie Naturgesetze, wie gezeigt worden, sich auf unend-lich Vieles erstrecken und unter der Bestimmung derEwigkeit von uns begriffen werden, und da die Naturnach ihnen in einer festen und unveränderlichen Ord-nung sich bewegt, so lehren sie selbst uns in gewisserWeise die Unendlichkeit, Ewigkeit und Unveränder-lichkeit Gottes. Ich schliesse also, dass Gott, sein Da-sein und seine Vorsehung aus den Wundern nicht

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erkannt werden kann, sondern dass diese weit besseraus der festen und unveränderlichen Ordnung derNatur erkannt werden. Dabei verstehe ich das Wunderin dem Sinne eines Werkes, was die Fassungskraftdes Menschen übersteigt, oder von dem man dies an-nimmt. Denn so weit es als ein Werk gilt, was dieOrdnung der Natur zerstört oder unterbricht oderderen Gesetzen widerspricht, so weit kann es (wie ichgleich zeigen werde) nicht blos keine ErkenntnissGottes gewähren, sondern muss uns sogar die natürli-che Kenntniss desselben nehmen und uns in Zweifelüber Gott und Alles stürzen.

Auch erkenne ich hier keinen Unterschied zwischeneinem Werke gegen die Natur und einem über dieNatur, d.h. einem, das nach der Meinung Einiger derNatur zwar nicht widerstreitet, aber doch nicht von ihrhervorgebracht oder bewirkt werden kann. Denn dasWunder entsteht nicht ausserhalb, sondern innerhalbder Natur, wenn man es auch über die Natur stellt; esmuss also nothwendig die Ordnung der Natur stören,wenn man diese überhaupt als eine feste und unverän-derliche nach Gottes Rathschlüssen anerkennt. Ge-schähe daher etwas in der Natur, was aus ihren Geset-zen nicht folgte, so müsste es der Ordnung, die Gottin Ewigkeit durch die allgemeinen Naturgesetze fürdiese festgesetzt hat, widersprechen und würde des-halb gegen die Natur und ihre Gesetze sein, und

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wollte man daran glauben, so würde es uns an Allemzweifeln machen und zu dem Atheismus führen.

Damit glaube ich den zweiten Satz mit genügendfesten Gründen bewiesen zu haben, und wir könnendaraus von Neuem folgern, dass ein Wunder, sei esgegen oder über die Natur, ein reiner Widerspruchist. Deshalb kann in der Bibel unter Wunder nur einWerk der Natur verstanden werden, das, wie gesagt,die Fassungskraft des Menschen übersteigt, oder vondem dies wenigstens angenommen wird.

Ehe ich jedoch zu dem dritten Punkte übergehe,möchte ich vorher meine Ansicht, dass Gott aus denWundern nicht erkannt werden kann, durch das Anse-hen der Bibel bekräftigen. Sie sagt dies zwar nirgendsausdrücklich, allein es kann leicht aus ihr abgeleitetwerden, insbesondere aus des Moses (Deut. XIII.)Anweisung, den falschen Propheten, auch wenn erWunder verrichtet, mit dem Tode zu strafen; denn ersagt: »Und (d.h. wenn auch) geschähe ein Zeichenund Wunder, was er Dir vorausgesagt hat u.s.w., soglaube (doch) den Worten des Propheten nicht, weilder Herr, Euer Gott, Euch versucht u.s.w. Der Prophetwerde (deshalb) des Todes schuldig erklärt« u.s.w.Hieraus ergiebt sich, dass auch von falschen Prophe-ten Wunder verrichtet werden können, und dass dieMenschen, die nicht durch die wahre Erkenntniss undLiebe zu Gott redlich geschützt sind, ebenso leicht

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aus den Wundern falsche Götter, wie die wahren er-fassen können. Denn Moses setzt hinzu: »weil Jeho-va, Euer Gott, Euch versucht, damit er wisse, ob Ihrihn liebt von ganzem Herzen und ganzer Seele.« Fer-ner haben die Israeliten trotz der vielen Wunder keinegesunde Vorstellung von Gott gewinnen können, wiedie Erfahrung gelehrt hat. Denn als sie glaubten,Moses sei von ihnen gegangen, so verlangten siesichtbare Götter von Aaron, und ein Kalb, welcheSchande! war der Begriff ihres Gottes, den sie aus sovielen Wundern sich gebildet hatten. So zweifelteauch Asaph an der Vorsehung Gottes, obgleich er soviele Wunder gehört hatte, und er wäre beinah vomwahren Wege abgewichen, wenn er nicht endlich diewahre Seligkeit erkannt gehabt hätte (PsalmXXXVII.). Auch Salomo, zu dessen Zeiten die Ange-legenheiten der Juden in der höchsten Blüthe standen,argwöhnt, dass Alles nach Zufall geschehe (Pred. Sal.III. 19, 20, 21; IX. 2, 3). Endlich blieb es beinahallen Propheten dunkel, wie die Ordnung der Naturund die Erlebnisse der Menschen mit ihrem Begriffvon Gottes Vorsehung sich vertragen können, ob-gleich dies doch den Philosophen, die nicht aus Wun-dern, sondern aus klaren Begriffen die Dinge zu be-greifen suchen, immer sehr klar gewesen ist, nämlichDenen, die die wahre Glückseligkeit nur in die Tu-gend und Seelenruhe setzen und nicht wollen, dass die

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Natur ihnen, sondern dass sie der Natur gehorchen;denn sie sind gewiss, dass Gott die Natur leitet, wiees ihre allgemeinen Gesetze, und nicht, wie es die be-sonderen Gesetze der menschlichen Natur verlangen,und dass Gott daher nicht blos auf das menschlicheGeschlecht, sondern auf die ganze Natur Rücksichtnimmt.

So erhellt auch aus der Schrift, dass die Wunderkeine wahre Erkenntniss Gottes gewähren und dieVorsehung Gottes nicht klar beweisen. Wenn es aberoft in der Bibel heisst, Gott habe ein Wunder gethan,damit er den Menschen bekannt werde, wie in Exod.X. 2 es heisst, Gott habe die Aegypter getäuscht undein Zeichen von sich gegeben, damit die Israeliten er-kennten, dass er Gott sei, so folgt doch daraus nochnicht, dass die Wunder dies wirklich lehren, sondernnur, dass die Juden dies gemeint haben und so durchWunder sich haben leicht überzeugen lassen. Dennoben im 2. Kapitel habe ich gezeigt, dass die Gründeder Propheten oder die aus den Offenbarungen gebil-deten Gründe nicht aus allgemeinen Begriffen hervor-gehen, sondern aus den verkehrten Zugeständnissenund Meinungen Derer, welchen die Offenbarung ge-schieht, oder welche der heilige Geist überzeugenwill. Ich habe dies durch viele Beispiele belegt undauch durch das Zeugniss des Paulus, der mit denGriechen ein Grieche und mit den Juden ein Jude war.

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Wenn nun auch diese Wunder die Aegypter undJuden nach ihren Meinungen überzeugen konnten, sovermochten sie doch nicht eine wahre Vorstellung undErkenntniss Gottes zu geben, sondern sie brachten sienur zu dem Eingeständniss, dass es ein Wesen gebe,was mächtiger als alles ihnen Bekannte sei, und wasdie Juden, denen damals Alles wider Erwarten glück-lich von Statten ging, vor Allem begünstigte, nichtaber, dass Gott gleich für Alle sorge; denn das kannnur die Philosophie lehren. Deshalb glaubten dieJuden und Alle, die nur aus dem wechselnden Standder menschlichen Angelegenheiten und dem unglei-chen Schicksal der Menschen Gottes Vorsehung ab-nahmen, dass die Juden Gott wohlgefälliger als dieUebrigen gewesen seien, obgleich sie sie an wahrermenschlicher Vollkommenheit nicht übertrafen, wieich in Kap. 3 gezeigt habe.

Ich gehe zu dem dritten Punkte und will aus derBibel zeigen, dass Gottes Beschlüsse und Gebote undfolglich seine Vorsehung in Wahrheit nur die Ord-nung der Natur sind; d.h. wenn die Bibel sagt, diesoder jenes sei von Gott oder durch seinen Willen ge-macht, so will das in Wahrheit nur sagen, dass esnach den Gesetzen und der Ordnung der Natur ge-schehen sei, nicht aber, wie die Menge meint, dass dieNatur so lange aufgehört habe zu wirken, oder dassihre Ordnung eine Zeitlang unterbrochen worden sei.

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Die Bibel lehrt indess das, was sich auf ihre Lehrenicht bezieht, nicht geradezu, weil es nicht ihre Sacheist, wie ich bei dem göttlichen Gesetz dargelegt habe,die Dinge nach ihren natürlichen Ursachen und über-haupt spekulative Begriffe zu erklären. Ich muss des-halb meine Behauptung aus einigen Erzählungen derBibel, die sie zufällig ausführlicher und mit mehr Ne-benumständen giebt, durch Folgerungen ableiten unddeshalb einige solche hier vorbringen.

So wird 1. Samuel IX. 15, 16 erzählt, Gott habedem Samuel offenbart, dass er ihm den Saul schickenwerde; dennoch sandte Gott ihn nicht zu Samuel, sowie die Menschen Einen zu dem Andern senden, son-dern diese Sendung Gottes war nur die Ordnung derNatur. Saul suchte nämlich laut des vorgehenden Ka-pitels seine Eselinnen, die er verloren hatte, und als erschon ohne sie nach Hause gehen wollte, ging er aufden Rath seines Dieners zu dem Propheten Samuel,um von ihm zu erfahren, wo er sie finden könnte. Dieganze Erzählung ergiebt, dass Saul keinen andern Be-fehl Gottes, als diese Ordnung der Natur gehabt hat,um Samuel anzugehen. - In Psalm CV. 24 heisst es,Gott habe den Geist der Aegypter umgeändert, dasssie die Israeliten gehasst hätten. Auch das war eineganz natürliche Veränderung, wie aus Exod. I. erhellt,wo der wichtige Grund erzählt wird, weshalb dieAegypter die Israeliten zu ihren Knechten machten. -

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Gen. IX. 13 sagt Gott dem Noah, er werde es ihm ineiner Wolke geben, welche Handlung Gottes nichtsAnderes ist als die Brechung und Zurückwerfung derSonnenstrahlen, welche sie in den Wassertropfen er-leiden. - In Psalm CXLVII. 18 wird jene natürlicheWirkung des Windes und der Wärme, welche denReif und Schnee schmelzt, das Werk Gottes genannt,und in v. 15 der Wind und die Kälte der Spruch unddas Wort Gottes. - In Psalm CIV. 4 heissen der Windund das Feuer die Boten und Diener Gottes, und der-gleichen findet sich noch Vieles in der Bibel, was klarergiebt, dass Gottes Beschluss, Befehl, Spruch undWort nur die Wirksamkeit und Ordnung der Natur be-zeichnet. Deshalb hat sich unzweifelhaft alles in derBibel Erzählte natürlich zugetragen, und dabei wirdes doch auf Gott bezogen, da es, wie gesagt, nichtSache der Bibel ist, die Dinge nach ihren natürlichenUrsachen darzulegen, sondern nur das zu erzählen,was die Einbildungskraft lange beschäftigt, und zwarin einer Weise und einem Vortrag, der mehr dahinzielt, das Staunen zu erregen und dem Geist derMenge die Gottesfurcht einzuprägen. Findet mandaher in der Bibel Etwas, wovon man keinen Grundangeben kann und was neben, ja gegen die Natur sichscheinbar zugetragen hat, so darf das nicht bedenklichmachen, sondern man muss die wirklichen Ereignissefür natürliche ansehen. Dies folgt auch daraus, dass

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bei den Wundern sich manche Nebenumstände finden,die bei deren dichterischen Darstellungen nicht immererwähnt werden, welche klar zeigen, dass die Wunderaus natürlichen Ursachen hervorgegangen sind. Somusste, als die Aegypter an dem Aussatze litten,Moses Asche in die Luft streuen (Exod. IX. 10). Auchdie Heuschrecken kamen auf einen natürlichen BefehlGottes nach Aegypten, nämlich durch einen Tag undNacht wehenden Ostwind, und verliessen es bei einemsehr starken Westwind (Exod. X. 14, 19). DerselbeWind, nämlich der Westwind, der die ganze Nachtstark blies, öffnete auch auf Befehl Gottes den Judenden Weg durch das Meer (Exod. XIV. 21). Damitendlich Elias den für todt gehaltenen Knaben aufer-weckte, musste er sich einige Male auf ihn legen, biser warm wurde und endlich die Augen öffnete (2. Kö-nige IV. 34, 35). So werden auch in dem EvangeliumJohannis Kap. 9 einige Umstände erwähnt, die Jesusbei Heilung des Blinden benutzt hat, und so findetsich Vieles in der Bibel, was ergiebt, dass die Wunderetwas Anderes als den unbedingten Befehl Gottes,wie man sagt, erfordern. Man muss annehmen, dasswenn auch nicht alle Umstände und ihre natürlichenUrsachen, wenigstens nicht sämmtlich erzählt werden,sie doch nicht ohne solche geschehen sind; dies erhelltauch aus Exod. XIV. 27, wo erzählt wird, dass dasMeer auf einen blossen Wink Mosis wieder

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angeschwollen sei, und des Windes nicht gedachtwird. Dennoch heisst es in dem Hohenlied (Exod.XV. 10), es sei geschehen, weil Gott mit seinemWinde (d.h. mit dem stärksten Winde) geblasen habe;dieser Umstand wird in der Erzählung nicht erwähnt,und das Wunder erscheint dadurch grösser.

Allein man behauptet vielleicht, dass sich sehr Vie-les in der Bibel finde, was durch natürliche Ursachennicht erklärt werden könne; so, dass die Sünden derMenschen und ihr Gebet Ueberschwemmungen oderFruchtbarkeit der Erde bewirken können; dass derGlaube die Blinden heilen könne, und andere Erzäh-lungen dieser Art in der Bibel. Allein ich glaubeschon darauf geantwortet zu haben, indem ich zeigte,dass die Bibel die Dinge nicht nach ihren nächstenUrsachen schildert, sondern nur in einer solchen Ord-nung und Darstellung, die die Menschen und vorzüg-lich die ungebildete Klasse am meisten zur Gottes-furcht bestimmen kann. Deshalb wird von Gott undden Dingen nur sehr uneigentlich geredet; sie willnicht die Vernunft überführen, sondern die Einbil-dungskraft und das Gefühl der Menschen erregen undbeschäftigen. Wenn die Bibel den Untergang einesReiches, so wie ein politischer Geschichtschreiber esthut, berichten wollte, so würde dies die Menge nichtrühren; wohl aber, wenn sie, wie es geschieht, Allesdichterisch ausmalt und auf Gott bezieht. Sagt also

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die Bibel, dass die Erde wegen der Menschen Sündenunfruchtbar gewesen, oder dass Blinde durch denGlauben geheilt worden, so darf uns das nicht mehrüberraschen, als wenn sie sagt, Gott sei über derMenschen Sünden erzürnt, betrübt; er bereue, ihnenGutes verheissen und gewährt zu haben, oder dassGott bei dem Anblick eines Zeichens sich des Ver-sprechens erinnert, und vieles Andere, was entwederdichterisch dargestellt oder nach den Ansichten undVorurtheilen des Verfassers erzählt wird. Deshalbkann man ohne Ausnahme annehmen, dass alle wirk-lichen, in der Bibel erzählten Ereignisse wie Allesnach Naturgesetzen geschehen sind, und findet sichetwas, was geradezu den Naturgesetzen widerstreitetoder aus ihnen nicht abzuleiten ist, so muss man an-nehmen, dass es von gottlosen Menschen der Bibelzugesetzt worden. Denn Alles gegen die Natur istauch gegen die Vernunft, und was gegen die Vernunftist, ist Unsinn und zu verwerfen.

Ich habe nunmehr nur noch Einiges über die Erklä-rung der Wunder zu sagen oder besser zu wiederho-len, da das Wichtigste schon gesagt worden ist, unddurch einige Beispiele zu erläutern, was ich zum Vier-ten versprochen habe. Ich thue dies, damit nicht durcheine schlechte Erklärung der Wunder man voreilig an-nehme, in der Bibel etwas dem natürlichen Licht Wi-dersprechendes gefunden zu haben.

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Sehr selten erzählen die Menschen einen Vorfall soeinfach, wie er sich zugetragen hat, ohne etwas vonsich selbst der Erzählung einzumischen; vielmehrwerden sie bei dem Anblickoder beim Hören einesNeuen, wenn sie nicht gegen ihre vorgefassten Mei-nungen sehr auf ihrer Hut sind, meist so davon einge-nommen, dass sie etwas ganz Anderes als das Gese-hene oder Gehörte auffassen; insbesondere wenn derVorfall die Fassungskraft des Erzählers oder Zuhörersübersteigt, und er für einen bestimmten Ausgang derSache ein besonderes Interesse hat. Deshalb erzählendie Menschen in ihren Chroniken und Geschichtenmehr ihre Meinungen als die vorgefallenen Dinge,und derselbe Vorgang wird von zwei Menschen mitverschiedenen Meinungen so verschieden berichtet,dass sie gar nicht von einem und demselben Fall zusprechen scheinen, und dass man meist aus der blos-sen Erzählung die Meinung des Chronisten und Ge-schichtschreibers leicht entnehmen kann. Ich könntedafür viele Beispiele aus Werken von Philosophen,welche über Naturgeschichte - geschrieben, und vonGeschichtschreibern beibringen, wenn es nicht über-flüssig wäre. Aus der Bibel will ich nur einen Fall er-wähnen; über die anderen mag der Leser selbst urthei-len.

Zur Zeit Josua's glaubten die Juden, wie erwähnt,mit allen Ungebildeten, dass die Sonne sich in ihrem

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täglichen Laufe bewege, die Erde aber still stehe, unddieser Meinung passten sie das Wunder an, was sichereignete, als sie gegen die fünf Könige kämpften. Sieerzählten nicht einfach, dass jener Tag länger als ge-wöhnlich gewesen, sondern Sonne und Mond hättenstill gestanden oder in ihrem Lauf eingehalten, unddies half ihnen damals, die Heiden, welche die Sonneanbeteten, zu überzeugen, dass die Sonne unter derMacht eines andern Wesens stehe, auf dessen Winksie ihren natürlichen Gang verändern müsse. So fass-ten sie theils aus religiösen Vorstellungen, theils ausvorgefassten Meinungen die Sache ganz anders auf,als sie sich zutragen musste, und erzählten sie danach.

Zur Erklärung der Wunder in der Bibel, und umaus ihren Erzählungen den wahren Vorgang herauszu-finden, muss man die Meinungen der ersten Erzählerund Derer, die es niederschrieben, kennen und diesevon dem unterscheiden, was die Sinne ihnen zeigenkonnten. Ohnedem vermengt man diese Meinungenund Urtheile mit dem Wunder, wie es sich wirklichzugetragen hat, und dies ist auch nicht blos deshalbnöthig, sondern man kann auch nur dann die wirkli-chen Ereignisse von den eingebildeten, die nur in derPhantasie des Propheten ihren Sitz haben, unterschei-den. Denn in der Bibel wird Vieles als wirklich ge-schehen berichtet und geglaubt, was doch nur Vorstel-lung und Einbildung war; so dass Gott (das höchste

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Wesen) von dem Himmel herabgestiegen sei (Exod.XIX. 18; Deut. V. 24), und dass der Berg Sinai ge-raucht habe, weil Gott mit Feuer umgeben auf ihnherabgestiegen sei; dass Elias in einem feurigenWagen und mit feurigen Pferden zum Himmel aufge-stiegen sei. Dies Alles waren nur Bilder der Einbil-dungkraft, angepasst an die Meinungen Derer, die unsdies, so wie sie es sich vorstellten, d.h. als wirklicheEreignisse berichten. Denn Jedermann, der nur etwasmehr als die grosse Menge versteht, weiss, dass Gottkeine rechte und linke Hand hat, sich weder bewegtnoch ausruht, an keinem Orte, sondern unendlich ist,und dass er alle Vollkommenheit enthält. Das weiss,wie gesagt, wer die Dinge nach den Begriffen des rei-nen Verstandes prüft, und nicht so, wie seine Einbil-dungskraft durch die Sinne erregt wird, wie dies beider Menge geschieht. Deshalb stellt diese sich Gottkörperlich vor, wie er die königliche Herrschaft führt;sein Thron wird auf der Höhe des Himmels über dieSterne gestellt, deren Entfernung von der Erde mannicht für gross annimmt.

Aus solchen und ähnlichen Meinungen sind, wieerwähnt, die meisten Vorfälle in der Bibel zurechtge-stellt; der Philosoph darf sie deshalb nicht als wirkli-che ansehen. Endlich ist für das Verständniss derWunder und dessen, was davon sich wirklich zugetra-gen, die Kenntniss der hebräischen Ausdrücke und

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Bilder nöthig. Wer das nicht beachtet, wird in derBibel viele Wunder finden, an die ihre Berichterstatternie gedacht haben, und er wird deshalb nicht blos dieDinge und Wunder, so wie sie wirklich sich ereignet,sondern auch die Meinung der heiligen Schriftstellenganz verkennen. So sagt z.B. Zacharias XIV. 7, wo ervon einem kommenden Kriege spricht: »Der Tag wirdeinzig sein; nur Gott wird ihn kennen; nicht (wird ersein) Tag oder Nacht, aber zur Abendzeit wird Lichtwerden.« Damit scheint er ein

grosses Wunder zu verkünden, und doch will erdamit nur sagen, dass die Schlacht den ganzen Tagschwanken wird; dass nur Gott den Ausgang kenne,und dass sie gegen Abend den Sieg gewinnen werden;denn in solchen Ausdrücken pflegten die Prophetendie Siege und Niederlagen der Völker zu verkündenund niederzuschreiben.

So schildert Esaias XIII. die Zerstörung Babylonsfolgendermassen: »weil die Sterne des Himmels mitihrem Licht nicht leuchten werden, die Sonne beiihrem Aufgange sich verdunkeln und der Mond denGlanz seines Lichtes nicht entsenden wird.« Niemandwird glauben, dass dies bei Zerstörung dieses Reichessich zugetragen, so wenig wie das, was er hinzufügt:»deshalb will ich den Himmel erzittern lassen, unddie Erde soll von ihrer, Stelle gerückt werden.« Eben-so sagt Esaias XLVIII. letzter Vers, um den Juden

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anzudeuten, dass sie von Babylon sicher nach Jerusa-lem zurückkehren und auf der Reise von Durst nichtgeplagt werden würden: »Und sie haben nicht gedür-stet; er führte sie durch Wüsten und liess ihnen dasWasser ans den Felsen fliessen; er schlägt den Stein,und es flossen die Wasser.« Damit will er nur andeu-ten, dass die Juden in der Wüste Quellen, wie dies jazu geschehen pflegt, finden würden, aus denen sieihren Durst stillen könnten. Denn als sie mit Bewilli-gung: des Cyrus nach Jerusalem zogen, sind ihnenkeine solchen Wunder begegnet. In dieser Art findetsich Vieles in der Bibel, was nur jüdische Redeweiseist. Ich brauche dies nicht einzeln aufzuführen, son-dern erinnere nur am Allgemeinen, dass die Juden mitsolchen Ausdrücken nicht blos auszuschmücken, son-dern hauptsächlich auch ihre Gottesfurcht zu bezeich-nen pflegten. Denn aus diesem Grunde findet sich inder heil. Schrift das »Gott segnen« statt »verfluchen«(l. Könige XXI. 10; Hiob II. 9), und. deshalb bezogensie Alles auf Gott, und deshalb scheint die Bibel nurWunder zu erzählen, wo sie von den natürlichstenDingen spricht, wie ich davon einige Beispiele gege-ben habe. Deshalb ist der Ausdruck der Schrift dassGott das Herz des Pharao verhärtet, nur eine Bezeich-nung für den Ungehorsam desselben, und wenn esheisst, Gott öffnet die Fenster des Himmels, so bedeu-tet dies nur, dass es viel geregnet habe, u. s. w.

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Wenn man daher darauf Acht hat, dass in der BibelVieles sehr kurz, ohne Nebenumstände und beinahverstümmelt erzählt wird, so wird man beinah Nichtsin ihr finden, was dem natürlichen Licht widerspricht,und die anscheinend dunkelsten Stellen können beimässiger Ueberlegung verstanden und leicht erklärtwerden.

Damit glaube ich das, was ich wollte, klar darge-legt w haben. Ehe ich indess dieses Kapitel schliesse,muss ich noch erwähnen, dass ich hier bei den Wun-dern ein ganz anderes Verfahren wie bei der Weissa-gung beobachtet habe. Ueber letztere habe ich nichtsbehauptet, was ich nicht aus den in der heiligenSchrift geoffenbarten Grundlagen ableiten konnte; al-lein hier habe ich das Wichtigste blos aus den Prinzi-pien abgeleitet, die das natürliche Licht lehrt. Ichhabe dies absichtlich gethan; denn die Weissagungübersteigt den menschlichen Verstand und ist einerein theologische Frage; ich konnte deshalb über ihrWesen nichts behaupten noch wissen, als nur aus denoffenbarten Grundlagen. So war ich genöthigt, dieGeschichte der Weissagung zusammenzustellen, umdaraus gewisse Regeln abzuleiten, die auch die Naturund die Eigenschaften der Weissagung so weit alsmöglich erkennen Hessen. Allein bei den Wundern istdie Frage, ob man zugeben könne, dass in der Naturetwas gegen ihre Gesetze geschieht, oder was daraus

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nicht abgeleitet werden könne, eine rein philosophi-sche; ich bedurfte deshalb jener Mittel nicht und hieltes für gerathener, diese verschlungene Frage auf dendurch das natürliche Licht erkannten Grundlagen, alsden bekanntesten, aufzulösen. Ich sage, ich habe diesfür gerathener gehalten; denn ich hätte sie auch ausden blossen Aussprüchen und Grundlagen der Bibelleicht lösen können. Ich will das, um es Jedermannklar zu machen, mit Wenigem zeigen. An einigenStellen sagt die Bibel von der Natur im Allgemeinen,dass sie ihre feste und unveränderliche Ordnung ein-halte; so in Psalm CXLVIII. 6 und Jeremias XXI. 35,36, und der Philosoph sagt in seinem Prediger I. 10auf das Klarste, dass nichts Neues m der Welt sich er-eignet; und v. 11 sagt er zur Erläuterung dessen, dasswenn auch scheinbar ein Neues sich ereigne, diesdoch nichts Neues sei, sondern schon in früheren Zei-ten, von denen man keine Kunde habe, da gewesensei; »denn«, sagt er, »von den Alten ist bei den Heuti-gen keine Erinnerung, und von dem Heutigen wirdkeine bei den Nachkommen sein.« Dann sagt er III.11: »Gott habe Alles zu ihrer Zeit gut angeordnet«,und v. 14 »er wisse, dass, was Gott thue, in Ewigkeitbleiben werde, und dass dem nichts zugefügt noch ab-genommen werden könne.«

Dies Alles sagt deutlich, dass die Natur eine festeund unverbrüchliche Ordnung bewahrt, dass Gott in

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allen uns bekannten und unbekannten Jahrhundertenderselbe gewesen, und dass die Naturgesetze so voll-kommen und fruchtbar seien, dass ihnen nichts zuge-setzt oder abgenommen werden könne; endlich, dassdie Wunder von den Menschen nur wegen ihrer Un-wissenheit für etwas Neues gehalten werden. Diesalso lehrt die Bibel mit ausdrücklichen Worten, aberkeineswegs, dass in der Natur etwas geschehe, wasihren Gesetzen widerspreche oder daraus nicht folge;man darf daher auch der Bibel dergleichen nicht an-dichten. Dazu kommt, dass die Wunder Ursachen undUmstände erfordern, wie ich gezeigt habe, und dasssie nicht aus, ich weiss nicht welcher königlichenHerrschaft, die die Menge Gott beilegt, hervorgehen,sondern aus der göttlichen Herrschaft und ihrem Be-schluss, d.h., wie ich aus der Bibel dargethan, aus denGesetzen und der Ordnung der Natur. Endlich könnenauch Verführer Wunder verrichten, wie aus Deut.XIII. und Matth. XXIV. 24 erhellt.

Es erhellt also, dass die Wunder natürliche Ereig-nisse und deshalb so zu erklären sind, um die WorteSalomo's zu gebrauchen, dass sie weder ein Neues,noch der Natur zu widersprechen scheinen; vielmehrmüssen sie den natürlichen Dingen möglichst annä-hernd aufgefasst werden, und zu dem Ende habe icheinige aus der Bibel selbst entlehnte Regeln gegeben.Wenn ich sage, dass die Bibel dies lehre, so meine ich

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doch damit nicht, dass sie dies als Lehren gebe, diezum Heile nöthig wären, sondern dass schon die Pro-pheten sie so wie ich aufgefasst haben. Deshalb magJeder, wie er es für sein Verständniss des Gottesdien-stes und der Religion am besten hält, darüber unge-hindert denken, und dies ist auch die Meinung des Jo-sephus, der am Schluss seines II. Buches der Alter-thümer schreibt: »Niemand misstraue dem Worte›Wunder‹, wenn alte und arglose Männer überzeugtsind, der Weg des Heils durch das Meer sei durchGottes Willen oder von selbst geöffnet worden. Dennauch den Gefährten Alexander's des Grossen hat ehe-dem wie den Widersachern das Pamphylische Meersich geöffnet, da kein anderer Ausweg übrig war, undhat ihnen so mit Gottes Willen den Durchgang ge-währt, um die persische Herrschaft zu zerstören, undAlle, welche die Thaten Alexander's beschriebenhaben, bestätigen es. Deshalb mag hierbei Jeder eshalten, wie es ihm beliebt.« - Dies sind die Worte desJosephus und sein Urtheil über den Glauben an Wun-der.

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Siebentes Kapitel

Ueber die Auslegung der Bibel.

Jedermann führt es zwar im Munde, dass die heili-ge Schrift Gottes Wort sei, was den Menschen diewahre Seligkeit und den Weg des Heils zeige, aber inWahrheit urtheilt man ganz anders. Denn die grosseMenge denkt nicht daran, nach den Lehren der heili-gen Schrift zu leben; alle ihre eigenen Erdichtungengiebt sie für Gottes Wort ans und strebt nur unter demVorwand der Religion, Andere zu gleicher Meinungzu nöthigen. Die Theologen sind meist nur bedacht,ihre Erfindungen und Einfälle aus der heiligen Schriftherauszupressen und mit göttlichem Ansehn zu umge-ben. Mit wenig Bedenken und mit um so grössererFrechheit legen sie die Bibel oder die Gedanken desheiligen Geistes aus, und haben sie noch eine Sorge,so ist es nicht die, dem heiligen Geist einen Irrthumanzuheften und von dem Wege des Heils abzuirren,sondern nur von Anderen nicht widerlegt zu werden,damit ihr eignes Ansehn nicht unter die Füsse kommeund von Anderen verachtet werde. Wenn die Men-schen das, was sie mit Worten von der Bibel bezeu-gen, im ernsten Sinne sagten, dann müssten sie einenandern Lebenswandel führen, und es würde nicht so

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viel Uneinigkeit ihren Geist bewegen; sie würdennicht mit so viel Hass kämpfen und nicht mit so blin-dem und verwegenem Eifer die Schrift auslegen undNeues in der Religion ausdenken, und sie würden nurdas als Lehre der Schrift festzuhalten wagen, was sieselbst deutlich lehrt. Endlich hätten dann jene Gottes-lästerer, welche sich nicht gescheut haben, die Schriftan vielen Stellen zu verfälschen, ein solches Verbre-chen gefürchtet und ihre gotteslästerlichen Händedavon fern gehalten. Allein der Ehrgeiz und die Ver-brechen haben es endlich dahin gebracht, dass die Re-ligion nicht mehr in der Befolgung der Lehren desheiligen Geistes, sondern in der Vertheidigungmenschlicher Erfindungen besteht, und dass die Reli-gion nicht in der Liebe gefunden wird, sondern inAussäung von Uneinigkeit unter den Menschen und inAusbreitung des erbittertsten Hasses, der mit dem fal-schen Namen göttlichen Eifers und brennenden Ver-langens beschönigt wird. Mit diesen Uebeln verbandsich der Aberglaube, welcher die Menschen Vernunftund Natur zu verachten lehrt und sie nur das bewun-dern und verehren lässt, was jenen beiden wider-spricht.

Es kann deshalb nicht auffallen, wenn man zur Er-höhung der Verehrung und Bewunderung der Bibelsie so auszulegen sucht, wie sie der Vernunft undNatur am meisten widerspricht. Deshalb träumt man

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von verborgenen tiefen Geheimnissen in der heiligenSchrift; man erschöpft sich in Auffindung derselben,d. h. des Unsinns, und vernachlässigt dabei das Nütz-liche. Alles, was sie so in ihrem Wahnsinn erfinden,wird dem heiligen Geist zugeschrieben und mit dergrössten Anstrengung und Leidenschaft vertheidigt.Denn es verhält sich mit den Menschen so, dass, waser mit dem reinen Verstande begreift auch mit diesemvertheidigt; aber ebenso die Meinungen, wozu dieLeidenschaft ihn treibt, nur mit diesen vertheidigt.

Um nun diesem Wirrwarr zu entgehen und denGeist von den theologischen Vorurtheilen zu befreienund menschliche Erdichtungen nicht für göttlicheLehren zu nehmen, habe ich über die richtige Ausle-gungsweise der Bibel zu handeln und sie auseinanderzu setzen. Ohnedem kann man nicht mit Gewissheitwissen, was die Bibel und was der heilige Geist leh-ren will. Diese Weise der Bibelerklärung, um es mitwenig Worten zu aagen, unterscheidet sich nicht vonder Naturerklärung, sondern stimmt mit ihr ganzüberein. So wie die letztere vorzüglich darin besteht,das Einzelne in der Natur passend zusammenzustel-len, um aus diesen festen Unterlagen die Begriffe dernatürlichen Dinge abzuleiten, so müssen auch bei derBibelerklärung die zuverlässigen Thatsachen zusam-mengestellt und daraus, als den sichern Unterlagenund Anfängen, die Meinung der Verfasser der Bibel

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in richtigen Folgerungen abgeleitet werden. So wirdJeder, wenn er nämlich keine weitem Anfänge undUnterlagen zur Auslegung der Bibel und Erörterungihres Inhaltes zulässt, als was die Schrift selbst undihre Geschichte bietet, ohne Gefahr des Irrthums vor-schreiten und ebenso sicher das erörtern können, wasunsere Fassungskraft übersteigt, als was man mit demnatürlichen Licht erkennt. Damit aber klar erhelle,dass dieser Weg nicht nur sicher, sondern auch dereinzige ist, welcher mit der Weise der Naturerklärungübereinstimmt, ist zu erinnern, dass die Bibel sehr oftvon Dingen handelt, die ans den Grundsätzen des na-türlichen Lichts nicht abgeleitet werden können. Dengrössten Theil derselben bilden Gesichte und Offen-barungen, und die Geschichte enthält hauptsächlichWunder, d. h. wie im vorigen Kapitel gezeigt worden,Erzählungen ungewöhnlicher Naturereignisse, die denMeinungen und dem Verstande der betreffenden Ge-schichtschreiber angepasst worden sind. Ebenso sinddie Offenbarungen den Meinungen der Propheten an-gepasst, wie ich im zweiten Kapitel dargelegt habe,und diese übersteigen in Wahrheit den menschlichenVerstand. Deshalb muss man die Erkenntniss von bei-nah alledem, was die Schrift enthält, aus ihr selbstentnehmen, ebenso wie bei der Naturerkenntniss diesevon der Natur entnommen werden muss.

Was aber die moralischen Lehren anlangt, welche

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die Bibel enthält, so könnte sie zwar aus den gemei-nen Begriffen abgeleitet werden, allein man kann dar-aus nicht beweisen, dass die Schrift sie lehre, sonderndies kann nur ans der Bibel selbst entnommen wer-den. Ja, wenn man ohne Vorurtheil die Göttlichkeitder Bibel bezeugen will, so kann sie für uns nur darinbestehen, dass sie die wahren Lehren der Moral ent-hält. Daraus allein kann ihre Göttlichkeit bewiesenwerden; denn ich habe gezeigt, dass die Weissagun-gen nur deshalb für gewiss gelten können, weil diePropheten rechtliche und gute Gesinnungen hatten.Deshalb können auch wir nur aus gleichem Grundeihnen vertrauen. Aus Wundern kann dagegen Gottesgöttliche Natur nicht bewiesen werden, wie ich schondargelegt habe; nicht zu erwähnen, dass auch falschePropheten sie verrichten konnten. Daher kann dieGöttlichkeit der Schrift nur daraus sich ergeben, dasssie die wahre Tugend lehrt, und dies kann sich aus derSchrift allein ergeben. Wäre dies nicht möglich, sokönnte man nicht ohne grosse Bedenken sie anneh-men und ihre Göttlichkeit bezeugen. Somit muss dieganze Erkenntniss der Schrift aus ihr selbst entlehntwerden. Endlich giebt die Bibel keine Definitionender Dinge, von denen sie spricht, so wenig wie dieNatur. Sowie daher aus den verschiedenen Vorgängenin der Natur die Definitionen der natürlichen Dingegefolgert werden müssen, so sind sie hier aus den

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verschiedenen Erzählungen, die denselben Gegen-stand in der Bibel behandeln, abzunehmen. Deshalbist die allgemeine Regel für die Bibelerklärung, derSchrift keine Lehre zuzuschreiben, die aus der Ge-schichte der Bibel sich nicht klar ergiebt. Es ist des-halb zu ermitteln, wie die Geschichte der Bibel be-schaffen sein, und was sie vorzüglich enthalten muss.

Erstens muss sie die Natur und Eigenthümlichkeitder Sprache enthalten, in der die Bücher der Bibel ge-schrieben worden, und die ihre Verfasser zu sprechenpflegten. So wird man den verschiedenen Sinn, deneine Rede im gewöhnlichen Sprachgebrauch zulässt,ermitteln können. Da aber sämmtliche Verfasser desAlten und Neuen Testaments Juden waren, so ist vorAllem die Geschichte der hebräischen Sprache noth-wendig; nicht blos zum Verständniss der Bücher desAlten Testaments, die in dieser Sprache geschriebensind, sondern auch des Neuen, da sie, obgleich sie inandern Sprachen veröffentlicht worden, doch denCharakter des Hebräischen an sich haben.

Zweitens muss sie die Aussprüche jedes Buchessammeln und auf gewisse Hauptpunkte zurückführen,damit man Alles, was einen Gegenstand betrifft, beider Hand habe. Ferner muss sie alle zweideutigenoder dunklen oder sich widersprechenden Stellen be-merken, wobei ich eine Stelle dunkel oder deutlichnenne, deren Sinn aus dem Text der Rede schwer oder

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leicht verständlich ist. Denn die Schwierigkeit liegtnur in dem Sinn der Rede, nicht in ihrer Wahrheit.Insbesondere hat man sich vorzusehen und bei Aufsu-chung des Sinnes der Bibel sich nicht im Voraus voneiner Begründungsweise einnehmen zu lassen, die nurauf den Grundlagen der natürlichen Erkenntniss be-ruht, wobei ich der Vorurtheile nicht erwähne, undden wahren Sinn nicht mit der Wahrheit der Thatsa-chen zu verwechseln. Jener ist aus dem Sprachge-brauch allein oder aus Erwägungen abzunehmen, wel-che nichts als die Bibel zu Hülfe nehmen.

Dieses Alles will ich zur nähern Deutlichkeit miteinem Beispiel erläutern. Die Aussprüche Mosis:»Gott ist das Feuer« und »Gott ist eifersüchtig« sinddem Wortsinne nach ganz klar; ich rechne sie deshalbzu den klaren, obgleich sie rücksichtlich der Wahrheitund des Grundes zu den dunkelsten gehören; ja, ob-gleich ihr Wortsinn dem natürlichen Licht widerstrei-tet, so muss doch an ihrem Wortsinn festgehaltenwerden, wenn er nicht auch den Grundsätzen und denaus der Bibel sich ergebenden Grundlagen klar entge-gensteht. Umgekehrt müssen Sätze, deren wörtlicherSinn den der Bibel entlehnten Grundsätzen wider-spricht, selbst wenn sie mit der Vernunft gänzlichstimmen, doch anders, nämlich metaphorisch erklärtwerden. Um also zu wissen, ob Moses geglaubt habe,Gott sei ein Feuer oder nicht, darf dies nicht daraus

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abgenommen werden, dass diese Meinung nicht mitder Vernunft stimmt oder ihr widerspricht; sondern eskann nur aus andern Aussprüchen Mosis ermitteltwerden. Da nämlich Moses auch an vielen Stellenklar ausspricht, Gott habe keine Aehnlichkeit mit densichtbaren Dingen, welche am Himmel, auf Erden undim Wasser sind, so kann man daraus folgern, jeneStelle oder alle seien als Vergleichungen zu nehmen.Da jedoch von dem Wortsinne so wenig wie möglichabzugehen ist, so muss vorher geprüft werden, ob die-ser einmalige Ausspruch: »Gott ist das Feuer«, einenandern Sinn neben dem wörtlichen gestattet, d.h. obdas Wort »Feuer« noch etwas Anderes als das natürli-che Feuer bedeutet. Findet sich dies nach dem Sprach-gebrauch nicht, so darf diese Stelle auch nicht andersausgelegt werden, so sehr sie auch der Vernunft wi-derspricht; vielmehr müssen alle übrigen, obgleich siemit der Vernunft stimmen, dieser angepasst werden.Ist auch dies nach dem Sprachgebrauch nicht mög-lich, dann lassen sich diese Stellen nicht vereinigen,und deshalb kann kein Urtheil über sie gefällt werden.Allein da das Wort »Feuer« auch für Zorn und Eifer-sucht gebraucht wird (Hiob XXXI. 12), so lassen sichdie Aussprüche Mosis leicht vereinigen, und mankann mit Recht sagen, dass beide Ausdrücke: »Gottist ein Feuer« und »Gott ist eifersüchtig« nur dasselbebedeuten. Ferner sagt Moses deutlich, dass Gott

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eifersüchtig sei, und nirgends sagt er, dass er von denLeidenschaften, d. h. den Gemüthserregungen frei sei;deshalb kann man annehmen, dass Moses selbst die-ses geglaubt hat oder wenigstens hat sagen wollen,wenn man auch überzeugt ist, dass dies der Vernunftwiderspreche. Denn es ist uns, wie gesagt, nicht er-laubt, dem Sinne der Schrift nach den Geboten unse-rer Vernunft und nach unsern vorgefassten MeinungenGewalt anzuthun; vielmehr muss das Verständniss derBibel lediglich aus ihr selbst entnommen werden.

Drittens muss die Geschichte der Bibel Alles, wasmit diesen Büchern der Propheten sich zugetragenhat, enthalten, soweit es bekannt ist; ebenso den Le-benslauf, den Charakter und die Beschäftigungen desVerfassers eines jeden Buches: wer er gewesen, beiwelcher Gelegenheit, zu welcher Zeit, für wen und inwelcher Sprache er geschrieben hat. Endlich muss dasSchicksal eines jeden Buches mitgetheilt werden: wiees im Anfang aufgenommen worden, in WelcherHände es gekommen, welche verschiedene Lesartenvorhanden, und auf wessen Antrieb es unter die heili-gen Bücher aufgenommen worden, und endlich, wiealle diese, jetzt für heilig geltenden Bücher zu einemBuche verbunden worden sind. Dies Alles hat die Ge-schichte der Bibel zu enthalten. Denn wenn man ent-scheiden soll, welche Aussprüche als Gesetze undwelche als moralische Lehren gelten sollen, so muss

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man den Lebenslauf, den Charakter und die Beschäf-tigungen des Verfassers kennen, und man wird seineWorte um so leichter auslegen können, je besser manseine Neigungen und seine Denkweise kennt. Um fer-ner die ewigen Lehren nicht mit den zeitlichen odermit den nur für Wenige gegebenen zu verwechseln,muss man auch wissen, bei welcher Gelegenheit, zuwelcher Zeit und für welches Volk oder Jahrhundertalle diese Lehren niedergeschrieben worden sind.Auch die Kenntniss der übrigen erwähnten Umständeist erheblich, um neben dem Ansehn des Buches zuwissen, ob es von verfälschenden Händen hat entstelltwerden können oder nicht, ob Irrthümer sich einge-schlichen, und ob sie von genügend erfahrenen undzuverlässigen Männern verbessert worden sind. DiesAlles ist zu wissen nöthig, damit man nicht im blin-den Eifer Jedwedes, das uns geboten wird, annehme,sondern nur das Gewisse und Unzweifelhafte.

Erst nachdem man eine solche Geschichte der Bibelerreicht hat und fest sich vorgenommen hat, Nichts alsLehre der Propheten anzunehmen, als was aus dieserGeschichte folgt oder deutlich hergeleitet werdenkann, ist es Zeit, sein Augenmerk auf den Geist derPropheten und des heiligen Geistes zu lenken. Auchdazu ist eine ähnliche Weise und Ordnung nöthig, wiesie angewendet wird, wenn man die Natur aus ihrerGeschichte erklären will. So wie man bei der

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Erforschung der natürlichen Dinge vor Allem daraufbedacht ist, die allgemeinsten und der ganzen Naturgemeinsamen Punkte zu ermitteln, d.h. die Bewegungund die Ruhe mit den Gesetzen und Regeln, welchedie Natur stets beobachtet und nach denen sie unun-terbrochen wirkt: und so, wie man von da allmählichzu dem mehr Besonderen vorschreitet, ebenso mussauch aus der Geschichte der Bibel zunächst das All-gemeinste ermittelt werden, was die Grundlage undder Boden für die ganze Bibel ist und das, was in ihrals die ewige und allen Sterblichen heilsamste Lehrevon allen Propheten empfohlen wird. Dahin gehörtz.B., dass Gott nur als einer und allmächtiger besteht,dem allein die Anbetung gebührt, der für Alle sorgtund der vor Allen Diejenigen liebt, welche ihn vereh-ren und ihren Nächsten wie sich selbst lieben.

Dieses und Aehnliches, sage ich, lehrt die Bibelüberall so klar und ausdrücklich, dass dies von Nie-mand je in Zweifel gezogen worden ist. Wer aberGott sei, und in welcher Weise er Alles sieht unddafür sorgt, dies und Aehnliches lehrt die Schrift ab-sichtlich und als eine ewige Wahrheit nicht; vielmehrhaben die Propheten selbst, wie schon oben gezeigtworden, darin nicht übereingestimmt. Deshalb kannman über Dergleichen keine Lehre des heiligen Gei-stes aufstellen, wenn man es auch aus natürlichemLicht ganz gut vermöchte.

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Nachdem diese allgemeine Lehre der Bibel richtigerkannt worden, muss man zu dem mehr Besonderenübergehen, was auf den gemeinsamen Lebenswandelsich bezieht, und was wie Bäche aus dieser allgemei-nen Lehre abfliesst. Dahin gehören alle äussern be-sondern Handlungen der wahren Tugend, die nur beipassender Gelegenheit geschehen können. Die dabeisich vorfindenden Zweideutigkeiten und Dunkelheitenmüssen nach der allgemeinen Lehre der Bibel erklärtund entschieden werden, und bei etwaigen Widersprü-chen sind die Gelegenheit, die Zeit und für wen dieBücher geschrieben worden, zu beachten. Wenn z.B.Christus sagt: »Selig sind die Trauernden, denn siewerden Trost empfangen«, so kann man aus diesenWorten nicht abnehmen, welche Trauernde er meint.Allein später sagt er, man solle nur für das Reich Got-tes und seine Gerechtigkeit sorgen, und er empfiehltes als das höchste Gut (Matth. VI. 33). Daraus folgt,dass Christus unter den Trauernden nur Die versteht,welche um die Vernachlässigung des Reiches Gottesund der Gerechtigkeit durch die Menschen trauern;denn nur dies können Die betrauern, welche blos dasgöttliche Reich oder die Billigkeit lieben und die üb-rigen Güter verachten.

Wenn Christus ferner sagt: »Wer Dich auf Deinerechte Wange schlägt, dem halte auch die linke hin«,u.s.w., so würde er, wenn er dies als Gesetzgeber den

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Richtern geboten hätte, das Gesetz Mosis damit auf-gehoben haben; allein da er offen das Gegentheil er-klärt (Matth. V. 17), so muss man beachten, wer diesgesagt hat, wann und zu welcher Zeit es gesagt wor-den; da hat Christus es gesagt, nicht um als Gesetzge-ber Gesetze zu geben, sondern als Lehrer von Lebens-regeln; er wollte, wie gezeigt, nicht die äussern Hand-lungen, sondern die Gesinnung verbessern. Fernersagt er es unterdrückten Menschen, die in einem ver-derbten Staate lebten, wo die Gerechtigkeit vernach-lässigt wurde, und dessen Untergang er herannahensah. Und so sehen wir, dass dasselbe, was hier Chri-stus bei dem bevorstehenden Untergang der Stadtlehrt, von Jeremias bei der ersten Zerstörung derStadt, also zu einer ähnlichen Zeit, gelehrt worden ist(Klagen Jerem. III. die Buchstaben Tet und Jot). Dasomit dies nur zu Zeiten der Unterdrückung von denPropheten gelehrt worden, da es nirgends als ein Ge-setz verordnet worden, vielmehr Moses, der nicht ineiner Zeit der Unterdrückung schrieb, sondern, dieshalte man fest, einen guten Staat begründen wollte,zwar auch die Rache und den Hass gegen den Näch-sten verdammt hat, aber doch Auge um Auge zu neh-men geboten hat: so ergiebt sich aus den Grundlagender Bibel, dass diese Lehre Christi und des Jeremiasüber Ertragung des Unrechts und Gestattung der Gott-losen zu Allem nur für Orte gilt, wo die Gerechtigkeit

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verabsäumt wird, in Zeiten der Unterdrückung, abernicht für einen guten Staat. Vielmehr ist in einemguten Staate, wo die Gerechtigkeit gehandhabt wird,Jeder schuldig, wenn er sich als einen Gerechten zei-gen will, das Unrecht vor den Richter zu bringen(Levit. V. 1), nicht aus Rache (Levit. XIX. 17, 18),sondern um der Gerechtigkeit willen, zum Schutz derGesetze des Vaterlandes, und damit den Bösen ihreBosheit nicht zum Vortheil gereiche, was Alles auchmit der natürlichen Vernunft übereinstimmt.

In dieser Weise könnte ich noch mehr Beispielebeibringen; indess wird dies genügen, um meine An-sicht und den Nutzen dieser Art der Auslegung darzu-legen, worauf es mir jetzt nur ankommt. Allein bisherhabe ich nur die Stellen der Bibel erörtert, welche sichauf den Lebenswandel beziehen, und die deshalbleichter erklärt werden können, da über diese inWahrheit unter den Verfassern der biblischen Bücherkein Streit bestanden hat. Dagegen kann das Uebrige,was in der Bibel die Spekulation betrifft, nicht soleicht verstanden werden; der Weg dazu ist enger.Denn die Propheten weichen in spekulativen Fragen,wie gezeigt, von einander ab, und die Erzählungensind da den Vorurtheilen jedes Jahrhunderts sehr an-bequemt worden. Deshalb kann man auf die Meinungeines Propheten aus deutlichem Stellen eines andernkeinen Schluss ziehen und sie nur da zur Erläuterung

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benutzen, wo ganz feststeht, dass Beide genau diesel-be Ansicht gehabt haben. Ich will daher mit Wenigemdarlegen, wie in solchen Fällen die Meinung des Pro-pheten aus der Geschichte der Bibel zu gewinnen ist.

Auch hier muss mit dem Allgemeinsten begonnenwerden, und man muss vor Allem aus den klarstenStellen der Bibel ermitteln, was die Weissagung oderOffenbarung ist, und worin sie hauptsächlich besteht.Dann ist zu ermitteln, was ein Wunder ist, und somuss in dieser Weise mit den gemeinsamen Begriffenverfahren werden. Von da muss man zu den Ansich-ten des einzelnen Propheten übergehen und erst als-dann den Sinn der einzelnen Offenbarungen oderWeissagungen in der Erzählung und die Wunder er-mitteln. Welche Vorsicht hierbei nöthig, damit mandabei die Meinung des Propheten und Geschicht-schreibers nicht mit der Absicht des heiligen Geistesund mit dem wahren Sachverhalt verwechsle, habe ichfrüher an mehreren Beispielen gezeigt; ich brauche esdeshalb hier nicht weitläufiger darzulegen. Indesshalte man für die Erklärung der Offenbarungen fest,dass dieses Verfahren nur zu dem führt, was die Pro-pheten wirklich gesehen und gehört haben, nicht aberwas sie mit ihren Hieroglyphen bezeichnen oder vor-stellen wollten; dies kann man nur errathen, aber nichtsicher aus den Grundlagen der Bibel ableiten.

Damit habe ich die Weise der Schrift-Erklärung

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dargelegt und zugleich bewiesen, dass es der alleinigesichere Weg zur Erforschung ihres Sinnes ist; aller-dings müssen Diejenigen mehr Gewissheit haben,wenn es Deren giebt, welche die sichere Ueberliefe-rung oder wahre Auslegung von den Propheten selbsterhalten haben, wie die Pharisäer sagen, oder welcheeinen Hohenpriester haben, der in Auslegung derSchrift nicht irren kann, wie die Katholiken sich einessolchen rühmen. Allein da ich weder über dieseUeberlieferung, noch über das Ansehen des PapstesGewissheit erlangen kann, so kann ich auch darübernichts Gewisses feststellen. Letzteres haben die älte-sten oder ersten Christen, Jenes die ältesten Sektender Juden bestritten, und bedenkt man die Reihe vonJahren, um Anderes nicht zu erwähnen, durch welchedie Pharisäer nach der Lehre ihrer Rabbiner dieseUeberlieferung bis zu Moses hinauf führen, so findetman, dass sie falsch ist, wie ich auch an einem andernOrte darlege. Deshalb muss eine solche Ueberliefe-rung als sehr verdächtig gelten, und wenn ich auch beimeinem Verfahren eine Ueberlieferung der Juden an-nehmen muss, nämlich die Bedeutung der hebräischenWorte, die wir von ihnen empfangen haben, so zweif-le ich, wenn auch nicht an dieser, doch an der andern.Denn Niemandem konnte es jemals Etwas nützen, dieBedeutung eines Wortes zu verändern, wohl aber denSinn einer Rede. Auch wäre Jenes ausserordentlich

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schwer gewesen; denn wer den Sinn eines Wortes än-dern wollte, musste auch alle Schriftsteller, die in die-ser Sprache geschrieben und das Wort in seiner ge-wöhnlichen Bedeutung gebraucht haben, entweder imGeist und Sinn eines Jeden erklären oder mit derhöchsten Vorsicht verfälschen. Auch schützt das Volkausser den Gelehrten die Sprache; aber den Sinn derReden und die Bücher schützen nur die Gelehrten;und deshalb konnte es wohl kommen, dass die Ge-lehrten den Sinn einer Rede in einem sehr seltenenBuche, das sie in ihrer Gewalt hatten, verändern oderverderben konnten, aber nicht die Bedeutung derWorte. Dazu kommt, dass, wer die gewohnte Bedeu-tung eines Wortes verändern will, nur schwer dies fürdie spätere Zeit im Sprechen und Schreiben festhaltenkann. Dies und andere Gründe zeigen, dass es Nie-mandem in den Sinn hat kommen können, eine Spra-che zu verfälschen, wohl aber oft die Meinung einesSchriftstellers durch Verdrehung und falsche Ausle-gung seiner Rede.

Wenn nun mein Verfahren, wonach das Verständ-niss der Bibel nur aus ihr selbst geschöpft werdensoll, das einzig wahre ist, so muss man da alle Hoff-nung aufgeben, wo dieses Mittel zum vollen Ver-ständniss der Bibel nicht ausreicht. Die in der Bibelselbst enthaltenen Schwierigkeiten und Mängel fürdie Gewinnung eines vollen und sichern

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Verständnisses der heiligen Bücher werde ich hierdarlegen.

Mein Verfahren trifft darin auf eine grosse Schwie-rigkeit, dass es die volle Kenntniss der hebräischenSprache voraussetzt. Woher soll diese entnommenwerden? Die alten hebräischen Sprachgelehrten habender Nachwelt über die Grundlagen und die Gesetzedieser Sprache nichts hinterlassen; wenigstens besit-zen wir nichts der Art von ihnen, kein Wörterbuch,keine Sprachlehre, keine Redekunst. Das jüdischeVolk hat alle Zierden, allen Schmuck eingebüsst, wasnach so viel Niederlagen und Verfolgungen nicht zuverwundern ist, und hat nur wenige Bruchstücke derSprache und alten Bücher gerettet; die Namen derFrüchte, der Vögel, der Fische und vieles Andere sinddurch die Ungunst der Zeiten beinahe gänzlich verlo-ren gegangen. Ferner ist die Bedeutung vieler Namenund Worte in der Bibel entweder ganz unbekannt oderbestritten. Neben Allem diesem entbehrt man vorzüg-lich der Lehre über die Satzbildung in dieser Sprache;denn die Ausdrücke und Redewendungen, welche demjüdischen Volke eigenthümlich waren, hat die verzeh-rende Zeit beinahe sämmtlich aus dem Gedächtnissder Menschen vertilgt. Ich werde deshalb nichtimmer, wie ich möchte, den verschiedenen Sinn einerRede, welche sie nach dem Sprachgebrauch zulässt,ermitteln können; und wir werden vielen Reden

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begegnen, die zwar in den bekanntesten Worten aus-gedrückt sind, aber deren Sinn sehr dunkel, ja unver-ständlich ist.

Zu diesem Mangel, dass man keine vollständigeGeschichte der hebräischen Sprache hat, kommt dieNatur und der Bau dieser Sprache hinzu, aus welchemso viel Zweideutigkeiten entspringen, dass sich keinVerfahren finden lässt, was zu dem wahren Sinn allerSätze der Bibel mit Sicherheit führte. Denn neben denallen Sprachen gemeinsamen Ursachen der Zweideu-tigkeit hat diese Sprache noch besondere, welche dieQuelle vieler solcher Zweideutigkeiten sind, und ichhalte es der Mühe werth, sie hier anzugeben.

Die erste Zweideutigkeit und Dunkelheit in denDarstellungen der Bibel entspringt daraus, dass dieBuchstaben derselben Sprachwerkzeuge einander ver-treten. Die Juden theilen nämlich die Buchstaben desAlphabets in fünf Klassen nach den Organen, welchezu dem Sprechen dienen, nämlich nach den Lippen,der Zunge, den Zähnen, dem Gaumen und der Kehle.So heissen z.B. das Alpha, Ghet, Hgain, He Kehllau-te und werden, so viel mir bekannt, ohne Unterschiedeiner für den andern gebraucht. El, was »zu« bedeu-tet, wird oft statt hgal gebraucht, was »über« bedeu-tet, und umgekehrt. Davon kommt es, dass alle Rede-theile entweder zweideutig oder sinnlos werden.

Die andere Zweideutigkeit der Rede entspringt aus

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der mehrfachen Bedeutung der Binde- und Bei-Worte.So dient z.B.: Vau sowohl zum Verbinden wie zumTrennen; es bezeichnet: »und«, »aber«, »weil«, »hin-gegen«, »demnächst«. Ki hat sieben oder acht Bedeu-tungen und heisst: »weil«, »obgleich«, »wenn«,»wie«, »was«, »die Verbrennung« u.s.w. Und dassel-be gilt beinahe von allen diesen Nebenredetheilen.

Eine dritte Quelle vieler Zweifel ist der Mangel desPräsens, des Präteritums, Imperfects, Plusquamper-fects, des Futuri perfecti und anderer in den übrigenSprachen sehr gebräuchlichen Zeiten, bei dem Indica-tiv der Zeitworte. Ebenso fehlten denselben im Impe-rativ und Infinitiv alle Zeiten ausser dem Präsens, undim Conjunctiv haben die Zeitworte gar keine Zeit-form. Allerdings kann dieser Mangel an Zeit- und Be-ziehungsformen nach gewissen aus den Grundlagender Sprache entlehnten Regeln leicht, ja mit grosserFeinheit ergänzt werden; allein die alten Schriftstellerhaben dies ganz verabsäumt und gebrauchen durcheinander die zukünftige Zeit für die gegenwärtige undfür die vergangene, und umgekehrt diese für die kom-mende; ferner den Indicativ für den Imperativ undConjunctiv auf Kosten aller Bestimmtheit der Rede.

Neben diesen drei der hebräischen Sprache eigent-hümlichen Ursachen der Zweideutigkeit muss ichnoch zwei andere erwähnen, deren jede von noch vielgrösserer Bedeutung ist. Die eine ist, dass die Hebräer

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keine Buchstaben für die Selbstlaute haben; die zwei-te, dass sie die Redetheile nicht durch besondere In-terpunktions-Zeichen von einander trennen und diesweder ausdrücken noch andeuten. Wenn auch Beides,die Selbstlaute und diese Zeichen, durch Punkte undStriche nachgeholt werden können, so kann man sichdoch nicht darauf verlassen, da sie von Leuten ausspäteren Zeiten herrühren, deren Ansehen bei unsnicht gelten kann, da die Alten ohne Punkte, d.h. ohneSelbstlaute und Accente geschrieben haben, wie ausvielen Zeugnissen erhellt. Nur die Spätern haben, jenach der ihnen zusagenden Auslegung der Bibel, Bei-des hinzugefügt. Daher sind die jetzt vorhandenenAccente und Punkte nur Auslegungen der Neuem undverdienen nicht mehr Glauben und Ansehen als dieübrigen Erklärungen der Autoren. Wer dies nichtkennt, weiss nicht, wie der Verfasser des Briefes andie Hebräer zu entschuldigen ist, dass er in Kap. XI.21 den Text der Gen. XLVII. 31 ganz anders auslegt,als es in dem punktirten Texte lautet, als hätte derApostel den Sinn der Bibel von den Punktisten lernenmüssen, während nach meiner Ansicht die Punktistendie Schuld tragen. Damit Jedermann einsehe, wie derUnterschied blos von dem Mangel der Selbstlaute ge-kommen ist, will ich beiderlei Auslegung hier ange-ben. Die Punktisten haben mit ihren Punkten es soausgelegt: »und es krümmt sich Israel oben«, oder

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wenn man den Buchstaben Hgain in das Alpha des-selben Organs verändert, »gegen den Kopf des La-gers.« Dagegen sagt der Verfasser des Briefes: »undes krümmt sich Israel über den Kopf des Stabes«,indem er mate statt mita liest; ein Unterschied, dernur in den Selbstlautern liegt. Da nun in dieser Erzäh-lung nur von dem einsamen Alter des Jakob, abernicht, wie in dem folgenden Kapitel, von seinerKrankheit gesprochen wird, so scheint die Absichtdes Geschichtschreibers wahrscheinlich die gewesenzu sein, dass Jakob sieh über den Kopf des Stabes,dessen die Greise hohen Alters zu ihrer Stütze bedür-fen, aber nicht des Lagers gebeugt habe, zumal dannein Umtausch der Buchstaben nicht nöthig ist. Mitdiesem Beispiel habe ich nicht blos jene Stelle in demBriefe an die Hebräer mit dem Text des 1. BuchMosis vereinigen, sondern auch zeigen wollen, wiewenig man sich auf die heutigen Punkte und Accenteverlassen kann. Jede vorurtheilsfreie Bibelerklärungmuss hier mit Zweifeln vorgehen und von Neuem un-tersuchen.

Aus diesem Bau und Zustand der hebräischenSprache kann man, um auf meine Aufgabe zurückzu-kommen, leicht entnehmen, dass die hieraus entste-henden Schwierigkeiten durch kein Mittel der Ausle-gung ganz beseitigt werden können. Insbesonderekann man nicht hoffen, durch eine gegenseitige

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Vergleichung der Stellen dies zu erreichen, obgleichsie der einzige Weg bleibt, um den wahren Sinn einerStelle aus den näheren, nach dem Sprachgebrauch zu-lässigen Bedeutungen zu ermitteln. Eine solche Ver-gleichung kann hier nur zufällig eine Erläuterung ge-währen, da kein Prophet in der Absicht geschriebenhat, um seine oder Anderer Worte absichtlich zu er-läutern. Auch kann man die Meinung des einen Pro-pheten oder Apostels nicht aus der eines andern ent-nehmen, ausgenommen in Dingen, die den Lebens-wandel betreffen, wie ich bereits gezeigt habe; dage-gen ist es bei spekulativen Fragen und bei Erzählungvon Wundern und Ereignissen nicht zulässig.

Ich könnte nun durch Beispiele belegen, dass in derBibel viele ganz unerklärbare Stellen enthalten sind;indess lasse ich dies jetzt gern bei Seite, da ich nochweiter auszuführen habe, welchen Schwierigkeiten diewahre Auslegungsweise der Bibel begegnet, und washierbei noch zu wünschen übrig bleibt.

Eine weitere Schwierigkeit entsteht nämlich daraus,dass zu diesem Mittel der Auslegung eine Kenntnissaller Unfälle, die die Bücher der Schrift betroffenhaben, nöthig ist, während doch das Meiste davon un-bekannt; denn die Urheber oder, wenn man lieberwill, die Verfasser vieler Bücher sind uns entwederganz unbekannt oder zweifelhaft, wie ich gleich zei-gen werde. Auch die Gelegenheit, weshalb, und die

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Zeit, wann diese Bücher, deren Verfasser wir nichtkennen, geschrieben worden, sind uns unbekannt;ebenso, in wessen Hände diese Bücher gerathen sind,in welchen Exemplaren seine verschiedenen Lesartensich befunden haben, und ob nicht mehr dergleichenLesarten bei Anderen bestanden haben. Wie wichtigdiese Kenntniss aber ist, habe ich an seiner Stelle ge-zeigt, und einiges dort absichtlich unerwähnt Gebli-chene will ich hier in Betracht nehmen.

Liest man ein Buch, was Unglaubliches oder Un-verständliches enthält oder in dunklen Ausdrückenabgefasst ist, und kennt man den Verfasser und dieZeit und den Anlass dazu nicht, so ist es vergeblich,sich über dessen Sinn zu vergewissern. Es ist dannunmöglich zu wissen, was der Verfasser gewollt oderwollen gekonnt hat, während, wenn man dies genaukennte, man sein Urtheil so einrichten könnte, dassman ohne vorgefasste Meinung dem Verfasser oderDem, für den er schrieb, nicht mehr oder weniger, alsRecht ist, zutheilt, und dass man nur an das denkt,was der Verfasser im Sinn hatte, und was die Zeit undGelegenheit verlangte.

Hierin wird mir Jeder beistimmen. Denn es trifftsich oft, dass man ähnliche Geschichten in verschie-denen Büchern findet, worüber man sehr verschiedenurtheilt, je nach der Kenntniss, die man von den Ver-fassern hat.

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So entsinne ich mich, einst in einem Buche voneinem Manne gelesen zu haben, der der rasende Ro-land hiess, auf einem geflügelten Ungeheuer durch dieLuft ritt und damit über beliebige Länder hinwegflog;er allein metzelte eine ungeheure Zahl Menschen undRiesen nieder, und dergleichen mehr, was für den ge-sunden Verstand ganz unfassbar war. Eine dieser ähn-lichen Geschichte hatte ich im Ovid über Perseus ge-lesen und noch eine ähnliche in dem Buch der Richterund Könige über Simson (der allein und ohne WaffenTausende von Menschen niedermetzelte) und vonElias, der durch die Luft flog und endlich in einemfeurigen Wagen und mit feurigen Rossen gen Himmelfuhr. Obgleich nun diese Erzählungen einander sehrgleichen, so urtheilen wir doch über jede sehr ver-schieden, nämlich dass der Verfasser der ersten nurPossen hat schreiben wollen; der Zweite aber politi-sche Dinge und der Dritte heilige; und Alles dies neh-men wir nur in Folge der Meinungen an, die wir überderen Verfasser hegen. Hieraus erhellt, dass ohneKenntniss der Verfasser, welche dunkel und unver-ständlich geschrieben haben, die Erklärung ihrerSchriften unmöglich bleibt.

Aus denselben Gründen muss man, um die wahrenLesarten bei dunklen Geschichten zu ermitteln, wis-sen, in wessen Händen die Exemplare mit den ver-schiedenen Lesarten sich befunden haben, und ob

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nicht noch andere sich bei Personen von grösserer Zu-verlässigkeit finden.

Eine andere Schwierigkeit bei Erklärung der Bibelin dieser Weise liegt darin, dass wir sie nicht mehr inder ursprünglichen Sprache besitzen. Denn dasEvangelium Matthäi und unzweifelhaft auch der Briefan die Hebräer ist nach allgemeiner Annahme hebrä-isch abgefasst worden, welcher Text aber nicht mehrvorhanden ist. Von dem Buche Hiob ist es zweifel-haft, in welcher Sprache es abgefasst worden; AbenHezra behauptet in seinem Kommentar, es sei auseiner andern Sprache in das Hebräische übersetztworden, und davon komme seine Dunkelheit. Ueberdie apokryphischen Bücher sage ich nichts, da sie vonsehr verschiedener Gültigkeit sind.

Dies sind nun alle Schwierigkeiten der Ausle-gungsweise der Bibel, die aus ihrer eignen Geschich-te, soweit sie zu haben ist, hervorgehen. Ich halte siefür so gross, dass ich behaupten möchte, wir kennenden wahren Sinn der Bibel in ihren meisten Stellenweder mit Gewissheit noch mit Wahrscheinlichkeit.Indess muss ich wiederholt erinnern, dass alle dieseSchwierigkeiten nur da die Auffindung des Sinnes derPropheten hindern, wo es sich um unbegreifliche undnur eingebildete Dinge handelt, aber nicht bei ver-ständlichen Gegenständen, von denen man klare Be-griffe bilden kann. Denn Dinge, die von Natur leicht

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erfassbar sind, können nie so dunkel ausgedrückt wer-den, dass sie nicht dennoch leicht zu verstehen wären,nach dem Sprüchwort: »Für den Klugen ist genug ge-sagt.« Euclid, der nur über einfache und höchst ver-ständliche Dinge schrieb, wird von Jedem in jederSprache verstanden; denn um dessen Meinung zu tref-fen und des wahren Sinnes gewiss zu sein, braucht eskeiner vollständigen Kenntniss der Sprache, in der ergeschrieben hat; eine gewöhnliche Kenntniss, wie diedes Knaben, reicht dazu hin, und man braucht dazuweder das Leben noch die Beschäftigungen und denCharakter des Verfassers zu wissen; auch nicht dieSchicksale des Buches, nicht die verschiedenen Lesar-ten und nicht, wie und auf wessen Rath man es aufge-nommen hat. Was hier über Erklärung gesagt ist, giltvon allen Schriftstellern über von Natur verständlicheGegenstände; deshalb nehme ich auch an, dass mandie Meinung der Bibel rücksichtlich der sittlichenVorschriften aus ihrer Geschichte, wie wir sie haben,leicht fassen und über ihren wahren Sinn Gewissheiterlangen kann. Denn die Lehren der wahren Fröm-migkeit werden in den gebräuchlichsten Worten aus-gedrückt, und sie selbst sind sehr bekannt, einfachund leicht verständlich; das wahre Heil und die Selig-keit besteht in der Ruhe der Seele, und man findetdiese wahre Ruhe nur in dem, was man klar erkennt.Daraus folgt, dass man die Meinung der Bibel in

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Betreff der heilsamen, zur Seligkeit erforderlichenDinge sicher auffinden kann, und man braucht des-halb um das Uebrige nicht so besorgt zu sein, da esmeist unbegreiflich und unverständlich ist und des-halb mehr die Neugierde erregt als Nutzen bringt.

Damit glaube ich die wahre Auslegungsweise derBibel dargelegt und meine Ansicht darüber genügendausgesprochen zu haben. Ausserdem wird man un-zweifelhaft bemerken, dass dieses Verfahren keinLicht ausser dem natürlichen verlangt. Denn dasWesen und die Kraft dieses natürlichen Lichts bestehtvorzüglich in Ableitung und Folgerung der dunkelnDinge aus bekannten oder als solchen gegebenenSchlüssen, und mehr verlangt meine Auslegung nicht.Ich gebe zu, dass sie nicht für die sichere Aufklärungalles Inhaltes der Bibel zureicht; allein dies ist nichtihre Schuld, sondern kommt davon, dass der wahreund rechte Weg, den sie zeigt, noch niemals gebahnt,von den Menschen nicht betreten und deshalb im Laufder Zeiten sehr steil und unwegsam geworden ist, wiedie von mir selbst bezeichneten Schwierigkeiten klardarlegen.

Ich habe nun nur noch die Ansicht meiner Gegnerzu prüfen. Zunächst die, wonach das natürliche Lichtkeine Kraft zur Auslegung der Bibel haben, sondernein übernatürliches Licht dazu vorzugsweise nöthigsein soll. Ich überlasse hier meinen Gegnern, dieses

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über das Natürliche gehende Licht näher zu erklären;denn ich kann nur vermuthen, dass man damit eben-falls, nur in dunklem Ausdrücken, hat einräumen wol-len, dass der wahre Sinn der Bibel meist zweifelhaftsei. Giebt man nämlich auf die Erklärungen meinerGegner Acht, so findet man, dass sie nichts Ueberna-türliches, sondern nur blosse Vermuthungen enthal-ten. Man vergleiche nur damit die Erklärungen Derer,die offen gestehen, dass sie das natürliche Licht besit-zen, und man wird sie diesen sehr ähnlich finden, so-weit man dabei vernünftig, bedachtsam und sorgsamverfahren ist. Wenn man sagt, das natürliche Lichtreiche dazu nicht aus, so erhellt die Unwahrheit davontheils aus dem früher dargelegten Umstand, dass dieSchwierigkeit der Bibel-Erklärung nicht von demMangel an Kraft des natürlichen Lichts kommt, son-dern nur von der Nachlässigkeit, wenn nicht Bosheitder Menschen, welche die Geschichte der Bibel zueiner Zeit, wo es noch möglich war, nicht ausbildeten,und daraus, dass, wie Alle, glaube ich, einräumen, dasübernatürliche Licht ein göttliches, nur den Gläubigengewährtes Geschenk sein soll, da doch die Prophetenund Apostel nicht blos den Gläubigen, sondern haupt-sächlich den Ungläubigen und Gottlosen zu predigenpflegten, mithin diese gewiss fähig waren, die Mei-nung der Propheten und Apostel zu verstehen; dennsonst hätten die Propheten und Apostel Knaben und

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Kindern gepredigt, nicht vernünftigen Leuten, undMoses hätte seine Gesetze umsonst gegeben, wennnur die Gläubigen sie hätten verstehen können, diekeines Gesetzes bedürfen. Wer daher ein übernatürli-ches Licht zum Verständniss des Sinnes der Prophe-ten und Apostel verlangt, scheint vielmehr des natür-lichen Lichts zu ermangeln, und ich kann unmöglichglauben, dass er eine göttliche Gabe besitze.

Maimonides' Ansicht war eine ganz andere; erfühlte, dass jede Stelle der Bibel verschiedener, ja ent-gegengesetzter Auslegungen fähig sei, und dass manüber den wahren Sinn keine Gewissheit haben könne,bevor man nicht wisse, dass die Stelle in dieser Aus-legung nichts enthält, was mit der Vernunft streitetoder ihr widerspricht. Widerspricht der wirkliche Sinnder Vernunft, so meint er, dass die Stelle, auch wennsie noch so klar sei, doch anders ausgelegt werdenmüsse, und sagt dies deutlich im Buche More Ne-buchim, Th. 2, Kap. 25 mit den Worten: »Wisset,dass ich mich trotz der Worte, welche die Bibel überdie Schöpfung der Welt enthält, nicht scheue zusagen, dass die Welt von Ewigkeit bestanden hat.Denn der Stellen, welche sagen, die Welt sei geschaf-fen, sind nicht mehr als derer, welche sagen, Gott seikörperlich, und der Weg zur Erklärung der Stellen,die über die Erschaffung der Welt handeln, ist unsnicht verschlossen oder versperrt, und wir hätten sie

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auslegen können, wie wir es bei der KörperlichkeitGottes gemacht haben, und vielleicht wäre dies leich-ter gewesen, und wir hätten bequemer diese Stellenerklären und die Ewigkeit der Welt feststellen kön-nen, als es bei der Erklärung der heiligen Schriftengeschehen, wo wir die Körperlichkeit des gesegnetenGottes beseitigten. Wenn ich dies nicht thue und nichtglaube (nämlich, dass die Welt ewig sei), geschieht esans zwei Gründen: 1) weil klar bewiesen ist, dassGott nicht körperlich ist, und alle jene Stellen demge-mäss erklärt werden müssen, deren Wortsinn damit inWiderspruch steht; denn sie müssen offenbar eine Er-klärung (neben der wörtlichen) verstatten. Aber dieEwigkeit der Welt beruht auf keinem Beweise, des-halb braucht man den Schriften keine Gewalt anzut-hun und sie gegen den scheinbaren Sinn auszulegen,zu dessen Gegentheil ich allerdings durch die Ver-nunft bestimmt werden könnte. Zweitens widersprichtder Glaube, dass Gott unkörperlich sei, den Grundla-gen des Gesetzes nicht; dagegen zerstört die Annahmeder Ewigkeit der Welt in dem Sinne des Aristotelesdas Gesetz von Grund aus.«

Aus diesen Worten des Maimonides folgt deutlich,was ich gesagt habe; denn wäre er selbst in seinerVernunft gewiss, dass die Welt ewig sei, so würde ernicht anstehen, die Schrift zu pressen und auszulegen,bis sie selbst dies zu lehren schiene; ja, er wäre gleich

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überzeugt gewesen, dass die Schrift, obgleich sieüberall dagegen spricht, doch die Ewigkeit der Welthabe lehren wollen. Mithin konnte er über den wahrenSinn der Schrift bei aller Klarheit derselben nichtsicher sein, so lange er selbst die Wahrheit bezweifel-te oder derselben nicht sicher war. Denn so lange mandieser Wahrheit nicht sicher ist, so lange weiss mannicht, ob der Gegenstand mit der Vernunft stimmtoder ihr widerstreitet, und deshalb auch nicht, ob derwörtliche Sinn der wahre Sinn der Bibel ist odernicht.

Wäre diese Ansicht richtig, so würde ich unbedingtanerkennen, dass man noch eines andern als des na-türlichen Lichtes zur Auslegung der Bibel bedarf.Denn beinahe der ganze Inhalt der Bibel kann ausGrundsätzen des natürlichen Lichtes, wie gezeigt,nicht abgeleitet werden, deshalb kann auch das natür-liche Licht uns über dessen Wahrheit keine Auskunftgeben, folglich auch nicht über den wahren Sinn unddie Meinung der Bibel, sondern es würde dazu einesandern Lichtes bedürfen. Wenn diese Ansicht wahrwäre, würde weiter folgen, dass die Menge, welche inder Regel die Beweise nicht kennt oder dazu keineZeit hat, den Inhalt der Bibel nur auf Treue und Glau-ben der Philosophen annehmen und diese in derSchrifterklärung für untrüglich halten müsste, unddies wäre fürwahr eine neue Autorität in der Kirche

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und ein neues Geschlecht von Priestern und Päpsten,was von der Menge mehr belacht als verehrt werdenwürde.

Allerdings verlangt auch mein Verfahren dieKenntniss der hebräischen Sprache, mit deren Erler-nung die Menge sich nicht abgeben kann; allein des-halb trifft dieser Einwand mich nicht, denn das niede-re Volk der Juden und Heiden, für die ehedem diePropheten und Apostel gepredigt und geschriebenhaben, verstand deren Sprache und damit auch derenMeinung, aber nicht die Gründe der Dinge, die sielehrten, obgleich sie nach Maimonides auch diesehätten verstehen müssen, um den Sinn des Prophetenzu fassen. Deshalb folgt ans meiner Erklärungsweisenicht, dass die Menge sich nothwendig bei dem Zeug-niss der Erklärer beruhigen müsse; denn ich zeige einVolk, welchem die Sprache der Propheten und Apo-stel geläufig war; aber Maimonides wird kein Volkzeigen können, welches die Gründe der Dinge einsiehtund daraus deren Sinn entnimmt. Was aber das heuti-ge niedrige Volk anlangt, so habe ich schon gezeigt,dass das zum Heil Nöthige auch ohne Kenntniss derGründe in jeder Sprache leicht verstanden werdenkönne, weil es allgemein bekannt ist und geübt wird,und die Menge sich dabei und nicht bei dem Zeugnissder Ausleger beruhigt. In allem Uebrigen geht es ihrwie den Gelehrten selbst.

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Ich kehre indess zur Meinung von Maimonides zu-rück und will sie noch genauer untersuchen. Zuerstsetzt er voraus, dass die Propheten in Allem überein-gestimmt und die grössten Philosophen und Theolo-gen gewesen seien; denn er meint, sie hätten aus derWahrheit der Dinge ihre Lehre abgeleitet; allein dieseist falsch, wie ich im zweiten Kapitel gezeigt habe.Dann nimmt er an, dass der Sinn der Schrift aus ihrselbst sich nicht ergeben könne; denn die Wahrheitder Dinge ergebe sich aus ihr nicht, da sie keine Be-weise habe, und das, was sie lehre, lehre sie nichtdurch Definitionen und aus den ersten Ursachen. Des-halb soll nach Maimonides der wahre Sinn der Bibelsich nicht aus ihr ergeben und nicht aus ihr entnom-men werden können. Aber auch dies ist falsch, wieaus diesem Kapitel erhellt. Denn ich habe mit Grün-den und Beispielen erwiesen, dass der Sinn der Bibelaus ihr selbst sich ergiebt und selbst bei Dingen, dienach dem natürlichen Licht bekannt sind, aus ihr al-lein entnommen werden muss.

Er nimmt endlich an, dass uns erlaubt sei, dieWorte der Schrift nach unsern vorgefassten Meinun-gen zu erklären, zu verdrehen und den Wortsinn,wenn er auch noch so klar und ausdrücklich ist, zuverleugnen und in einen andern zu verkehren. Einesolche Erlaubniss geht offenbar zu weit und ist zuverwegen, denn sie widerspricht geradezu dem, was in

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diesem Kapitel und früher dargelegt worden ist. Aberwenn ich ihm auch diese grosse Freiheit gestattete,was erreichte er damit? Fürwahr nichts; denn der In-halt der Bibel ist zum grössern Theil unbeweisbarund kann daher auf diese Art nicht erforscht und nachdieser Regel nicht erklärt und erläutert werden. Be-folgt man dagegen meine Regeln, so kann man Vielesdieser Art erklären und sicher darüber verhandeln, wieich mit Gründen und durch die That gezeigt habe.Ebenso kann der Sinn des von Natur Begreiflichenleicht, wie ich gezeigt, aus dem Text der Rede ent-nommen werden; aber die Weise des Maimonides isthier ohne Nutzen. Dazu kommt, dass sie alle Gewiss-heit zerstört, welche die Menge bei einem andächtigenLesen und Jedermann bei Befolgung meines Verfah-rens über den Sinn der Bibel gewinnen kann. Ich ver-werfe deshalb diese Ansicht des Maimonides; sie istschädlich, unnütz und widersinnig.

Was ferner die Ueberlieferung der Pharisäer an-langt, so habe ich schon früher bemerkt, dass sie sichnicht gleich bleibt; dagegen bedarf die Autorität derPäpste eines überzeugenden Zeugnisses, und deshalbverwerfe ich sie. Zeigte die Bibel uns dieselbe ebensodeutlich, wie bei den Juden die Hohenpriester ehedemfür ihre Autorität daraus ableiten konnten, so würdees mich nicht stören, dass es unter den RömischenPäpsten Ketzer und Gottlose gegeben hat, die ihr Amt

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auf unredliche Weise erlangt hatten; denn auch unterden jüdischen Hohenpriestern gab es Ketzer undGottlose; aber doch kam denselben nach dem Geboteder Bibel die oberste Macht der Schrifterklärung zu.(Man sehe Exod. XVII. 11, 12; XXXIII. 10 und Ma-lach. II. 8.) Allein da die Päpste kein solches Zeug-niss uns vorweisen können, so bleibt ihre Machtvoll-kommenheit verdächtig, und wenn man, durch dasBeispiel der Juden verleitet, behauptet, die katholi-sche Religion bedarf ebenfalls eines Hohenpriesters,so muss ich bemerken, dass die Gesetze Mosis, alsdas einheimische Recht, nothwendig zu ihrer Erhal-tung einer öffentlichen Macht bedurften; denn könnteJeder das öffentliche Recht nach seinem Belieben aus-legen, so könnte kein Staat bestellen; er würde sichsofort auflösen, und das öffentliche Recht zu einemprivaten werden. Mit der Religion verhält es sich aberganz anders. Sie besteht nicht sowohl aus äusserli-chen Handlungen als aus der Einfalt und Wahrhaftig-keit der Seele und gehört deshalb nicht zu dem öffent-lichen Recht und zur Staatsgewalt. Diese Einfalt undWahrhaftigkeit der Seele wird den Menschen nichtdurch das Gebot der Gesetze noch durch die Machtdes Staates beigebracht, und Niemand kann durch Ge-walt oder Gesetze genöthigt werden, selig zu werden.Dazu gehörten fromme und brüderliche Ermahnun-gen, eine gute Erziehung und vor Allem Freiheit des

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eignen Urtheils.Da mithin Jedem das Recht der Gedankenfreiheit

auch in Religionssachen zustellt und Niemand sichdieses Rechtes begeben kann, so hat auch Jeder dasRecht und die Macht, über Religion frei zu urtheilenund also auch sie für sich zu erklären und auszulegen.Denn die Macht der Gesetzes-Auslegung und diehöchste Entscheidung über öffentliche Angelegenhei-ten stellt der Obrigkeit nur zu, weil es sich dabei umdas öffentliche Recht handelt. Deshalb muss aus glei-chem Gründe die oberste Macht, die Religion auszu-legen und darüber zu entscheiden, dem Einzelnen zu-stehn, da es das Recht des Einzelnen ist. Es wäre alsoweit gefehlt, wenn man ans der Macht der jüdischenHohenpriester zur Erklärung des einheimischenRechts die Macht des Papstes in Rom zur Erklärungder Religion folgern wollte, da vielmehr daraus sichergiebt, dass jeder Einzelne diese Macht hat. Zugleicherhellt, dass meine Regeln der Schriftauslegung diebesten sind. Denn ist die oberste Macht dazu beijedem Einzelnen, so kann nur das natürliche, Allengemeinsame Licht zur Regel bei der Auslegung die-nen, aber kein Übernatürliches Licht und keine äusse-re Autorität. Auch darf sie dann nicht so schwierigsein, dass nur die scharfsinnigsten Philosophen siegeben können, sondern sie muss dem natürlichen undallgemeinen Verstande und den Fähigkeiten der

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Menschen zugänglich sein, wie dies bei meinen Re-geln der Fall ist; da die dabei vorkommenden Schwie-rigkeiten nicht in der Natur meines Verfahrens liegen,sondern nur aus der Nachlässigkeit der Menschen ent-standen sind.

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Achtes Kapitel

Darin wird gezeigt, dass die Bücher Mosis undJosua's, der Richter, Ruth, Samuel's und der Königenicht von diesen selbst verfasst sind, und es wirduntersucht, ob sie von Mehreren oder nur von

Einem und von wem abgefasst worden sind.

Im vorigen Kapitel habe ich von den Grundlagenund Regeln der Erkenntniss der Bibel gehandelt undgezeigt, dass diese nur in deren wahrhaftiger Ge-schichte besteht; allein die Alten haben letztere trotzihrer Nothwendigkeit vernachlässigt, und wenn siedarüber Etwas geschrieben oder überliefert haben, soist es durch die Ungunst der Zeiten verloren gegan-gen, und damit ist ein grosser Theil der Grundlagenund Grundsätze dieser Erkenntniss ausgefallen. Esliesse sich dies noch ertragen, wenn die Spätern sichin den wahren Grenzen gehalten und das Wenige, wassie empfangen oder gefunden hatten, getreulich ihrenNachfolgern überliefert hätten, ohne Neues aus ihremGehirn hinzuzuschmieden. Deshalb ist die Geschichteder Bibel nicht allein unvollständig geblieben, son-dern auch mit Lügen angefüllt worden, d.h. es kannnichts Vollständiges darauf errichtet werden, sondern

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Alles bleibt mangelhaft.Es ist nun meine Aufgabe, diese unterlagen der

Schrift-Erkenntniss zu verbessern und nicht blos dieunbedeutendem und gemeinen Vorurtheile der Theo-logie zu beseitigen. Allein ich fürchte, dass ich dieszu spät beginne; denn die Sache hat sich schon so be-festigt, dass man von keiner Berichtigung Etwashören mag, vielmehr das, was man unter dem Scheinder Religion angenommen, hartnäckig vertheidigt;deshalb ist für die Vernunft keine Stelle, ausser beiWenigen in Vergleich zu den Andern, übrig; so voll-ständig haben diese Vorurtheile bereits den Sinn derMenschen eingenommen. Dennoch will ich es versu-chen und nicht nachlassen, da ich die Sache nicht alsverzweifelt ansehen kann.

Um aber dies ordentlich zu thun, werde ich mit denVorurtheilen in Betreff der wahren Verfasser der hei-ligen Schriften beginnen und zunächst mit dem Ver-fasser der Bücher Mosis. Man hält beinahe allgemeinMoses für denselben, und die Pharisäer behauptetendies so hartnäckig, dass jeder Andersdenkende füreinen Ketzer galt; selbst Aben Hezra, ein Mann vonfreiem Geist und nicht geringer Gelehrsamkeit, wel-cher, so viel ich weiss, zuerst dieses Vorurtheil be-merkte, hat nicht gewagt, seine Meinung offen auszu-sprechen; er hat vielmehr sie nur mit dunklen Wortenangedeutet; aber ich scheue es nicht, sie deutlicher zu

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machen und die Sache klar zu legen.Die Worte Aben Hezra's in seinem Kommentar

über das vierte Buch Mosis lauten so: »Jenseit desJordan u.s.w.; sobald Du nur das Geheimniss derZwölf verstehst,« auch »und Muses schrieb das Ge-setz« und »Cenahita war damals auf Erden«, »aufdem Berge Gottes« wird es offenbart werden; dannauch »siehe das Bett, sein eisernes Bett«, »dann wirstDu die Wahrheit erkennen.« - Mit diesen wenigenWorten deutet er an und zeigt zugleich, dass es nichtMoses gewesen, der die fünf Bücher geschrieben,sondern Jemand anders, der viel später gelebt hat, unddass das Buch, was Moses geschrieben, ein ganz an-deres gewesen. Um dies zu zeigen, bemerkt er 1) dassdie Vorrede zu dem 4. Buche von Moses, der den Jor-dan nicht überschritten, nicht habe geschrieben wer-den können; 2) dass das eigentliche Buch des Mosesganz und sehr bündig auf der Oberfläche eines Altarsgeschrieben gewesen (Deut. XXVII., Josua VIII. 37s. w.), der nach dem Bericht der Rabbiner nur auszwölf Steinen bestanden hat; es konnte deshalb langenicht den Umfang wie die jetzigen fünf Bücher haben.Dies hat Aben Hezra wahrscheinlich mit »dem Ge-heimniss der Zwölfe« andeuten wollen, wenn er nichtvielleicht die zwölf Verwünschungen damit gemeinthat, die sich in der Vorrede zum 4. Buch Mosis befin-den, und die vielleicht nach seiner Ansicht in dem

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Gesetzbuche sich nicht befunden haben, weil Mosesden Leviten befiehlt, neben dem geschriebenen Geset-ze selbst auch noch diese Verwünschungen vorzule-sen, damit sie das Volk durch einen Eid zur Beobach-tung der geschriebenen Gesetze verpflichteten. Viel-leicht hat auch das letzte Kapitel des 4. Buches überden Tod Mosis andeuten wollen, dass das Kapitel aus12 Versen besteht. Indess brauche ich diese und ande-re Vermuthungen hier nicht weiter zu prüfen. Er be-merkt endlich 3) dass es im 4. Buche XXXI. 6 heisst:»und Moses hat ein Gesetz geschrieben«, was nichtWorte von Moses sein können, sondern nur die einesandern Schriftstellers, der Mosis Thaten und Schriftenbeschreibt.

Er macht 4) auf die Stelle Gen. XII. 6 aufmerksam,wo bei der Erzählung, dass Abraham das Land derKananiter besehen habe, der Verfasser hinzufügt, »dieKananiter waren damals im Lande«, womit er dieZeit, wo er dies schrieb, ganz ausschliesst, so dass ernach dem Tode Mosis, wo die Kananiter schon ver-trieben waren und jene Landstriche nicht mehr besa-ssen, dies geschrieben haben muss. Ben Hezra deutetdies in seinem Kommentar zu dieser Stelle an, indemer sagt: »und der Kananiter war damals im Lande; esscheint, dass Kanaan (ein Enkel Noah's) das von An-dern besessene Land in Besitz nahm; wenn dies nichtrichtig ist, so steckt in dieser Sache ein Geheimniss,

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und wer es einsieht, der schweigt.« D.h. wenn Kanaanin dieses Land einfiel, wird der Sinn sein: »Kanaansei dann schon im Lande gewesen«, wobei die ver-gangene Zeit ausgeschlossen wird, wo es von einemandern Volk bewohnt wurde. Hat aber Kanaan diesesLand zuerst bebaut (wie aus Gen. X. folgt), dannschliesst der Text die gegenwärtige Zeit, nämlich diedes Schreibenden aus und also nicht die von Moses,zu dessen Zeit sie jenes Land noch besessen. Diesesist das Geheimniss, was er zu bewahren empfiehlt.

Er bemerkt 5) dass Gen. XXII. 14 der Berg Moryader Berg Gottes genannt werde, welchen Namen ererst erhielt, als er zum Bau des Tempels geweiht wor-den, und diese Auswahl war zu Mosis Zeit noch nichtgeschehen; denn Moses spricht von keinem von Gotterwählten Ort, sondern weissagt, dass Gott einen Orterwählen werde, dem der Name Gottes gegeben wer-den soll. Endlich bemerkt er 6) dass Deut. III. der Er-zählung des Königs Og von Basan Folgendes einge-schoben ist: »Nur König Og von Basan blieb von denUebrigen10 Riesen, weil sein Bett ein eisernes Bettwar; wenigstens ist das (Bett), welches in Rabat denSöhnen Hamon gehört hat, neun Ellen lang u.s.w.«Diese Einschiebung zeigt deutlich, dass der Verfasserdieser Bücher lange nach Moses gelebt hat; denn sospricht nur Jemand, der sehr alte Dinge erzählt undUeberbleibsel zur Beglaubigung erwähnt. Ohne

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Zweifel ist dieses Bett erst zu David's Zeit, der dieseStadt eroberte, wie 2. Sam. XII. 30 erzählt wird, ge-funden worden. Allein nicht blos hier, sondern auchetwas später schiebt der Verfasser den Worten Mosisfolgende Worte ein: »Jair, der Sohn Manasse's, er-warb die ganze Gerichtsbarkeit des Argobus bis zurGrenze von Gesurita und Mahachatita und nanntediese Gegend nach seinem Namen mit Basan, die Ort-schaften des Jair bis zum heutigen Tag.« Dieses fügt,wie gesagt, der Verfasser zur Erklärung der WorteMosis hinzu, die er eben berichtet hatte: »und das üb-rige Gilead und ganz Bassan, das Reich des Og habeich dem Stamm Manasse's gegeben und die ganze Ge-richtsbarkeit des Argobus unter dem ganzen Bassan,welches das Land der Riesen heisst.« Unzweifelhaftwussten die Juden zur Zeit dieses Verfassers, welchesdie Ortschaften des Jair vom Stamme Jehuda waren,aber nicht die Namen der Gerichtsbarkeit des Argo-bus und des Landes der Riesen, deshalb musste er er-klären, welche Orte es waren, die von Alters her sogenannt wurden, und den Grund angeben, weshalb zuseiner Zeit sie den Namen des Jair führten, der zumStamm Juda und nicht Manasse gehörte (Chronik II.21,22).

Damit habe ich die Meinung von Aben Hezra unddie Stellen der Bücher Mosis erläutert, die er zur Be-stätigung anführt. Allein er hat nicht Alles und nicht

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das Wichtigste bemerkt, da in diesen Büchern nochandere und bedeutendere Stellen hierfür vorhandensind. Erstens spricht nämlich der Verfasser dieser Bü-cher von Moses nicht nur in der dritten Person, son-dern giebt auch oft Zeugniss über ihn. So: »Gott hatmit Moses gesprochen.« »Gott sprach mit Moses vonAngesicht zu Angesicht.« »Moses war der Demüthig-ste aller Menschen« (Num. XII. 3). »Moses war er-zürnt über die Heerführer« (Num. XXXI. 14).»Moses ein göttlicher Mann« (Deut. XXXIII. 1).»Moses, der Knecht Gottes, ist gestorben.« »Niemalsist in Israel ein Prophet wie Moses erstanden« u.s.w.Dagegen spricht und erzählt Moses seine Handlungenin erster Person in dem Buche, wo das Gesetz, wasMoses dem Volke erklärt, und was er geschriebenhatte, beschrieben wird; es heisst da.: »Gott hat mitmir gesprochen« (Deut. II. 1, 17 u.s.w.). »Ich habeGott gebeten« u.s.w. Nur am Ende des Buches, nach-dem er die Worte des Moses berichtet, fährt der Ver-fasser wieder in der dritten Person von ihm zu erzäh-len fort, wie Moses dieses Gesetz (das er nämlich er-klärt hatte) dem Volke schriftlich übergeben, es zumletzen Male ermahnt und er dann sein Leben ausge-haucht habe. Dies Alles, die Art des Ausdrucks, dieZeugnisse und der Zusammenhang der ganzen Erzäh-lung beweist, dass diese Bücher von jemand Anderemals Moses geschrieben worden sind.

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Dazu kommt zweitens, dass diese Erzählung nichtblos berichtet, wie Moses gestorben, begraben, unddie Juden dreissig Tage in Trauer versetzt worden;sondern dass es auch darin nach Vergleichung desMoses mit allen späteren Propheten heisst, er habe siealle übertroffen. Die Worte sind: »Niemals hat eseinen Propheten in Israel wie Moses gegeben, derGott von Angesicht zu Angesicht geschaut hat.« Einsolches Zeugniss kann weder Moses noch Jemand, derihm unmittelbar gefolgt ist, ausstellen, sondern nurJemand, der viele Jahrhunderte später gelebt hat,zumal der Verfasser wie von einer vergangenen Zeitspricht, nämlich: »Niemals hat es einen Propheten ge-geben«; und ebenso sagt er von dem Begräbniss:»Niemand hat ein solches bis auf diesen Tag gese-hen.«

Es ist drittens zu erwähnen, dass mehrere Ortenicht mit den Namen, die sie bei Lebzeiten Mosis hat-ten, benannt werden, sondern mit anderen, die ihnenviel später beigelegt worden sind. So heisst es, »dassAbraham die Feinde bis gen Dan verfolgt habe« (Gen.XIV. 14:), welchen Namen die Stadt erst lange nachJosua's Tode erhielt (Richter. XVIII. 29).

Manchmal wird viertens die Erzählung über dieZeit von Mosis Leben hinausgeführt. So heisst esExod. XVI. 34, dass die Kinder Israels das Mannavierzig Jahre gegessen, bis sie in bewohnte Gegenden

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gekommen, und bis sie an die Grenzen des LandesKanaan gelangt, also bis zu der Zeit, worüber imBuch Josua V. 12 gesprochen wird. Ebenso heisst esGen. XXXVI. 31: »Das sind die Könige, die in Edomregiert haben, bevor ein König über die Kinder Isra-el's herrschte.« Offenbar meint hier der Verfasser,dass die Idumäer Könige gehabt, ehe David sie unter-warf und Statthalter in Idumäa einsetzte (2. SamuelVIII. 14).

Aus alledem erhellt klarer wie die Mittagsonne,dass die fünf Bücher Mosis nicht von Diesem, son-dern von Jemand geschrieben worden sind, der vieleJahrhunderte nach Moses gelebt hat. Aber wenn esdem Leser beliebt, so kann man auch die Bücher, wel-che Moses selbst verfasst und die in den sogenanntenBüchern Mosis erwähnt werden, hinzunehmen; auchaus ihnen ergiebt sich, dass es andere als diese gewe-sen sind. Erstens erhellt ans Exod. XVII. 14, dassMoses auf Befehl Gottes den Krieg gegen Hamalekgeschrieben hat; aber in welchem Buche, ergiebt dieseStelle nicht; dagegen wird Num. XXI. 12 ein Buch er-wähnt, was: »Von den Kriegen Gottes« hiess, und indiesem sind ohne Zweifel dieser Krieg gegen Hama-lek und ausserdem alle Lagerabsteckungen erzähltwurden, die nach Versicherung des Verfassers derBücher Mosis Num. XXXIII. 2 von Moses beschrie-ben worden sind. Aus Exod. XXIV. 47 ergiebt sich,

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dass er ein anderes Buch, »Buch des Vertrages« ge-nannt,11 den Israeliten vorgelesen hat, als sie den er-sten Vertrag mit Gott eingegangen waren. DiesesBuch oder dieser Brief enthält indess nur wenig, näm-lich die Gesetze oder Befehle Gottes, welche Exod.XX. 22 bis XXIV. angegeben werden, was Niemandbestreiten wird, der mit gesundem Urtheil und ohneParteilichkeit dieses Kapitel liest. Es heisst dort, dasssobald Moses die Absicht des Volkes, mit Gott einenVertrag einzugehen, erkannte, er sofort die Aussprü-che und Gesetze Gottes niederschrieb und am frühenMorgen, nach einigen Ceremonien, der ganzen Ver-sammlung die Bedingungen des Vertrages vorgelesenhabe, denen das Volk demnächst und nachdem es siesicher verstanden hatte, vollständig zustimmte. Ausdieser Kürze der Zeit und aus der Absicht, einen Ver-trag zu schliessen, folgt, dass dieses Buch nur das we-nige hier Erwähnte enthalten haben kann. Es stehtendlich fest, dass Moses im vierzigsten Jahre nachdem Auszuge ans Aegypten alle von ihm gegebenenGesetze dem Volke nochmals erklärt (Deut. I. 5) undes von Neuem dazu verpflichtet (Deut. XXIX. 14)und endlich ein Buch geschrieben hat, was die Erklä-rung dieser Gesetze und den neuen Vertrag enthielt(Deut. XXXI. 9). Dieses Buch hiess »das Buch desGesetzes Gottes«; Josua hat es dann vermehrt durchdie Erzählung des Vertrages, wodurch das Volk zu

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seiner Zeit sich von Neuem verpflichtete, und den erzum dritten Male mit Gott einging (Josua XXIV. 25,26). Da wir nun kein Buch haben, das diesen Vertragdes Moses und den des Josua enthält, so ist offenbardieses Buch verloren gegangen, oder man muss mitdem Chaldäischen Erklärer Jonathan die Worte derSchrift auf das Tollste willkürlich verdrehen, der die-ser Schwierigkeit wegen lieber die Schrift verdrehen,als seine Unwissenheit eingestehen wollte. Er über-setzte nämlich die Worte aus dem Buche Josua(XXIV. 26): »Und es hat Josua diese Worte in dasBuch des Gesetzes Gottes eingeschrieben« in dasChaldäische so: »Und Josua schrieb diese Worte undbewahrte sie mit dem Buche des Gesetzes Gottes.« -Was soll man da mit Leuten anfangen, die nur dassehen, was ihnen gefällt? Was ist dies Anderes, alsdie Schrift selbst verleugnen und eine neue im eignenGehirne schmieden?

Ich folgere also, dass dieses Buch des GesetzesGottes, was Moses verfasste, nicht unsere fünf BücherMosis gewesen ist, sondern ein ganz anderes, was derVerfasser der letzteren seinem Werke am passendenOrte einfügte; denn dies ergiebt sich auf das Klarsteaus dem oben Gesagten und dem hier Folgenden. Essagt nämlich im Buch Mosis am angeführten Orte derVerfasser, dass Moses das von ihm geschriebeneBuch des Gesetzes den Priestern übergeben und ihnen

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befohlen habe, es dem ganzen Volke zu bestimmtenZeiten vorzulesen. Demnach kann dieses Buch nichtden Umfang der fünf Bücher Mosis gehabt haben,wenn es in einer Zusammenkunft so verlesen werdenkonnte, dass Alle es verstanden. Auch darf man nichtübersehen, dass Moses von allen Büchern, die er ver-fasst hatte, nur dies eine mit dem zweiten Vertrag undLobgesang, den er später schrieb, damit das ganzeVolk ihn lernte, gewissenhaft aufzubewahren und zubewachen geboten hat. Denn bei dem ersten Vertraghatte er nur Die, welche anwesend waren, verpflichtet;im zweiten aber auch alle ihre Nachkommen (Deut.XXIX. 14, 15); deshalb befahl er dieses Buch deszweiten Vertrages für die kommenden Jahrhundertegewissenhaft aufzubewahren und ausserdem auch denLobgesang, der vorzugsweise die kommenden Jahr-hunderte berücksichtigt. Da nun nicht feststeht, dassMoses ausser diesem noch mehr Bücher geschriebenhat, und er nur das Büchelchen des Gesetzes mit demLobgesang für die Nachkommen sorgfältig aufzuhe-ben geboten hatte, und da endlich unsere fünf BücherMosis Manches enthalten, was Moses nicht geschrie-ben haben kann, so erhellt, dass Niemand mit Grund,sondern nur gegen alle Gründe, behaupten kann,Moses sei der Verfasser unserer fünf Bücher Mosis.

Vielleicht fragt man aber hier, weshalb Mosesnicht auch die Gesetze geschrieben habe, da sie ihm

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doch zuerst offenbart wurden? d.h. ob er in den vier-zig Jahren keines von den von ihm erlassenen Geset-zen niedergeschrieben habe, ausser den wenigen, diein dem Buche des ersten Vertrages enthalten gewe-sen ? Darauf antworte ich, dass es zwar vernünftigscheint, wenn Moses zur Zeit und da, wo er die Geset-ze bekannt machte, sie auch niedergeschrieben hätte;allein deshalb dürfen wir noch nicht behaupten, dasser es gethan habe; denn ich habe oben gezeigt, dassman in solchen Fällen nur das annehmen darf, wasans der Bibel selbst sich ergiebt oder was aus ihrenalleinigen Grundlagen sich als begründete Folge ab-leiten lässt, aber nicht, was blos der Vernunft ent-spricht. Ueberdem nöthigt auch die Vernunft uns dazunicht; denn vielleicht hat der Rath der Aeltesten dieErlasse Mosis dem Volke schriftlich mitgetheilt; diesehat dann der Verfasser gesammelt und der Geschichtedes Lebens Mosis einverleibt.

So viel über die fünf Bücher Mosis; es ist Zeit, nunauch die übrigen zu prüfen. Bei dem Buch Josua's er-geben ähnliche Gründe, dass es nicht von ihm selbstverfasst ist; denn ein Anderer ist es, der von Josua be-zeugt, dass sein Ruf auf der ganzen Erde verbreitetgewesen sei (Kap. VII. 1); dass er keines von den Ge-boten Mosis weggelassen (VIII. letzter Vers und XI.15), dass er alt geworden, Alle zur Versammlung be-rufen und endlich den Geist aufgegeben habe. Endlich

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wird auch Einiges erzählt, was sich erst nach seinemTode ereignet hat; nämlich dass nach seinem Tode dieIsraeliten Gott so lange verehrt, als die alten Männer,die ihn gekannt, gelebt hätten. Auch XVI. 10 heisstes, dass (Ephraim und Manasse) »den in Gazer woh-nenden Kananiter nicht vertrieben, sondern (fügt erhinzu) dieser habe zwischen dem Euphrat bis heuti-gen Tages gewohnt und sei zinspflichtig gewesen.«Dies ist dasselbe, was im Buch der Richter Kap. 1 er-zählt wird, und auch der Ausdruck: »bis auf den heu-tigen Tag« zeigt, dass der Verfasser einen alten Vor-fall erzählt. Aehnlich ist es mit dem Text XV. letzterVers, über die Kinder Jehuda's und die Geschichtevon Kaleb, XV. 14. Auch der Fall, welcher XXII. 10u. f. von den drittehalb Stämmen erzählt wird, welcheeinen Altar jenseit des Jordan erbauten, scheint sichnach Josua's Tode ereignet zu haben; denn in der gan-zen Erzählung wird Josua nicht genannt; das Volk al-lein berathschlagt, ob es den Krieg führen soll, sendetGesandte, erwartet deren Antwort und beschliesst zu-letzt. Endlich folgt aus X. 14 klar, dass dieses Bucherst viele Jahrhunderte nach Josua geschrieben wor-den. Denn es heisst: »kein andrer Tag wie dieser istvorher oder später gewesen, wo Jemand Gott (so) ge-horcht hätte« u.s.w. Hat daher Josua je ein Buch ge-schrieben, so war es gewiss das, was X. 13 bei dem-selben Vorfall erwähnt wird. - Was aber das Buch der

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Richter anlangt, so wird wohl Niemand mit gesundemVerstande glauben, dass die Richter selbst es verfasst;denn die Nachschrift der ganzen Geschichte im Kap.21 zeigt deutlich, dass das ganze nur von einem Ver-fasser geschrieben worden. Ferner sagt derselbe wie-derholt, dass zu jenen Zeiten kein König in Israel ge-wesen, und also ist es offenbar, nachdem die Königezur Herrschaft gekommen, geschrieben. - Auch beiden Büchern Samuel's brauche ich mich nicht langeaufzuhalten, da sich die Erzählung über sein Lebenhinaus erstreckt. Nur das Eine will ich bemerken, dassauch dieses Buch viele Jahrhunderte nach Samuel ge-schrieben worden ist, da 1. IX. 6 der Verfasser inKlammern sagt: »vor Alters sagte Jeder in Israel,wenn er ging, Gott zu befragen: Wohlan, gehen wirzu dem Sehenden! Denn wer heute Prophet, hiess vorAlters ein Sehender.« - Endlich ergeben die Bücherder Könige, dass sie aus den Büchern von Salomo'sThaten (1. Könige XI. 5), aus der Chronik der Königevon Jehuda (IX. 19, 29) und aus der Chronik der Kö-nige Israels ausgezogen worden sind. Alle bisher ge-nannten Bücher sind daher von Anderen verfasst, unddie in ihnen enthaltenen Vorfalle werden als vergan-gene erzählt. Giebt man auf die Verbindung und denInhalt all dieser Bücher Acht, so ersieht man leicht,dass sie alle von einem Geschichtschreiber verfasstworden, welcher die alte Geschichte der Juden vom

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Anfang bis zur ersten Zerstörung der Stadt schreibenwollte; denn diese Bücher stehen in einem solchenZusammenhange, dass dies allein beweist, wie sie nurdie Erzählung eines Verfassers enthalten. Sobald dieErzählung von Mosis Leben aufhört, geht er mit denWorten zur Geschichte von Josua über: »Und esbegab sich, dass, nachdem Moses, der Knecht Gottes,gestorben, Gott zu Josua sagte u.s.w.« Und nachdemdiese Erzählung mit dem Tode Josua's geendet hat,beginnt er mit demselben Uebergang und derselbenVerknüpfung die Geschichte der Richter: »Und esbegab sich, nachdem Josua gestorben war, dass dieKinder Israels von Gott erbaten u.s.w.« Dann lässt erdiesem Buche als Anhang das Buch Ruth so folgen:»Und es begab sich in diesen Tagen, wo die RichterRecht sprachen, dass eine Hungersnoth in jenemLande war.« In derselben Weise lässt er dann das I.Buch Samuelis folgen, und von da macht er den ge-wohnten Uebergang zu dem zweiten und knüpftdaran, ehe die Geschichte David's beendet, das I.Buch der Könige, in dem er die Geschichte David'sfortsetzt und endlich nach diesem das II. Buch, wasmit derselben Formel anfängt.

Auch der Zusammenhang und die Folge der Erzäh-lungen ergiebt, dass nur Einer sie verfasst, der ein be-stimmtes Ziel sich vorgesetzt gehabt. Denn er fängtmit dem ersten Ursprung des jüdischen Volkes an;

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dann folgt der Reihe nach, bei welcher Gelegenheitund zu welcher Zeit Moses Gesetze gegeben undihnen Vieles geweissagt; dann, wie sie nach MosisProphezeiung das versprochene Land erobert (Deut.VII.) und dann die Gesetze verlassen haben (Deut.XXXI. 16), und wie dann viel Uebel gekommen (da-selbst 17); wie sie dann Könige wählen gewollt(Deut. XVII. 14), die auch je nach ihrer Gesetzesbe-obachtung glücklich oder unglücklich regiert haben(Deut. XXVIII. 36. und letzter Vers), bis der Verfas-ser zuletzt den Untergang des Reiches, wie Moses ihnvorausgesagt, erzählt. Alles Uebrige, was auf die Be-stätigung des Gesetzes keinen Bezug hat, hat der Ver-fasser entweder ganz mit Stillschweigen übergangen,oder er verweist den Leser an andere Geschichtschrei-ber. So zielen alle diese Bücher dahin ab, die Sprücheund Gebote Mosis zu erzählen und durch den Aus-gang der Dinge zu bestätigen. In Betracht dieser dreiUmstände, nämlich des einfachen Inhalts all dieserBücher, ihrer Verbindung, und dass sie von einemAndern viele Jahrhunderte nach den Ereignissen ver-fasst worden, schliesse ich, wie gesagt, dass sie allevon einem Verfasser herrühren.

Wer dies gewesen, kann ich nicht so bestimmtnachweisen; allein ich vermuthe, dass es Hezra selbstgewesen ist. Mancherlei nicht unerhebliche Umständelassen mich dies annehmen. Denn da der Verfasser,

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den wir nunmehr als einen einzigen kennen, die Er-zählung bis zur Freiheit Jojachims fortführt und nochhinzufügt, er habe, so lange er (d.h. Jojachim oder desSohnes von Nebukadnezar; denn die Worte sind zwei-deutig) gelebt, an des Königs Tafel mit gesessen, sofolgt, dass es Niemand vor Hezra gewesen sein kann.Nun sagt aber die Bibel von Niemand, der damals be-rühmt gewesen, ausser Hezra (Hezra VII. 10), dass erseine Arbeit auf die Erforschung des Gesetzes Gottesund dessen Vervollständigung verwendet, und dass erein gewandter Schriftsteller (Hezra VII. 6) im GesetzeMosis gewesen. Ich kann deshalb nur vermuthen, dassHezra diese Bücher verfasst hat. Ferner erhellt ausdiesem Zeugniss über Hezra, dass er nicht allein seineArbeit auf die Erforschung des Gesetzes Gottes ver-wendet, sondern auch auf dessen Zusammenstellung,und auch Nehem. VIII. 9 heisst es: »dass sie gelesenhaben das Buch des Gesetzes Gottes mit der Erklä-rung, und dass sie ihren Verstand angestrengt und dieSchrift verstanden haben.« Da aber in dem BuchMosis nicht blos das Buch Gottes oder sein grössterTheil enthalten ist, sondern auch Vieles zu dessen nä-herer Erläuterung, so vermuthe ich, dass dieses Buchdas von Hezra geschriebene Buch des Gesetzes Got-tes ist, mit der Zusammenstellung und Erläuterung,die sie damals gelesen haben. Dass aber darin Vielesin Klammern zu mehrerer Erläuterung eingeschaltet

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worden ist, davon habe Ich zwei Beispiele bei Gele-genheit der Erklärung des Ausspruchs Aben Hezra'sgegeben, und dieser Art finden sich noch mehrere; soz.B. II. 9: »Und in Sehir wohnten früher die Horiten;aber die Söhne Esau's vertrieben sie und verjagten sieaus ihrem Anblick und haben an deren Stelle ge-wohnt, wie Israel gethan im Lande seiner Erbschaft,was Gott ihm gegeben hat.« Er erläutert nämlich v. 3und 4 dieses Kapitels, dass sie den Berg Sehir, der andie Söhne Esau's durch Erbschaft gekommen war,nicht als einen unbewohnten in Besitz genommenhaben, sondern dass sie ihn und die Horiten, welcheihn vorher bewohnt, mit Krieg überzogen und zuletztdiese, wie die Israeliten nach dem Tode Mosis die Ka-naniter, vertrieben und vertilgt haben. Auch werdendie Verse 6, 7, 8 und 9 des Kap. X. den WortenMosis eingeschoben; denn Jedermann sieht, dass Vers8, welcher anfängt: »Zu jener Zeit trennte Gott denStamm Levi« nothwendig auf Vers 5 bezogen werdenmuss, und nicht auf den Tod Aaron's. Hezra scheintdies nur eingeschoben zu haben, weil Moses in dieserErzählung von dem Kalbe, das das Volk angebetethatte, gesagt hatte (IX. 20), »er habe bei Gott fürAaron gebeten.« Dann erläutert er, wie Gott zu derZeit, von der Moses hier spricht, sich den Stamm Levierwählt, um damit den Grund der Erwählung undweshalb die Leviten nicht zu einem Theile der

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Erbschaft berufen worden, darzulegen, und dann erstführt er mit den Worten Mosis den Faden der Ge-schichte weiter. Dazu nehme man die Vorrede des Bu-ches und alle die Stellen, welche von Moses in derdritten Person sprechen. Ausserdem hat er viel Ande-res, was wir nicht mehr erkennen können, unzweifel-haft, damit die Menschen seiner Zeit es besser ver-ständen, hinzugefügt oder anders ausgedrückt. Hättenwir des Moses eigenes Buch des Gesetzes, so würdenwir unzweifelhaft in den Worten, wie in der Anord-nung und den Gründen der Vorschriften grosse Ab-weichungen finden. Denn wenn ich nur die zehn Ge-bote dieses Buches mit den zehn Geboten im zweiten(wo deren Geschichte von Grund aus erzählt wird)vergleiche, so weichen sie schon in alledem von die-sem ab. So wird das vierte Gebot nicht blos anders er-lassen, sondern auch viel weiter gefasst, und derGrund desselben weicht gänzlich von dem im II.Buche Angeführten ab. Endlich ist auch die Reihen-folge, m der hier das zehnte Gebot erklärt wird, eineandere, als im II. Buche.

Dies ist sowohl hier als an anderen Stellen, wie er-wähnt, nach meiner Annahme von Hezra geschehen,weil Dieser das Gesetz Gottes den Menschen seinerZeit erklärt hat, und deshalb ist es das Buch des Ge-setzes Gottes, was er selbst geordnet und erläutert hat.Dies Buch wird von allen, die er geschrieben, das

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erste gewesen sein, weil es die Gesetze des Landesenthält, die das Volk am nöthigsten brauchte, undweil dieses Buch nicht, wie alle anderen, mit einerEingangsformel verbunden ist, sondern von freienStücken mit den Worten beginnt: »Dies sind dieWorte Mosis u.s.w.« Aber nachdem er dies vollendetund dem Volke die Gesetze gelehrt hatte, mag er sichzur Abfassung der vollständigen Geschichte des jüdi-schen Volkes, von Erschaffung der Welt bis zur gänz-lichen Zerstörung der Stadt, gewendet und dann dieserGeschichte das Buch der Gesetze (das V. BuchMosis) an seinem Orte eingeschoben haben. Viel-leicht hat er die ersten fünf Bücher die Bücher Mosisgenannt, weil darin vorzüglich dessen Leben enthal-ten ist; er hat den Namen von dem Hauptgegenstandeentlehnt. Deshalb hat er auch das sechste das desJosua, das siebente das der Richter, das achte Ruth,das neunte und zehnte das des Samuel und das elfteund zwölfte das der Könige genannt. Ob aber Hezradie letzte Hand an dieses Werk gelegt und nach sei-nem Plan vollendet hat, darüber sehe man das fol-gende Kapitel.

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Neuntes Kapitel

Weitere Untersuchungen über diese Bücher;nämlich ob Hezra die letzte Hand an sie gelegt, und

ob die Randbemerkungen, die sich in mehrerenhebräischen Handschriften finden, verschiedene

Lesarten gewesen sind.

Wie sehr die vorstehende Untersuchung über denwahren Verfasser dieser Bücher zu deren völligemVerständniss beiträgt, ergiebt sich schon aus den Stel-len, die ich zur Rechtfertigung meiner Ansicht ange-führt habe, und die ohnedem Jedermann völlig dunkelerscheinen müssten. Indess bleibt neben dem Verfas-ser noch manches Andere bei diesen Büchern zu be-achten, was der gemeinsame Aberglaube der Mengehat übersehen lassen. Dazu gehört vor Allem, dassHezra, den ich für den Verfasser derselben so langehalten werde, bis mir ein Anderer sicherer nachgewie-sen sein wird, an die in diesen Büchern enthaltenenErzählungen nicht die letzte Hand gelegt hat; viel-mehr hat er die Geschichten nur von verschiedenenSchrifstellern gesammelt und oft nur einfach abge-schrieben, aber ohne Prüfung und richtige Ordnungsie der Nachwelt hinterlassen. Welche Gründe, wennes nicht ein vorzeitiger Tod gewesen, ihn an der

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Vollendung dieses Werkes in aller Beziehung gehin-dert haben, vermag ich nicht zu errathen. Allein dieSache selbst ergiebt sich, obgleich uns diese altenSchriftsteller fehlen, doch aus den wenigen Bruch-stücken, die wir von ihnen haben, auf das Ueberzeu-gendste. So ist die Geschichte von Hiskia (2. KönigeXVIII. 17 u. f.) dem Bericht des Esaias entnommen,wie dieser sich in den Chroniken der Könige von Judabefindet. Denn man findet diese ganze Geschichte mitdenselben Worten, Weniges ausgenommen, in demBuche des Esaias, was die Chroniken der Könige vonJuda enthalten (2. Chronik XXXII. vorletzter Vers),und aus diesen geringen Abweichungen kann man nurabnehmen, dass verschiedene Lesarten von dieser Er-zählung des Esaias bestanden haben; sofern nicht Je-mand auch hier ein Geheimniss sich erträumen will.Ferner ist das letzte Kapitel dieses Buches in Jeremi-as' letztem Kapitel v. 39 u. 40 enthalten. Ferner findetsich 2. Sam. VII. in 1. Chron. XVII. abgeschrieben;doch sind die Worte an mehreren Stellen so sonderbargeändert, dass man leicht erkennt, wie diese zwei Ka-pitel aus zwei verschiedenen Handschriften der Ge-schichte Nathan's entlehnt sind. Endlich wird die Ab-stammung der Könige von Idumaea Gen. XXXVI. 30u. f. mit denselben Worten auch in 1. Chron. I. gege-ben, obgleich feststeht, dass der Verfasser dieses Bu-ches seine Erzählung aus anderen Schriften, als den

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zwölf hier dem Hezra zugeschriebenen Büchern, ent-lehnt hat. Hätten wir daher diese Geschichtschreiberselbst, so ergäbe sich die Sache geradezu; allein dadies nicht der Fall ist, so können wir nur die Erzäh-lungen selbst, ihre Anordnung, Verbindung, ihre man-cherlei Wiederholungen und ihre Abweichungen inder Berechnung der Zeit prüfen, um ein Urtheil überdas Uebrige fällen zu können.

Deshalb sind diese Punkte, wenigstens die erhebli-cheren, zu erwägen, und zwar zuerst die Erzählungvon Juda und Tamar, welche der Verfasser Gen.XXXVIII. so zu erzählen beginnt: »Es begab sichaber zu dieser Zeit, dass Judas sich von seinen Brü-dern trennte.« Diese Zeit muss auf die, von der er un-mittelbar vorher gesprochen, bezogen werden; alleindies ist nicht möglich. Denn von dieser Zeit, nämlichder, wo Joseph nach Aegypten gebracht worden, biswo der Erzvater Jakob mit seiner ganzen Familiedahin gezogen ist, kann man nur 22 Jahre rechnen.Denn Joseph war 17 Jahre alt, als ihn seine Brüderverkauften, und 30 Jahre, als ihn Pharao aus dem Ge-fängniss holen liess; rechnet man die sieben fetten undzwei magere Jahre, so ergiebt dies 22 Jahre. In einemsolchen Zeiträume konnten aber so viele Dinge sichnicht ereignen; nämlich dass Juda drei Kinder miteiner Frau, welche er damals ehelichte, eines nachdem andern erzeugt habe, von denen der Aelteste, als

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sein Alter es ihm gestattete, die Tamar zum Weibenahm, und dass nach dessen Tode der andere Brudersie geheirathet, der auch gestorben, und dass langenachdem dies Alles geschehen, Judas selbst von die-ser Schwiegertochter Tamar, die er als solche nichtgekannt, wiederum zwei Söhne in einer Geburt erhal-ten, von denen in diesem Zeitraum ebenfalls einernoch Vater geworden ist. Da mithin dies Alles nichtauf die Zeit, worüber das I. Buch Mosis spricht, bezo-gen werden kann, so muss die Stelle sich nothwendigauf eine andere Zeit beziehen, von welcher ein ande-res Buch handelte; deshalb hat Hezra diese Geschich-te einfach abgeschrieben und ohne Prüfung in die an-dere eingeschoben. Allein nicht blos dieses Kapitel,sondern die ganze Geschichte von Jakob und Josephmuss aus verschiedenen Büchern entnommen und ab-geschrieben worden sein, so wenig stimmt sie untersich überein. So heisst es Gen. XLVII., dass Jakob,als er, von Joseph geführt, Pharao zuerst begrüsst,130 Jahr alt gewesen; zieht man davon 22 Jahre ab,welche er wegen der Abwesenheit Joseph's in Trauerverbracht hat, und die 17 Jahre des Alters von Joseph,als er verkauft wurde, und endlich 7 Jahre, die Jakobfür die Rahel diente, so zeigt er sich doch in einemsehr vorgerückten Alter, nämlich 84 Jahre alt, als erdie Lea zum Weibe nahm, und dagegen kann die Dinanur 7 Jahre alt gewesen sein, als sie von Sechem

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Gewalt erlitt, und Simeon und Levi können kaum 12und 11 Jahre alt gewesen sein, als sie jene ganzeStadt verwüsteten und ihre Einwohner mit demSchwerte tödteten.

Ich brauche hier nicht die ganzen fünf BücherMosis durchzugehen; es genügt, dass darin alle Gebo-te und Geschichten durch einander ohne Ordnung er-zählt werden und weder auf die Zeit noch darauf ge-achtet wird, dass dieselbe Geschichte öfters und ver-schieden wiederkehrt, um einzusehen, dass dies Allesohne Ordnung gesammelt und angehäuft worden, umes später leichter zu prüfen und in Ordnung zu brin-gen. So sind nicht blos die Geschichten in den fünfBüchern Mosis, sondern auch die bis zur Zerstörungder Stadt in den obigen sieben Büchern gesammeltworden.

So ergiebt Richter II. 6 deutlich, dass ein neuerSchriftsteller herbeigenommen worden (der auch dieThaten Josua's beschrieben hatte), dessen Worte ein-fach abgeschrieben worden sind. Denn nachdem unserVerfasser im letzten Kapitel von Josua erzählt hat,dass er gestorben und begraben worden, und im An-fang dieses Buches das zu erzählen versprochen hatte,was nach dessen Tode sich zugetragen, konnte er,wenn er dem Faden seiner Geschichte folgen wollte,nicht das anfügen, was er hier von Josua selbst zu er-zählen beginnt. - So sind auch die Kapitel 17, 18 u. f.

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1. Samuelis aus einem anderen Schriftsteller entlehnt,der einen anderen Grund annahm, weshalb David denHof Saul's zu besuchen begonnen hatte, und welchervon dem Kap. 16 dieses Buchs erzählten ganz ver-schieden ist. Er nahm nämlich nicht an, dass David,nach dem Rath der Knechte von Saul gerufen, zu ihmgegangen, wie in Kap. 16 erzählt wird, sondern dassDavid zufällig von seinem Vater zu den Brüdern indas Lager gesendet worden, und dass er dem Saul beiGelegenheit des Sieges über den Philister Goliath erstbekannt geworden und am Hofe behalten wordensei. - Dasselbe vermuthe ich von Kap. 26 dieses Bu-ches; dass nämlich der Verfasser dieser Geschichte,die auch in Kap. 24 enthalten, nach der Meinungeines Anderen zu berichten scheint.

Indess lasse ich dies bei Seite und gehe zur Prüfungder Zeitrechnung über. 1. Könige VI. heisst es, dassSalomo den Tempel 480 Jahre nach dem Auszug ausAegypten erbaut habe; allein aus den Ereignissenselbst ergiebt sich ein viel längerer Zeitraum. Denn

Moses führte das Volk in der Wüste ... 40 Jahre.Auf Josua, der 110 Jahre alt wurde,

kommen nach der Meinung des Josephusund Anderer nicht mehr als ... 26 Jahre

Kusan Rishgataim hält das Volkin Unterthänigkeit ... 8 Jahre

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Hothiel, der Sohn des Kanaz richtete ... 40 JahreHeglon, der König von Moab, hat die

Herrschaft über das Volk gehabt ... 18 JahreEhud und Samgar waren Richter ... 80 JahreJachin, König von Kanaan, herrschte

wieder über das Volk ... 20 JahreDas Volk hatte nachher Ruhe ... 40 JahreDann beherrschte es Midian ... 7 JahreZur Zeit Gideon's war es frei ... 40 JahreUnter der Herrschaft des Abimelech

war es ... 3 JahreTola, Sohn der Pua, war Richter ... 23 JahreDann Jair ... 22 JahreDas Volk war wieder in Gewalt

der Philister und Ammoniter ... 18 JahreJephta war Richter ... 6 Jahre.Absan von Bethlehem ... 7 JahreElon von Sebulon ... 10 JahreHabdan von Pirhaton ... 8 JahreDas Volk war wieder in der Gewalt

der Philister ... 40 JahreSamson war Richter ... 20 JahreHeli aber ... 40 JahreDas Volk war wieder in der Gewalt

der Philister, ehe es Samuel befreite ... 20 JahreDavid herrschte ... 40 JahreSalomon vor dem Bau des Tempels ... 4 Jahre

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Was die Summe von ... 530 Jahrenergiebt.

Dazu kommen noch die Jahre jenes Jahrhunderts,in dem nach dem Tode Josua's der jüdische Staat inder Blüthe stand, bis er von Kusan Rishgataim unter-worfen wurde; deren Zahl muss gross gewesen sein,denn ich kann nicht glauben, dass gleich nach demTode Josua's Alle, die seine Wunder gesehen hatten,auf einmal gestorben wären, noch dass ihre Nachfol-ger mit einem Schlage den Gesetzen den Abschied ge-geben und aus der höchsten Tugend in die höchsteSchlechtigkeit und Trägheit verfallen wären, und auchnicht, dass Kusan Rishgataim sie gesagt gethan unter-worfen habe. Vielmehr gehört dazu ein ganzes Zeital-ter, und deshalb hat offenbar die Schrift in Kap. II. 7,9, 10 des Buches der Richter die Geschichte vielerJahre zusammengefasst und mit Stillschweigen über-gangen. Auch müssen noch die Jahre zugerechnetwerden, wo Samuel Richter war, die die Schrift auchnicht angiebt; ferner die Jahre aus der Regierung desKönigs Saul, die ich oben weggelassen habe, weil ausseiner Geschichte nicht klar erhellt, wie lange er re-giert hat. Es heisst zwar 1. Samuel XIII. 1, er habezwei Jahre regiert, allein dieser Text ist verdorben,und aus der Geschichte selbst ergiebt sich eine grosseZahl Jahre. Die Verderbniss des Textes kann

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Niemand, der nur etwas von der hebräischen Spracheversteht, bezweifeln. Denn er beginnt so: »ein Jahrwar Saul geboren, als er regierte, und zwei Jahre hater über Israel regiert.« Wer sieht hier nicht, dass dieZahl der Jahre bei dem Alter des Saul, als er die Re-gierung erlangte, weggeblieben ist? Ebenso unzwei-felhaft folgt aus der Geschichte selbst eine grössereZahl von Jahren. Denn in Kap. 27 v. 7 dieses Buchesheisst es, dass David bei den Philistern, zu denen erwegen Saul geflohen war, ein Jahr vier Monat geblie-ben sei; dann wären aber nur acht Monate für die üb-rigen Ereignisse geblieben, was Niemand glaubenkann. Josephus hat wenigstens am Ende des Buch VI.seiner Alterthümer den Text so verbessert: »Saulherrschte also bei Lebzeiten Samuel's 18 Jahre undnach dessen Tode noch 2 Jahre.« - Ebenso stimmtdiese ganze Geschichte Kap. 13 nicht mit dem Vorge-henden. Zu Ende von Kap. 7 wird erzählt, dass diePhilister von den Juden so geschlagen worden, dasssie bei Lebzeiten Samuel's es nicht gewagt, die Gren-zen Israel's zu überschreiten; hier dagegen, dass dieJuden bei Lebzeiten Samuel's von den Philistern über-fallen worden und zu so grossem Elend und Armuthgebracht worden, dass sie weder Waffen zu ihrer Ver-theidigung noch Mittel für deren Anfertigung hatten.

Es würde grosse Mühe kosten, wenn ich alle dieseGeschichten aus dem 1. Buch Samuelis so vereinigen

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wollte, dass man sie für die Arbeit und Anordnungeines Schriftstellers halten könnte. Indess kehre ich zumeiner Aufgabe zurück. Es müssen also der obigenRechnung noch die Jahre der Regierung Saul's zuge-setzt werden. Endlich habe ich auch die Jahre derVerwirrung bei den Juden nicht mitgezählt, weil sieaus der Bibel sich nicht ergeben. Ich kann der Zeitnicht entnehmen, wo das, was in Kap. 17 bis zu Endedes Buches der Richter erzählt wird, vorgefallen ist.

Hieraus erhellt, dass die wahre Zeitrechnung sichaus diesen Berichten nicht ergiebt, und dass sie selbsthierbei nicht übereinstimmen, sondern verschiedeneRechnungen haben, und man muss deshalb anerken-nen, dass diese Geschichten aus verschiedenen Schrif-ten gesammelt und weder geordnet noch geprüft wor-den sind.

Nicht geringer scheint der Unterschied in der Zeit-rechnung bei den Büchern der Chronik der KönigeJuda's und den Büchern der Chronik der Könige Isra-el's zu sein. In letzteren heisst es, dass Jerobeam, derSohn Ahab's, die Regierung antrat im zweiten Jahreder Regierung Jerobeam's, des Sohnes von Josaphat(2. Könige I. 17); dagegen in Chronik der KönigeJuda's, dass Jerobeam, der Sohn Josaphat's, zur Re-gierung kam im fünften Jahre der Regierung Jero-beam's, des Sohnes Ahab's (VIII. 16 daselbst). Ver-gleicht man überdem die Geschichten in den Büchern

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der Chronik mit denen in den Büchern der Könige, sofindet man manche ähnliche Abweichungen, die ichhier nicht darzulegen brauche, so wenig wie die Erfin-dungen Derer, welche diese Geschichten mit einanderin Uebereinstimmung zu bringen gesucht haben. DieRabbiner verfahren hierbei ganz sinnlos, und dieKommentatoren, die ich gelesen, träumen, erdichtenund thun der Sprache die grösste Gewalt an. So wennes in 2. Chronik heisst, Aghazias sei 42 Jahr alt ge-wesen, als er regierte, so erdichten Manche, dieseJahre begönnen mit der Herrschaft des Homri undnicht von der Geburt Agazra's, und wenn sie dies alsdie Meinung des Verfassers der Bücher der Chronikerweisen könnten, so würde ich unzweifelhaft be-haupten, er habe nicht sprechen können. In dieserWeise wird Aehnliches ausgedacht, und wäre dieseswahr, so würde ich geradezu sagen, die alten Judenhätten weder ihre Sprache noch die Weise zu erzählengekannt, und ich könnte dann keine Regel und Unter-lage für die Auslegung der Bibel anerkennen, und eswären alle Erdichtungen erlaubt.

Meint man, ich spreche hier zu allgemein und ohnegenügende Grundlage, so möge man selbst mir dieOrdnung in diesen Geschichten zeigen, welche einGeschichtschreiber in seiner Erzählung ohne Fehlerbefolgen könnte, und man möge bei den Erklärungs-und Vereinigungsversuchen die Ausdrücke und

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Redewendungen und die Ordnung und Verbindungder Perioden so streng beobachten und erklären, dasssie nach dieser Erklärung beim Schreiben befolgt wer-den können. Vermag Jemand dies, so werde ich sofortihm die Hand reichen, und er wird für mich der grosseApoll sein. Denn ich gestehe, dass, so lange ich auchgesucht habe, ich nichts der Art je habe finden kön-nen. Ich füge hinzu, dass ich hier nichts schreibe, wasich nicht schon lange und längst überlegt gehabt, undobgleich ich als Knabe in die gewöhnlichen Ansich-ten über die Bibel eingeführt worden bin, so habe ichdoch dergleichen zuletzt nicht annehmen können.

Indess brauche ich den Leser nicht länger hier fest-zuhalten und zu verzweifelten Dingen aufzufordern;es war aber nöthig, die Sache selbst darzulegen, ummeine Ansicht deutlicher zu machen, und ich gehedaher nun zu den weiteren Schicksalen dieser Bücherüber. Denn ich muss ausser dem Obigen bemerken,dass diese Bücher von der späteren Zeit nicht so sorg-fältig aufbewahrt worden sind, dass keine Fehler sichhätten einschleichen können. Die älteren Abschreiberhaben manche zweifelhafte Lesarten bemerkt undmanche Lücken, wenn auch nicht überall. Ob dieseFehler so erheblich sind, dass sie den Leser stören,darüber streite ich nicht; ich halte sie nicht für so be-deutend, wenigstens nicht für Die, welche die Schrif-ten mit freierem Urtheil lesen, und ich kann

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wenigstens behaupten, dass ich in Betreff der Moral-vorschriften keinen Fehler und keine Verschiedenheitder Lesart bemerkt habe, welche den Sinn dunkel oderzweifelhaft machen könnte. Allein man will auch beidem Uebrigen keine Fehler zugestehen, sondern be-hauptet, Gott habe durch besondere Vorsehung alleBücher der Bibel unversehrt erhalten, und die ver-schiedenen Lesarten seien das Zeichen tiefer Geheim-nisse, und dies soll auch von den Sternchen in derMitte des Abschnittes 28 gelten; ebenso seien in denSpitzen der Buchstaben grosse Geheimnisse enthal-ten. Ich weiss nicht, ob man dies aus Dummheit undgreisenhafter Unterwürfigkeit oder aus Uebermuthund Bosheit, als hätte man allein die GeheimnisseGottes, behauptet; aber ich weiss, dass ich nichts beiihnen gefunden habe, was nach Geheimniss aussähe,sondern nur kindische Gedanken. Ich habe auch eini-ge Kabbalisten gelesen und näher kennen gelernt,über deren Tollheit ich nicht genug staunen kann. unddass Fehler sich eingeschlichen haben, dies wird Nie-mand mit gesunden Sinnen bestreiten können, welcherden Text Saul's liest, der aus 1. Sam. XIII. 11 schonangeführt worden, und ebenso 2. Sam. VI. 2, wo esheisst: »Und es erhob sich und ging David und dasganze Volk, was bei ihm war, aus Juda, um die Bun-deslade Gottes von da wegzutragen.« Jedermann musshier sehen, dass der Ort, wohin sie gingen, um die

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Lade fortzutragen, nämlich Kirjat Joharim, ausgelas-sen ist. Auch 2. Sam. XIII. 32 ist verstellt und ver-stümmelt; es heisst: »Und Absalon floh und ging zuPtolemäus, dem Sohn Hamihud's, König von Gesur,und trauerte seinen Sohn alle Tage, und Absalon flohund ging nach Gesur und blieb dort drei Jahre.« Der-gleichen Stellen habe ich früher noch mehrere mir be-merkt, die ich jetzt nicht zur Hand habe; dass dieRandbemerkungen an einzelnen Stellen der hebräi-schen Manuskripte zweifelhafte Lesarten gewesensind, kann Niemand bezweifeln, welcher beachtet,dass die meisten aus der grossen Aehnlichkeit der he-bräischen Buchstaben unter einander entstanden sind;so gleicht der Buchstabe Kaf dem Bet, Jod dem Vau,Dalet dem Res u.s.w. Ein Beispiel ist 2. Sam. V.,vorletzter Vers, wo es heisst: »und in dieser (Zeit) woDu es hören wirst;« hier steht am Rande: »wenn Dues hören wirst,« und Richter XXI. 22, wo steht: »undwenn deren Väter und Brüder in Menge (d.h. häufig)zu uns kämen« u.s.w., ist am Rande bemerkt: »zukämpfen.« Derart findet sich sehr Vieles. Ferner sindviele Randbemerkungen aus dem Gebrauch der Buch-staben entstanden, welche sie »Ruhende« nennen, dienämlich meist nicht ausgesprochen werden, und woeiner für den anderen gebraucht wird. Z.B. 3. BuchMosis XXV. 27 heisst es: »Und es wird das Hans be-festigt werden, was in der Stadt ist, die keine Mauer

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hat;« am Rande steht aber: »welche eine Mauer hat.«Obgleich dies Alles sehr einleuchtend ist, so will

ich doch auf einige Ausführungen der Pharisäer ant-worten, womit sie zeigen wollen, dass diese Randbe-merkungen von den Verfassern der heiligen Bücherselbst beigefügt oder angedeutet worden, um damitein Geheimniss anzuzeigen. Ihren ersten Grund, dermich wenig berührt, entnehmen sie aus der gebräuch-lichen Weise, die Schriften zu lesen. Wenn dieseNoten, sagen sie, wegen der verschiedenen Lesart bei-gesetzt worden, worüber die Späteren gar nicht ent-scheiden konnten, wie ist es da gekommen, dass manden Sinn dieser Randbemerkungen überall festgehal-ten hat? Weshalb haben die Abschreiber den Sinn,den sie festhalten wollten, nur am Rande bemerkt?Vielmehr hätten sie dann den Text selbst so schreibensollen, wie er gelesen werden sollte, und nicht denSinn und die Lesart, die sie am meisten billigten, amRande bemerken.

Einen zweiten Grund, der etwas mehr Schein hat,entnimmt man aus der Natur der Sache; nämlich dieFehler sollen nicht absichtlich, sondern zufällig in dieHandschriften gekommen sein, und was sich so ereig-net, wechselt. Allein in fünf Büchern ist das Wort»Mädchen«, mit Ausnahme einer Stelle, mangelhaft,ohne den Buchstaben He, gegen die grammatikalischeKegel geschrieben, dagegen am Rande richtig nach

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der allgemeinen grammatikalischen Regel. Ist diesauch aus Zufall durch ein Versehen der abschreiben-den Hand gekommen? Wie war es möglich, dass dieFeder bei Gelegenheit dieses Namens immer eilte?Auch hätte man diesen Fehler leicht und ohne Beden-ken nach den grammatikalischen Regeln ergänzen undverbessern können. Da also diese Lesarten nicht vomZufall herrühren, und da man diese offenbaren Fehlernicht verbessert habe, so seien sie sicherlich absicht-lich von den ursprünglichen Verfassern gemacht wor-den, um damit etwas zu bezeichnen.

Darauf kann ich jedoch leicht antworten. Was ausder bei ihnen entstandenen Gewohnheit abgeleitetwird, kann mich nicht bedenklich machen. Man kannnicht wissen, zu was der Aberglaube führt; vielleichtist es daher gekommen, weil sie beide Lesarten fürgleich gut und zulässig hielten und deshalb, um nichtszu verabsäumen, eine zum Schreiben, die andere zumLesen einrichteten. Sie scheuten sich vor einem Ur-theil in einer so grossen Sache, damit sie nicht dasFalsche für das Wahre wählten, und wollten deshalbkeines vorziehen, was geschehen wäre, wenn sie eineLesart allein hätten schreiben und vorlesen lassen, na-mentlich da in heiligen Büchern Randbemerkungennicht eingeschrieben werden. Oder es ist vielleichtdaher gekommen, dass sie Einzelnes, obgleich es rich-tig abgeschrieben war, doch anders und so, wie es am

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Rande bemerkt wurde, vorgelesen haben wollten.Deshalb wurde allgemein eingeführt, dass die Schrif-ten nach den Randbemerkungen verlesen wurden.Was aber die Abschreiber veranlasst, dergleichen aus-drücklich Vorzulesenden am Rande zu bemerken,werde ich gleich sagen; denn nicht alle Randbemer-kungen sind zweifelhafte Lesarten, sondern auch dieungewöhnlichen werden angemerkt, d.h. veralteteWorte und solche, welche nach den Sitten jener Zeitkein öffentliches Vorlesen gestatteten, da die altenSchriftsteller ohne bösen Willen die Dinge nicht inhöfischer Zweideutigkeit, sondern mit ihren rechtenNamen bezeichneten. Als aber Bosheit und Ueppig-keit einriss, begann man das von den Alten ohne An-stoss Gesagte zu den Unanständigkeiten zu rechnen.Doch brauchte man deshalb die Schrift selbst nicht zuändern, sondern man sorgte, um der Schwäche derMenge zu Hülfe zu kommen, dass die Worte »Bei-schlaf« und »Exkremente« öffentlich in anständigererWeise verlesen wurden, wie es nämlich am Randevermerkt war. Mag endlich der Grund, weshalb es inGebrauch kam, die Schriften nach den Randbemer-kungen zu verlesen und zu erklären, gewesen sein,welcher er wolle, so war es jedenfalls nicht der, dassdie wahre Auslegung danach geschehen solle. Dennselbst die Rabbiner weichen im Talmud oft von denMasoreten ab und hatten andere Lesarten, die sie

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billigten, wie ich gleich zeigen werde. Auch findetsich am Rande Manches, was nach dem Sprachge-brauch weniger zu billigen ist. So heisst es z.B. 2. Sa-muel IV. 23: »weil der König es that, nach der Mei-nung seines Dieners«. Dieser Satzbau ist ganz regel-mässig und stimmt mit dem in v. 16 desselben Kapi-tels; dagegen stimmt die Randbemerkung (DeinesKnechtes) nicht mit der Person des Zeitwortes. Soheisst es auch XVI. letzter Vers dieses Baches: »undda er befragt (d.h. befragt wird) das Wort Gottes.«Hier steht am Rande »Jemand« statt des Nominativsdes Zeitwortes, was nicht richtig sein kann; denn esist in dieser Sprache üblich, unpersönliche Zeitwörterin der dritten Person des Singulars zu gebrauchen, wiedie Grammatiker wissen. In dieser Weise finden sichviele Randbemerkungen, die keineswegs den Vorzugvor dem Text verdienen.

Die Antwort auf den zweiten Grund der Pharisäerergiebt sich leicht aus dem Gesagten; dass nämlichdie Abschreiber ausser den zweifelhaften Lesartenauch die veralteten Worte bemerkten. Denn unzwei-felhaft hat in der hebräischen Sprache wie in allen an-deren der spätere Sprachgebrauch Vieles ungewöhn-lich und veraltet werden lassen. Dies fanden die letz-ten Abschreiber in den Büchern und notirten, wie ge-sagt, Alles, damit es vor dem Volke in den später ge-bräuchlichen Ausdrücken verlesen werde. Deshalb ist

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überall das Wort nahgar am Rande bemerkt, weil esim Alterthum beide Geschlechter bezeichnete unddasselbe wie bei den Lateinern juvenis (jungerMensch) bedeutete. So hiess auch die Hauptstadt derJuden vor Alters Jerusalem und nicht Jerusaleim.Ueber das Fürwort »er selbst« und »sie selbst« binich mit den Neueren einverstanden, welche den Buch-staben Vau in Jod verwandelten (welche Veränderungin der hebräischen Sprache häufig vorkommt) und sodas weibliche Geschlecht bezeichnen wollten; alleindie Alten pflegten das weibliche Fürwort hier vondem männlichen nur durch Vokale zu unterscheiden.So findet sich ferner manche unregelmässige Form derZeitwörter bei den Früheren so, bei den Späteren an-ders, und endlich haben die Alten sich der verlängern-den Buchstaben in ihrer Zeit zum Redeschmuck be-dient. Dieses Alles könnte ich mit vielen Beispielenbelegen; allein ich mag den Leser damit nicht ermü-den. Fragt man mich aber, woher ich das wisse? soantworte ich, weil ich es bei den ältesten Schriftstel-lern, nämlich in der Bibel oft gefunden habe, aber diespäteren sie nicht darin nachahmen mochten. Deshalballein kennt man in den übrigen todten Sprachen dochdie veralteten Worte.

Vielleicht hält man mir noch vor, dass ich dengrössten Theil dieser Noten für zweifelhafte Lesartenerklärt habe, und fragt, weshalb sieh dann nie mehr

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als zwei Lesarten für eine Stelle finden? Weshalbnicht auch einmal drei oder mehr? Endlich, wie Man-ches in den Schriften der Sprachlehre offenbar wider-spricht, was am Rande richtig ausgedrückt ist, so dassman kaum annehmen kann, die Abschreiber hättenüber die rechte Lesart geschwankt. - Indess ist auchhierauf die Antwort leicht; auf den ersten Einwand er-widere ich, dass es mehr Lesarten gegeben hat, als un-sere Handschriften angemerkt haben. Im Talmud fin-den sich mehrere, welche die Masoreten vernachläs-sigt haben, und an vielen Stellen gehen sie so offenbardavon ab, dass jener abergläubische Korrektor derBombergianischen Bücher endlich in seiner Vorredeeinräumen musste, dass er sie nicht zu vereinigenwisse. Er sagt: »Und hier weiss ich nichts zu antwor-ten, als das Frühere,« nämlich »dass es der Gebrauchdes Talmud sei, den Masoreten zu widersprechen.«Man kann deshalb nicht mit Grund behaupten, dass esnicht mehr als zwei Lesarten für eine Stelle gegebenhabe. Doch gebe ich zu und glaube selbst, dass esderen niemals mehr als zwei gegeben habe, und zwaraus zwei Gründen; denn 1) konnte die Ursache, ausder diese Verschiedenheit der Lesarten entsprang, nurzu zweien führen, da sie, wie erwähnt, aus der Aehn-lichkeit gewisser Buchstaben entstanden ist. DerZweifel läuft deshalb immer darauf hinaus, ob vonzwei Buchstaben Bet oder Kaf, Jod oder Vau, Dalet

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oder Res u.s.w. zu schreiben war, die am häufigstengebraucht werden; weshalb es sich oft treffen konnte,dass jeder von beiden einen leidlichen Sinn gab. Fer-ner, ob eine Silbe lang oder kurz sein sollte, wasdurch die sogenannten ruhenden Buchstaben ausge-drückt wird. Hierzu kommt, dass nicht alle Randbe-merkungen zweifelhafte Lesarten sind; viele sind, wiegesagt, des Anstandes wegen beigesetzt und zur Er-klärung ungewohnter und veralteter Ausdrücke.

Der zweite Grund, weshalb nur zwei Lesarten sichzu einer Stelle finden, ist, dass die Abschreiber ver-muthlich nur wenig Exemplare angetroffen haben,vielleicht nicht mehr als zwei oder drei. In der Ab-handlung über die Abschreiber Kap. 6 werden nurdrei erwähnt, die zu Hezra's Zeit gefunden sein sollen,weil man behauptet, dass Hezra selbst diese Bemer-kungen beigesetzt habe. Wie dem auch sein mag, hat-ten sie nur drei, so konnten leicht zwei, ja alle drei beieiner Stelle übereinstimmen; denn es wäre wunderbar,wenn in blos drei Exemplaren auch drei verschiedeneLesarten bei einer Stelle sich finden sollten, und dassnach Hezra ein solcher Mangel an Exemplaren gewe-sen, darf Den nicht wandern, der nur 1. Maccabäer I.gelesen, oder das 7. Kapitel im 12. Buche der Alter-thümer des Josephus. Vielmehr scheint es wie einWunder, dass nach einer so grossen und langen Ver-folgung selbst so wenig sich haben erhalten können.

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Niemand kann hierüber zweifeln, der diese Erzählungnur mit einiger Aufmerksamkeit gelesen hat.

Hiermit ist erklärt, weshalb sich nirgends mehr alszwei Lesarten finden. Es kann deshalb daraus nichtim Mindesten geschlossen werden, dass die Bücher anden bemerkten Stellen absichtlich falsch abgefasstworden, um Geheimnisse anzudeuten.

Was aber den zweiten Einwand anlangt, dass ein-zelne Stellen so falsch geschrieben sind, dass sie un-zweifelhaft dem Schreibgebrauch aller Zeiten wider-sprechen, weshalb sie unbedingt zu verbessern, abernicht blos am Rande zu vermerken waren, so rührtmich dieser Einwand wenig; denn ich brauche nichtzu wissen, aus welchem Glauben sie es unterlassenhaben. Vielleicht ist es aus Aufrichtigkeit geschehen;man wollte die Bücher, so wie man sie in den weni-gen Exemplaren gefunden hatte, den Nachkommenüberliefern und die Abweichungen der Originale nichtals zweifelhafte, sondern als verschiedene Lesartenvermerken. Ich selbst habe sie nur deshalb zweifelhaftgenannt, weil sie es beinahe alle sind und ich nichtweiss, welche vorzuziehen ist.

Ferner bezeichneten die Abschreiber neben diesenzweifelhaften Lesarten auch noch durch einen leerenZwischenraum, den sie mitten in den Abtheilungenliessen, dass die Stelle verstümmelt war. Die Masore-ten geben die Zahl derselben an, nämlich 28, wo ein

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solcher leerer Raum sich befindet, und ich weissnicht, ob sie auch in dieser Zahl ein Geheimniss ver-borgen glauben. Die Pharisäer halten gewissenhaftauf eine bestimmte Grosse dieses Zwischenraumes.Ein Beispiel, um ein solches anzuführen, ist Gen. IV.8, welche Stelle so geschrieben ist: »Und Kain sagtezu seinem Bruder Abel...... und es traf sich, dassKain, während sie auf dem Felde waren« u.s.w.; indem leeren Raum sucht man die Worte, die Kain demBruder gesagt hat. Derart sind 28 Stellen ausser denschon bemerkten frei gelassen worden; doch würden,wenn dieser freie Raum nicht wäre, sie nicht als ver-stümmelt erscheinen. Doch genug davon.

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Zehntes Kapitel

Die übrigen Bücher des Alten Testaments werden ingleicher Weise wie die vorgehenden untersucht.

Ich komme nun zu den übrigen Büchern des AltenTestamentes. Ueber die beiden Chroniken habe ichnichts Gewisses, und was sich der Mühe verlohnte, zubemerken; wahrscheinlich sind sie lange nach Hezraund vielleicht nach Herstellung des Tempels durchJudas Maccabäus geschrieben. Denn Kap. 9 des er-sten Buchs erzählt der Verfasser, »welche Familienzuerst (d.h. zur Zeit Hezra's) Jerusalem bewohnt hät-ten;« und dann giebt er v. 17 »die Thürsteher« an,von denen zwei auch Nehem. XI. 19 genannt werden.Dies zeigt, dass diese Bücher lange nach dem Wieder-aufbau der Stadt geschrieben worden sind. Ueberderen wahren Verfasser, ihr Ansehen, Nutzen undLehre ist mir nichts bekannt. Ich wundere mich sogar,weshalb sie unter die heiligen Bücher aufgenommenworden sind, obgleich man das Buch der Weisheit,den Tobias und die anderen Apokryphen von demKanon der heiligen Schriften ausschloss. Indess willich ihr Ansehn nicht verstärken, sondern ich lasse sie,wie sie sind, nachdem sie einmal allgemein aufge-nommen worden sind.

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Auch die Psalmen sind zur Zeit des wiederaufge-bauten Tempels gesammelt und in fünf Bücher ver-theilt worden; denn der 88. Psalm ist nach dem Zeug-niss des Juden Philo ausgegeben worden, als KönigJehojachim im Gefängniss zu Babylon sich befand,und der 89. Psalm, als er die Freiheit erlangt hatte;Philo würde dies gewiss nicht gesagt haben, wenn esnicht die allgemeine Ansicht seiner Zeit gewesenwäre, oder er es nicht von glaubwürdigen Männern er-fahren hätte. Die Sprüche Salomo's sind vermuthlichum dieselbe Zeit gesammelt, spätestens zur Zeit desKönigs Josia; denn Kap. XXIV. letzter Vers heisstes: »Dies sind auch die Sprüche Salomo's, welche dieMänner Hiskia's, des Königs von Juda, übersetzthaben.« Aber ich kann hier die Kühnheit der Rabbi-ner nicht unerwähnt lassen, welche dieses Buch mitdem »Prediger« aus der Sammlung der Bibel aus-schliessen und mit den anderen, die ich bemängelt,zurückhalten wollten. Dies wäre auch sicherlich ge-schehen, wenn sie nicht mehrere Stellen gefunden hät-ten, wo das Gesetz Mosis empfohlen wird. Es ist zubedauern, dass diese heiligen und besten Sachen vonihrer Auswahl abhingen; doch weiss ich ihnen Dank,dass sie sie uns mitgetheilt, obgleich ich bezweifelnmöchte, dass es im guten Glauben geschehen sei; in-dessen mag ich dies nicht streng untersuchen.

Ich gehe zu den Büchern der Propheten. Eine

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aufmerksame Betrachtung zeigt, dass die in ihnen be-findlichen Weissagungen ans anderen Büchern zu-sammengetragen und selbst in diesen nicht immer inder Ordnung niedergeschrieben worden sind, in dersie von den Propheten selbst gesprochen oder ge-schrieben worden. Auch enthalten diese Bücher sienicht sämmtlich, sondern nur was man hier und dafinden konnte. Deshalb können diese Bücher nur alsBruchstücke der Propheten gelten. Denn Esaias be-ginnt unter der Regierung von Huzia zu weissagen,wie der Sammler im ersten Verse selbst bezeugt. Aberer hat damals nicht blos geweissagt, sondern auch dieThaten dieses Königs beschrieben (2. ChronikaXXVI. 22), und dieses Buch haben wir nicht; denndas, was wir haben, ist, wie gezeigt, aus den Chroni-ken der Könige von Juda und Israel entlehnt. Dazukommt, dass nach den Rabbinern dieser Prophet auchwährend der Regierung des Manasse geweissagt hat,von dem er zuletzt getödtet worden ist; und obgleichsie eine Fabel zu erzählen scheinen, so mögen siedoch wohl angenommen haben, dass alle seine Weis-sagungen verloren gegangen. - Von den Weissagun-gen des Jeremias ist das Geschichtliche ans verschie-denen Chroniken ausgezogen und gesammelt; denndie Nachrichten sind durch einander, ohne Rücksichtauf die Zeit, gehäuft, und derselbe Vorfall wird mehr-mals in verschiedener Weise erzählt. In Kap. 21 wird

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der Anlass zur Gefangennehmung des Jeremias er-zählt, weil er nämlich die Zerstörung der Stadt demZedechias auf sein Befragen vorausgesagt; dannbricht es hier ab, und Kap. 22 erzählt seine Predigtgegen Jehojachim, der vor Zedechias regierte, unddass er des Königs Gefangennehmung vorausgesagthabe. Dann wird in Kap. 25 beschrieben, was vorher,im vierten Jahre des Jehojachim, dem Propheten of-fenbart worden ist, und dann die Offenbarungen ausdessen erstem Regierungsjahre. In dieser Weise stelltder Verfasser die Weissagungen ohne Rücksicht aufdie Zeit zusammen, bis er endlich in Kap. 38, alswenn diese 15 Kapitel in Klammern erzählt wordenwären, wieder auf die in Kap. 21 begonnene Ge-schichte zurückkommt. Die Verbindung, mit der Kap.38 beginnt, bezieht sich auf Vers 8, 9 und 10 vonKap. 21; und dann beschreibt er die letzte Gefangen-nehmung des Jeremias ganz anders und giebt für des-sen lange Festhaltung im Vorhofe des Gefängnisseseinen ganz anderen Grund an, als er in Kap. 37 er-zählt hatte. Dies zeigt, wie Alles aus verschiedenenSchriften zusammengebracht worden; nur so lassensich diese Mängel erklären. Die übrigen Weissagun-gen, die in dem anderen Kapitel enthalten sind, wo Je-remias in eigener Person spricht, scheinen aus demBuche genommen zu sein, was Jeremias selbst demBaruch diktirt hat; denn dies enthält, wie Kap. 36 v. 2

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ergiebt, nur die dem Propheten von der Zeit des Josiasbis zum 4 Jahr des Jehojachim geschehenen Offenba-rungen; damit beginnt auch dieses Buch. Ebensoscheint ans jenem Buche das in Kap. 45 v. 2 bis Kap.51 v. 59 Angeführte entnommen zu sein.

Auch das Buch des Ezechiel ist nur ein Bruch-stück; die ersten Verse sagen dies klar; denn das Buchbeginnt mit einer Verbindungsformel, die sich aufFrüheres bezieht und daran anschliessen will. Undnicht blos diese Formel, sondern der ganze Text derRede setzt früher Geschriebenes voraus; denn das 30.Jahr, mit dem dieses Buch beginnt, zeigt, dass derProphet in der Erzählung fortfährt, aber nicht damitanfängt. Der Verfasser selbst hat dieses in Vers 3 inKlammern so bemerkt: »Es war oft das Wort Gottesdem Ezechiel, dem Söhne des Buzus, im Lande derChaldäer geworden« u.s.w., als wenn er sagen wollte,die hier verzeichneten Worte des Ezechiel beziehensich auf andere, die ihm vor diesem 30. Jahre offen-bart worden seien. Ferner berichtet Josephus in seinenAlterthümern Buch 10, Kap. 9, Ezechiel habe voraus-gesagt, dass Zedechias Babylon nicht sehen werde;das findet sich in dem Buche, was wir haben, nicht;vielmehr heisst es Kap. 17, dass er gefangen nach Ba-bylon geführt werden würde.

Von Hoseas kann ich nicht mit Gewissheit behaup-ten, dass er mehr geschrieben habe, als das nach ihm

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benannte Buch enthält. Doch ist es sonderbar, dassman nicht mehr von ihm hat, da er nach dem Zeugnissder Schrift länger als 84 Jahr geweissagt hat. Manweiss nur im Allgemeinen so viel, dass die Verfasserdieser Bücher weder alle Propheten noch alle Weissa-gungen derer, die wir haben, gesammelt haben. Sohaben wir von den Propheten, die während Manasse'sRegierung auftraten, und die im Allgemeinen 2. Chro-nik XXXIII. 10, 18, 19 erwähnt werden, gar keineWeissagungen und auch nichts von allen diesen 12Propheten; und von Jonas wird nur die Weissagungüber Ninive erwähnt, obgleich er auch den Israelitengeweissagt hat, wie 2. Könige XIV. 25 ergiebt.

Ueber das Bach Hiob und Hiob selbst hat vielStreit unter den Gelehrten bestanden. Manche meinen,Moses habe es vertagst, und die ganze Geschichte seinur gleichnissweise zu verstehen; einige Rabbinerlehren dies im Talmud, und auch Maimonides neigtsich in seinem Buche More Nebuchim dazu. Anderehaben es für eine wahre Geschichte genommen, undein Theil dieser meint, dieser Hiob habe zu Jakob'sZeiten gelebt und dessen Tochter Dina zur Frau ge-nommen. Allein Aben Hezra versichert, wie erwähnt,in seinen Kommentarien zu diesem Buche, dass esaus einer anderen Sprache in das Hebräische übersetztworden sei, und ich wünschte, er hätte dieses deutli-cher dargelegt; dann ergäbe sich, dass auch die

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Heiden heilige Bücher gehabt haben. Die Sache bleibtdaher zweifelhaft; doch glaube ich, Hiob ist ein Heidevon standhaftem Geist gewesen, dem es erst gut, dannsehr schlecht und zuletzt wieder sehr gut gegangen ist.Ezechiel XIV. 12 nennt ihn neben Anderen, und ichglaube, dass dieses wechselnde Schicksal und die Be-ständigkeit der Seele des Hiob Vielen Anlass, überGottes Vorsehung zu streiten, oder dem Verfasser denAnlass zur Aufstellung des Gespräches gegeben hat;denn dessen Inhalt und Stil ist nicht der eines unterAsche trauernden Kranken, sondern eines in seinerBibliothek in Müsse Nachdenkenden. Deshalb möch-te ich mit Aben Hezra annehmen, es sei aus einer an-deren Sprache übersetzt, da es die heidnische Dicht-kunst nachahmt; denn der Vater der Götter beruftzweimal die Versammlung, und Momus, der hierSatan heisst, beschneidet mit grosser Freiheit dieWorte Gottes u.s.w. Doch bleiben dies blos Vermut-hungen ohne Zuverlässigkeit.

Ich gehe zum Buch Daniel. Es enthält unzweifel-haft von Kap. 8 ab die eigene Schrift Daniel's; woheraber die vorgehenden 7 Kapitel genommen sind,weiss ich nicht; man kann vermuthen, aus einer Chro-nik der Chaldäer, da sie mit Ausnahme des erstenchaldäisch geschrieben worden. Stände dies fest, sowäre es das deutlichste Zeugniss, dass die Bibel nurso weit heilig ist, als man durch sie die in ihr

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enthaltenen Dinge versteht, aber nicht, soweit mannur die Worte oder die Sprache oder Rede versteht,die die Dinge bezeichnen, und dass ferner alle Büchergleich heilig sind, welche das Beste lehren und erzäh-len, ohne Rücksicht auf die Sprache und das Volk,dem sie entlehnt sind. Ich kann hier nur bemerken,dass diese Kapitel chaldäisch geschrieben sind undtrotzdem ebenso heilig sind als das Uebrige in derBibel.

An dieses Buch Daniel's schliesst sich das erstevon Hezra so, dass man leicht denselben Verfasser er-kennt, der die Geschichte der Juden seit der ersten Ge-fangenschaft hinter einander zu erzählen fortfährt.Daran schliesst sich, wie ich glaube, das Buch Esther,da die Verbindungsformel, mit der es anfängt, aufkein anderes bezogen werden kann, und da es schwer-lich dasselbe ist, was Mardochäus geschrieben hat.Denn in Kap. 9 v. 20, 21, 22 berichtet ein Dritterüber Mardochäus, dass er Briefe geschrieben habe,und was diese enthalten haben; ferner in v. 31 dessel-ben Kapitels, dass die Königin Esther die zu dem Festder Loose (Purim) gehörige Angelegenheit bestimmt,und was in dem Buche gestanden habe, d.h. (wie esim Hebräischen lautet) in dem Allen zu jener Zeit (wodieses geschrieben worden) bekannten Buche, unddieses ist nach Aben Hezra und Aller Geständniss mitanderen Büchern verloren gegangen. Endlich berichtet

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das Uebrige über Mardochäus der Verfasser der Chro-nik über die Kriege der Perser. Deshalb ist unzweifel-haft dieses Buch von demselben, der die Geschichtedes Daniel und Hezra geschrieben, verfasst worden,und auch das Buch des Nehemia, da es das zweiteHezra's heisst. Ich halte daher die vier Bücher, desDaniel, des Hezra, der Esther und des Nehemia, fürvon einem Verfasser geschrieben; aber wer dieser ge-wesen, kann ich nicht einmal vermuthen. Um aber zuwissen, woher der Verfasser die Kenntniss dieser Ge-schichten erlangt und vielleicht den grössten Theildieser Bücher entlehnt habe, bemerke ich, dass dieVorgesetzten oder Vornehmsten der Juden im zweitenTempel, wie früher die Könige in dem ersten, Schrei-ber oder Geschichtschreiber hatten, welche die Jahres-ereignisse oder ihre Geschichte nach der Zeitfolge nie-derschrieben. Denn die Zeitgeschichte oder die Jah-resereignisse der Könige werden hier und da in demBuche der Könige erwähnt, und die der Vornehmstenoder der Priester des zweiten Tempels werden er-wähnt in Nehem. XII. 23; dann in 1. Maccab. XVI.24. Unzweifelhaft ist dies das Buch (Esther IX. 31),von dem ich eben gesprochen habe, was den Erlassder Esther und jene Schriften des Mardochäus ent-hielt, und das nach Aben Hezra verloren gegangen ist.Aus diesem Buche wird alles in unserem Enthalteneentlehnt und abgeschrieben sein; denn der Verfasser

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nennt kein anderes, und wir kennen auch weiter keins,was öffentlichen Glauben gehabt hätte. Dass dieseBücher nicht von Hezra oder Nehemia verfasst wor-den, erhellt daraus, dass Nehem. XII. 9, 10 ein Ge-schlechtsregister des Hohenpriesters Jesuhga bis zuJaduha, dem sechsten Hohenpriester gegeben wird,der Alexander dem Grossen nach Unterwerfung despersischen Reichs entgegenging (Joseph. Alterth. XI.8), und dass Philo der Jude ihn den sechsten und letz-ten Hohenpriester nennt. Ja es heisst in diesem Kapi-tel des Nehem.: »nämlich zur Zeit Eljasibi, Jojada's,Jonathan's und Jaduha's, unter der Herrschaft des Per-sers Darius sind sie geschrieben worden,« nämlich inJahrbüchern, und Niemand wird glauben, Hezra undNehemia seien so alt geworden, dass sie 14 persischeKönige überlebt hätten. Denn der erste König Cyrushat den Juden den Wiederaufbau des Tempels erlaubtund von da bis zu Darius, dem 14. und letzten Königeder Perser, zählt man 236 Jahre. Deshalb sind dieseBücher unzweifelhaft lange nach Wiederherstellungdes Tempeldienstes durch Judas Maccabäus geschrie-ben worden, und zwar, weil damals von einigen Bös-willigen, die wohl zur Sekte der Sadducäer gehörten,falsche Bücher Daniel's, Hezra's und der Esther vor-gebracht wurden; denn die Pharisäer haben, so vielich weiss, diese Bücher niemals angenommen. Aller-dings finden sich im 4. Buch Hezra einige Fabeln, die

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auch im Talmud stehen; allein man kann dies nichtden Pharisäern zurechnen; denn nur ein Mensch ohneallen Verstand kann glauben, dass diese Fabeln nichtaus Scherz beigefügt worden; wahrscheinlich ist die-ses geschehen, um deren Ueberlieferungen lächerlichzu machen.

Vielleicht sind sie auch zu jener Zeit geschriebenund bekannt gemacht worden, um dem Volke zu zei-gen, dass die Weissagungen Daniel's in Erfüllung ge-gangen seien. Das Volk sollte dadurch in dem Glau-ben bestärkt werden, damit es in seinem grossen Un-glück nicht an besseren Zeiten und seinem kommen-den Glück verzage. Denn obgleich diese Bücher soneueren Ursprungs sind, so sind doch viele Fehler,wahrscheinlich durch die Eile der Abschreiber, in siegekommen. Man findet in ihnen, wie in den anderen,Randbemerkungen, von denen ich in dem vorgehen-den Kapitel gehandelt habe, und zwar in grössererAnzahl, und ausserdem manche Stellen, die nur in dergleich zu erwähnenden Weise entschuldigt werdenkönnen. Ich will nur vorher über diese Randbemer-kungen noch sagen, dass, wenn man den Pharisäerneinräumte, dass sie gleichzeitig mit den Büchernselbst verfasst seien, dann nothwendig diese Verfasserselbst, wenn es vielleicht deren mehrere waren, siedeshalb beigefügt, weil die Jahrbücher, aus denen sieabgeschrieben worden, selbst nicht ganz genau

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abgefasst waren, und weil sie trotz des Offenbarendieser Fehler doch nicht gewagt haben, die altenSchriften der Vorfahren zu verbessern. Ich brauchedarüber nicht noch einmal mich ausführlicher auszu-lassen. Ich gehe deshalb zu dem, was am Rande nichtbemerkt ist. Und da weiss ich erstlich nicht, wievielin Kap. 2 von Hezra eingedrungen sein mag; denn imv. 64 wird die Hauptsumme Aller genannt, welcheeinzeln in dem ganzen Kapitel aufgezählt werden, undes heisst zugleich, es wären 42,360 gewesen; rechnetman aber die einzelnen Summen zusammen, so er-giebt sich nur die Zahl 29,818. Es ist deshalb ein Irr-thum in der Hauptsumme oder in den einzelnen. Er-stere scheint richtig angegeben zu sein, da ohne Zwei-fel Jeder sie als fassbar in dem Gedächtniss behielt;aber mit den Theilsummen ging dies nicht. Läge alsoder Irrthum in der Hauptsumme, so würde ihn Jederbemerkten und leicht verbessern. Dies wird dadurchbestätigt, dass Nehem. VII., wo dieses Kapitel desHezra, was der Brief des Geschlechtsregisters heisst,abgeschrieben wird, wie der Vers 5 des Kap. 1 in Ne-hemia besagt, die Hauptsumme mit der im BucheHezra stimmt, aber die einzelnen sehr abweichen; ein-zelne sind grösser, andere kleiner als in Hezra, undsie ergeben zusammen 31,089, weshalb in diesen ein-zelnen Summen sowohl bei Hezra als Nehemia sichmehrere Fehler eingeschlichen haben. Die Erklärer,

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welche diese offenbaren Widersprüche auszugleichensuchen, erdenken sich das Möglichste nach ihrenKräften, und während sie die Buchstaben und Worteder Schrift anbeten, geben sie, wie schon oben be-merkt, die biblischen Schriftsteller nur der Verach-tung preis, als hätten sie nicht sprechen und richtigvortragen können. Ja, sie verdunkeln nur die Klarheitder Bibel; denn dürfte man überall dieselbe so ausle-gen, so gäbe es keine Rede mehr, deren Sinn nichtzweifelhaft wäre. Ich brauche indess mich hierbeinicht länger aufzuhalten; denn ich bin überzeugt,wenn ein Geschichtschreiber das thun wollte, wasJene dem biblischen Schriftsteller andächtig zugeste-hen, sie selbst ihn auslachen würden, und wenn sie esfür eine Verleumdung Gottes halten, die Bibel für feh-lerhaft zu erklären, wie soll man da sie selbst nennen,welche diesen Schriften alles Beliebige andichten unddie heiligen Schriftsteller so blossstellen, dass sieihnen kindisches Geschwätz und allerlei Verwirrungaufladen, die den klaren und deutlichen Sinn derSchrift verleugnen? denn was ist deutlicher in derSchrift, als dass Hezra mit Genossen in dem Briefedes Stammbaumes in Kap. 2 des Buches seines Na-mens die Zahl aller nach Jerusalem Gezogenen imEinzelnen angegeben hat, insofern in ihnen nicht blosdie Zahl angegeben wird, die ihren Stammbaum ange-ben konnten, sondern auch derer, die dies nicht

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konnten? Was ist in Nehem. VII. 5 deutlicher, alsdass er selbst diesen Brief einfach abgeschrieben hat?Wer dies also anders auslegt, verleugnet den wahrenSinn der Schrift und folglich die Schrift selbst. Wassie für fromm halten, nämlich eine Stelle der Schriftder anderen anzupassen, ist eine lächerliche Frömmig-keit, weil sie damit die klaren Stellen den dunkelenund die richtigen den fehlerhaften anpassen und diegesunden durch die faulen verderben. Es ist mir je-doch fern, sie Gotteslästerer zu nennen; sie habennicht die Absicht, zu verleumden, und Irren istmenschlich. Doch ich kehre zu meiner Aufgabe zu-rück.

Ausser den Fehlern, welche man in den Summendes Briefes des Geschlechtsregisters sowohl bei Hezraals Nehemia anerkennen muss, finden sich auch meh-rere in den Familiennamen, mehrere in den Stamm-bäumen, selbst in den Geschichten, und ich fürchte,selbst in den Weissagungen. Denn die Weissagungdes Jeremias im Kap. 22 über Jechonia stimmt nichtmit dessen Geschichte (man sehe das Ende von dem2. Buche der Könige und von Jeremias, und 1. Chro-nika III. 17, 18, 19, insbesondere die Worte des letz-ten Verses dieses Kapitels); denn ich verstehe nicht,wie er von Zidechia, dessen Augen sofort, als er denTod der Söhne sah, ausgestochen wurden, sagenkonnte: »Du wirst im Frieden sterben« u.s.w. (Jerem.

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XXXIV. 5). Will man die Weissagungen nach demErfolge auslegen, so müsste man die Namen ändernund statt Zidechia Jechonia, und für diesen jenen set-zen. Dies ist weniger gegen den natürlichen Verstand,und ich will daher lieber die Sache als unfassbar da-hingestellt sein lassen; denn wenn hier ein Fehler ist,trifft er den Verfasser und nicht einen Fehler derHandschriften. Was das übrige früher Erwähnte an-langt, so mag ich hier es nicht aufnehmen, da es nurden Leser ermüden würde; zumal Andere es schon ge-sagt haben. So hat R. Selamo wegen der offenbarenvon ihm in den Geschlechtsregistern gefundenen Wi-dersprüche in die Worte ausbrechen müssen (mansehe dessen Kommentar zu 1. Chronik. VIII.), »dassHezras (der nach seiner Meinung die Bücher derChronik geschrieben hat) die Söhne Benjamin's mitNamen nennt und seinen Stammbaum anders be-schreibt, als er in dem 1. Buch Mosis enthalten ist,und dass er den grössten Theil der Levitischen Städteanders als Josua angiebt, was daher komme, dass erverschiedene Originalurkunden gefunden habe;« undbald darauf sagt er: »dass der Stammbaum Gibeon'sund Anderer zweimal und verschieden beschriebenwerde, weil Hezras verschiedene Briefe mit demStammbaum eines Jeden vorgefunden und bei derenAbschreibung der grösseren Zahl der Exemplare ge-folgt sei; wo aber diese Zahl auf beiden Seiten gleich

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gewesen, habe er die Stammbäume aus beiden abge-schrieben.« Somit giebt er offen zu, dass diese Bücheraus Urkunden, die weder fehlerfrei noch ächt gewe-sen, abgeschrieben habe. Ja, oft zeigen die Kommen-tatoren, wenn sie Stellen vereinigen wollen, nur dieUrsachen der Irrthümer. Endlich wird Niemand mitgesunden Sinnen glauben, dass die heiligen Schrift-steller absichtlich so geschrieben haben, dass sie sichtheilweise widersprechen.

Vielleicht entgegnet man mir, dass ich auf dieseWeise die Bibel ganz umstosse; denn danach könneman sie überall für fehlerhaft annehmen. Allein ichhabe damit vielmehr die Bibel gegen die Anbeque-mung und das Verderbniss ihrer klaren und richtigenStellen durch die fehlerhaften geschützt. Auch kannman aus der Verderbniss einzelner Stellen nicht aufdie von allen schliessen; denn es hat nie ein Buchohne Fehler gegeben, und hat man es deshalb als einüberall fehlerhaftes betrachtet? Gewiss nicht, nament-lich wenn die Rede klar und die Meinung des Verfas-sers deutlich zu erkennen ist.

Damit habe ich das beendet, was ich zur Geschich-te der Bücher des Alten Testaments bemerken wollte.Es ergiebt sich daraus, dass vor der Maccabäer Zeitnoch kein Kanon der heiligen Bücher bestanden hat,sondern dass die jetzigen von den Pharisäern deszweiten Tempels, welche auf die Gebetformeln

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eingerichtet und aus vielen ausgewählt und lediglichnach ihrem Belieben ausgenommen worden sind. Wermithin das Ansehen der heiligen Schrift beweisenwill, muss dies von jedem einzelnen Buche thun, unddie Göttlichkeit des einen reicht nicht für die der übri-gen zu; man müsste denn annehmen, dass der Rathder Pharisäer bei dieser Auswahl der Bücher nichthabe irren können, was Niemand je beweisen wird.Der Grund für die Annahme, dass nur die Pharisäerdie Bücher des Alten Testaments ausgewählt und ineinen Kanon gebracht haben, ist, dass in Daniel, letz-tes Kapitel, v. 2, die Wiederauferstehung der Todtengepredigt wird, welche die Sadducäer leugneten; auchgeben die Pharisäer im Talmud dies offen zu. Denn inder Abhandlung über den Sabbath II. Bl. 30 S. 2heisst es: »R. Jehuda sagt im Namen Rab's, es such-ten die Gelehrten das Buch der Chronik zu verbergen,weil dessen Worte den Worten des Gesetzes (d.h. demBuch des Gesetzes Mosis) widersprechen. Weshalbhaben sie es aber nicht verborgen? Weil es dem Ge-setz gemäss anfängt und dem gemäss endigt.« Undetwas weiter: »und auch das Buch der Sprüche habensie zu verbergen gesucht« u.s.w., und Kap. 1. Bl. 13S. 2 dieser Abhandlung: »Fürwahr, nenne jenen Mannseiner Güte wegen, der da heisst Neghunja, Sohn desHiskia; denn wäre er nicht gewesen, so wäre das BuchEzechiel bei Seite gebracht worden, weil seine Worte

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den Worten des Gesetzes widersprechen« u.s.w. Hier-nach haben offenbar die Gesetzkundigen berathen,welche Bücher sie als heilig aufnehmen, und welchesie ausschliessen wollten, um also über das AnsehenAller sich zu vergewissern, muss man die Untersu-chung von vorn beginnen und die Gründe bei jedemeinzelnen Buche besonders untersuchen.

Indess ist es nun Zeit, auch die Bücher des NeuenTestamentes in dieser Weise zu prüfen. Da ich indesshöre, dass dies von Männern, die in Wissenschaftenund Sprachen höchst erfahren, schon geschehen sei,und da ich keine so genaue Kenntniss des Griechi-schen habe, um diese Prüfung übernehmen zu können,und weil mir endlich hebräische Uebersetzungen die-ser Bücher nicht zur Hand sind, so will ich mir diesesGeschäft erlassen und in dem folgenden Kapitel nurdas zu meiner Aufgabe hauptsächlich Nöthige bemer-ken.

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Elftes Kapitel

Es wird untersucht, ob die Apostel ihre Briefe alsApostel und Propheten oder als Lehrer geschrieben

haben; ferner wird das Amt der Apostel erklärt.

Niemand, der das Neue Testament liest, kann zwei-feln, dass die Apostel Propheten gewesen sind. Da in-dess die Propheten nicht immer, sondern nur sehr sel-ten aus Offenbarung sprechen, wie ich am Ende desersten Kapitels gezeigt habe, so kann man zweifeln,ob die Apostel als Propheten in Folge Offenbarungund ausdrücklichen Auftrages, wie Moses, Jeremiasund Andere, geschrieben haben oder nur als Privat-personen und Lehrer, zumal da Paulus in dem 1. Briefan die Korinther XIV. 6 von zwei Arten zu predigenspricht, die eine aus Offenbarung, die andere aus derErkenntniss. Man muss deshalb zweifeln, ob sie inden Briefen prophetisch sprechen oder nur lehren.Giebt man auf ihre Schreibart Acht, so weicht sie vonder der Weissagung ganz ab; denn die Propheten wie-derholen fortwährend und bezeugen überall, dass sieauf Gottes Anweisung sprechen; als: »So sprichtGott,« »es sagt Gott der Heerschaaren«, »das GebotGottes« u.s.w. Dieses geschah nicht blos in den öf-fentlichen Reden der Propheten, sondern auch in ihren

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Briefen, soweit sie Offenbarungen enthalten, wie ausdem des Elias an Jerobeam erhellt (2. Chronik. XXI.12), der auch mit den Worten beginnt: »So sprichtGott.«

Dagegen findet sich nichts dergleichen in den Brie-fen der Apostel, vielmehr spricht 1. Korinth. VII. 40Paulus nach seiner Meinung, und in sehr vielen Stel-len trifft man auf einen schwankenden Sinn und be-dingte Redensarten, wie (Röm. III. 28): »Wir sindalso der Meinung,« und (daselbst VIII. 18): »denn ichmeine,« u. dergl. m. Daneben finden sich andere Re-densarten, die von der prophetischen Autorität sichganz entfernen. So: »das aber sage ich als schwacherMensch und nicht auf Befehl« (1. Korinth. VII. 6),»ich gebe den Rath als ein Mensch, der treu ist durchdie Gnade Gottes« (daselbst VII. 25) und viele ähnli-che. Wenn Paulus dabei in dem vorgehenden Kapitelsagt, dass er die Anschauung oder den Befehl Gotteshabe oder nicht habe, so meint er keine solche vonGott offenbarte Anweisung oder einen Befehl, son-dern nur die Lehren, welche Christus ihnen auf demBerge gesagt habe.

Wenn man ferner auf die Art achtet, wie die Apo-stel in diesen Briefen die evangelische Lehre mitthei-len, so zeigt sich auch da ein grosser Unterschiedgegen die Art der Propheten. Die Apostel bringenüberall Gründe herbei, so dass sie nicht zu

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prophezeien, sondern sich zu rechtfertigen scheinen.Dagegen enthalten die Weissagungen nur reine Lehr-sätze und Beschlüsse, weil Gott selbst als redend inihnen angeführt wird, der nicht begründet, sondern inder unbeschränkten Macht seiner Natur beschliesst.Auch das Ansehen der Propheten gestattet keine sol-che Rechtfertigung aus Gründen, denn wer dies thut,unterwirft sich damit von selbst dem Urtheil einesJeden. Dies scheint auch Paulus wegen solcher Recht-fertigung gethan zu haben, indem er 1. Korinther X.15 sagt: »Ich spreche zu Euch als Weiser, urtheiltüber das, was ich sage.« Endlich ist diese Rechtferti-gung nicht gestattet, weil die Propheten die Offenba-rungen nicht vermöge des natürlichen Lichtes, d.h.nicht durch Vernunftgründe gewannen, wie ich im er-sten Kapitel gezeigt habe.

Allerdings kommen auch in den fünf BüchernMosis einige Rechtfertigungen durch Gründe vor; al-lein bei genauer Prüfung können sie nicht als unbe-dingte Anweisungen angesehen werden. So sagt z.B.Moses im 2. Buche XXXI. 27 den Israeliten: »WennIhr, so lange ich unter Euch gelebt, aufrührerischgegen Gott gewesen seid, so werdet Ihr es noch vielmehr nach meinem Tode sein.« Es ist nicht einzuse-hen, wie Moses die Israeliten durch Gründe überzeu-gen will, dass sie nach seinem Tode den Dienst deswahren Gottes verlassen werden; der Grund wäre

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falsch, und man konnte dies auch aus der Schriftselbst beweisen. Denn die Israeliten blieben getreu, solange Josua und die Aeltesten lebten, und auch nach-her, bei Lebzeiten Samuel's, David's, Salomo's u.s.w.Deshalb sind diese Worte Mosis nur eine moralischeAnsprache, mit der er rhetorisch und in der lebhaftenVorstellung des späteren Abfalls des Volkes dieselbevoraussagt. Der Grund, weshalb ich meine, dassMoses dies nicht aus sich selbst gesagt, um seineVoraussagung wahrscheinlicher zu machen, und auchnicht als Prophet in Folge Offenbarung, ist, dass indemselben Kapitel v. 21 erzählt wird, Gott habe diesMoses mit anderen Worten offenbart, der über dieseVorausverkündung und diesen Beschluss Gottes nichtdurch wahrscheinliche Gründe sicherer gemacht zuwerden brauchte; aber es war nöthig, dass er sich diesin seiner Einbildungskraft lebendiger ausmalte, wieich im ersten Kapitel dargelegt habe, und dies konntenicht besser geschehen, als wenn es den gegenwärti-gen Ungehorsam des Volkes, den er oft erfahren hatte,sich als einen zukünftigen vorstellte.

In dieser Weise müssen alle Begründungen, diesich in den fünf Büchern Mosis finden, verstandenwerden; sie sind nicht aus dem Vorrath der Vernunftentlehnt, sondern nur Ausdrucksweisen, in denen erGottes Beschlüsse kräftiger verkündete oder lebhaftervorstellte. Indess will ich nicht bestreiten, dass die

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Propheten auch bei der Offenbarung Gründe anwen-den konnten; ich behaupte nur, dass, je mehr die Pro-pheten mit Vernunftgründen vorgehen, desto mehr nä-hert sich ihre offenbarte Kenntniss der Dinge der na-türlichen. Das sicherste Zeichen für die übernatürlicheErkenntniss der Propheten bleibt, wenn sie reine Be-hauptungen oder Beschlüsse oder Aussprüche verkün-den, und deshalb hat der grösste Prophet, Moses,keine Beweise aus Gründen benutzt.

Deshalb kann ich die langen Ausführungen undBegründungen des Paulus in dem Briefe an die Römernicht als solche ansehen, die er in Folge übernatürli-cher Offenbarung geschrieben hat, und deshalb zeigtdie Art des Sprechens und Verhandelns in den Briefender Apostel deutlich, dass diese Briefe nicht in FolgeOffenbarung und göttlichen Befehls, sondern nur inFolge ihres natürlichen Beschlusses geschrieben wor-den sind. Sie enthalten nur brüderliche Ermahnungen,mit Artigkeiten gemischt, welche der prophetischenAutorität geradezu widerstehen; so die Entschuldi-gung des Paulus in dem Briefe an die Römer XV. 15:»Ich habe ein wenig zu kühn an Euch, meine Brüder,geschrieben.« Es ergiebt sich dies auch daraus, dassnirgends ein an die Apostel ergangener Befehl, zuschreiben, erwähnt wird; sie sollten nur überall predi-gen und ihre Worte durch Zeichen bestätigen. Dieseihre Gegenwart und die Zeichen waren zur Bekehrung

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und Befestigung der Völker im Glauben unbedingtnöthig, wie Paulus selbst Röm. 1. 11 ausdrücklichsagt: »Weil ich sehr Euch zu sehen wünsche, damitich Euch die Gabe des Geistes mittheile, damit wirbefestigt werden.«

Man könnte mir entgegnen, dass damit auch bewie-sen werden könnte, die Apostel hätten auch nicht alsPropheten gepredigt, weil, wenn sie hier- und dorthinzum Predigen gegangen, es auch nicht in Folge aus-drücklichen Befehls geschehen sei, wie sonst die Pro-pheten gethan. So liest man im Alten Testament, dassJonas nach Ninive zum Predigen gegangen, und zu-gleich, dass er ausdrücklich dahin gesandt worden,und dass ihm das, was er dort predigen sollte, offen-bart worden. So wird auch von Moses ausführlich be-richtet, dass er als Gesandter Gottes nach Aegyptengegangen, und dass ihm geheissen, was er dem Israe-litischen Volke und dem König Pharao sagen, undwelche Zeichen er zur Beglaubigung von ihnen bewir-ken sollte. Auch Elias, Jeremias, Ezechiel werdenausdrücklich zum Predigen angewiesen, und endlichhaben die Propheten nur das gepredigt, was sie nachdem Zeugniss der Schrift von Gott empfangen haben.

Dagegen liest man im Neuen Testament von denAposteln nichts Aehnliches, wenn sie hier- oder dort-hin zum Predigen auszogen, seltene Ausnahmen abge-rechnet; man findet im Gegentheil Mancherlei, was

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deutlich zeigt, dass die Apostel sich die Orte zum Pre-digen selbst ausgesucht. Dieses lehrt der Streit bis zurUneinigkeit zwischen Paulus und Barnabas in Apo-stelgesch. XV. 17, 18 u.s.w. Auch haben sie manch-mal den Weg vergeblich gemacht, wie Paulus Röm. I.13 bezeugt, wo er sagt: »In dieser Zeit habe ich oft zuEuch kommen wollen, und ich bin verhindert wor-den;« Kap. 15 v. 22: »Deshalb bin ich viele Male ge-hindert worden, zu Euch zu kommen,« und letzte Ko-rinth. I. 12: »und Apoll, meinen Bruder, habe ich vielgebeten, dass er mit den Brüdern zu Euch reiste, under hatte keine Lust, zu Euch zu gehen; als er aber dieGelegenheit fand« u.s.w. Ich muss deshalb aus diesenRedensarten und Absichten der Apostel und daraus,dass, wenn sie zum Predigen wohin gingen, die Bibelnicht wie bei den alten Propheten sagt, sie seien aufBefehl Gottes gegangen, folgern, dass die Apostelauch nur als Lehrer und nicht als Apostel gepredigthaben.

Man kann diese Frage leicht lösen, wenn man denunterschied der Berufung der Apostel und der Prophe-ten im Alten Testament beachtet. Letztere waren nichtberufen, allen Völkern zu predigen und zu prophezei-en, sondern nur einigen besonderen, und deshalbbrauchten sie für jedes einen besonderen ausdrückli-chen Auftrag. Die Apostel wurden aber berufen, allenohne Unterschied zu predigen und alle zum Glauben

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zu bekehren. Wohin sie daher auch gingen, so erfüll-ten sie Christi Befehl. Auch brauchte ihnen vorherdas, was sie predigen sollten, nicht offenbart zu wer-den; denn sie waren die Schüler Christi, denen er ge-sagt hatte: »Wenn sie Euch überantworten werden, soseid nicht besorgt, wie und was Ihr sprechen sollt; eswird Euch zu dieser Stunde gegeben werden, was Ihrsprechen werdet« u.s.w. (Matth. X. 19, 20). Deshalbhaben die Apostel nur das in Folge besonderer Offen-barung empfangen, was sie laut predigten und zu-gleich durch Zeichen bekräftigten (man sehe das imAnfang des zweiten Kapitels Gesagte); was sie abereinfach, ohne Benutzung von Zeichen zur Bestätigungschriftlich oder mündlich lehrten, das haben sie ausihrer natürlichen Erkenntniss gesprochen und ge-schrieben; man sehe hierüber 1. Korinth. XIV. 6.Auch stört es mich hierbei nicht, dass alle Briefe mitapostolischer Billigung anfangen; denn die Apostelhaben nicht blos, wie ich gleich zeigen werde, dieKraft zum Prophezeien, sondern auch die Macht zumLehren empfangen. In diesem Sinne räume ich ein,dass sie als Apostel ihre Briefe geschrieben haben,und deshalb hat Jeder mit seiner apostolischen Sen-dung begonnen. Vielleicht haben sie auch, um denSinn der Leser leichter für sich einzunehmen und ihreAufmerksamkeit zu erwecken, vor Allen bezeugenwollen, dass sie Diejenigen seien, die allen Gläubigen

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aus ihren Predigten bekannt geworden und durchklare Zeichen bewiesen hätten, dass sie die wahre Re-ligion und den Weg des Heils lehrten. Denn Alles,was diese Briefe über die Berufung der Apostel undden heiligen und göttlichen Geist, den sie hatten,sagen, bezieht sich auf ihre früheren Predigten, mitAusnahme der Stellen, wo der heilige Geist und derGeist Gottes nur den gesunden, frommen und Gott ge-rechten Sinn bedeutet, wie ich im ersten Kapitel dar-gelegt habe.

So sagt z.B. Paulus 1. Korinth. VII. 40: »Selig istsie, wenn sie so bleibt, nach meinem Ausspruch; ichglaube aber auch, dass Gottes Geist in mir ist.« Erversteht hier unter »Geist Gottes« seine eigene Seele,wie der Zusammenhang der Rede zeigt; denn er willsagen: »die Wittwe, welche nicht zum zweiten Malheirathen will, halte ich selig nach meiner Meinung,der ich ledig zu bleiben beschlossen habe und michselig halte.« Es findet sich mehr dergleichen, was in-dess hier anzuführen nicht nöthig ist.

Sind sonach die Briefe der Apostel nur von demnatürlichen Licht diktirt, so ist zu untersuchen, wiedie Apostel aus der blossen natürlichen ErkenntnissDinge lehren konnten, die nicht darunter fallen. Gehtman indess auf das in Kap. 7 dieser Abhandlung überdie Schriftauslegung Gesagte zurück, so verschwindetdie Schwierigkeit. Denn Vieles in der Bibel übersteigt

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unseren Verstand; danach kann man sicher darübersich auslassen, sobald man nur keine anderen Grund-lagen zulässt, als die in der Schrift selbst enthaltensind; also konnten die Apostel aus dem, was sie ge-hört, gesehen und durch Offenbarung empfangen hat-ten, Vieles folgern und abnehmen und den Menschen,wenn sie wollten, lehren. Ferner ist zwar die Religion,wie sie die Apostel predigten, indem sie die Geschich-te Christi einfach erzählten, aus der blossen Vernunftnicht zu entnehmen; aber ihr wesentlicher Inhalt, derhauptsächlich aus sittlichen Regeln besteht, wie dieganze christliche Lehre, kann Jeder mit dem natürli-chen Licht leicht erreichen. Endlich brauchten dieApostel keines übernatürlichen Lichts, um die Religi-on, die sie vorher durch Zeichen bekräftigt hatten, derallgemeinen Fassungskraft der Menschen so anzube-quemen, dass sie von Jedem leicht im Geiste ange-nommen wurde; auch bedurften sie dessen nicht, umdie Menschen darin zu erhalten, und dies ist die Ab-sicht dieser Briefe; sie sollen die Menschen auf denWeg weisen und erhalten, den jeder Apostel für denbesten zu ihrer Befestigung im Glauben errichtete.Hier gilt das früher von mir Gesagte, dass die Apostelnicht blos die Kraft empfangen hatten, die GeschichteChristi als Propheten zu predigen, d.h. mit Zeichen zubekräftigen, sondern auch die Berechtigung zu lehrenund auf dem Weg zu erhalten, den sie für den besten

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erachteten. Beide Gaben bezeichnet Paulus 1. Timoth.I. 11 deutlich in den Worten: »Vermöge dessen ichgeordnet bin zum Verkünder und Apostel und Lehrerder Völker,« und daselbst II. 7: »Dessen Verkünderund Apostel ich verordnet bin (ich sage durch Chri-stum die Wahrheit, und lüge nicht), ein Lehrer derVölker mit Glauben (NB.) und Wahrheit.« Hier, sageich, nennt er deutlich beide Berufungen, zum Apostel-amt und zum Lehramt. Dagegen spricht er von derMacht zu lehren Jedermann und jederzeit im Briefe anPhilem. 8 mit den Worten: »Obgleich ich in Christoviel Freiheit habe, Dich zu dem anzuweisen, was sichgehört, so doch« u.s.w. Hätte Paulus das, was demPhilemon zu lehren war, als Prophet von Gott emp-fangen, so musste er es auch als Prophet lehren, undes hätte ihm nicht freigestanden, Gottes Anweisung inBitten zu verwandeln. Er spricht deshalb offenbar vonder Freiheit der Ermahnung, die ihm als Lehrer, abernicht als Prophet zustand.

Indess folgt daraus noch nicht sicher, dass die Apo-stel den Weg der Belehrung nach ihrem eigenen Er-messen hätten wählen können, sondern nur, dass sievermöge des apostolischen Amtes nicht blos Prophe-ten, sondern auch Lehrer gewesen sind, wenn mannicht die Vernunft zu Hülfe nimmt, welche deutlichsagt, dass, wer das Recht zu lehren hat, auch dasRecht habe, den Weg dazu nach seinem Ermessen zu

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wählen.Doch ist es besser, die ganze Frage nur aus der

Bibel zu beantworten. Aus ihr erhellt nämlich, dassjeder Apostel seinen eigenen Weg erwählt hat, näm-lich aus Pauli Worten, Röm. XV. 20: »Ich sorgte eif-rig, dass ich predigte, nicht wo der Name Christi an-gerufen wurde, damit ich nicht auf einer fremdenGrundlage baue.« Hätten alle Apostel denselben Wegder Belehrung eingehalten und alle auf denselbenGrundlagen die christliche Religion erbaut, so konntePaulus die Grundlagen eines anderen Apostels nichtmit Recht »fremde« nennen; denn es waren dann auchseine eigenen. Da er also sie fremde nennt, so mussjeder Apostel die Religion auf einem besonderenGrunde aufgerichtet haben, und den Aposteln ist beiihrem Lehramte dasselbe wie anderen Lehrern wider-fahren, die eine besondere Lehrweise haben, nämlich,dass sie lieber die ganz ungebildeten belehren, welchedie Sprachen und Wissenschaften, selbst einschliess-lich der mathematischen, wo doch kein Zweifel ist,von Niemand anders zu lernen angefangen haben.

Geht man weiter ihre Briefe mit Aufmerksamkeitdurch, so ergiebt sich, dass die Apostel zwar in derReligion übereinstimmen, in den Grundlagen abersehr von einander abweichen. Paulus lehrte, um dieMenschen in der Religion zu befestigen und ihnen zuzeigen, dass das Heil nur von Gottes Gnade abhänge,

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dass Niemand sich seiner Werke, sondern nur seinesGlaubens rühmen könne, und dass Niemand durchsein Wirken gerechtfertigt werde (Röm. III. 27, 28),also die ganze Lehre von der Vorherbestimmung; Ja-cobus lehrte dagegen in seinem Briefe, dass derMensch durch seine Werke gerechtfertigt werde undnicht durch den Glauben allein (Brief des Jacobus II.24), und er fasst die ganze Religionslehre, mit Besei-tigung aller jener Streitpunkte des Paulus, in wenigeRegeln zusammen.

Endlich sind unzweifelhaft aus dem Unterschieddieser Grundlagen, auf denen die Apostel die Religionaufbauten, viele Streitigkeiten und Trennungen ent-standen, von denen die Kirche schon von der ApostelZeit ab fortwährend gelitten hat und sicherlich inEwigkeit leiden wird, bis Religion von den philoso-phischen Spekulationen gesondert und auf die weni-gen und einfachen Lehren zurückgeführt wird, dieChristus den Seinigen gegeben hat. Die Apostel konn-ten dies nicht, weil das Evangelium den Menschenunbekannt war; sollte daher die Neuheit ihrer Lehrederen Ohren nicht zu sehr verletzen, so mussten siedieselbe nach Möglichkeit den Meinungen jener Zeitanpassen (1. Korinth. IX. 19, 20 u. f.) und auf den da-mals bekannten und anerkannten Grundlagen aufbau-en. Deshalb hat kein Apostel so viel philosophirt alsPaulus, der berufen war, den Heiden zu predigen. Die

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Anderen hatten den Juden zu predigen, welche diePhilosophie verachteten, und sie bequemten sich des-halb deren Ansichten (Galat. II. 18 u. f.) und lehrtendie Religion ohne philosophische Betrachtungen.Auch unser Zeitalter wäre fürwahr glücklich, wennman es frei von allem Aberglauben erblicken könnte.

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Zwölftes Kapitel

Ueber die wahre Handschrift des göttlichenGesetzes, und weshalb es die heilige Schrift und dasWort Gottes heisst. Endlich wird gezeigt, dass sie,soweit sie das Wort Gottes enthält, unverdorben auf

uns gekommen ist.

Wer die Bibel, so wie sie ist, als einen Brief be-trachtet, den Gott den Menschen vom Himmel ge-sandt hat, wird unzweifelhaft mich der Sünde gegenden heiligen Geist anklagen, weil ich Gottes Wort alsfehlerhaft, verstümmelt, verfälscht und sich wider-sprechend dargelegt habe, von dem wir nur Bruch-stücke besitzen und von dem die Urschrift des Vertra-ges Gottes mit den Juden verloren gegangen sei. Werindess die Sache erwägt, wird diese Anklage schnellfallen lassen; denn die Vernunft sowohl wie die Aus-sprüche der Apostel und Propheten verkünden deut-lich, dass das ewige Wort und Bündniss Gottes unddie wahre Religion den Herzen der Menschen, d.h.dem menschlichen Geist von Gott eingeschriebenworden, dass sie die wahre Handschrift Gottes ist,was er mit seinem Siegel, nämlich mit dem Begriffseiner, als dem Bilde seiner Gottheit, besiegelt hat.

Den ersten Juden ist die Religion wie ein Gesetz

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durch Schrift gelehrt worden, weil sie da nur als Kin-der galten. Allein später predigen Moses (Deut. XXX.6) und Jeremias (XXXI. 33) ihnen die kommendeZeit, wo Gott sein Gesetz in ihre Herzen schreibenwerde. Deshalb geziemte es nur den Juden und vor-züglich den Sadducäern für das in den Tafeln ver-zeichnete Gesetz zu kämpfen; nicht aber Denen, diees in ihrer Seele eingeschrieben trugen. Wer hieraufachtet, wird in dem Bisherigen nichts finden, was demWorte Gottes oder der wahren Religion und demGlauben widerspricht oder beide schwächen konnte;vielmehr können wir dadurch darin nur befestigt wer-den, wie ich am Ende des zehnten Kapitels gezeigthabe. Ohnedem würde ich über diese Dinge ganz ge-schwiegen haben; ja, selbst um allen Schwierigkeitenzu entgehen, gern eingeräumt haben, dass in der Bibeldie tiefsten Geheimnisse enthalten seien. Allein dadaraus ein untrüglicher Aberglaube und andere ver-derbliche Nachtheile hervorgegangen sind, worüberich im Beginn des 7. Kapitels gesprochen habe, soglaubte ich mich dem nicht entziehen zu dürfen,zumal da die Religion keiner abergläubischen Zier-rathen bedarf, sondern nur an ihrem Glänze einbüsst,wenn sie mit solchen Erdichtungen geschmückt wird.

Man wird indess einwenden, dass, wenn auch dasgöttliche Gesetz dem Herzen eingeschrieben sei, dieBibel doch Gottes Wort bleibe, und deshalb dürfe

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man von der Bibel so wenig wie von Gottes Wortsagen, dass es verstümmelt und verfälscht worden.Allein ich fürchte, dass man hier in übertriebenemEifer der Heiligkeit die Religion in Aberglauben ver-wandelt, ja Zeichen und Bilder, d.h. Papier und Tintestatt Gottes Wort anzubeten beginnt. So viel weissich, dass ich von der Schrift oder dem Worte Gottesnichts Unwürdiges gesagt habe; denn ich habe nur ge-sagt, was in seiner Wahrheit sich auf die klarstenGründe stützt, und deshalb kann ich auch behaupten,nichts Gottloses und nach Gottlosigkeit Schmecken-des gesagt zu haben.

Ich räume ein, dass Menschen, denen die Religioneine Last ist, daraus die Freiheit zu sündigen entneh-men können, und dass sie daher ohne allen Grund, nurum ihrer Lust zu fröhnen, schliessen, die Bibel seiüberall fehlerhaft, verfälscht und deshalb ohne Gültig-keit. Allein Diesen kann man niemals entgegentreten;nach dem bekannten Sprüchwort, dass Nichts so gutgesagt werden kann, was nicht durch schlechte Ausle-gung verderbt werden könnte. Wer seiner Lust fröh-nen will, wird leicht einen Grund dafür finden, undselbst Die, welche die Originale selbst, die Bundesla-de, die Propheten und Apostel hatten, sind nicht bes-ser und gehorsamer gewesen, sondern Alle, Juden wieHeiden, waren Alle dieselben, und die Tugend war zuallen Zeiten selten.

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Um indess hier alle Zweifel zu beseitigen, habe ichzu zeigen, in welchem Sinne die Schrift und irgendeine stumme Sache heilig und göttlich genannt wer-den kann; dann, was in Wahrheit Gottes Wort ist, unddass es nicht in einer bestimmten Zahl Schriften be-steht, und endlich, dass die Schrift, soweit sie das zudem Gehorsam und dem Heile Nöthige lehrt, nicht hatverderbt werden können. Daraus kann dann Jeder ent-nehmen, dass ich nichts gegen Gottes Wort gesagtund der Gottlosigkeit keinen Raum frei gemacht habe.

Ein Gegenstand heisst heilig oder göttlich, der zurUebung der Frömmigkeit und Religion bestimmt ist,und er ist nur so lange heilig, als er zu diesem Zweckgebraucht wird. Hören die Menschen auf, fromm zusein, so hört auch die Heiligkeit des Gegenstandesauf, und wenn sie ihn zur Vollziehung gottloser Dingebestimmen, so wird der vorher heilige Gegenstand zueinem unreinen und weltlichen. So nannte der Erzva-ter Jacob einen Ort »Haus Gottes«, weil er da den ihmoffenbarten Gott verehrte; allein die Propheten nann-ten denselben Ort »Haus der Ungerechtigkeit«(Hamos. V. 5, Hosea X. 5), weil die Israeliten nachder Einrichtung Jerobeam's da den Götzenbildern zuopfern pflegten. Ein anderes Beispiel macht die Sachenoch klarer. Die Worte erhalten durch den Gebraucheine bestimmte Bedeutung, und wenn sie nach diesemGebrauch so eingerichtet werden, dass sie die Leser

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zur Andacht bestimmen, gelten jene Worte als heilige,wie das Buch, was so geschrieben ist. Verliert sichnun später dieser Gebrauch, so dass die Worte nichtsmehr bedeuten, und dass das Buch aus Bosheit, oderweil man es nicht mehr braucht, ganz vernachlässigtwird, dann haben solche Worte und ein solches Buchkeinen Nutzen und keine Heiligkeit mehr. Werdenendlich dieselben Worte anders gestellt, oder wird derGebrauch, sie in eine andere Bedeutung zu nehmen,überwiegend, dann können die Worte und das Buch,die vorher heilig waren, unrein und weltlich werden.

Daraus folgt, dass nur der Sinn unbedingt überHeiligkeit und Weltlichkeit oder Unreinigkeit ent-scheidet, wie dies auch aus vielen Stellen der Bibelsich ergiebt. So sagt, um eine solche anzuführen, Jere-mias VII. 4, dass die Juden au seiner Zeit den TempelSalomo's fälschlich den Tempel Gottes genannt hät-ten; denn, fährt er fort, Gottes tarnen kann nur derjeni-ge Tempel fuhren, der von Menschen, die Gott vereh-ren und die Gerechtigkeit vertheidigen, besucht wird;geschieht dies aber von Mördern, Dieben, Götzendie-nern und anderen abscheulichen Menschen, dann ister nur der Schutzherr der Uebelthäter. - Was aus derBundeslade geworden, giebt die Bibel nicht an, wasmich oft gewundert hat; allein sicher ist, dass sie un-tergegangen oder mit dem Tempel verbrennt ist, ob-gleich es nichts Heiligeres und Verehrteres bei den

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Juden gegeben hat.In diesem Sinne wird die Bibel auch so lange heilig

und ihre Rede göttlich sein, als sie die Menschen zurAndacht gegen Gott bewegt; sollte sie aber von ihnenganz vernachlässigt werden, wie ehedem von denJuden, so bleibt sie nur ein beschriebenes Papier undwird eine durchaus weltliche und dem Verderben aus-gesetzte Sache, und wenn sie dann verdorben wirdoder zu Grunde gebt, so kann man nicht sagen, dasWort Gottes sei verdorben werden oder untergegan-gen, wie man auch zur Zeit des Jeremias nicht sagenkonnte, der Tempel sei als Tempel Gottes verbrannt.Jeremias sagt dies auch von dem Gesetz selbst, indemer den Gottlosen seiner Zeit vorhält: »Weshalb sagtIhr, wir sind erfahren, und Gottes Gesetz ist mit uns?Gewiss ist es vergeblich eingerichtet worden; dieFeder der Schreiber ist vergeblich« (gewesen), d.h. Ihrsagt fälschlich, dass Ihr das Gesetz Gottes habt, wennauch die Bibel bei Euch ist, nachdem Ihr selbst sienutzlos gemacht habt. - Ebenso hat Moses, als er dieersten Tafeln zerbrach, keineswegs vor Zorn das WortGottes aus den Händen geschlendert und gebrochen(denn wer konnte dies von Moses und dem WorteGottes annehmen), sondern es geschah dies nur mitSteinen, die allerdings vorher heilig waren, weil dasBündniss, nach dem die Juden Gott zu gehorchen sichverpflichtet hatten, auf ihnen geschrieben stand; allein

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nachdem sie dasselbe durch Anbetung des Kalbes ge-brochen hatten, hatte es keine Heiligkeit mehr, undaus derselben Ursache konnten auch die zweiten Ta-feln mit der Lade untergehen. Es kann deshalb nichtauffallen, wenn die ersten ursprünglichen Tafeln desMoses nicht mehr da sind, und dass das mit den Bü-chern, die wir noch haben, sich zugetragen hat, wasich oben erwähnt habe, wenn das wahre und allerhei-ligste Original des göttlichen Bundes hat ganz zuGrunde gehen können.

Man höre also auf, mich der Gottlosigkeit zu be-schuldigen; ich habe nichts gegen Gottes Wort ge-sprochen, es nicht befleckt; vielmehr richte man sei-nen Zorn, wenn er besteht, gegen die Alten, derenBosheit die Lade Gottes, den Tempel, das Gesetz undalles Heilige verweltlicht und dem Verderbniss ausge-setzt hat. Und wenn sie nach dem Apostel, 2. Korinth.III. 3, den Brief Gottes in sich tragen, nicht in Tinte,sondern im Geiste Gottes, und nicht in steinernen Ta-feln, sondern auf den Fleischestafeln des Herzens ge-schrieben, so mögen sie aufhören, den Buchstaben an-zubeten und um ihn besorgt zu sein.

Damit glaube ich genügend erklärt zu haben, inwelchem Sinne die Bibel als heilig und göttlich geltenkann. Es ist nun zu untersuchen, was unter Debar Je-hova (Wort Gottes) zu verstehen ist. Debar bezeich-net das Wort, die Rede, das Gebot und die Sache. Aus

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welchen Gründen eine Sache im Hebräischen als dieGottes erklärt oder auf Gott bezogen wird, habe ichKap. 1 gezeigt, und daraus erhellt, was die Schriftunter Wort Gottes meint, sei es eine Rede, ein Gebetoder eine Sache. Ich brauche dies nicht Alles zu wie-derholen, noch das, was ich in Kap. 6 an dritter Stellevon den Wundern gesagt habe. Ich deute hier es nuran, damit der Leser das hier Folgende besser verstehe.Wird das Wort Gottes von einem Gegenstande ausge-sagt, der nicht Gott selbst ist, so bezeichnet es eigent-lich jenes göttliche Gesetz, von dem ich in Kap. 4 ge-handelt habe, d.h. die allgemeine oder katholische Re-ligion des ganzen Menschengeschlechts. Man sehehierüber Esaias I. 10 u. f., wo er den wahren Lebens-wandel schildert, der nicht in Gebräuchen, sondern inder Liebe und Wahrhaftigkeit besteht; diesen nennt erbald Gesetz, bald Wort Gottes. Dann wird das Wortbildlich für die Ordnung der Natur und das Schicksalgebraucht (da dies in Wahrheit vom ewigen Rath-schluss der göttlichen Natur abhängt und darausfolgt) und vorzüglich für das, was die Prophetendavon vorausgesagt, und zwar deshalb, weil sie dasKommende aus natürlichen Ursachen nicht erfassenkonnten, sondern nur als Belieben und BeschlüsseGottes. Dann wird es auch für jede Verkündung ir-gend eines Propheten gebraucht, soweit er sie durchseine besondere Kraft oder seine prophetische Gabe

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und nicht durch sein natürliches Licht erfasst hatte,und zwar vorzüglich deshalb, weil die Propheten inWahrheit Gott als einen Gesetzgeber sich vorzustellenpflegten, was ich Kap. 4 gezeigt habe. - Aus diesendrei Gründen heisst die Schrift das Wort Gottes; weilsie nämlich die wahre Religion lehrt, deren ewiger Ur-heber Gott ist; dann weil sie die Weissagungen desKommenden als Beschluss Gottes berichtet, und end-lich weil ihre wahren Verfasser meistentheils nichtaus dem gemeinsamen natürlichen Licht, sondern auseinem besonderen, ihnen zu Theil gewordenen gelehrtund Gott als dies aussprechend eingeführt haben.Wenn nun auch daneben die Bibel noch Vieles ent-hält, was rein geschichtlich ist oder durch das natürli-che Licht erkannt wird, so ist sie doch nach dem Grö-sseren benannt worden.

Hieraus ergiebt sich leicht, in welchem Sinne Gottals der Urheber der Bibel anzusehen ist, nämlich derwahren Religion wegen, die sie enthält, aber nicht,weil Gott den Menschen eine bestimmte Zahl Büchermittheilen wollte. Davon kann man auch entnehmen,weshalb die Bibel sich in die Bücher des Alten undNeuen Testamentes theilt. Vor der Ankunft Christipflegten nämlich die Propheten die Religion als daseinheimische Gesetz zu predigen und vermöge des zuMosis Zeit eingegangenen Vertrages. Nach ChristiAnkunft haben aber die Apostel sie als das allgemeine

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Gesetz blos auf Grund des Leidens Christi Allen ge-predigt. Dieser Name hat also seinen Grund nicht inder Verschiedenheit der Lehre, oder weil sie die ge-schriebenen Urkunden des Bundes sind, auch nicht,weil die katholische Religion, die die natürlichste ist,eine neue ist, ausgenommen in Bezug auf die Men-schen, die sie nicht kannten. »Er war in der Welt,«sagt der Evangelist Johannes I. 10, »und die Weltkannte ihn nicht.« Hätten wir also auch Weniger Bü-cher des Alten wie des Neuen Testamentes, so erman-gelten wir doch nicht des Wortes Gottes (unter wel-chem, wie gesagt, die wahre Religion gemeint ist),sowie wir nicht glauben, ihrer deshalb zu ermangeln,weil uns viele vortreffliche Bücher fehlen, wie dasBuch des Gesetzes, welches, wie die Urschrift desBundes, sorgfältig im Tempel verwahrt wurde, unddie Bücher der Kriege, der Zeitrechnungen und ande-re, aus denen die Bücher des Alten Testaments, diewir haben, ausgezogen und zusammengestellt wordensind.

Dieses wird auch durch viele andere Gründe bestä-tigt. Denn erstlich sind die Bücher beider Testamentenicht im ausdrücklichen Auftrage und zu gleicher Zeitfür alle Jahrhunderte abgefasst worden, sondern nachGelegenheit, durch mancherlei Personen, wie die Zeitund ihre besondere Lage es erforderte. Dies ergebendeutlich die Berufungen der Propheten (die berufen

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worden sind, um die Gottlosen ihrer Zeit zu vermah-nen) und die Briefe der Apostel. Zweitens ist es einUnterschied, die Schrift und die Meinung der Prophe-ten zu verstehen und den Willen Gottes, d.h. dieWahrheit selbst zu kennen, wie aus dem in Kap. 2über die Propheten Gesagten erhellt. Dies gilt auchfür die Geschichte und die Wunder, wie ich in Kap. 6dargelegt. Aber dies kann von denjenigen Stellennicht gesagt werden, welche von der wahren Religionund Tugend handeln. Drittens sind die Bücher desAlten Testamentes aus vielen ausgewählt und zuletztvon dem Rath der Pharisäer gesammelt und geprüftworden, wie ich in Kap. 10 gezeigt habe. Auch dieBücher des Neuen Testaments sind durch die Be-schlüsse einiger Konzilien zu einem Kanon zusam-mengestellt, und andere, welche von Vielen für heiliggehalten wurden, sind durch deren Beschlüsse ver-worfen worden. Nun bestanden aber die Mitgliederdieser Versammlungen bei den Pharisäern und Chri-sten nicht auf Propheten, sondern nur aus gelehrtenund erfahrenen Männern, und doch muss man aner-kennen, dass bei dieser Auswahl das Wort Gottesihnen zum Maassstab gedient; mithin mussten sie voraller Prüfung der Bücher die Kenntniss des WortesGottes besitzen. Viertens haben die Apostel nicht alsPropheten, sondern nach Ausweis des vorgehendenKapitels, als Lehrer geschrieben, und sie wählten

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diejenige Weise der Belehrung, welche sie für ihreSchüler als die leichteste erachteten. Deshalb mussdarin Manches enthalten sein, was man nach den Aus-führungen des vorigen Kapitels rücksichtlich der Re-ligion entbehren kann. Fünftens giebt es im NeuenTestament vier Evangelisten, und wer kann glauben,dass Gott Vieren die Geschichte Christi hat erzählenund durch Schrift den Menschen mittheilen wollen?Wenn auch das Eine Manches enthält, was in demAnderen fehlt, und wenn auch Eines das Verständnissdes Anderen befördert, so folgt doch daraus nicht, dasalles in diesen Vieren Enthaltene zu wissen nöthigsei, und dass Gott sie zum Schreiben ausgewählt,damit die Geschichte Christi besser verstanden werde.Denn Jeder predigte sein Evangelium an einem ande-ren Orte, und Jeder schrieb das nieder, was er gepre-digt hatte, und zwar einfach zur deutlichen Erzählungder Geschichte Christi und nicht zur Erläuterung derAnderen. Wird durch deren Vergleichung Manchesleichter und besser verständlich, so ist dieses zufälligund nur bei wenig Stellen, welche man nicht zu ken-nen brauchte, ohne dass die Geschichte deshalb weni-ger deutlich und die Menschen weniger glücklichwären.

Damit habe ich gezeigt, dass die Bibel eigentlichnur rücksichtlich der Religion oder des allgemeinengöttlichen Gesetzes Wort Gottes genannt werde, und

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ich habe nur noch zu zeigen, dass sie in diesem Sinneweder fehlerhaft, noch verstümmelt, noch verdorbenist. Ich nenne aber hier fehlerhaft, verdorben und ver-stümmelt, was so falsch geschrieben und zusammen-gestellt ist, dass man den Sinn aus dem Sprachge-brauch oder aus der Bibel allein nicht entnehmenkann. Denn ich will nicht behaupten, dass die Bibel,soweit sie das Wort Gottes enthält, immer dieselbenAccente, dieselben Buchstaben und Worte bewahrthat; ich überlasse dies den Masoreten und den aber-gläubischen Anbetern des Buchstabens zu beweisen;vielmehr ist blos der Sinn, rücksichtlich dessen eineRede nur göttlich heissen kann, unverdorben auf unsgelangt, sollten auch die Worte, in denen dieser Sinnzunächst ausgedruckt worden, häufig gewechselthaben. Denn dies nimmt wie gesagt, der Bibel nichtsvon ihrer Göttlichkeit; die Bibel würde ebenso gött-lich bleiben, wenn sie auch mit anderen Worten oderin einer anderen Sprache abgefasst wäre.

Dass wir nun das göttliche Gesetz in diesem Sinneunverdorben erhalten haben, ist nicht zweifelhaft.Denn die Schrift selbst ergiebt unzweideutig undleicht, dass ihr Kern ist, Gott über Alles zu lieben undden Nächsten wie sich selbst. Dies kann aber nichtsVerfälschtes sein und nicht die Schrift einer irrendenoder flüchtigen Feder; denn hätte die Bibel irgendwoetwas Anderes gelehrt, so müsste sie auch das

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Uebrige anders lehren; denn es ist die Grundlage derganzen Religion, mit deren Wegnahme der ganze Bauzusammenstürzt. Eine solche Schrift wäre nicht die,von der wir hier handeln, sondern ein ganz anderesBuch. Es gilt deshalb als unerschütterlich, dass dieBibel dies immer gelehrt hat, und dass mithin hierkein Irrthum, der den Sinn verdirbt, sich eingeschli-chen; denn Jeder hätte dies sofort bemerken, und Nie-mand hätte die Bibel so verderben können, dessenBosheit nicht dadurch offenbar geworden wäre.

Ist daher diese Grundlage als unverderbt anzuer-kennen, so gilt dies auch von dem, was daraus un-zweifelhaft folgt, und was auch zur Grundlage gehört;also: dass Gott besteht, dass er für Alle sorgt, dass erallmächtig ist, dass es den Frommen nach seinemRathschluss gut geht, den Gottlosen aber schlecht,und dass unser Heil nur von seiner Gnade abhängt.Denn dies Alles lehrt die Bibel überall deutlich undhat es immer lehren müssen, widrigenfalls alles Ande-re eitel und ohne Grundlage wäre. Ebenso müssenihre übrigen Sittenregeln als ächt gelten, da sie sichaus dieser allgemeinen Grundlage deutlich ergeben,nämlich: die Gerechtigkeit vertheidigen, den Armenhelfen, Niemand tödten, das Gut eines Andern nichtbegehren u.s.w. Davon konnte die Bosheit der Men-schen nichts verschlechtern und das Alter nichts zer-stören. Denn was davon zerstört worden wäre, würde

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sofort aus der allgemeinen Grundlage von Neuem ent-nommen werden können, und die Regel der Liebewürde es gelehrt haben, welche überall in beiden Te-stamenten auf das Höchste empfohlen wird. Dazukommt, dass sich allerdings keine noch so abscheuli-che That denken lässt, die nicht einmal begangen wor-den; allein dennoch wird Niemand zur Entschuldi-gung seiner Thaten die Gesetze zu verachten oderetwas Gottloses als eine ewige und heilsame Lehreeinzuführen Buchen; denn die menschliche Natur istso eingerichtet, dass Jeder, sei er König oder Untert-han, wenn er etwas Schlechtes begangen, seine Thatmit solchen Umständen auszuschmücken sucht, dassman glauben soll, er habe nicht unrecht und unanstän-dig gehandelt.

Man kann deshalb annehmen, dass das allgemeinegöttliche Gesetz, welches die Schrift lehrt, ganz undunverderbt auf uns gekommen ist. Daneben bleibtaber noch Anderes, was uns unzweifelhaft in redlicherAbsicht überliefert worden ist, nämlich das Wesentli-che der biblischen Geschichte, die ja Allen genau be-kannt war. Das jüdische Volk pflegte sonst seinealten Erlebnisse in Psalmen zu singen, und das We-sentliche von Christi Thaten und seinen Leiden ist so-fort im ganzen Römischen Reiche bekannt geworden.Deshalb konnte, wenn nicht der grösste Theil derMenschen sich zusammengethan hätte, was

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unglaublich ist, das Hauptsächliche von diesen Din-gen auf die spätere Zeit nicht anders übergehen, alsdie frühere es empfangen hatte. Alle Verfälschungenund Fehler konnten deshalb nur das Uebrige treffen,einen oder den anderen Nebenumstand der Geschichteoder Weissagung, der das Volk mehr zur Andacht be-wegen sollte; oder ein oder das andere Wunder, wasdie Philosophen in Verlegenheit bringen sollte; oderspekulative Punkte, als diese von den Andersgläubi-gen in die Religion eingeführt wurden, um damit dieeigenen Erfindungen durch Missbrauch des göttlichenAnsehens zu befestigen. Allein für das Heil macht eswenig aus, ob solche Verschlechterungen mehr oderweniger stattgefunden, wie ich im nächsten Kapitelzeigen werde; obgleich es schon aus dem Bisherigenund aus Kap. 2 sich ergeben dürfte.

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Dreizehntes Kapitel

Es wird gezeigt, dass die Bibel nur ganz Einfacheslehrt und nur Gehorsam verlangt; dass sie auch vonder göttlichen Natur das lehrt, was die Menschendurch einen bestimmten Lebenswandel nachahmen

können.

In Kap. 2 dieser Abhandlung habe ich gezeigt, dassdie Propheten nur eine besondere Gabe der Einbil-dungskraft, aber nicht der Einsicht gehabt haben; dassGott ihnen keine philosophischen Geheimnisse, son-dern nur einfache Dinge offenbart und sich ihren vor-gefassten Meinungen anbequemt habe. Ich habe dannin Kap. 5 gezeigt, dass die Bibel die Dinge so berich-tet und lehrt, dass Jedermann sie leicht fassen kann;sie leitet sie nicht aus Grundsätzen und Definitionenab und verknüpft sie nicht, sondern sie spricht sie nureinfach aus und bestätigt sie des Glaubens wegen nurdurch die Erfahrung, d.h. durch Wunder und Ereignis-se, die auch in einer Weise erzählt werden, wie sieden Sinn der Menge am meisten einnimmt. Man sehedeshalb Kap. 6 No. 3. Endlich habe ich in Kap. 7 ge-zeigt, dass die Schwierigkeit des Verständnisses derBibel nur in der Sprache, aber nicht in der Feinheitihres Inhaltes liegt. Dazu kommt, dass die Propheten

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nicht den Gelehrten, sondern allen Juden ohne Unter-schied predigten, und dass die Apostel die evangeli-sche Lehre in den Hallen, wo Alle sich zu versam-meln pflegten, lehrten. Aus alledem folgt, dass dieLehre der Schrift keine spitzfindigen Spekulationenund keine philosophischen Sätze enthält, sondern nurDinge, so einfach, dass sie selbst von dem Geistesar-men verstanden werden können. Ich kann deshalbmich nicht genug über den Scharfsinn Derer wundern,die ich früher erwähnt, und die so tiefe Geheimnissein der Bibel sehen, dass keine menschliche Sprachesie erklären könne, und die deshalb in die Religion soviel Dinge der philosophischen Spekulation einge-mengt haben, dass die Kirche einer Akademie, unddie Religion einer Wissenschaft, oder besser, einemGezanke gleicht. Allein was wundere ich mich, dassMenschen, die das übernatürliche Licht zu besitzensich rühmen, den Philosophen, die nur das natürlichehaben, in Erkenntniss nicht nachstehen wollen. Ichwürde mich nur wundern, wenn sie etwas Neues reinspekulativer Natur lehrten, was nicht schon bei denheidnischen Philosophen allbekannt war, die doch,wie sie sagen, blind gewesen. Denn fragt man nachden angeblich in der Bibel verborgenen Geheimnis-sen, so findet man nur die Erdichtungen des Aristote-les oder Plato oder ähnlicher Philosophen, die einBlödsinniger leichter im Traume als der Gelehrteste

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in der Bibel auffinden würde. Ich mag allerdings nichtbehaupten, dass zur Lehre der Bibel gar nichts Speku-latives gehöre; schon in den vorgehenden Kapitelnhabe ich Manches derart beigebracht, was zu denGrundlagen der Schrift gehört; allein ich behaupte,dass dergleichen nur wenig und höchst einfach vor-kommt. Welches dies nun ist, und wie es zu erledigenist, das will ich hier darlegen.

Es wird dies leicht sein, nachdem wir wissen, dassdie Schrift keine Wissenschaften hat lehren wollen;daraus kam man leicht abnehmen, dass sie nur Gehor-sam von den Menschen verlangt und nur die Wider-spenstigkeit, aber nicht die Unwissenheit verdammt.Da ferner der Gehorsam gegen Gott nur in der Liebedes Nächsten besteht (denn wer seinen Nächsten liebt,um Gott zu gehorchen, der hat, wie Paulus Röm. XIII.8 sagt, das Gesetz erfüllt), so folgt, dass in der Bibelbeim anderes Wissen empfohlen wird, als was Allennöthig ist, damit sie Gott nach dieser Vorschrift ge-horchen können, und ohne dessen Kenntniss die Men-schen nothwendig ungehorsam oder mindestens ohneRegel für ihren Gehorsam sein würden. Dagegen be-rühren jene spekulativen Dinge, welche hierauf keinenBezug haben, mögen sie die Erkenntniss Gottes oderdie der natürlichen Dinge betreffen, die Bibel nichtund sind deshalb von der geoffenbarten Religion zusondern.

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Wenn dies nun auch von Jedermann, wie gesagt,leicht eingesehen werden kann, so will ich doch, weildavon die ganze Entscheidung über die Religion ab-hängt, diesen Punkt noch genauer darlegen und deutli-cher erklären. Dazu gehört vor Allem der Nachweis,dass die geistige oder genaue Erkenntniss Gotteskeine gemeinsame Gabe aller Gläubigen ist, wie derGehorsam; ferner, dass jene Erkenntniss, welche Gottdurch die Propheten von Jedermann verlangt undJeder zu wissen schuldig ist, nur die Erkenntniss sei-ner Gerechtigkeit und Liebe ist. Beides lässt sich ausder Bibel leicht erweisen. Denn erstens folgt es deut-lich aus Exod. VI. 2, wo Gott dem Moses zur Hervor-hebung der besonderen, ihm gewährten Gnade sagt:»und ich bin offenbart dem Abraham, Isaak und Jacobals Gott Sadai; aber unter meinem Namen Jehova binich von ihnen nicht erkannt.« Zum besseren Verständ-niss bemerke ich hier, dass El Sadai im Hebräischeneinen Gott bezeichnet, der hinreicht, weil er Jedemgiebt, was er braucht; wenn auch Sadai oft blos fürGott gesetzt wird, so ist doch überall das Wort El(Gott) dabei mitzuverstehen. Ferner findet sich in derBibel kein Name ausser Jehova, welcher Gottes unbe-dingtes Wesen ohne Beziehung zu den erschaffenenDingen anzeigte. Deshalb behaupten die Juden, dassdieser Name allein Gott gebühre, die anderen aber nurzur Bezeichnung desselben dienten. Auch sind

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wirklich die übrigen Namen Gottes, mögen sieHaupt- oder Beiwörter sein, Attribute, die Gott zu-kommen, soweit er auf die erschaffenen Dinge bezo-gen oder durch diese offenbart wird. So das Wort»El«, oder mit dem Buchstaben He vergrössernd»Eloha«, was, wie bekannt, nur den Mächtigen be-zeichnet und Gott nur als dem Vornehmsten zu-kommt; etwa so, als wenn man Paulus den Apostelnennt. In anderer Weise werden die Tugenden seinerMacht bezeichnet, wie El (mächtig) gross, furchtbar,gerecht, barmherzig u.s.w., oder man gebraucht diesesWort in der Mehrzahl, um alle zusammenzufassen,aber in der Bedeutung einer einzelnen Person, was inder Schrift sehr häufig ist. Wenn also Gott demMoses sagt, er sei unter dem Namen Jehova den Vä-tern nicht bekannt gewesen, so folgt, dass sie kein At-tribut Gottes gekannt haben, was dessen unbedingtesWesen ausdrückt, sondern nur seine Zustände undVersprechen, d.h. seine Macht, soweit sie sich durchSichtbares offenbart. Aber Gott sagt dies nicht demMoses, um Jene des Unglaubens zu beschuldigen,sondern vielmehr um ihren Glauben zu erheben, weilsie, wenn ihm auch die gleiche Erkenntniss Gottes,wie sie Moses hatte, abging, doch Gottes Zusagen festund unverbrüchlich glaubten und nicht wie Moseshandelten, der trotz seiner höheren Erkenntniss Gottesdoch den göttlichen Zusagen nicht traute und Gott

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vorhielt, dass er statt des versprochenen Heils dieLage der Juden schlimmer gemacht.

Wenn sonach die Erzväter den eigenthümlichenNamen Gottes nicht gekannt haben, und Gott Mosesdies sagt, um ihre Einfalt und ihren Glauben zu rüh-men, und um die besondere, dem Moses gewählteGnade hervorzuheben, so folgt daraus klar, was ichzuerst gesagt, dass die Menschen durch den BefehlGottes nicht gehalten sind, seine Attribute zu kennen,sondern dass dies nur ein besonderes, einzelnen Gläu-bigen gewährtes Geschenk ist. Es lohnt sich nicht,dieses noch durch mehr Stellen aus der Bibel zu bele-gen; denn wer sieht nicht, dass die Erkenntniss Gottesin allen Gläubigen nicht dieselbe gewesen, und dassNiemand auf Befehl weise sein kann, so wenig wieleben und dasein? Männer, Weiber, Kinder und Allekönnen wohl auf Befehl gleich gehorsam sein, abernicht gleich weise.

Sagt Jemand, es sei zwar nicht nöthig, die AttributeGottes einzusehen, aber man müsse sie einfach undohne Beweis glauben, so sind dies Possen. Denn un-sichtbare Dinge, die blos Gegenstände des Geistessind, können nur durch die Augen der Beweise er-kannt werden; wer also diese nicht hat, sieht davonüberhaupt nichts, und was sie von dem blossen Hörender Worte haben, berührt ihre Seele so wenig wie dieWorte eines Papagei oder eines Automaten, welche

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ohne Sinn und Verstand gesprochen werden.Ehe ich indess weiter gehe, habe ich den Grund an-

zugehen, weshalb es im 1. Buch Mosis oft heisst,dass die Erzväter im Namen Jehova's gepredigt, dadies dem Obigen zu widersprechen scheint. Beachtetman indess das in Kap. 8 Gesagte, so ist die Erklä-rung leicht. Denn dort habe ich gezeigt, dass der Ver-fasser der Bücher Mosis die Dinge und Orte nichtgenau mit dem Namen bezeichnet habe, welche in derZeit, von der gesprochen wird, galten, sondern mitden bekannteren Namen der eigenen Zeit des Verfas-sers. Gott wird deshalb im 1. Buch Mosis den Erzvä-tern mit dem Namen Jehova genannt, nicht weil erihnen darunter bekannt war, sondern weil dieserName bei den Juden am meisten verehrt wurde. Diesmuss man annehmen, weil es in der erwähnten Stallsdes 2. Buch Mosis heisst, dass Gott den Erzväternunter diesem Namen nicht bekannt gewesen, und weilauch Exod. III. 13 Moses den Namen Gottes zu wis-sen verlangt. Wäre er schon damals bekannt gewesen,so hätte ihn gewiss auch Mosis gekannt. Hieraus er-giebt sich, was ich gesagt, das die frommen Erzväterdiesen Namen Gottes nicht gekannt haben, und dassdie Kenntniss Gottes ein Geschenk, aber kein Gebotsei.

Es ist Zeit, dass ich nun zu dem zweiten Punktübergehe und zeige, Gott verlange von den Menschen

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keine andere Erkenntniss seiner durch die Prophetenals die Erkenntniss seiner Gerechtigkeit und Liebe,d.h. solcher Eigenschaften, welche die Menschen inihrem Lebenswandel nachahmen können. Jeremiaslehrt dies mit ausdrücklichen Worten, indem er XXII.15, 16 über den König Josia sagt: »Dein Vater hatgegessen und getrunken und Gerechtigkeit geübt undgesprochen; da war ihm wohl; er schützte das Rechtdes Armen und Bedürftigen; das war ihm gut; denn(NB.) dies heisst mich erkennen, sagte Jehova.«Ebenso deutlich sagt er IX. 24: »Nur darin sucheJeder seinen Ruhm, mich einzusehen und zu erken-nen; dass ich Jehova die Liebe bin, das Gericht unddie Gerechtigkeit übe auf Erden; denn das ist meineFreude, sagt Jehova.« Es folgt dies ferner aus Exod.XXXIV. 6, 7, wo Gott dem Moses, der ihn zu sehenund zu kennen verlangt, keine anderen Eigenschaftenoffenbart, als die, welche die göttliche Gerechtigkeitund Liebe darlegen. Endlich muss ich hier jenen Aus-sprach des Johannes, der später folgen wird, erwäh-nen, welcher, weil Niemand Gott gesehen, Gott nurdurch die Liebe erklärt und schliesst, dass der inWahrheit Gott habe und kenne, der die Liebe habe.So besassen Jeremias, Moses, Johannes die Erkennt-niss Gottes, die Jedermann haben muss, nur in Weni-gem und setzen sie mit mir nur darein, dass Gotthöchst gerecht und höchst barmherzig ist, oder das

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alleinige Muster eines wahren Lebens.Dazu kommt, dass die Bibel keine ausdrückliche

Definition Gottes giebt und ihm nur die erwähnten Ei-genschaften zur Nachfolge beilegt und diese absicht-lich preist; aus alledem ergiebt sich, dass die geistigeErkenntniss Gottes, Welche seine Natur an sich be-trachtet, wie sie die Menschen in ihrem Lebenswandelnicht nachahmen und als Beispiel nehmen können,zur Erreichung eines wahren Lebenswandels und zumGlauben an die offenbarte Religion nicht gehört; folg-lich können auch die Menschen darin, ohne ein Ver-brechen zu begehen, in grossem Maasse irren.

Hiernach kann es nicht auffallen, dass Gott sichden Einbildungen und vorgefassten Meinungen derPropheten anbequemt hat, und dass die Frommen ver-schiedenen Ansichten über Gott angehangen, wie ichim Kap. 2 an vielen Beispielen gezeigt habe. Endlichist ebenso wenig auffallend, dass die heiligen Bücherüberall so unpassend von Gott sprechen, ihm Hände,Füsse, Augen, Ohren, Verstand und Bewegung gebenund selbst Gemüthsbewegungen, wie Eifersucht, Mit-leid, und dass sie ihn als einen Richter schildern, derim Himmel wie auf einem königlichen Throne sitztund Christus zu seiner Rechten hat. Sie sprechen danach der Auffassung der Menge, welche die Schriftnicht gelehrt, sondern gehorsam machen will. Die ge-wöhnlichen Theologen wollen das, was das natürliche

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Licht als der göttlichen Natur unangemessen erkennenlässt, bildlich auslegen; was aber ihren Verstandübersteigt, wellen sie buchstäblich verstanden haben.Allein sollte Alles derart in der Bibel bildlich ausge-legt und aufgefasst werden, so wäre die Bibel nichtfür das Volk und die unwissende Menge, sondern nurfür die klügsten und grössten Philosophen geschrie-ben worden. Ja, wenn es gottlos wäre, das, was ichgesagt, von Gott fromm und einfältig zu glauben, sohätten die Propheten sich wegen der Schwäche desniederen Volkes vor solchen Ausdrücken höchlich inAcht nehmen und die Eigenschaften Gottes, wie sieJedermann aufzufassen habe, vor Allen ausdrücklichund deutlich lehren müssen. Allein dies ist nirgendsgeschehen; deshalb können auch diese blossen Mei-nungen, ohne Rücksicht auf die Werke, nicht zurFrömmigkeit oder Gottlosigkeit gehören; vielmehrkann der Glaube des Menschen nur dann als frommoder gottlos gelten, wenn er ihn entweder zu dem Ge-horsam bewegt oder ihm die Erlaubniss zur Sündeund Aufruhr giebt. Wer also durch den Glauben derWahrheit ungehorsam wird, der hat vielmehr einengottlosen Glauben, und wer in seinem Glauben desFalschen doch gehorsam ist, der hat einen frommenGlauben; denn die wahre Erkenntniss Gottes ist, wiegesagt, kein Gebot, sondern eine Gabe Gottes; undGott verlangt keine andere Erkenntniss von den

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Menschen, als die seiner göttlichen Gerechtigkeit undLiebe, welche Kenntniss nicht zur Wissenschaft, son-dern zum Gehorsam nöthig ist.

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Vierzehntes Kapitel

Was der Glaube sei, und wer die Gläubigen seien.Die Grundlagen des Glaubens werden bestimmt und

derselbe endlich von der Philosophie getrennt.

Bei einiger Aufmerksamkeit kann es Niemand ent-gehen, dass, um eine wahre Einsicht von dem Glau-ben zu erlangen, man vorerst wissen muss, dass dieBibel nicht blos dem Verstande der Propheten, son-dern auch dem des unbeständigen und veränderlichenniederen jüdischen Volkes angepasst worden ist. Werallen Inhalt der Bibel ohne Unterschied als eine allge-meine und unbedingt gültige Lehre über Gott erfasstund nicht genau unterscheidet, was der Fassungskraftder Menge angepasst worden, muss die Meinungendieser Menge mit der göttlichen Lehre vermengen unddie Erdichtungen und das Belieben der Menschen fürgöttliche Anweisung ausgeben und das Ansehen derBibel missbrauchen. Wer weiss nicht, dass deshalbhauptsächlich die Sekten so entgegengesetzte Mei-nungen als Regeln des Glaubens lehren und mit vielenBeispielen aus der Bibel belegen? Deshalb ist eslängst bei den Niederländern zum Sprüchwort gewor-den ist: »Geen ketter sonder letter.« Denn die heili-gen Bücher sind nicht blos von Einem und für das

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Volk eines Zeitalters verfasst, sondern von mehrerenin Alter und Bildung verschiedenen Männern, undwollte man deren Jahre zusammenrechnen, so kämeman auf 2000 und mehr Jahre. Die Sektirer will ichaber deshalb nicht der Gottlosigkeit beschuldigen,nämlich dass sie die Worte der Schrift ihren Meinun-gen anpassen; denn sowie sie früher der Fassungskraftder Menge angepasst worden, so kann sie auch Jederder seinigen anpassen, wenn er sieht, dass er damitGott in Allem, was Gerechtigkeit und Liebe anlangt,mit bereitwilligerem Gemüthe gehorchen könne. Al-lein ich klage sie an, weil sie die gleiche Freiheit nichtAllen zugestehen wollen, und die, welche mit ihnennicht stimmen, trotz ihrer Rechtlichkeit und Tugend-übung als Feinde Gottes verfolgen; dagegen ihre An-hänger, wenn sie auch noch so schwach an Geist sind,doch als die Erwählten Gottes lieben. Es kann nichtsSchlechteres und für den Staat Verderblicheres alsdies erdacht werden.

Um hiernach festzustellen, wie weit im Glauben dieFreiheit der Ansicht für Jeden geht, und wen mantrotz seiner abweichenden Meinung als einen Gläubi-gen anerkennen muss, ist der Glaube und dessenGrundlage zu bestimmen. Dies ist die Absicht diesesKapitels, in dem zugleich der Glaube von der Philo-sophie gesondert werden soll, was ein Hauptzweckbei meinem ganzen Werke gewesen ist.

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Damit dies ordentlich geschehe, werde ich das we-sentliche Ziel der ganzen Bibel wiederholen, da es unsden wahren Maassstab für die Bestimmung des Glau-bens verschaffen wird. Ich habe in dem vorgehendenKapitel gesagt, die Absicht der Bibel gehe nur auf dieLehre des Gehorsams. Dies kann Niemand leugnen;denn wer sieht nicht, dass beide Testamente nur eineLehre des Gehorsams sind, und dass sie nur wollen,dass der Mensch aus wahrem Gemüthe gehorche. Ichwill das in dem vorgehenden Kapitel Gesagte nichtwiederholen; aber Moses wollte die Israeliten nichtdurch Gründe überführen, sondern durch einen Ver-trag, Eide und Wohlthaten verpflichten; das Volksollte bei Strafe den Gesetzen gehorchen, und durchBelehrungen ermahnte er es dazu. Dies sind Alleskeine Mittel für die Wissenschaften, sondern nur fürden Gehorsam. Die evangelische Lehre aber enthältnur den einfachen Glauben; man soll an Gott glauben,ihn verehren oder, was dasselbe ist, ihm gehorchen.Ich brauche deshalb für den Beweis dieses klaren Sat-zes die Stellen der Bibel, welche den Gehorsam emp-fehlen, und deren es mehrere in beiden Testamentengiebt, hier nicht anzuführen. Ferner sagt die Bibel anvielen Stellen auf das Deutlichste, was Jeder zu thunhabe, um Gott zu gehorchen; das ganze Gesetz beste-he darin allein, dass man seinen Nächsten liebe; des-halb kann Niemand leugnen, dass Der, welcher in

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Folge Gottes Gebot seinen Nächsten wie sich selbstliebt, in Wahrheit gehorsam und nach dem Gesetzselig ist; wer dagegen ihn hasst oder vernachlässigt,ist ungehorsam und widerspenstig. Endlich erkennenAlle an, dass die Bibel nicht blos für die Klugen, son-dern für alle Menschen jedes Alters und Geschlechtsgeschrieben und bekannt gemacht worden, und darausfolgt, dass man nach Anweisung der Bibel nur dies zuglauben brauche, was zur Befolgung dieses Gebotesdurchaus nothwendig ist. Deshalb ist dieses Gebot deralleinige Maassstab des ganzen allgemeinen Glau-bens, und daraus allein sind alle Glaubenssätze zu be-stimmen, die Jeder anzunehmen schuldig ist.

Wenn dies sonnenklar ist, und wenn aus dieserGrundlage allein oder aus der blossen Vernunft Allesrichtig abgeleitet werden kann, so kann Jeder beur-theilen, wie es gekommen, dass so viel Uneinigkeit inder Kirche entstanden ist; ob sie aus anderen Ursa-chen als den am Anfang des 7. Kapitels bemerktenentstehen konnte. Diese Streitigkeiten nöthigen michdeshalb, die Art und Weise darzulegen, wie aus diesergefundenen Grundlage die Sätze des Glaubens abzu-leiten sind. Denn wenn ich dies nicht thäte und dieFrage nicht nach bestimmten Regeln beantwortete, sokönnte man mit Hecht sagen, ich hätte bis hier nurwenig geleistet, da Jeder, was ihm beliebe, unter die-sem Vorwand, es sei ein nothwendiges Mittel zum

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Gehorsam, einführen könne; namentlich wenn es sichum die göttlichen Eigenschaften handelt.

Um also die Sache ordnungsmässig zu erledigen,beginne ich mit der Definition des Glaubens, wie sieaus dieser gegebenen Grundlage sich ergiebt. Er be-steht danach nur darin, von Gott nur das zu wissen,ohne welches der Gehorsam gegen Gott wegfällt,sowie das, was mit Annahme dieses Gehorsams zu-gleich anzunehmen ist. Diese Definition ist so klarund folgt so offenbar aus dem eben Erwiesenen, dasssie keiner Erläuterung bedarf. Dagegen will ich mitWenigem zeigen, was daraus folgt, also: 1) dass derGlaube nicht um seinetwillen, sondern nur um desGehorsams willen heilsam ist, oder, wie Jacobus II.17 sagt, dass der Glaube allein, ohne Werke, todt sei,worüber dieses ganze genannte Kapitel des Apostelseinzusehen ist; 2) folgt, dass der wahrhaft Gehorsameauch den wahren und heilbringenden Glauben hat.Denn ich habe gezeigt, dass aus der Setzung des Ge-horsams nothwendig der Glaube folgt. Auch dies sagtausdrücklich derselbe Apostel II. 18: »Zeige mir Dei-nen Glauben ohne Werke, und ich werde Dir aus mei-nen Werken meinen Glauben zeigen;« und Johannes,1. Brief IV. 7, 8: »Wer (seinen Nächsten) liebt, istaus Gott geboren; wer ihn nicht liebt, der kennt Gottnicht; denn Gott ist die Liebe.« Daraus folgt wieder,dass man Niemand für gläubig halten kann oder

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ungläubig, als nach seinen Werken; sind seine Werkegut, so ist er ein Gläubiger, wenn er auch in den Sät-zen von den anderen Gläubigen abweicht; und sindjene schlecht, so ist er ein ungläubiger, wenn er auchin den Worten übereinstimmt; denn mit dem Gehor-sam wird auch der Glaube gesetzt, und ein Glaubeohne Werke ist todt. Dies lehrt auch derselbe Johan-nes in demselben Kap. 3, wo er sagt: »Daraus erken-nen wir, dass wir in ihm sind und er in uns, dass eruns von seinem Geiste gegeben hat,« d.h. die Liebe.Denn vorher hatte er gesagt, Gott sei die Liebe, unddaraus schliesst er, nach damals angenommenenGrundsätzen, dass der in Wahrheit den Geist Gotteshabe, der die Liebe habe. Ja, da Niemand Gott gese-hen, so folgert er, dass man Gott nur wahrnehme oderbemerke durch die Liebe gegen den Nächsten, unddass daher Niemand eine andere Eigenschaft Gotteserkennen könne als diese Liebe, soweit man an ihrTheil habe. Wenn diese Gründe nicht unwiderleglichsind, so zeigen sie doch deutlich die Meinung des Jo-hannes; und noch viel deutlicher sagt er dies II. 3, 4dieses Briefes mit den Worten: »Und daraus wissenwir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote be-folgen. Wer da sagt, ich kann ihn und seine Gebotenicht befolgen, ist ein Lügner, und es ist keine Wahr-heit in ihm.« Und daraus folgt wieder, dass Jenewahre Antichristen sind, welche die rechtlichen und

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die Gerechtigkeit liebenden Menschen verfolgen, weilsie von ihnen abweichen und mit ihnen nicht diesel-ben Glaubenssätze vertheidigen. Denn welcher dieGerechtigkeit und Liebe liebt, diese sind, wie wir wis-sen, dadurch allein Gläubige, und wer die Gläubigenverfolgt, ist ein Antichrist.

Es folgt endlich, dass der Glaube nicht sowohlwahre als fromme Regeln erfordert, d.h. solche, wel-che die Seele zu dem Gehorsam bewegen; wenn auchdarunter viele sind, welche nicht einen Schatten vonWahrheit haben, sobald nur Der, welcher sie glaubt,dies nicht weiss. Denn sonst wäre er widerspenstig.Denn wie wäre es möglich, dass Jemand, der die Ge-rechtigkeit zu lieben und Gott zu gehorchen strebt,das als göttlich anbetet, von dem er weiss, dass es dergöttlichen Natur nicht zukommt. Wohl aber könnendie Menschen in der Einfalt ihres Herzens irren; dieSchrift verdammt nicht die Unwissenheit, sondern nurden Ungehorsam, wie ich gezeigt habe; ja, dies folgtschon aus der blossen Definition des Glaubens, des-sen ganzer Inhalt aus der dargelegten allgemeinenGrundlage und nur aus dem Zwecke der Schrift alleinentlehnt werden darf, wenn man nicht sein eigenesBelieben einmengen will. Die Schrift verlangt nichtausdrücklich wahre, wohl aber solche Glaubenssätze,die zum Gehorsam nöthig sind, und die also die Seelein der Liebe des Nächsten befestigen, weshalb allein

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jede, wie Johannes spricht, in Gott, und Gott in Jedemist.

Wenn sonach der Glaube eines Jeden nur nach sei-nem Gehorsam oder Ungehorsam und nicht nach derWahrheit oder Unwahrheit für fromm oder gottlos ge-halten werden kann, und Jedermann weiss, wie ver-schieden der Geigt der Menschen ist, und nicht Allein Allem übereinkommen können, sondern verschie-dene Meinungen die Menschen bewegen, und diesel-ben den Einen zur Andacht, den Anderen zum Lachenund Verachten bringen, so folgt, dass zu dem allge-meinen oder katholischen Glauben keine Lehrsätzegehören, über welche rechtliche Menschen uneinigsein können. Denn wo dies der Fall, kann der Lehr-satz für den Einen fromm, für den Anderen gottlossein, da Alles nur nach den Werken sich entscheidet.Zu dem allgemeinen Glauben gehört daher nur, wasder Gehorsam gegen Gott unbedingt fordert, und ohnedessen Kenntniss der Gehorsam unbedingt unmöglichist; über die Religion aber kann Jeder denken, wie esJedem am besten scheint, um sich in der Liebe zurGerechtigkeit zu stärken, da Jeder sich am bestenselbst kennen muss. Bei dieser Auffassung bleibtnach meiner Ansicht kein Raum für Streitigkeiten inder Kirche, und ich fürchte mich nicht, die Lehrsätzedes allgemeinen Glaubens oder die Grundlagen desZweckes der ganzen Bibel aufzuzählen, da sie, wie

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aus dem in diesen beiden Kapiteln Gesagten erhellt,nur dahin zielen, dass es ein höchstes Wesen giebt,was die Gerechtigkeit und Liebe liebt, und dem Allegehorchen, müssen, wenn sie selig werden wollen,und das sie durch die Hebung der Gerechtigkeit undLiebe gegen den Nächsten verehren müssen. Darauskann alles Weitere abgeleitet werden, was sich aufFolgendes beschränkt. 1) Gott, d.h. ein höchstesWesen, was höchst gerecht und barmherzig oder dasMuster des wahren Lebens ist, besteht; wer dies nichtweiss oder nicht glaubt, kann ihm nicht gehorchenund ihn nicht als seinen Richter kennen.

2) Gott ist nur Einer. Auch dies gehört unbedingtzur höchsten Andacht, Verehrung und Liebe gegenGott, wie Niemand bezweifeln kann. Denn die An-dacht, die Bewunderung und Liebe entspringt nur dar-aus, dass Einer alle Anderen übertrifft. 3) Gott istüberall gegenwärtig, und Alles ist ihm bekannt. Wennetwas ihm verborgen bleiben, oder er nicht Allessehen könnte, so müsste man über die gleiche Aus-theilung seiner Gerechtigkeit, mit der er Alles leitet,zweifeln oder sie nicht kennen. 4) Gott hat auf Allesdas höchste Recht und Eigenthum, und er thut nichtsaus Zwang einer Verbindlichkeit, sondern nach sei-nem unbedingten Rathschluss und aus seiner beson-deren. Gnade. Alle müssen ihm unbedingt gehorchen,er selbst aber Niemandem. 5) Die Verehrung Gottes

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und der Gehorsam gegen ihn besteht nur in der Ge-rechtigkeit und Liebe des Nächsten. 6) Alle, die insolchem Lebenswandel Gott gehorsam sind, sindselig, und die Anderen, welche unter der Herrschaftder Begierden leben, sind verloren. Wenn die Men-schen dies nicht fest glauben, so wäre kein Grund,weshalb sie Gott mehr als ihren Lüsten folgen sollten.7) Endlich verzeiht Gott dem Reuigen seine Sünden.Denn es ist Niemand ohne Sünde; ohnedem müsstealso Jeder an seinem Heile verzweifeln, und es wärekein Grund, Gott für barmherzig zu halten. Wer dage-gen fest glaubt, dass Gott in seiner Barmherzigkeitund Gnade, mit der er Alles leitet, den Menschen ihreSünden vergiebt, wird dadurch in seiner Liebe zuGott mehr gehoben; er kennt in Wahrheit Christus imGeiste, und in ihm ist Christus. Dieses Alles muss Je-dermann wissen, dessen Kenntniss ist unentbehrlich,damit die Menschen ohne Ausnahme nach der obenerklärten Anweisung des Gesetzes Gott gehorchenkönnen; denn fällt dieses hinweg, so hört auch derGehorsam auf. Was übrigens Gott oder jenes Musterdes wahren Lebens sei, ob ein Feuer oder Geist oderLicht oder Gedanke u.s.w., dies thut nichts zum Glau-ben; ebenso wenig weshalb er das Muster des wahrenLebens sei; ob deshalb, weil er einen gerechten undbarmherzigen Sinn hat, oder weil alle Dinge durch ihnsind und wirken, und folglich auch wir durch ihn

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einsehen und dadurch das wahre Gerechte und Guteerkennen. Dies Alles mag Jeder, wie er will, festset-zen. Deshalb gehört es auch nicht zu dem Glauben,dass Jemand annehme, Gott sei vermöge seines We-sens oder seiner Macht überall, dass er die Welt ausFreiheit oder Nothwendigkeit leite, dass er die Geset-ze wie ein Fürst vorschreibt oder als ewige Wahrhei-ten lehrt, dass der Mensch aus Freiheit des Willensoder aus der Nothwendigkeit des göttlichen Rath-schlusses Gott gehorcht, und dass die Belohnung derGuten und die Strafe der Bösen eine natürliche oderübernatürliche ist. Dies und Aehnliches thut zu demGlauben nichts, wie es auch der Einzelne auffasst, so-fern er nur nichts zu dem Ende daraus folgert, wasihm eine grössere Freiheit zu sündigen gewährt oderzu geringerem Gehorsam gegen Gott verpflichtet.Vielmehr kann er, wie gesagt, diese Glaubenslehreseiner Fassungskraft anpassen und sie so auslegen,dass er sie leichter ohne Zögern und mit voller Bei-stimmung annehmen und somit Gott aus voller Ueber-zeugung gehorchen kann. Denn ich habe schon früherbemerkt, dass ehedem der Glaube nach dem Ver-stande und der Fassungskraft der Propheten und desgemeinen Volkes jener Zeit offenbart und niederge-schrieben worden ist; deshalb ist auch Jeder jetztschuldig, den Glauben seinem Verstände anzupassen,damit er ihn ohne Widerstreben seines Verstandes

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und ohne Zögern erfassen kann. Denn ich habe ge-zeigt, dass der Glaube nicht sowohl Wahrheit alsFrömmigkeit verlangt, und dass er nur nach Verhält-niss des Gehorsams fromm und heilsam ist, und dassdaher man nur durch Gehorsam gläubig sein kann.Deshalb hat der, welcher die besten Gründe hat, nichtnothwendig auch den besten Glauben, sondern der,welche die Werke der Gerechtigkeit und Liebe ver-richtet. Wie heilsam diese Lehre, wie notwendig siefür den Staat ist, wenn die Menschen in Erfurcht undFrieden leben wollen, wie viele Ursachen zu Unruhenund Verbrechen sie beseitigt, das überlasse ich Jeder-manns Urtheil zu entscheiden.

Ehe ich weiter gehe, mochte ich noch auf die Ein-wendungen im ersten Kapitel antworten, als es sichum Gott handelte, der von dem Berge Sinai zu den Is-raeliten spricht. Dies kann aus dem hier Dargelegtennun leicht geschehen; denn wenn auch jene Stimme,welche die Israeliten hörten, ihnen keine philosophi-sche oder mathematische Gewissheit von dem DaseinGottes geben konnte, so genügte sie doch, um sie zurBewunderung Gottes, wie sie ihn bisher gekannt, hin-zureissen und zu dem Gehorsam anzutreiben; dieswar der Zweck dieses Schauspiels. Gott wollte den Is-raeliten nicht die unbeschränkten Eigenschaften seinesWesens lehren; davon hat er damals nichts offenbart,sondern er wollte ihren widerspenstigen Sinn brechen

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und sie zum Gehorsam bringen. Deshalb hat er sienicht mit Gründen, sondern mit dem Schmettern derTrompeten mit Donner und Blitz angegriffen (Exod.XX. 20).

Ich habe endlich noch zu zeigen, dass zwischendem Glauben oder der Theologie und der Philosophiekeine Gemeinschaft und keine Verwandtschaft be-steht. Niemand kann dies leugnen, der das Ziel unddie Grundlagen dieser beiden Vermögen kennt, diehimmelweit von einander verschieden sind.. Das Zielder Philosophie ist nur die Wahrheit; das des Glau-bens aber, wie ich hinlänglich gezeigt, nur der Gehor-sam und die Frömmigkeit. Die Grundlage der Philo-sophie sind die gemeinsamen Begriffe, und ihr Inhaltmuss aus der Natur selbst entlehnt werden; die desGlaubens sind die Berichte und die Sprache, welchewie ich im Kap. 7 gezeigt, nur aus der Schrift und Of-fenbarung zu entnehmen sind. Der Glaube lässt des-halb Jedem die volle Freiheit im Philosophiren. Jedermag ohne unrecht über Alles denken, wie er will; nurDie werden als Ketzer und Abtrünnige verdammt,welche Ansichten lehren, die zu Ungehorsam, Hass,Streit und Zorn fuhren; und nur Die gelten als Gläubi-ge, welche zur Gerechtigkeit und Liebe nach denKräften ihrer Vernunft ermahnen. Da dieses hier Dar-gelegte das Wichtigste ist, was ich bei dieser Abhand-lung beabsichtige, so bitte ich, ehe ich weiter gehe,

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den Leser auf das Dringendste, diese beiden Kapitelbesonders aufmerksam zu lesen und wiederholt zu er-wägen. Er möge überzeugt sein, dass ich damit keineNeuerung habe einführen wollen, sondern es soll nurdas Verschlechterte verbessert werden, damit es einstals tadellos geschaut werden kann.

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Fünfzehntes Kapitel

Die Theologie ist nicht die Magd der Vernunft, unddie Vernunft nicht die der Theologie. Es wird auchgezeigt, weshalb wir von der Autorität der heiligen

Schrift überzeugt sind.

Wer die Philosophie nicht von der Theologie zutrennen vermag, streitet, ob die Schrift der Vernunft,oder umgekehrt die Vernunft der Schrift untergeordnetsein solle; d.h. ob der Sinn der Schrift der Vernunft,oder ob die Vernunft der Schrift anbequemt werdenmüsse. Letzteres wollen die Skeptiker, welche die Ge-wissheit der Vernunft leugnen; Ersteres die Dogmati-ker. Beide irren in hohem Maasse, wie aus dem Bis-herigen erhellt; denn in beiden Fällen muss entwederdie Vernunft oder die Bibel verderbt werden. Dennich habe gezeigt, dass die Bibel keine philosophi-schen Dinge, sondern nur Frömmigkeit lehrt, und dassAlles, was in ihr enthalten ist, dem Verstände und denvorgefassten Meinungen der Menge angepasst ist.Will man sie daher der Philosophie anpassen, somuss man den Propheten Vieles andichten, an das sienicht im Traume gedacht haben, und man wird ihreMeinung falsch verstehen. Macht man aber die Ver-nunft und Philosophie zur Dienerin der Theologie, so

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muss man die Vorurtheile des niederen Volkes ausalten Zeiten wie göttliche Dinge behandeln und damitseinen Geist anfüllen und verdunkeln. So werdenbeide Theile Unsinn reden, der eine mit Vernunft, derandere ohne solche.

Der Erste unter den Pharisäern, welcher annahm,dass die Schrift der Vernunft anbequemt worden, warMaimonides (dessen Ansicht ich in Kap. 7 vorgetra-gen und mit vielen Gründen widerlegt habe). Ob-gleich dieser Schriftsteller grosses Ansehen bei ihnenhatte, so wich doch der grössere Theil in diesemPunkte von ihm ab und wendete sich mit Hand undFuss zur Ansicht eines gewissen R. Jehuda Alpakhar,welcher in der Absicht, den Irrthum des Maimonideszu vermeiden, in den entgegengesetzten gerieth; denner sagt,12 dass die Vernunft der Schrift dienen und ihrsich ganz unterwerfen müsse. Er gestattete deshalbkeine gleichnissweise Auslegung der Bibel, wenn derWortsinn der Vernunft widersprach, sondern nur,wenn er der Bibel selbst, d.h. ihren deutlichen Lehr-sätzen widersprach. Demgemäss stellt er als allgemei-ne Regel auf, dass Alles, was die Schrift als Glau-benssatz lehrt und bestimmt behauptet, auf ihr blossesAnsehen als wahr anerkannt werden müsse; kein an-derer Glaubenssatz sei in der Bibel enthalten, derjenem geradezu widerspreche; vielmehr geschehe diesnur mittelbar, weil die Redeweise der Schrift oft

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etwas vorauszusetzen scheine, was dem von ihr aus-drücklich Gelehrten widerspricht; nur deshalb sei diegleichnissweise Auslegung solcher Stellen zulässig.

So sagt z.B. die Schrift deutlich, Gott sei Einer(Deut. VI. 4), und nirgends giebt es eine Stelle in ihr,die geradezu behauptet, es gebe mehrere Götter; wohlaber sind mehrere, wo Gott von sich und wo die Pro-pheten von Gott in der Mehrzahl sprechen, was nureine Redeweise sei, aber nicht sagen wolle, dass esmehrere Götter gebe; deshalb seien solche Stellengleichnissweise zu erklären, und zwar nicht, weil esder Vernunft widerspricht, dass es mehrere Göttergebe, sondern weil die Schrift geradezu ausspricht, esgebe nur einen Gott. - So spricht (nach seiner Mei-nung) die Schrift Deut. IV. 15 geradezu aus, dassGott unkörperlich sei. Deshalb müssen wir auf dasAnsehen blos dieser Stelle und nicht der Vernunftglauben, dass Gott keinen Körper habe, und deshalbblos auf Grund der Schrift alle anderen Stellen gleich-nissweise erklären, welche Gott Hände, Füsse u.s.w.zutheilen; da es eine blosse Redeweise sei, Gott alskörperlich anzunehmen.

Dies ist die Meinung dieses Mannes. Ich lobe ihn,soweit er die Bibel durch die Bibel erklären will; aberich staune, dass ein vernünftiger Mann die Bibel zuzerstören sucht. Es ist richtig, dass man die Bibel ausder Bibel erklären solle, so lange es sich blos um den

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Sinn der Rede und die Meinung der Propheten han-delt; aber wenn dieser ihr wahrer Sinn ermittelt ist,braucht man nothwendig Urtheil und Vernunft, wennman ihnen beistimmen soll. Soll die Vernunft, ob-gleich sie der Bibel entgegentritt, sich doch ganz un-terwerfen, so frage ich, soll dies mit oder ohne Ver-nunft, gleich Blinden, geschehen? Geschieht dies, sohandeln wir thöricht und ohne Vernunft; geschiehtjenes, so nehmen wir die Bibel blos auf Geheiss derVernunft an und würden es nicht thun, wenn sie ihrwiderspräche. Ich frage nun: wer kann mit seinerSeele etwas annehmen, was der Vernunft wider-spricht? Was ist das Verneinen in der Seele Anderes,als dass die Vernunft widerspricht? Ich staune für-wahr, dass man die Vernunft, das höchste Geschenkund das göttliche Licht, den todten Buchstaben unter-werfen will, die durch die Bosheit der Menschen ver-fälscht werden konnten, und dass es nicht als ein Ver-brechen gilt, wenn man gegen den Geist, die wahreHandschrift des Wortes Gottes, unwürdig spricht, ihnfür verderbt, blind und verloren erklärt, aber es fürdas grösste Verbrechen hält, über den Buchstabenund das Götzenbild des Wortes Gottes anderer Mei-nung zu sein. Man hält es für fromm, wenn man derVernunft und dem eigenen Urtheile nicht vertraut;aber für gottlos, an der Zuverlässigkeit Derer zu zwei-feln, welche uns die heiligen Schriften überliefert

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haben. Dies ist reine Thorheit, keine Frömmigkeit.Aber ich frage: was macht sie besorgt? Was fürchtensie? Kann die Religion und der Glaube nur vertheidigtwerden, wenn man absichtlich Alles vergisst und derVernunft den Abschied giebt? Wer so denkt, derfürchtet die Bibel mehr, als dass er an sie glaubt, undes ist durchaus nicht der Fall, dass die Religion undFrömmigkeit die Vernunft, oder diese jene zu ihrerMagd machen will, und dass beide ihre Herrschaftnicht in vollem Frieden führen könnten, wie ich gleichdarlegen werde.

Vor Allem will ich erst die Regel dieses Rabbinersprüfen. Er will, wie gesagt, dass wir Alles, was dieSchrift behauptet oder bestreitet, als die Wahrheit an-nehmen oder als die Unwahrheit verwerfen sollen,und. dass die Schrift nie mit ausdrücklichen Wortenetwas behauptet oder bestreitet, was mit ihren Be-hauptungen und Bestreitungen an anderen Stellen inWiderspruch stehe. Die Kühnheit beider Behauptun-gen muss Jeder bemerken. Ich lasse bei Seite, was ernicht bedacht hat, dass die Schrift aus verschiedenenBüchern besteht, welche zu verschiedenen Zeiten, fürverschiedene Menschen und von verschiedenen Ver-fassern geschrieben worden, und dass er seine Ansichtauf eigene Hand behauptet, ohne dass die Vernunftoder Schrift dergleichen sagt; aber er hätte zeigen sol-len, dass alle Stellen, welche nur mittelbar anderen

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widerstreiten, ohne der Sprache und der Stelle Gewaltanzuthun, gleichnissweise erklärt werden können; fer-ner, dass die Bibel unverderbt in unsere Hände ge-langt ist.

Ich will jedoch die Sache ordnungsmässig untersu-chen, und da frage ich in Betreff des ersten Punktes,ob man auch da, wo die Vernunft sich entgegenstellt,das, was die Schrift sagt oder verneint, als wahr an-nehmen und als falsch verwerfen solle. Wenn er we-nigstens zusetzte, dass die Schrift nichts enthält, wasder Vernunft widerstreitet! Allein ich bleibe dabei,dass sie ausdrücklich behauptet und lehrt, Gott sei ei-fersüchtig (so in den zehn Geboten, und Exod. IV. 14,und Deut. IV. 24 und anderen Stellen). Dies wider-streitet aber der Vernunft; also muss es doch für wahrgehalten werden; ja, wenn an anderen Stellen derSchrift Gott für nicht eifersüchtig erklärt wird, somüssen diese gleichnissweise so erklärt werden, dasssie dies nicht sagen wollen. So sagt die Schrift ferner,Gott sei auf den Berg Sinai herabgestiegen (Exod.XIX. v. 20 u. f.), und schreibt ihm auch andere Bewe-gungen zu, und sie lehrt nirgends ausdrücklich, dassGott sich nicht bewege; folglich müssten auch diesAlle als wahr annehmen; und wenn Salomo sagt, Gottwerde von keinem Orte umfasst (1. Könige VIII. 27),so muss da, wo dies nicht ausdrücklich erklärt, son-dern nur daraus folgt, dass Gott sich nicht bewege,

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die Stelle so erklärt werden, dass sie der Ortsbewe-gung Gottes keinen Abbruch thue. Ebenso müsstendie Himmel für Gottes Wohnung und Thron gehaltenwerden, weil die Schrift dies ausdrücklich sagt. Indieser Weise müsste man nach der Meinung diesesSchriftstellers noch Vieles für wahr annehmen, wasnur nach den Auffassungen der Propheten und derMenge gesagt ist, und was nur aus der Vernunft undPhilosophie, nicht aber aus der Schrift sich als falschergiebt.

Ferner ist es unrichtig, wenn er behauptet, dasseine Stelle der anderen nur mittelbar, aber nie gerade-zu widerspreche. Denn Moses sagt geradezu, Gott seiein Feuer (Deut. IV. 12), und wenn Maimonides ent-gegnet, dass damit nicht geradezu, sondern nur mittel-bar geleugnet werde, dass Gott ein Feuer sei, und mandeshalb die Stelle so auslegen müsse, dass sie diesnicht bestreite, nun wohl, so will ich zugeben, Gottsei ein Feuer; oder vielmehr, um nicht mit ihm irre zureden, will ich dies fallen lassen und ein anderes Bei-spiel wählen. Samuel bestreitet nämlich geradezu,dass Gott seinen Ausspruch bereue (1. Sam. XV. 29),und Jeremias behauptet dagegen, es reue Gott desGuten und Uebeln, was er beschlossen gehabt (Jerem.XVIII. 8 10). Wie nun? stehen auch diese Stellen sichnicht geradezu entgegen? welche von beiden soll alsogleichnissweise ausgelegt werden? Jede dieser Stellen

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lautet allgemein und widerspricht der anderen; wasdie eine geradezu behauptet, das leugnet die anderegeradezu. Jener Rabbiner muss also selbst nach seinereigenen Regel dasselbe zugleich als wahr annehmenund als falsch verwerfen. - Was macht es ferner füreinen Unterschied, ob eine Stelle geradezu oder nurmittelbar einer anderen widerstreitet, wenn dieseFolge klar ist, und die Umstände und Natur dieserStelle die gleichnissweise Auslegung nicht gestatten?Solche finden sich viele in der Bibel; man sehe daszweite Kapitel, wo ich gezeigt habe, dass die Prophe-ten verschiedene und widersprechende Meinungen ge-habt haben; insbesondere auch alle jene Widersprüchein den Erzählungen, welche ich in Kap. 9 und 10 auf-gezeigt habe. Ich brauche dies nicht Alles aufzuzäh-len; das Gesagte genügt, um den Widersinn, der ausdieser Meinung und Regel folgt, ihre Unwahrheit unddie Uebereilung des Verfassers darzulegen.

Deshalb werfe ich beide Aussprüche des Maimoni-des bei Seite, und es bleibt dabei, dass weder dieTheologie der Vernunft, noch diese jener zu dienenbraucht, sondern jede ihre eigene Herrschaft behält.Die Vernunft ist nämlich, wie gesagt, das Reich derWahrheit und Weisheit, die Theologie das der Fröm-migkeit und des Gehorsams; denn die Macht der Ver-nunft geht nicht so weit, dass sie bestimmen könnte,die Menschen könnten durch den Gehorsam allein

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ohne Erkenntniss der Dinge selig sein. Die Theologiesagt aber nur dies und verlangt nur Gehorsam, und siewill und vermag nichts gegen die Vernunft. Denn siebestimmt, wie in dem vorgehenden Kapitel gezeigtworden, die Glaubenssätze nur so weit, wie es zu demGehorsam genügt; dagegen überlässt sie der Vernunft,welche in Wahrheit das Licht der Seele ist, und ohnedie sie nur Träume und Erdichtungen sieht, zu bestim-men, wie sie im strengen Sinn der Wahrheit zu verste-hen sind unter Theologie verstehe ich hier die Offen-barung, soweit sie das Ziel anzeigt, was die Bibel imSinne hat (nämlich die Art und Weise des Gehorsamsoder die Sätze des wahren Glaubens und wahrerFrömmigkeit). Dies ist das, was eigentlich GottesWort genannt wird, und was nicht in einer bestimm-ten Zahl von Büchern besteht. (Man sehe Kap. 12.)Wird die Theologie in diesem Sinne genommen, sostimmen ihre Anweisungen oder Lebensregeln mit derVernunft, und ihre Absicht und ihr Ziel widerstreitetihr nirgends, und deshalb ist sie für Alle gültig.

Was nun die ganze Schrift im Allgemeinen anlangt,so habe ich schon Kap. 7 gezeigt, dass ihr Sinn nuraus ihr selbst zu bestimmen ist, und nicht aus der all-gemeinen Naturgeschichte, die blos die Grundlage derPhilosophie ist; auch darf es uns nicht bedenklich ma-chen, wenn ihr so ermittelter Sinn hierin der Vernunftsich widersprechend zeigt. Denn Alles, was derart die

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Bibel enthält, und was die Menschen ohne Schadenan der Liebe nicht zu wissen brauchen, das berührtnicht die Theologie oder das Wort Gottes, und des-halb kann Jeder ohne Unrecht davon halten, was erwill. Ich folgere daher unbedingt, dass die Schriftweder der Vernunft, noch diese jener anzupassen ist.

Allein wenn man mit der blossen Vernunft nichtbeweisen kann, ob die Grundlage der Theologie, wo-nach die Menschen durch den blossen Gehorsam ge-rettet werden, wahr oder falsch sei, könnte man da unsnicht vorwerfen, weshalb wir es glauben? und dass,wenn wir dies ohne Vernunft wie Blinde annehmen,wir thöricht und unverständig handeln? Und dass,wenn wir umgekehrt behaupteten, diese Grundlagelasse sich durch die Vernunft beweisen, sei da nichtdie Theologie ein Theil der Philosophie und nicht vonihr zu trennen?

Darauf antworte ich, dass ich unbedingt anerkenne,dieser fundamentale Lehrsatz der Theologie könnedurch das natürliche Licht nicht untersucht werden,und dass Niemand ihn zu beweisen vermocht habe,und dass deshalb die Offenbarung nöthig gewesen sei.Allein trotzdem kann man seinen Verstand brauchen,um die offenbarte Lehre mit wenigstens moralischerGewissheit anzunehmen. Ich sage, mit moralischerGewissheit; nicht weil ich meine, dass man darübersicherer werden könne als die Propheten, denen sie

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zuerst offenbart wurde, und deren Gewissheit dochnur eine moralische war, wie ich in Kap. 2 dieserSchrift gezeigt habe. Deshalb irren Die gänzlich, wel-che das Ansehen der Schrift durch mathematische Be-weise darzulegen versuchen. Denn das Ansehen derSchrift hängt von dem Ansehen der Propheten ab;deshalb kann jenes mit keinen stärkeren Gründen be-wiesen werden, als mit denen, welche die Prophetenehedem für die Ueberzeugung ihres Volkes benutzten;ja, unsere Gewissheit hierin kann auf keiner anderenGrundlage errichtet werden, als die, worauf die Pro-pheten ihr Ansehen und ihre Gewissheit stützten.Denn die ganze Gewissheit der Propheten beruht aufdreierlei, wie ich gezeigt habe; 1) auf der deutlichenund lebendigen Einbildung; 2) auf Zeichen, und 3)und hauptsächlich auf einem dem Billigen und Gutenzugewendeten Gemüthe. Die Propheten stüzten sichnie auf andere Gründe, und deshalb können sie wederdem Volke, zu dem sie einst in lebendiger Rede spra-chen, noch uns, zu denen sie schriftlich sprechen, ihrAnsehen aus anderen Gründen darlegen. Das Ersteanlangend, dass sie die Dinge sich lebhaft vorstellten,so konnte dies nur den Propheten selbst bekannt sein;deshalb muss und soll unsere ganze Gewissheit derOffenbarung auf die beiden anderen, das Zeichen unddie Lehre, sich stutzen. Dies sagt auch Moses aus-drücklich. Im 2. Buche XXVIII. heisst er dem Volke,

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dem Propheten zu gehorchen, der im Namen Gottesein wahres Zeichen gegeben habe; sei dieses aberfälschlich geschehen, so solle es ihn, auch wenn er imNamen Gottes geweissagt, doch des Todes schuldigerklären, wie Den, der das Volk von der wahren Reli-gion abzubringen versuche, wenn er auch sein Ansehndurch Zeichen und Wunder beglaubigt habe; mansehe hierüber Deut. XIII. Daraus ergiebt sich, dassder wahre Prophet von dem falschen nur an der Lehreund dem Wunder zugleich erkannt werden kann.Denn einen solchen erklärt Moses für einen wahrenund befiehlt, ihm ohne alle Furcht vor Betrug zu glau-ben; und er sagt, dass diejenigen Falsche und desTodes Schuldige wären, welche fälschlich, wenn auchim Namen Gottes, etwas verkündet hätten, oder diefalsche Götter gelehrt hätten, wenn sie auch wirklichWunder verrichtet. Deshalb brauchen auch wir nuraus diesem Grunde der Schrift, d.h. den Propheten zuglauben; nämlich wegen ihrer durch Zeichen bekräf-tigten Lehre. Nur weil wir sehen, dass die Prophetendie Liebe und Gerechtigkeit über Alles empfehlen undnur dies bezwecken, schliessen wir, dass sie nicht inblosser Absicht, sondern im wahren Geiste gelehrthaben, dass die Menschen durch Gehorsam und Glau-ben selig werden, und weil sie dies noch durch Zei-chen bekräftigt haben, sind wir überzeugt, dass siedies nicht leichtsinnig gesagt, noch dass sie bei ihren

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Weissagungen irrsinnig geredet haben. Wir werdendarin noch mehr bestärkt, wenn wir bemerken, dasssie nichts als sittlich gelehrt, was nicht mit der Ver-nunft völlig übereinstimmt; denn es ist kein Ungefähr,dass das Wort Gottes in den Propheten mit dem WortGottes, was in uns spricht, ganz übereinstimmt. Dieskönnen wir ebenso sicher aus der Bibel, wie ehedemdie Juden aus der lebendigen Rede der Propheten, ab-nehmen; denn ich habe oben in Kap. 12 gezeigt, dassdie Schrift in Bezug auf die Lehre und das Wichtigsteder Ereignisse unverderbt in unsere Hände gekommenist. Deshalb nehmen wir diese Grundlage der ganzenTheologie und Bibel, wenn sie auch nicht mathema-tisch bewiesen werden kann, doch mit gesundem Ur-theile an. Denn es ist Thorheit, wenn man das nichtannehmen will, was durch die Zeugnisse so vielerPropheten befestigt ist, und was Denen, die an Ver-stand nicht hervorragen, einen grossen Trost gewährt,was für den Staat von nicht geringem Nutzen ist, undwas man ohne alle Gefahr und Schaden glauben kann,und zwar, wenn man dies blos deshalb nicht will, weiles nicht mathematisch bewiesen werden kann; alswenn wir zur weisen Einrichtung unseres Lebens nurdas als wahr zulassen dürften, was durch keinenGrund in Zweifel gezogen werden kann; oder alswenn die meisten unserer Handlungen nicht sehr unsi-cher und voll des Zufalls wären!

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Ich erkenne zwar an, dass, wenn man meint, Theo-logie und Philosophie widersprächen einander, unddeshalb störe eine die andere in ihrem Reiche, undman müsse diese oder jene verabschieden, man dannmit Recht einen sicheren Grund für die Theologie zulegen und sie mathematisch zu beweisen suchenmuss; denn nur ein Wahnsinniger und Verzweifelnderkönnte die Vernunft leichthin verabscheuen, Künsteund Wissenschaft verachten und die Gewissheit undVernunft bestreiten. Aber ich kann einstweilen esnicht völlig entschuldigen, wenn man die Vernunft zuHülfe rufen will, nur um sie zu verstossen und mit fe-sten Gründen sie unzuverlässig zu machen. Ja, indemman durch mathematische Beweise die Wahrheit unddas Ansehn der Theologie darzulegen sich bemühtund der Vernunft und dem natürlichen Licht Beideszu nehmen, zieht man vielmehr die Theologie unterdie Herrschaft der Vernunft und nimmt offen an, dassdas Ansehn der Theologie ohne Glanz sei, wenn dasnatürliche Licht der Vernunft sie nicht erleuchte.Wenn man dagegen sich rühmt, nur dem innerenZeugniss des heiligen Geistes zu vertrauen und dieHülfe der Vernunft nur herbeinimmt, um die ungläu-bigen zu überzeugen, aber ohne ihren AussprüchenGlauben zu schenken, so ist leicht zu zeigen, dassdies nur aus Leidenschaft oder aus eitler Ruhmsuchtbehauptet wird. Denn aus dem vorgehenden Kapitel

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ergiebt sich klar, dass der heilige Geist nur über guteWerke Zeugniss ablegt; deshalb nennt Paulus in sei-nem Briefe an die Galater v. 22 sie die Frucht des hei-ligen Geistes, und dieser selbst ist in Wahrheit nichtsals die Seelenruhe, welche aus guten Handlungen her-vorgeht. Dagegen giebt der Geist kein Zeugniss überdie Wahrheit und Gewissheit dessen, was nur derSpekulation angehört, neben der Vernunft, welcher al-lein, wie gezeigt, das Reich der Wahrheit gebührt.Wenn man also behauptet, ausser diesem Geist einenanderen zu haben, der der Wahrheit versichere, sorühmt man sich dessen fälschlich und spricht nur soaus Vorurtheil der Leidenschaft, oder man flüchtetaus grosser Furcht zu dem Heiligen, damit man nichtvon der Philosophie erfasst und öffentlich dem Ge-lächter preisgegeben werde. Aber dies geschieht ver-geblich; denn welchen Altar kann sich der bereiten,welcher die Majestät der Vernunft verletzt?

Indess lasse ich Jene in Ruhe, da ich meiner Aufga-be genügt zu haben glaube, indem ich gezeigt, wie diePhilosophie von der Theologie zu sondern ist, worineine jede im Wesentlichen besteht, und dass keine deranderen dient, sondern dass jede ihr Reich ohne Wi-derstreben der anderen inne hat, und indem ich auch,wo es passte, die Verkehrtheiten, Nachtheile undSchäden dargelegt, welche aus der wunderbaren Ver-mengung beider Vermögen, welche man nicht genau

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von einander zu sondern und zu scheiden verstand,hervorgegangen sind.

Ehe ich weiter gehe, will ich in Betreff der Nütz-lichkeit und Nothwendigkeit der heiligen Schrift oderOffenbarung ausdrücklich erinnern (obgleich ich esschon gesagt habe), dass ich sie sehr hochstelle. Dennda man mit dem natürlichen Licht nicht erkennenkann, dass der einfache Gehorsam der Weg zum Heilist, sondern nur die Offenbarung lehrt, dass dies ausbesonderer Gnade Gottes geschehe, die man durch dieVernunft nicht erreichen kann, so folgt, dass die Bibelden Sterblichen einen grossen Trost gebracht hat.Denn Alle können unbedingt gehorchen, aber nur We-nige im Vergleich zu dem ganzen menschlichen Ge-schlecht erwerben die Gewohnheit der Tugend durchblosse Führung der Vernunft; hätten wir daher diesesZeugniss der Schrift nicht, so müssten wir an demHeile beinahe Aller zweifeln.

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Sechzehntes Kapitel

Ueber die Grundlagen des Staates; über dasnatürliche und bürgerliche Recht eines Jeden und

über das Recht der höchsten Staatsgewalt.

Bisher habe ich die Philosophie von der Theologiezu sondern und die Freiheit, zu philosophiren, darzu-legen gesucht, welche die Theologie Jedem zugesteht.Es ist deshalb Zeit, zu untersuchen, wie weit in einemguten Staate diese Freiheit, zu denken, und was mandenkt, zu sagen, geht um dies ordentlich zu thun,muss ich über die Grundlagen des Staates handelnund vorher über das natürliche Recht eines Jeden,ohne noch auf den Staat und die Religion Rücksichtzu nehmen.

Unter Recht und Einrichtung der Natur verstehe ichnur die Regeln der Natur jedes Einzelnen, vermögederen Jedes natürlich bestimmt ist, in bestimmterWeise da zu sein und zu wirken. So sind z.B. die Fi-sche von Natur bestimmt, zu schwimmen, und dassdie grossen Fische die kleinen verzehren. Deshalb be-mächtigen sich die Fische mit dem höchsten natürli-chen Recht des Wassers, und deshalb verzehren diegrossen die kleinen. Denn sicher hat die Natur, ansich betrachtet, das höchste Recht zu Allem, was sie

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vermag, d.h. das Recht der Natur geht so weit wieihre Macht; denn die Macht der Natur ist die MachtGottes selbst, der das höchste Recht zu Allem hat.Weil nun die gesammte Macht der ganzen Natur nurdie Summe der Macht aller Einzelnen ist, so folgt,dass jeder Einzelne das höchste Recht auf Alles hat,was er vermag, oder dass das Recht eines Jeden sichsoweit ausdehnt als seine besondere Macht sich er-streckt. Und weil es das höchste Gesetz der Natur ist,dass jedes Ding in seinem Zustande, so viel es ver-mag, zu beharren sucht, und zwar nur seinetwegenund nicht eines anderen wegen, so folgt, dass jederEinzelne das höchste Recht dazu hat, d.h. (wie ge-sagt) zum Dasein und Wirken so, wie er natürlich be-stimmt ist.

Auch erkenne ich hier keinen Unterschied zwischenden Menschen und den anderen Geschöpfen der Naturan, und auch nicht zwischen den vernünftigen Men-schen und anderen, welche die wahre Vernunft nichtkennen; auch nicht zwischen den Blödsinnigen,Wahnsinnigen und Gesunden. Denn was jedes Dingnach den Gesetzen seiner Natur thut, das thut es mitdem höchsten Recht, da es handelt, wie es von Naturbestimmt ist und nicht anders kann. Deshalb lebtunter Menschen, so lange sie blos unter der Herr-schaft der Natur befindlich aufgefasst werden, sowohlDer, welcher die Vernunft noch nicht kennt oder die

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Gewohnheit der Tugend noch nicht hat, nur nach denGesetzen seiner Begierden mit demselben höchstenRecht wie Der, der sein Leben nach den Gesetzen derVernunft einrichtet. Das heisst; So wie der Weise dashöchste Recht zu Allem hat, was die Vernunft gebie-tet, oder nach den Gesetzen der Vernunft zu leben, sohat der Unwissende und Unverständige das höchsteRecht zu Allem, was die Begierde verlangt, oder nachden Gesetzen seiner Begierden zu leben. Und das istdasselbe, was Paulus sagt, der vor dem Gesetze, d.h.so lange die Menschen unter der Herrschaft der Naturlebend aufgefasst werden, keine Sünde anerkennt.

Daher wird das natürliche Recht jedes Menschennicht durch die gesunde Vernunft, sondern durch dieBegierde und die Macht bestimmt; denn nicht Allesind von Natur bestimmt, nach den Regeln und Geset-zen der Vernunft zu wirken, vielmehr werden sie inUnkenntniss aller Dinge geboren, und ehe sie diewahre Weise des Lebens erkennen und die Gewohn-heit der Tugend erwerben können, geht ein grosserTheil ihres Lebens, selbst wenn sie gut erzogen wer-den, vorüber, und sie müssen doch inmittelst lebenund sich, soweit sie vermögen, erhalten; nämlich nachdem Antriebe der blossen Begierden; denn die Naturhat ihnen nur diese gegeben, und die wirkliche Macht,nach der gesunden Vernunft zu leben, verweigert.Deshalb brauchen sie nicht mehr nach dem Gesetze

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der gesunden Vernunft zu leben, als die Katze nachden Gesetzen der Löwennatur. Was daher Jeder, dernur unter der Herrschaft der Natur aufgefasst wird, alsnützlich für sich hält, sei es in Leitung der gesundenVernunft, sei es im Antriebe seiner Begierden, das be-gehrt er mit dem höchsten Recht der Natur, und erdarf es auf alle Weise, durch Gewalt, List, Bitten,oder wie es sonst am leichtesten möglich, sich zueig-nen und deshalb Den für einen Feind halten, der ihnin der Ausführung seiner Absicht hindert.

Hieraus folgt, dass das Recht und die Einrichtungder Natur, unter der Alle geboren werden und gröss-tentheils leben, nur das verbieten, was Niemand be-gehrt und Niemand vermag; sie verbieten weder denStreit, noch den Hass, noch den Zorn, noch die List,noch überhaupt etwas, was die Begierde verlangt. Esist dies nicht zu verwundern; denn die Natur befasstnicht blos die Gesetze der menschlichen Vernunft, dienur das wahre Beste und die Erhaltung der Menschenwollen, sondern noch viele andere, welche sich auf dieewige Ordnung der ganzen Natur beziehen, von denender Mensch nur ein kleiner Theil ist. Aus der blossenNothwendigkeit dieser wird jedes Einzelne zum Da-sein und Wirken in fester Weise bestimmt. Alles, wasuns in der Natur lächerlich, verkehrt oder schlecht er-scheint, kommt daher nur davon, dass wir die Dingeblos theilweise kennen und die Ordnung und den

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Zusammenhang der ganzen Natur zum grössten Theilnicht kennen; weil wir Alles unserer Vernunft gemässgeleitet haben wollen, während doch, was unsere Ver-nunft für ein Uebel erklärt, kein Uebel ist in Bezugauf die Ordnung und die Gesetze der ganzen Natur,sondern nur rücksichtlich der Gesetze unserer Naturallein.

Indess kann Niemand bezweifeln, dass es für dieMenschen nützlicher ist, nach den Gesetzen und si-cheren Geboten der Vernunft zu leben. Ferner ver-langt Jeder sicher und ohne Furcht, soweit es möglichist, zu leben. Dies ist aber nicht möglich, so langeJeder nach Belieben Alles thun kann, und die Ver-nunft nicht mehr Recht hat als der Hass und der Zorn.Denn Jedermann lebt in Sorgen zwischen Feindschaft,Zorn, Hass und Betrug, und sucht sie zu vermeiden,so viel er vermag. Auch wenn man bedenkt, dass dieMenschen ohne gegenseitige Hülfe nur elend undohne die nothwendige Ausbildung der Vernunft leben,wie ich in Kap. 5 gezeigt habe, so erhellt, dass dieMenschen, um sicher und möglichst gut zu leben, sichvereinigen müssen und so es bewirken, dass sie ge-meinsam das Recht auf Alles haben, was jeder Ein-zelne von Natur hat, und dass sie nicht mehr durch dieGewalt und die Begierde des Einzelnen, sonderndurch die Macht und den Willen Aller bestimmt wer-den. Dies wäre jedoch vergeblich erstrebt worden,

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wenn sie nur den Antrieben ihrer Begierden folgenwollten, da nach den Gesetzen dieser Jeder zu Ver-schiedenem getrieben wird; deshalb mussten sie festbestimmen und übereinkommen, nur nach dem Aus-spruch der Vernunft, dem Niemand bei gesundemVerstande zu widersprechen wagt, Alles zu leiten unddie Begierde, soweit sie etwas zum Schaden eines An-deren verlangt, zu zügeln und Niemandem das zuthun, was man will, dass Einem selbst nicht gethanwerde, und das Recht des Anderen endlich gleich demseinen zu vertheidigen.

Wie nun dieser Vertrag zu schliessen ist, damit ergültig und fest sei, ist nun zu untersuchen. Das allge-meine Gesetz der menschlichen Natur ist, dass Nie-mand das, was er für gut hält, vernachlässigt, ausge-nommen in Hoffnung eines grösseren Gutes oder ausFurcht eines grösseren Schadens, und dass Niemandein Uebel vorzieht, als nur um ein grösseres zu ver-meiden, oder in Hoffnung eines grösseren Gutes; d.h.Jeder wird von zwei Gütern das nach seiner Meinunggrössere, und von zwei Uebeln das nach seiner Mei-nung kleinere wählen. Ich sage ausdrücklich, dass erdas nach seiner Meinung grössere oder kleinere wählt,aber nicht, dass die Sache sich wirklich so verhält,wie er meint. Und dieses Gesetz ist so fest dermenschlichen Natur eingeprägt, dass es zu den ewi-gen Wahrheiten gerechnet werden muss, die

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Jedermann weiss. Es folgt daraus, dass Niemand,ohne betrogen zu sein, versprechen wird, sich seinesRechtes auf Alles zu entäussern, und dass Niemandsein Versprechen unbedingt halten wird, als nur inFurcht eines grösseren Uebels oder in Hoffnung einesgrössern Gutes, um dies besser darzulegen, setze man,ein Räuber zwingt mich zu dem Versprechen, ihmmeine Güter, wo er will, zu geben. Wenn nun schon,wie gezeigt, mein natürliches Recht nur nach meinerMacht sich bestimmt, so ist sicher, dass, wenn ichdurch List mich von diesem Räuber befreien kann,indem ich ihm das, was er verlangt, verspreche, es mirnach dem Naturrecht zu thun erlaubt ist, nämlich be-trügerisch ihm, was er Will, zu versprechen. Oderman nehme, ich hätte Jemand ohne Betrug verspro-chen, zwanzig Tage lang keine Speise und Nahrungzu mir zu nehmen, und ich hätte nachher eingesehen,dass ich dies thörichter Weise versprochen, und ich esohne den grössten Schaden nicht halten könne, so darfich, da ich nach dem Naturrecht von zwei Uebeln daskleinere zu erwählen gehalten bin, mit vollem Rechteeinen solchen Vertrag brechen und das Gesagte alsnicht gesagt behandeln. Dies, sage ich, ist nach demNaturrecht erlaubt, mag ich es als wahr und richtig er-kennen, dass ich falsch versprochen habe, oder mages mir nur in meiner Meinung so scheinen. Denn mages mir wahrhaft oder fälschlich so scheinen, so werde

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ich doch immer das grössere Uebel fürchten und esnach der Einrichtung der Natur auf jede Weise zu ver-meiden suchen. Deshalb kann kein Vertrag Krafthaben als nur durch seinen Nutzen; fällt dieser weg,so fällt auch der Vertrag, welcher dann als ungültigaufgehoben wird. Es ist deshalb thöricht, dass mandie Treue von einem Anderen in Ewigkeit für sichverlangt, wenn man nicht gleichzeitig sorgt, dass ausdem Bruch des Vertrages für den Vertragsbrechermehr Schaden als Vortheil hervorgeht, was bei Ein-richtung eines Staates hauptsächlich seine Stelle fin-det.

Wenn alle Menschen sich leicht durch die Vernunftallein leiten liessen und den hohen Nutzen und dieNothwendigkeit des Staates einsähen, so würde Jederdie List verabscheuen, und Alle würden in dem Ver-langen nach diesem höchsten Gut, d.h. der Erhaltungdes Staates, mit der höchsten Treue an den Verträgenhalten und die Treue, als den höchsten Schatz desStaates, über Alles halten. Allein es fehlt viel daran,dass Alle sich leicht durch die blosse Vernunft leitenliessen; Jeder wird vielmehr von seinen Lüsten be-herrscht, und seine Seele wird von Geiz, Ehrsucht,Neid, Zorn u.s.w. oft so eingenommen, dass keinPlatz für die Vernunft bleibt; wenn deshalb die Men-schen auch mit dem sicheren Zeichen einer ehrlichenAbsicht versprechen und übereinkommen, sich die

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Treue zu bewahren, so kann doch Niemand dieserTreue des Anderen sicher sein, wenn nicht zu demVersprechen noch etwas hinzukommt, da Jeder nachdem Naturrecht betrügerisch handeln und von demVertrage abgehen kann, wenn er nicht damit ein gro-sses Gut erhofft oder ein grosses Uebel vermeidet. Daich aber schon gezeigt habe, dass das natürliche Rechteines Jeden so weit geht als seine Macht, so folgt,dass, so viel als Jeder von seiner Macht auf den Ande-ren gezwungen oder freiwillig überträgt, so viel tritter ihm auch von seinem Rechte ab. Danach hat Derje-nige das höchste Recht über Alle, welcher die höchsteMacht hat, Alle zu zwingen und durch Furcht vorhohen Strafen, die Alle allgemein fürchten, zu bewäl-tigen. Dieses Recht wird er nur so lange behalten, alser diese Macht, Alles, was er will, auszuführen, be-hält; ohnedem wird er nur bittweise befehlen, undNiemand wird weiter, als er Lust hat, ihm gehorchen.

In dieser Weise kann ohne allen Widerstreit des na-türlichen Rechtes eine Gesellschaft sich bilden undjeder Vertrag immer treulich gehalten werden; wennnämlich Jeder alle seine Macht auf die Gesellschaftüberträgt, die damit das höchste natürliche Recht aufAlles, d.h. die höchste Herrschaft allein behaltenwird, und Jeder wird aus freiem Willen oder ausFurcht vor harter Strafe zu gehorchen gehalten sein.Das Recht einer solchen Gesellschaft heisst

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Demokratie; sie ist also zu definiren als die allgemei-ne Versammlung der Menschen, welche gemein-schaftlich das höchste Recht auf Alles, was sie kann,besitzt. Daraus folgt, dass die höchste Gewalt durchkein Gesetz gebunden wird, sondern dass Alle ihr inAllem gehorchen müssen. Denn dies mussten Alleentweder stillschweigend oder ausdrücklich ausma-chen, als sie alle ihre Macht, sich zu vertheidigen, d.h.all ihr Recht auf sie übertrugen. Wollten sie nämlichsich etwas vorbehalten, so mussten sie gleichzeitigsich dessen versichern, womit sie es vertheidigenkönnten; da sie das aber nicht gethan hatten und ohneTheilung der Herrschaft, folglich ohne deren Zerstö-rung nicht konnten, so haben sie sich dadurch derWillkür der höchsten Gewalt unbedingt unterworfen.Da sie dies, wie gezeigt, unbedingt gethan, und so-wohl die Nothwendigkeit sie dazu trieb, wie die Ver-nunft dazu rieth, so folgt, dass, wenn wir nicht Feindedes Staates sein und gegen die Vernunft, welche denStaat mit allen Kräften zu vertheidigen verlangt, han-deln wollen, wir gehalten sind, alle Befehle der höch-sten Gewalt unbedingt zu vollstrecken, wenn sie auchnoch so thöricht sind; denn die Vernunft verlangtderen Ausführung, damit von zwei Uebeln das klein-ste gewählt werde. Es kommt hinzu, dass Jedwederdiese Gefahr, sich eines Anderen Gewalt und Herr-schaft unbedingt zu unterwerfen, nicht zu scheuen

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brauchte, da dieses Recht, Alles zu gebieten, was be-liebt, der höchsten Gewalt nur so lange zukommt, solange sie diese Gewalt wirklich hat. Sobald sie sieverloren hat, ist auch das Recht, Alles zu gebieten,verloren und geht auf Den oder Die über, welche eserlangt haben und behalten können. Deshalb kann esnur selten vorkommen, dass die höchste Gewalt etwasganz Verkehrtes befiehlt; denn sie selbst muss inihrem Nutzen, und um die Herrschaft zu behalten, fürdas gemeine Beste sorgen und Alles nach dem Gebotder Vernunft leiten; denn eine gewaltthätige Herr-schaft hat, wie Seneca sagt, Niemand lange gehabt.Dazu kommt, dass in dem demokratischen Staate dasVerkehrte weniger zu befürchten ist; denn es ist bei-nahe unmöglich, dass der grössere Theil einer grossenVersammlung in einem Verkehrten übereinstimme,schon wegen ihrer Grundlage und ihres Zweckes, der,wie gezeigt, nur ist, die verkehrten Begierden zu hem-men und die Menschen in den Grenzen der Vernunftso viel als möglich zu erhalten, damit sie einträchtigund friedlich leben; wird diese Grundlage genommen,so stürzt leicht der ganze Bau. Dafür zu sorgen, liegtalso nur der höchsten Gewalt ob, und die Unterthanenhaben, wie gesagt, nur ihre Gebote zu vollführen undnur das für Recht anzuerkennen, was die höchste Ge-walt dafür erklärt.

Indess wird man vielleicht meinen, ich mache

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damit die Unterthanen zu Sklaven, weil man Den füreinen Sklaven hält, der auf Befehl handelt, und Denfür einen Freien, der nach seinem Belieben handelt.Allein dies ist nicht unbedingt wahr; denn wer vonseinen Lüsten so beherrecht wird, dass er das ihmNützliche weder sehen noch vollführen kann, ist dergrösste Sklave, und nur Der ist frei der mit ganzerSeele nur in Leitung der Vernunft lebt. Das Handelnnach Befehl, d.h. der Gehorsam, hebt zwar die Frei-heit etwas auf, aber macht nicht gleich zum Sklaven,sondern dies thut der Grund des Handelns. Ist derZweck der Handlung nicht der eigene des Handeln-den, sondern der Nutzen des Befehlenden, dann ist derHandelnde ein Sklave und sich selbst unnütz; aber imStaate und in einer Herrschaft, wo das Wohl des gan-zen Volkes und nicht des Befehlenden das höchsteGesetz ist, ist Der, welcher in Allem der höchsten Ge-walt gehorcht, kein Sklave, der für sich nichts Nützli-ches thäte, sondern ein Unterthan, und deshalb ist der-jenige Staat der freieste, dessen Gesetze auf die ge-sunde Vernunft gegründet sind; denn da kann Jederüberall frei sein, d.h. mit voller Seele nur nach derLeitung der Vernunft leben. Deshalb sind auch dieKinder, obgleich sie allen Befehlen der Eltern gehor-chen müssen, doch keine Sklaven; denn die Befehleder Eltern zielen vor Allem auf den Nutzen der Kinderab. Ich erkenne deshalb einen grossen unterschied

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zwischen einem Sklaven, Sohn und Unterthan, undman muss sie deshalb dahin definiren, dass SklaveDer ist, welcher den nur auf den Nutzen des Befehlen-den abzielenden Geboten desselben gehorchen muss;ein Sohn aber, welcher das ihm Nützliche auf Befehlseiner Eltern thut, und ein Unterthan Der, welcherdas, was der Gemeinschaft, folglich auch ihm nützlichist, auf Befehl der höchsten Gewalt thut.

Damit glaube ich die Grundlagen des demokrati-schen Staates hinlänglich klar dargelegt zu haben,über den ich vorzüglich handeln will, da er der natür-lichste scheint, und der, welcher der Freiheit, welchedie Natur Jedem gewährt, am nächsten kommt. Dennin ihm überträgt Niemand sein natürliches Recht aufeinen Anderen so, dass er niemals deshalb später ge-fragt zu werden braucht; sondern die Uebertragunggeschieht an die Mehrheit der ganzen Gemeinschaft,von der er einen Theil bildet. So bleiben Alle sichgleich, wie in dem natürlichen Zustande. Ich habe fer-ner über diese Staatsform absichtlich handeln wollen,weil sie am meisten zu meinem Vorhaben passt, wo-nach ich über den Nutzen der Freiheit in der Republikhandeln wollte. Ich werde also die Grundlagen derübrigen Staatsformen bei Seite lassen, und wir brau-chen auch deren Recht nicht zu kennen und nicht zuwissen, wie und woher sie entstanden sind; denn ausdem hier Dargelegten gellt dies genügend hervor.

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Denn wer die höchste Gewalt hat, sei es Einer oderEinige oder endlich Alle, dem gebührt das Recht, zugebieten, was ihm beliebt, und wer ferner seineMacht, sich zu vertheidigen, freiwillig oder gezwun-gen auf einen Anderen übertragen, der hat sein natür-liches Recht ganz abgetreten und sich zu dem unbe-dingten Gehorsam verpflichtet, den er leisten muss, solange der König oder die Edeln oder das Volk diehöchste Gewalt, die sie empfangen, und welche dieGrundlage der Uebertragung des Rechts war, sich er-halten. Mehr brauche ich nicht zu sagen.

Nachdem ich die Grundlage und das Recht derStaatsgewalt aufgezeigt, ist es leicht zu bestimmen,was das bürgerliche Recht des Einzelnen, was Un-recht, was Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in dembürgerlichen Zustande ist; ferner wer ein Verbündeter,wer ein Feind und was endlich das Verbrechen derverletzten Majestät ist. Unter dem bürgerlichen Rechtdes Einzelnen ist nur dessen Freiheit zu verstehen,sich in seinem Zustande zu erhalten, welche Freiheitdurch die Erlasse der Staatsgewalt bestimmt unddurch deren Macht allein vertheidigt wird. Denn nach-dem ein Jeder sein Recht, nach seinem Belieben zuleben, wo nur seine Macht ihn beschränkte, d.h. seineFreiheit und Macht, sich zu vertheidigen, auf einenAnderen übertragen hat, so muss er nur nach dessenWillen leben und blos durch dessen Schutz sich

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vertheidigen. - Unrecht ist es, wenn ein Bürger oderUnterthan von einem Anderen einen Schaden gegendas bürgerliche Recht oder das Gebot der Staatsge-walt zu erleiden gezwungen wird. Das Unrecht kannnur im bürgerlichen Zustand gedacht werden; auchkann es von der Staatsgewalt, der nach dem RechtAlles erlaubt ist, den Unterthanen nicht zugefügt wer-den; deshalb kann Unrecht nur zwischen den Einzel-nen vorkommen, welche nach dem Recht sich gegen-seitig nicht verletzen sollen. Die Gerechtigkeit ist derbeharrliche Wille, Jedem das, was ihm nach dem bür-gerlichen Recht zukommt, zu geben; Ungerechtigkeitist es, wenn man unter dem Schein des Rechtes einemAnderen nimmt, was ihm nach dem wahren Sinn derGesetze gebührt. Sie heissen Billigkeit und Unbillig-keit, weil die zur Entscheidung der Streitigkeit einge-setzten Personen keine Rücksicht auf die Person neh-men sollen, sondern Alle für gleich zu achten und dasRecht eines Jeden gleich sehr zu schätzen haben, ohneden Reichen zu beneiden oder den Armen zu verach-ten. - Verbündete sind die Menschen zweier Staaten,welche, um den Gefahren des Krieges zu entgehen,oder zu einem anderen Nutzen übereinkommen, ein-ander nicht zu verletzen, vielmehr im Nothfall zu hel-fen, wobei aber Jeder seine Staatsgewalt behält. Einsolcher Vertrag gilt so lange, als dessen Grundlage,nämlich die Rücksicht auf die Gefahr oder den

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356Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung

Nutzen, besteht. Denn Niemand schliesst einen Ver-trag und braucht denselben zu halten, als in Hoffnungeines Gutes oder in Sorge eines Uebels. Fällt dieseGrundlage fort, so fällt auch der Vertrag fort, wieauch die Erfahrung genügend lehrt. Denn wenn auchmehrere Staaten übereinkommen, einander nicht zuverletzen, so suchen sie doch nach Möglichkeit dasAnwachsen der Macht des anderen zu hindern undtrauen den Worten nicht, wenn der Zweck und Nutzendes Vertrages für Beide nicht klar ersichtlich ist, oh-nedem fürchten sie Hinterlist, und mit Recht. Dennnur ein Dummer, der das Recht der höchsten Gewaltnicht kennt, wird sich auf die Worte und VersprechenDessen verlassen, der die höchste Macht und dasRecht, Alles zu thun, inne hat, und für den das Wohlund der Nutzen des Staates das höchste Gesetz seinsoll. Nimmt man dabei auf Frömmigkeit und ReligionRücksicht, so sieht man überdem, dass kein Inhaberder Staatsgewalt zum Schaden des Staates das Ver-sprechen halten darf, ohne ein Verbrechen zu bege-hen. Denn Alles, was er versprochen hat, was aberzum Schaden seines Staates ausschlägt, das kann ernur leisten, indem er sein Wort den Unterthanen nichthält, was er doch vor Allem schuldig ist, und das zuhalten am heiligsten versprochen wird. - Ein Feindist, wer ausserhalb des Staates so lebt, dass er densel-ben weder als Verbündeter noch als Unterthan

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357Spinoza: Theologisch-politische Abhandlung

anerkennt. Denn den Feind macht nicht der Hassgegen den Staat, sondern das Recht, und zwar dasRecht des Staates gegen Den, welcher dessen Herr-schaft aus keiner Art von Vertrag anerkennt, ebensowie gegen Den, der einen Schaden ihm zugefügt hat;er kann ihn auf alle Weise zur Unterwerfung oder zurVerbündung rechtlich nöthigen. - Das Verbrechender beleidigten Majestät hat endlich nur bei den Un-terthanen oder Bürgern Statt, welche durch still-schweigenden oder ausdrücklichen Vertrug ihr ganzesRecht auf den Staat übertragen haben; ein Unterthanhat dieses Verbrechen begangen, wenn er versuchthat, der Staatsgewalt auf irgend eine Weise sich zubemächtigen oder sie auf einen Anderen zu übertra-gen. Ich sage: »versucht hat«; denn sollte die Verur-theilung erst nach vollendetem Verbrechen zulässigsein, so würde nach Annahme des neuen Rechts oderdessen Uebertragung auf einen Anderen der Staat diesmeist zu spät unternehmen. Ich sage ferner unbedingt:»wer auf eine Art die Staatsgewalt zu ergreifen ver-sucht«, indem ich keinen Unterschied mache, obSchaden oder Nützen für den Staat daraus, wenn auchnoch so deutlich, daraus folgt. Denn aus welchemGrunde es auch versucht wird, so bleibt die Maje-stätsbeleidigung, und die Verurtheilung geschieht mitRecht, was vor Allem bei dem Kriege anerkannt wird.Wenn z.B. Jemand nicht auf seinem Posten bleibt,

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sondern ohne Vorwissen des Feldherrn zum Feindegeht, wenn er auch in guter Absicht, aber für sich dieSache begonnen und den Feind geschlagen hat, so ister doch mit Recht des Todes schuldig, weil er dasRecht des Feldherrn und seinen eigenen Schwur ver-letzt hat. Dass alle Bürger für immer und unbedingtso verpflichtet sind, wird zwar nicht ebenso deutlicheingesehen, aber der Grund ist ganz derselbe. Dennwenn der Staat nur nach dem Willen der Staatsgewalterhalten und geleitet werden soll, und wenn man un-bedingt ausgemacht hat, dass ihm dies Recht zustehensoll, so verletzt Jeder, der nach seinem Ermessen undohne Vorwissen der höchsten Gewalt ein öffentlichesGeschäft auszuführen unternimmt, wenn auch einNutzen für den Staat daraus sich ergiebt, doch dasRecht der höchsten Gewalt und ihre Majestät undwird deshalb mit Recht verurtheilt.

Ich bin, um alle Zweifel zu beseitigen, noch eineAntwort auf die Frage schuldig, ob meine obige Be-hauptung, dass Jeder, dem der Gebrauch der Vernunftfehlt, in natürlichem Zustande nach den Regeln seinerBegierden mit vollem Rechte der Natur lebe, nichtoffen mit dem offenbarten göttlichen Recht in Wider-spruch steht? Denn da Alle, mögen sie Vernunfthaben oder nicht, gleich unbedingt nach dem göttli-chen Gebot gehalten sind, ihren Nächsten wie sichselbst zu lieben, so kann man nicht ohne Unrecht

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einem Anderen Schaden zufügen und blos nach denRegeln seiner Begierden leben. Indess kann auf diesenEinwand leicht geantwortet werden, wenn man nurauf den natürlichen Zustand achtet; denn dieser ist derNatur und der Zeit nach früher als die Religion. DennNiemand weiss von Natur, dass er Gott zum Gehor-sam verpflichtet sei, und Jeder kann nicht durch dieVernunft, sondern nur durch eine mit Zeichen bestä-tigte Offenbarung dies wissen. Deshalb ist Niemandvor der Offenbarung durch das göttliche Recht gebun-den, das er ja nicht kennen kann. Daher darf der na-türliche Zustand nicht mit dem der Religion verwech-selt werden, und er muss als einer ohne Religion undGesetz und folglich auch ohne Sünde und Unrechtaufgefasst werden, wie ich schon gethan und durchdas Ansehn des Paulus bekräftigt habe. Der natürlicheZustand ist nicht blos rücksichtlich der Unkenntnissvon dem geoffenbarten göttlichen Recht und ohne sol-ches aufzufassen, sondern auch rücksichtlich der Frei-heit, in der Alle geboren werden. Wären die Men-schen von Natur dem göttlichen Recht unterworfen,oder wäre das göttliche Recht von Natur Recht, sowar es überflüssig, dass Gott mit den Menschen einenVertrag einging und durch Vertrag und Eid sie ver-pflichtete. Deshalb hat offenbar das göttliche Rechterst von da ab begonnen, wo die Menschen in einemausdrücklichen Vertrage Gott Gehorsam in allen

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Dingen versprochen, womit sie ihre natürliche Frei-heit gleichsam aufgaben und ihr Recht auf Gott über-trugen, wie dies nach dem Obigen auch in dem bür-gerlichen Zustande geschieht. Indess werde ich späterhierüber ausführlicher handeln.

Man kann indess erwidern, dass die Staatsgewaltenebenso wie die Unterthanen dem göttlichen Recht un-tergeben seien, während ich gesagt, dass jene ihr na-türliches Recht behalten und ihnen Alles erlaubt sei.Um diese Schwierigkeit ganz zu beseitigen, welchenicht aus dem natürlichen Zustand, sondern aus demnatürlichen Recht entspringt, sage ich, dass im natür-lichen Zustande Jeder durch das geoffenbarte Recht inderselben Weise zu leben verbunden ist, wie er esdurch das Gebot der Vernunft ist, nämlich deshalb,weil es nützlich und zum Heile nothwendig ist; will erdies nicht, so kann er es auf seine Gefahr. Er ist alsoblos gehalten, nach seinem Willen, nicht aber nachdem eines Anderen zu leben, und er braucht keinenSterblichen als seinen Richter noch als Rächer nachdem Recht der Religion anzuerkennen. Dieses Rechthat die höchste Staatsgewalt behalten, welche zwarfür die Menschen sorgen kann, aber keinen Richterund keinen Sterblichen ausser sich als Vertheidigerdes Rechts anzuerkennen braucht, mit Ausnahme desPropheten, wenn er von Gott ausdrücklich abgesandtworden ist und dies durch zweifellose Zeichen

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bestätigt hat. Aber auch dann hat die Staatsgewaltkeinen Menschen, sondern nur Gott als Richter anzu-erkennen. Wollte sie Gott in seinem offenbartenRechte nicht gehorchen, so stände ihr dies auf ihreGefahr und Schaden frei; weder das bürgerliche nochdas natürliche Recht hindert sie daran; denn jeneshängt nur von ihr selbst ab, und dieses hängt von denGesetzen der Natur ab, welche nicht der Religion, dienur den Nutzen der Menschen bezweckt, sondern derOrdnung der ganzen Natur, dem ewigen, uns unbe-kannten Rathschluss Gottes angepasst sind. Diesscheinen Einzelne, wenn auch dunkel, eingesehen zuhaben, die annehmen, dass der Mensch zwar gegenden geoffenbarten Willen Gottes, aber nicht gegenseinen ewigen Rathschluss, mit dem er Alles voraus-bestimmt hat, sündigen könne.

Fragt man aber, ob, wenn die Staatsgewalt etwasbefiehlt, was gegen die Religion und gegen den Gottdurch einen ausdrücklichen Vertrag versprochenenGehorsam geht, wem man da gehorchen soll, ob demgöttlichen oder dem menschlichen Gebot, so sage ich,da ich darüber bald ausführlicher handeln werde, hiernur kurz, dass man Gott vor Allem gehorchen müsse,wenn man eine gewisse und zuverlässige Offenbarunghat. Allein in Betreff der Religion pflegen die Men-schen am meisten zu irren und nach Unterschied ihrerEinsicht in grossem Streit Vieles zu erdichten, wie die

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Erfahrung hinreichend lehrt. Deshalb würde offenbar,wenn Niemand der Staatsgewalt in dem, was er selbstzur Religion rechnet, zu gehorchen brauchte, dasRecht des Staates lediglich von den verschiedenenEinsichten und Leidenschaften der Einzelnen abhän-gen. Niemand wäre daran gebunden, wenn es nachseiner Ansicht gegen seinen Glauben oder Aberglau-ben liefe, und so könnte unter diesem Vorwand Jedersich Alles erlauben. Da also damit das Recht desStaats ganz zerstört wird, so folgt, dass die Staatsge-walt, der allein obliegt, die Rechte des Staates zu be-wahren und zu schützen, sowohl nach göttlichem wienach natürlichem Recht auch das oberste Recht hat,über die Religion zu bestimmen, was sie für gut hält,und dass Alle ihren hierüber ergehenden Befehlen undBeschlüssen vermöge des gegebenen Versprechens,was Gott zu halten gebietet, zu gehorchen verpflichtetsind.

Sind die Inhaber der Staatsgewalt Heiden, so mussman mit ihnen keinen Vertrag abschliessen, sondernlieber das Aeusserste erleiden, als sein Recht auf sieübertragen; oder ist man übereingekommen, und hatman sein Recht auf sie übertragen, so muss man ihnenauch gehorchen und die Treue halten, oder den Zwangdazu anerkennen, da man sich damit auch des Rechts,die Religion zu vertheigen, verlustig gemacht hat.Davon ist nur Derjenige ausgenommen, dem Gott

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durch sichere Offenbarung eine besondere Hülfegegen den Tyrannen zugesagt hat oder ihn namentlichausgenommen wissen will. So waren es von so vielenJuden in Babylon nur drei Jünglinge, die an GottesHülfe nicht verzweifelten und deshalb dem Nebucad-nezar nicht gehorchen mochten; aber die Anderen alle,mit Ausnahme Daniel's, welchen der König selbst an-geleitet hatte, haben ohne Bedenken sich dem Zwangder Gesetze gefügt, indem sie vielleicht bedachten,dass Gottes Rathschluss sie dem Könige überliefertund, dieser die höchste Gewalt inne habe und untergöttlicher Leitung sich erhalte. Dagegen wollte Elea-zar, als der Staat noch bestand, den Seinigen ein Bei-spiel der Festigkeit geben, damit sie ihm nachfolgtenund lieber Alles ertrügen, als zugäben, dass ihr Rechtund Gewalt auf die Griechen übertragen werde, unddass sie lieber Alles versuchten, als den Heiden Treuezu schwören.

Dies bestätigt auch die tägliche Erfahrung; denndie christlichen Staatsgewalten tragen zur mehrerenSicherheit kein Bedenken, Bündnisse mit den Türkenund Heiden einzugehen, und ihren Unterthanen, diedort sich niederlassen wollen, befehlen sie, sich keinegrössere Freiheit in menschlichen und göttlichen An-gelegenheiten zu nehmen, als sie ausdrücklich ausge-macht haben, oder jene Staaten ihnen bewilligen. Diesergiebt der Vertrag der Niederländer mit den

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Japanesen, den ich oben erwähnt habe.

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Siebzehntes Kapitel

Es wird gezeigt, dass Niemand Alles auf dieStaatsgewalt übertragen kann, und dass dies auchnicht nöthig ist. Ueber den Staat der Juden, wie erzu Mosis Zeiten beschaffen war; wie nach dessenTode von der Wahl der Könige und über seine

Vorzüge; endlich über die Ursachen, weshalb derGottesstaat untergehen und sich ohne Aufstände

kaum erhalten konnte.

Obgleich die im vorigen Kapitel enthaltene Be-trachtung über das Recht der Staatsgewalt auf Allesund über das ihr übertragene natürliche Recht desEinzelnen mit der Praxis so ziemlich stimmt, und diePraxis so eingerichtet werden kann, dass sie ihr sichimmer mehr annähert, so ist sie doch in vielen Punk-ten blosse Theorie geblieben. Denn Niemand wird jaseine Macht und folglich auch sein Recht auf einenAnderen so übertragen können, dass er aufhört, einMensch zu sein, und es wird nie eine solche Staatsge-walt geben, die Alles so ausführen kann, wie sie will.Sie würde vergeblich den Unterthanen befehlen, denWohlthäter zu hassen oder den Beschädiger zu lieben,von Verleumdungen sich nicht verletzt zu fühlen, sichvon der Furcht nicht befreien zu wollen und Anderes

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dergleichen mehr, was aus den Naturgesetzen sich er-giebt. Auch lehrt dies die Erfahrung meines Erachtensdeutlich; denn nirgends haben die Menschen ihr Rechtin der Art abgetreten und ihre Macht so auf einen An-deren übertragen, dass Die, welche dieses Recht unddiese Macht empfingen, jene nicht mehr fürchteten,und dass ihrer Herrschaft nicht von den Bürgern, ob-gleich sie ihrer Rechte beraubt waren, mehr als vonden Feinden Gefahr drohte. Wenn freilich die Men-schen ihres natürlichen Rechtes so beraubt werdenkönnten, dass sie später nichts mehr vermöchten, alswas die Inhaber der Staatsgewalt gestatteten, dannkönnte diese allerdings ungestraft auf das Gewaltthä-tigste über ihre Unterthanen herrschen; allein dieswird Niemand in den Sinn kommen. Deshalb mussman anerkennen, dass Jeder sich viele Rechte zurück-behält, die deshalb nicht von dem Belieben eines An-deren, sondern nur von ihm abhängen.

Um indess die Grenzen, wie weit das Recht und dieMacht der Staatsgewalt sich erstreckt, richtig einzuse-hen, ist festzuhalten, dass die Macht der Staatsgewaltnicht blos darin besteht, dass sie die Menschen durchFurcht zwingen kann, sondern in Allem, wodurch sieüberhaupt sich Gehorsam verschaffen kann; da nichtder Grund des Gehorsams, sondern der Gehorsam dieUnterthanen macht. Aus welchem Grunde auch Je-mand beschliesst, das Gebot der Staatsgewalt zu

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vollziehen, sei es aus Furcht vor Strafe oder aus Hoff-nung oder aus Liebe zum Vaterlande oder aus Antriebeines anderen Gefühls, so überlegt er zwar nach sei-nen eigenen Gedanken, aber handelt dennoch nachdem Gebot der höchsten Gewalt. Also kann man nichtdeshalb, dass Jemand etwas freiwillig thut, sofortschliessen, er handle aus seinem und nicht nach demRechte der Staatsgewalt. Denn da man sowohl durchLiebe veranlasst, wie durch Furcht genöthigt, umeinem Uebel zu entgehen, aber immer nach eignerUeberlegung und eignem Entschluss handelt, so giebtes entweder keine Staatsgewalt und kein Recht überUnterthanen, oder es erstreckt sich auf Alles, was be-wirkt, dass die Menschen ihr nachzugeben sich ent-schliessen. Was ein Unterthan thut, der den Befehlender Staatsgewalt nachkommt, mag er dabei durchLiebe bestimmt oder durch Furcht getrieben werdenoder, was das Gewöhnlichere ist, von Hoffnung undFurcht zugleich, oder aus Ehrfurcht, was ein ausFurcht und Bewunderung zusammengesetztes Gefühlist, oder aus irgend einer Ursache, der handelt nachdem Befehle des Staates, aber nicht nach seinemRecht. Dies ergiebt sich auch klar daraus, dass derGehorsam nicht sowohl die äussere Handlung als dieinnere der Seele angeht. Deshalb ist der unter der Ge-walt eines Anderen, welcher aus voller Seele allen sei-nen Befehlen zu gehorchen bereit ist, und deshalb hat

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Der die grösste Gewalt, welcher über die Gemütherder Unterthanen herrscht. Hätten Diejenigen diegrösste Gewalt, die am meisten gefürchtet werden, sobesässen sie die Untergebenen des Tyrannen; denndiese werden von ihren Tyrannen am meisten gefürch-tet. Wenn man auch der Seele und der Zunge nicht ge-bieten kann, so stehen doch die Geister in gewissemSinne unter dem Befehl der Staatsgewalt, da sie vieleMittel hat, um den grössten Theil der Menschen dasglauben, lieben oder hassen zu machen, was sie will.Wenn dies also auch nicht auf ausdrücklichen Befehlder Staatsgewalt geschieht, so geschieht es doch, wiedie Erfahrung genügend lehrt, durch das Ansehn unddie Leitung dieser Gewalt, d.h. durch ihr Recht. Des-halb kann man sich ohne Widerspruch Menschen vor-stellen, die vermöge des blossen Rechts des Staatesglauben, lieben, hassen, verachten und überhaupt inAffekt gerathen.

Obgleich ich hiernach das Recht und die Macht desStaates sehr ausgedehnt auffasse, so kann sie doch nieso gross sein, dass deren Inhaber ohne jede Schrankedie Macht zu Allem, was sie wollen, hätten. Ich glau-be dies schon hinreichend dargethan zu haben. In wel-cher Weise aber die Staatsgewalt einzurichten ist,dass sie demnach gesichert bleibt, dies zu zeigen, ist,wie gesagt, nicht meine Absicht. Um indess dahin zugelangen, wohin ich will, werde ich das berühren, was

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zu diesem Zwecke vorzüglich die göttliche Offenba-rung dem Moses gelehrt hat, und ich werde dann dieGeschichte und Erfolge der Juden in Erwägung neh-men, woraus sich dann ergeben wird, was den Untert-hanen zur grösseren Sicherheit und zum Wachsthumdes Staats von der höchsten Gewalt zugestanden wer-den kann.

Vernunft und Erfahrung lehren deutlich, dass derBestand des Staates vorzüglich von der Treue der Un-terthanen und von ihrer Tugend und Beharrlichkeitabhängt, mit der sie die Befehle befolgen; allein es istnicht so leicht ersichtlich, wie die Unterthanen behan-delt werden müssen, damit sie beständig treu und tu-gendhaft bleiben; denn sowohl die Regierenden wiedie Regierten sind Menschen und zur Lust ohne Ar-beit geneigt. Wer den wechselnden Sinn der Mengeerfahren hat, verzweifelt beinahe daran, weil sie nichtdurch die Vernunft, sondern nur durch die Affektesich leiten lässt, und weil sie zu Allem bereit ist undleicht durch Geiz oder Ueppigkeit verdorben wird.Jeder Einzelne meint Alles zu verstehen und will,dass Alles nach seinem Sinn geschehe; er hält etwasfür unbillig oder billig, für ungerecht oder gerecht,nur soweit es ihm Schaden oder Nutzen bringen kann;aus Ehrgeiz verachtet er Seinesgleichen und lässt sichvon ihnen nicht leiten; aus Neid über grössere Ehreoder Glücksguter, die doch niemals gleich sind,

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wünscht er den Anderen Uebles und erfreut sichdaran. Ich brauche nicht Alles herzuzählen; dennJeder weiss, zu welchen Lastern die Verachtung desBestehenden und die Begierde nach Neuem sowie derJähzorn und die Verachtung der Armen die Menschenoft verleiten, und wie sehr diese Leidenschaften ihreSeele erfüllen und bewegen.

Es ist also die Aufgabe und Arbeit, dem Allen zu-vorzukommen und die Staatsgewalt so einzurichten,dass für den Betrug kein Raum bleibt, und Alles so zuordnen, dass Alle trotz ihres verschiedenen Sinnes dasöffentliche Recht dem eigenen Nutzen voranstellen.Die Notwendigkeit trieb hier, Vieles auszudenken; al-lein man ist nie dahin gelangt, dass der Staatsgewaltvon ihren Bürgern weniger Gefahr als von ihren Fein-den drohte, und dass die Inhaber nicht mehr jene alsdiese fürchteten. Ein Zeugniss hierfür ist der vonFeinden unbesiegte Römische Staat, der so oft vonseinen Bürgern besiegt und jämmerlich unterdrücktworden ist; besonders in dem Bürgerkriege des Ves-pasian gegen Vitellius, den man bei Tacitus im An-fang des 4. Buchs seiner Geschichten nachlesen kann,wo er das elende Aussehen der Stadt schildert. Alex-ander schätzte, wie Curtius am Ende des 8. Buchssagt, den Ruhm bei dem Feinde mehr als bei demBürger, weil er fürchtete, dass seine Grösse von denSeinigen zerstört werden könne u.s.w. In Furcht vor

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seinem Schicksal, bittet er seine Freunde: »Schütztmich nur vor innerem Betruge und den Nachstellun-gen meiner Angehörigen; den Gefahren des Kriegesund der Schlacht werde ich ohne Furcht entgegenge-hen. Philippus war in der Schlacht gesicherter als imTheater; der Hand der Feinde ist er oft entgangen, derHand seiner Angehörigen konnte er nicht entfliehen.Auch wenn Ihr an das Ende anderer Könige denkt,werdet Ihr mehr zählen, die von den Ihrigen wie vonden Feinden getödtet worden sind.« (Curtius, Buch 9,§. 6.) Deshalb haben die Könige, die ehedem dieHerrschaft gewonnen, zu ihrer Sicherheit zu verbrei-ten gesucht, dass sie von den unsterblichen Götternabstammen. Sie glaubten, dass, wenn nur ihre Untert-hanen und Alle sie nicht als Ihresgleichen betrachte-ten, sondern für Götter hielten, sie sich lieber vonihnen beherrschen lassen und ihnen eher sich unter-werfen würden. So überredete Augustus die Römer,dass er von Aeneas, dem Sohn der Venus, abstamme,der zu den Göttern gerechnet werde; er wollte, dass erin Tempeln und Götterbildnissen durch Flamines undPriester verehrt würde (Tacit. Annal. Buch 1); Alex-ander wollte als der Sohn Jupiter's gegrüsst sein; erthat das absichtlich, nicht aus Stolz, denn er antwortetauf den Vorwurf des Hermolaus: »Es war beinahe lä-cherlich, dass Hermolaus verlangte, ich sollte dem Ju-piter entgegentreten, durch dessen Orakel ich

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anerkannt werde. Habe ich auch die Antworten derGötter in meiner Gewalt? Er hat mir den Namen desSohnes gegeben; es war rathsam, in der Sache selbstdas anzunehmen, was ich beabsichtige. Wenn nurauch die Inder mich für einen Gott hielten; denn aufdem Ruhm beruht der Krieg, und das Falsche hatdurch den Glauben die Stelle des Wahren vertreten.«(Curtius, Buch 8, §. 8.) Er deutet zugleich den Grundder Täuschung an. Dies thut auch Kleon in seinerRede, mit der er die Macedonier zu überreden suchte,dem Könige beizustimmen; denn nachdem er durchstaunende Erzählung des Ruhmes von Alexander unddurch Aufzählung seiner Verdienste der Täuschungden Schein der Wahrheit aufgedrückt hatte, geht er soauf den Nutzen über: »Die Perser verehren ihre Köni-ge nicht blos aus Frömmigkeit, sondern auch ausKlugheit als Götter; denn die Majestät ist der Schutzdes Heiles,« und endlich schliesst er so: »er selbstwerde, wenn der König sich zum Mahle niedergelas-sen habe, sich zur Erde werfen; dasselbe müssen dieUebrigen, vorzüglich die mit Weisheit Begabtenthun.« (Curtius, Buch 8, §. 5.) Die Macedonier warenindess klüger, und nur ganz rohe Menschen lassensich so offen hintergehen und aus Unterthanen zuSklaven für Anderer Nutzen machen. Andere ver-mochten eher den Glauben zu verbreiten, dass dieMajestät heilig sei und Gottes Stelle auf Erden

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vertrete, und von Gott und nicht durch die Stimmeund Einwilligung der Menschen erwählt sei, vielmehrdurch die Vorsehung und göttliche Hülfe besonderserhalten und geschützt werde. In dieser Art haben dieMonarchen noch Anderes zur Sicherung ihrer Herr-schaft ausgedacht; ich lasse es jedoch bei Seite, umauf das zurückzukommen, was ich mir vorgesetzthabe. Ich werde, wie gesagt, nur das berühren und er-wägen, was für diesen Zweck vorzüglich die göttlicheOffenbarung dem Moses gelehrt hat.

Ich habe schon in Kap. 5 gesagt, dass die Judennach dem Auszug aus Aegypten keines Volkes Rechtemehr unterthan waren, sondern nach Belieben sich einneues Recht geben und ein Land nach Belieben beset-zen konnten. Denn nachdem sie von der unerträgli-chen Unterdrückung der Aegypter sich befreit hattenund keinem Sterblichen durch Vertrag verpflichtetwaren, hatten sie ihr natürliches Recht auf Alles, wassie vermochten, wieder erlangt, und Jeder konnte vonNeuem überlegen, ob er es behalten oder abtreten undeinem Anderen übertragen wolle. In diesem natürli-chen Zustande beschlossen sie auf den Rath Mosis,dem sie am meisten vertrauten, ihr Recht auf keinenSterblichen, sondern nur auf Gott zu übertragen, undAlle versprachen, ohne viel zu zögern, laut, dass sieGott in allen seinen Befehlen unbedingt gehorchenund kein anderes Recht anerkennen wollten, als was

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er durch die Offenbarung der Propheten als solchesverkünde. Dieses Versprechen oder diese Rechtsüber-tragung auf Gott ist ebenso geschehen, wie ich sieoben für eine gemeinsame Gesellschaft dann ange-nommen habe, wenn die Einzelnen ihres natürlichenRechtes sich entäussern wollen. Denn sie haben aus-drücklich durch Vertrag (Exod. XXIV. 7) und Eid ihrnatürliches Recht freiwillig und ohne Zwang undFurcht vor Drohungen abgetreten und auf Gott über-tragen; und damit der Vertrag genehmigt und festbleibe und frei vom Verdacht des Betruges, hat Gottnichts eher mit ihnen ausgemacht, als bis sie seinewunderbare Macht erfahren hatten, die allein sie ge-rettet hatte, und die allein in Zukunft sie erhaltenkonnte (Exod. XIX. 4, 5). Denn deshalb, weil sieglaubten, dass nur Gottes Macht sie erhalten könne,übertrugen sie ihre ganze natürliche Macht, sich zuerhalten, die sie selbst zu haben früher geglaubt habenmochten, auf Gott, und folglich auch all ihr Recht.Den Staat der Juden erhielt deshalb Gott allein auf-recht, und vermöge des Vertrages wurde er deshalballein mit Recht der Staat Gottes genannt und Gottmit Recht der König der Juden. Deshalb waren dieFeinde dieses Staates die Feinde Gottes, und wer dieHerrschaft sich anmassen wollte, hatte die göttlicheMajestät verletzt, und die Gerechtsame des Reicheswaren die Rechte und Befehle Gottes. Deshalb waren

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in diesem Staate das bürgerliche, Recht und die Reli-gion, die, wie gezeigt, nur im Gehorsam gegen Gottbesteht, ein und dasselbe; d.h. die Sätze der Religionwaren keine Sittenlehren, sondern Recht und Verord-nungen; die Frömmigkeit war Gerechtigkeit, die Gott-losigkeit galt als Verbrechen und Ungerechtigkeit.Wer von der Religion abfiel, war kein Bürger mehrund galt deshalb allein als Feind, und wer für die Re-ligion in den Tod ging, galt, als hätte er sich für dasVaterland geopfert; überhaupt waren das bürgerlicheRecht und die Religion nicht verschieden. Deshalbkonnte dieser Staat eine Theokratie genannt werden;denn für seine Bürger galt kein anderes Recht, als wasGott offenbart hatte. Dies Alles beruhte indess mehrauf Glauben als auf Wirklichkeit; denn die Juden hat-ten in Wahrheit das Recht der Herrschaft unbedingtbehalten, wie das Folgende, nämlich die Art undWeise, wie dieser Staat verwaltet wurde, ergebenwird, und wie ich hier darlegen will.

Da die Juden ihr Recht auf Niemand anders über-trugen, sondern Alle, wie in der Demokratie, ihresRechts sich in gleicher Weise begaben und einmüthigausriefen: »was Gott spricht, wollen wir thun« (ohneNennung eines Vermittlers), so folgt, dass Alle nachdiesem Vertrag gleich geblieben sind, und Alle dasgleiche Recht gehabt haben, Gott zu befragen, seineGesetze zu empfangen und auszulegen. Deshalb

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traten Alle in gleicher Weise unmittelbar Gott an, umseinen Befehl zu hören; aber bei dieser ersten Begrüs-sung erschraken sie sehr und hörten die Worte Gottesmit solchem Erstaunen, dass sie ihr Ende nahe glaub-ten. Voller Furcht gingen sie also Moses an undbaten: »Siehe, wir haben Gott vernommen, wie er ausdem Feuer sprach, und es ist kein Grund, dass wirsterben möchten; dieses grosse Feuer wird uns sicherverzehren; wenn wir Gottes Stimme noch einmal ver-nehmen sollten, werden wir sicher sterben. Gehe alsoDu und höre Alles, was unser Gott sagt, und Du (alsonicht Gott) wirst zu uns sprechen. Allem, was GottDir sagen wird, werden wir gehorchen und es voll-bringen.« Damit hoben sie deutlich den ersten Vertragauf und übertrugen ihr Recht, Gott zu befragen undseine Gebote zu erklären, unbedingt auf Moses. Dennsie versprachen hier nicht wie vorher, Allem, wasGott ihnen, sondern was Gott dem Moses sagenwerde, zu gehorchen (Deut. V. hinter den zehn Gebo-ten und XIII. 15, 16). Moses blieb also der alleinigeGeber und Ausleger der göttlichen Gesetze und daherauch der höchste Richter, über den Niemand Rechtsprechen konnte, und der allein bei den Juden dieStelle Gottes, d.h. die höchste Majestät vertrat, da erallein das Recht hatte, Gott zu befragen und demVolke die göttlichen Antworten mitzutheilen und eszu deren Ausführung zu zwingen. Ich sage: Moses

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allein; denn wenn ein Anderer bei Lebzeiten Mosis imNamen Gottes etwas predigen wollte, war er, wenn erauch ein wahrer Prophet war, doch schuldig und einsolcher, der an dem höchsten Recht sich vergreift(Num. XI. 28). Und hier ist zu bemerken, dass, wennauch das Volk den Moses erwählt hatte, es doch denNachfolger an dessen Stelle mit Recht nicht wählenkonnte; denn sobald es sein Recht, Gott zu befragen,auf Moses übertragen hatte und ohne Vorbehalt ver-sprochen, ihn als göttliches Orakel anzunehmen, ver-lor es alles Recht, und es musste Den, welchen Moseszu seinem Nachfolger erwählte, als von Gott erwähltannehmen. Hätte er einen solchen gewählt, der wie erdie ganze Verwaltung des Staates gehabt, also dasRecht, Gott in seinem Zelte allein zu befragen, undmithin die Macht, Gesetze zu geben und aufzuheben,über Krieg und Frieden zu beschliessen, Gesandte ab-zuschicken, Richter zu bestellen, einen Nachfolger zuwählen und alle Geschäfte einer unbeschränktenStaatsgewalt zu besorgen, so wäre der Staat ein reinmonarchischer gewesen, mit dem alleinigen unter-schied, dass der gewöhnliche monarchische Staat aufeinen dem Monarchen selbst unbekannten BeschlussGottes, der jüdische Staat aber auf einen nur demMonarchen offenbarten Beschluss Gottes in bestimm-ter Weise regiert wurde oder regiert werden sollte.Dieser Unterschied mindert aber des Monarchen

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Eigenthum und Recht gegen Alle nicht, sondern ver-mehrt es vielmehr, und das Volk ist in beiden Staatengleich untergeben und mit dem göttlichen Beschlussunbekannt; denn in beiden hängt dies von dem Mundedes Monarchen ab, und das Volk weiss nur durchihm, was Recht und Unrecht ist, und der Glaube desVolkes, dass der Monarch nur nach den ihm offenbar-ten Beschlüssen Gottes regiere, macht es demselbennicht weniger, sondern in Wahrheit mehr unterthan.

Moses erwählte jedoch keinen solchen Nachfolger,sondern liess den Nachfolgern eine solche Art derVerwaltung, dass man sie weder eine demokratischenoch aristokratische noch monarchische, sondern einetheokratische nennen konnte. Denn das Recht, die Ge-setze auszulegen und Gottes Antworten mitzutheilen,war bei dem Einen, und das Recht und die Macht, denStaat nach den ausgelegten Gesetzen und mitgetheil-ten Antworten zu verwalten, war bei dem Andern(Num. XXVII. 21).

Damit dies deutlicher eingesehen werde, will ichdie ganze Staatsverwaltung der Reihe nach beschrei-ben. Zuerst wurde dem Volke geboten, ein Haus zubauen, welches gleichsam der Hof Gottes, d.h. jenerhöchsten Majestät dieses Staates wäre. Dies solltenicht auf Kosten Eines, sondern des ganzen Volkeserbaut werden, damit das Haus, wo Gott zu befragensei, gemeinen Rechtens sei. Zu Hofleuten und

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Verwaltern dieses göttlichen Hofstaats wurden dieLeviten erwählt, und ihr Vorsteher und gleichsam dervon dem Gott-Könige zweite Gewählte war Aaron,der Bruder Mosis, dem seine Söhne dann nach demGesetz nachfolgten. Dieser war deshalb, als der GottNächste, der oberste Ausleger der göttlichen Gesetze;er gab dem Volke die Antworten des göttlichen Ora-kels und betete zu Gott für das Volk. Hätte er dazunoch die Staatsgewalt gehabt, so hätte ihm zu demunbeschränkten Monarchen nichts gefehlt; allein dieswar nicht der Fall, und der ganze Stamm Levi warvon der gemeinsamen Staatsgewalt so ausgeschlos-sen, dass er nicht einmal, wie die anderen Stämme,einen Landstrich hatte, der ihm gehörte, und von demer hätte leben können. Vielmehr war es eingerichtet,dass er von dem übrigen Volke ernährt, aber immervon dem Volke hochgeehrt wurde, da dessen Stammallein Gott geweiht war.

Demnächst wurde aus den anderen zwölf Stämmenein Heer gebildet und ihnen geboten, das Reich derKananiter zu überfallen, es in zwölf Theile zu theilenund an die Stämme durch das Loos zu gehen. Dazuwurden zwölf Vornehmste ausgewählt, einer ausjedem Stamm, die zugleich mit Josua und dem Ho-henpriester Eleazar das Recht erhielten, das Land inzwölf gleiche Theile zu theilen und zu verlosen. ZumFeldherrn des Heeres wurde aber Josua erwählt,

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welcher in neuen Dingen allein das Recht hatte, Gottzu befragen; aber nicht wie Moses, allein in seinemZelt, oder in dem Tabernakel, sondern durch den Ho-henpriester, dem allein die Antworten Gottes ertheiltwurden. Dann aber hing es lediglich von Josua ab, diedurch den Hohenpriester empfangenen Gebote Gottesbekannt zu machen, das Volk dazu zu nöthigen, dieMittel zu deren Ausführung zu erwägen und anzu-wenden, zur Miliz so viel und wenn er wollte auszu-heben, Gesandte in seinem Namen zu senden undüberhaupt Alles zu thun, was zum Recht des Kriegesgehört.

In dessen Stelle folgte Niemand nach dem Gesetz,sondern Gott selbst wählte unmittelbar, da die Nothdes Volkes dazu zwang; im Uebrigen wurden alle Ge-schäfte des Krieges und Friedens von den Stammes-Aeltesten besorgt, wie ich bald zeigen werde. Fernergebot Moses, dass Alle vom 20. bis 60. Jahre dieWaffen tragen müssten, und das Heer nur aus demVolke gebildet werden solle, welche dann nicht demFeldherrn oder Hohenpriester, sondern der Religionund Gott Treue schwuren. Sie war den das Heer oderdie Reihen Gottes genannt, und ebenso hiess Gott beiden Juden der Gott des Heeres. Deshalb war die Bun-deslade bei grossen Schlachten, von deren Ausfall derSieg oder die Niederlage des ganzen Volkes abhing,mit bei dem Heere und in dessen Mitte; damit das

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Volk seinen König wie gegenwärtig sehe und mit deräussersten Kraft kämpfe.

Aus diesen von Moses seinen Nachfolgern gegebe-nen Geboten ist zu entnehmen, dass er sie nur zu Ver-waltern, aber nicht zu Herren des Staates gesetzt;denn keinem gab er das Recht, allein und wo er woll-te, Gott zu befragen, und also auch keinem seineMacht, Gesetze zu geben und aufzuheben, über Kriegund Frieden zu beschliessen, die Verwalter des Tem-pels und der Städte zu bestellen, was alles Geschäfteder höchsten Staatsgewalt sind. Der Hohepriesterhatte zwar das Recht, die Gesetze zu erklären und dieAntworten Gottes zu verkünden; aber er konnte diesnicht wie Moses, wenn er wollte, sondern nur auf Be-fragen des Feldherrn oder hohen Rathes oder einesAehnlichen; dagegen konnte der oberste Heerführerund der Rath Gott befragen, wenn sie wollten, abersie konnten die Antwort nur von dem Hohenpriestererhalten. Deshalb waren die Aussprüche Gottes indem Munde des Hohenpriesters keine Gebote, wie indem Munde Mosis, sondern nur Antworten, und erstwenn Josua und der Rath sie angenommen hatte, er-langten sie die Kraft von Geboten und Beschlüssen.Ferner hatte der Hohepriester, welcher Gottes Ant-worten von Gott empfing, nicht das Heer unter sich,und von Rechts wegen keine Herrschaft, und umge-kehrt konnten Die, welche das Land von Rechts

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wegen besassen, keine Gesetze machen.Ferner sind zwar der Hohepriester Aaron wie sein

Sohn Eleazar Beide von Moses erwählt worden; abernach Mosis Tode hatte Niemand das Recht, den Ho-henpriester zu wählen, sondern der Sohn folgte nachdem Rechte seinem Vater. Auch der Feldherr wurdevon Moses und nicht von dem Hohenpriester gewählt;allein nach dem ihm von Moses gegebenen Rechtwählte er die Person des Feldherrn. Deshalb wählteder Hohepriester nach Josua's Tode Niemand an des-sen Stelle; auch die Vornehmsten befragten Gott nichtwegen eines neuen Heerführers, sondern Jeder behieltdas Recht des Josua für die Miliz seines Stammes,und Alle gemeinsam für die ganze Miliz. Sie scheineneinen Herrscher nur dann gebraucht zu haben, wennsie mit vereinten Kräften gegen einen gemeinsamenFeind kämpfen mussten, und dies fand vorzüglich zuJosua's Zeit statt, wo noch nicht Alle feste Sitze hat-ten, und Alles noch gemeinsam war. Nachdem aberalle Stämme das eroberte und das ihnen noch verhei-ssene Land unter sich getheilt hatten, und es nichtsGemeinsames mehr gab, horte auch das Bedürfniss zueinem gemeinsamen Befehlshaber auf, da die ver-schiedenen Stämme seit dieser Theilung nicht sowohlals Mitbürger, sondern als Verbündete zu betrachtenwaren. In Bezug auf Gott und die Religion musstensie zwar als Mitbürger gelten, aber in Bezug auf das

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Recht des einen Stammes gegen den anderen nur alsVerbündete, mithin, wenn man von dem gemeinsamenTempel absieht, ungefähr so wie die vereinigten Staa-ten der Niederlande. Denn die Theilung einer gemein-samen Sache macht eben, dass Jeder seinen Theil al-lein besitzt, und die Anderen ihr Recht auf diesenTheil aufgeben. Deshalb wählte Moses Obersten derStämme, die nach der Theilung des Staates Jeder fürseinen Theil sorgen sollten, d.h. Gott durch den Ho-henpriester über die Angelegenheiten ihres Stammeszu befragen, ihre Miliz zu befehligen, Städte zu bauenund zu befestigen, Richter in jeder Stadt einzusetzen,die Feinde seines Stammes anzugreifen und alle Ge-schäfte des Krieges und Friedens zu besorgen. Erbrauchte keinen anderen Richter als Gott anzuerken-nen, wenn nicht Gott einen Propheten sandte. Wäre eraber von Gott abgefallen, so konnten die anderenStämme ihn nicht allein zur Unterwürfigkeit ver-urtheilen, sondern sie mussten ihn auch wie einenFeind, der den Vertrag gebrochen, bekriegen. DieBibel giebt dazu die Beispiele; denn als Josua gestor-ben war, so haben die Kinder Israels, aber nicht derneue Feldherr, Gott befragt, und als sie erfuhren, dassder Stamm Juda von Allen zuerst seinen Feind angrei-fen solle, verbündete dieser Stamm sich mit Simeon,gemeinsam die Feinde Beider anzugreifen. Die übri-gen Stämme waren in diesen Vertrag nicht mit

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einbegriffen (Richter I. 2, 3), sondern Jeder führte denKrieg gegen seinen Feind besonders (wie in dem vor-gehenden Kapitel erzählt wird), und Jeder nahm die,welche er wollte, in seine Gewalt und zur Uebergabean, obgleich es geboten war, Niemand unter irgendeiner Bedingung zu schonen, sondern Alle zu vertil-gen. Wegen dieser Sünde werden sie zwar getadelt,aber von Niemand vor Gericht gefordert; auch fingensie deshalb keinen Krieg gegen einander an, und Kei-ner mischte sich deshalb in die Angelegenheiten desAnderen. Im Gegentheil überfielen sie die Benjami-ten, welche die Anderen beleidigt und das Friedens-band so gelöst hatten, dass Niemand von den verbün-deten Stämmen bei ihnen einen sicheren Aufenthalthatte. In drei Schlachten wurden sie besiegt, und dannnach Kriegsrecht die Schuldigen sammt den unschul-digen getödtet, was sie nachher in zu später Reue be-klagten.

Diese Beispiele bestätigen, was ich über das Rechtder einzelnen Stämme gesagt habe. Man wird nun fra-gen, wer den Nachfolger des Vornehmsten des Stam-mes wählte? Allein hierüber ergiebt die Bibel nichtsZuverlässiges; ich vermuthe aber, dass, da jederStamm in Geschlechter getheilt war, deren Häupteraus den Aeltesten der Familie gewählt wurden, derAelteste von diesen dem Fürsten nachfolgte. DennMoses erwählte aus den Aeltesten einen Rath von

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Siebzig, welche mit ihm den hohen Rath bildeten, undwelche nach Josua's Tode das Reich verwalteten. Sieheissen in der Bibel die Aeltesten, und bei den Judenwerden gewöhnlich unter den Aeltesten die Richterverstanden, was Allen bekannt sein wird. Es kommtindess für mich wenig darauf an; es genügt, dass ichgezeigt, wie nach Mosis Tode Niemand das Amteines obersten Herrschers gehabt hat. Denn da Allesnicht von dem Beschlusse Eines oder eines Rathesoder des Volkes abhing, sondern Einzelnes von die-sem Stamm, Anderes von einem anderen mit gleichenRechten besorgt wurde, so folgt, dass die Staatsformnach Mosis Tode weder monarchisch noch aristokra-tisch noch demokratisch geblieben ist, sondern theo-kratisch, 1) weil das königliche Haus des Reichs derTempel war, und nur dadurch, wie ich gezeigt, alleStämme Glieder eines Staats, 2) weil alle Bürger Gottals ihrem obersten Richter Treue schwören mussten;ihm allein sollten sie in Allem unbedingt gehorchen;3) endlich, weil der höchste Feldherr, wo ein solchernöthig war, nur von Gott allein erwählt wurde. WasMoses im Namen Gottes dem Volke ausdrücklichvoraussagt (Deuter. XIX. 15), bezeugt sachlich dieWahl Gideon's, Samson's und Samuel's. Unzweifel-haft sind deshalb auch die anderen gläubigen Führerebenso gewählt worden, wenn die Geschichte es auchvon ihnen nicht erwähnt.

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Nach Feststellung dessen habe ich nun zu prüfen,wie weit diese Verfassung die Gemüther mässigenund sowohl die Herrscher wie die Regierten so inOrdnung halten konnte, dass Jene keine Tyrannen undDiese keine Rebellen wurden.

Die Verwalter oder Inhaber der Herrschaft suchenfür Alles, was sie thun, immer den Schein Rechtenszu gewinnen und das Volk von der Rechtmässigkeitdesselben zu überreden; sie vermögen dies leicht, dadie Auslegung des Rechts nur ihnen zusteht. Dadurcherhalten sie die grösste Freiheit zu Allem, was siewollen und ihre Begierde verlangt; umgekehrt verlie-ren sie diese Freiheit, wenn das Recht der Gesetzeser-klärung bei einem Anderen ist, und wenn zugleich diewahre Erklärung desselben so einleuchtend für Alleist, dass Niemand sie bezweifeln kann. Deshalb warden Fürsten der Juden ein grosser Anlass zu Unthatendadurch entzogen, dass das Recht der Gesetzesausle-gung den Leviten allein gegeben worden war (Deut.XXI. 5), welche an der Verwaltung nicht Theil hattenund kein Land besassen, und deren ganze Ehre undGlück von der wahren Auslegung der Gesetze bedingtwar. Ferner sollte das ganze Volk alle sieben Jahre aneinem bestimmten Ort sich versammeln, damit es vondem Hohenpriester in den Gesetzen unterrichtetwerde, und ausserdem sollte Jeder mit steter grosserAufmerksamkeit das Gesetzbuch lesen und durchlesen

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(Deut. XXXI. 9 u. f.). Die Fürsten mussten daherschon ihretwegen dafür sorgen, dass sie Alles nachden gegebenen Gesetzen, die Alle kannten, verwalte-ten, wenn das Volk sie ehren und als die Diener derRegierung Gottes und Stellvertreter desselben in Ehr-furcht betrachten sollte. Ohnedem hätten sie den hefti-gen Hass des Volkes, wie es der theologische zu seinpflegt, auf sich geladen. Zur Hemmung der unbe-zähmten Willkür der Fürsten kam noch hinzu, dassdie Miliz aus allen Bürgern vom 20. bis 60. Jahreohne Ausnahme gebildet wurde, und dass die Fürstenkeine fremden Söldlinge in das Heer aufnehmen durf-ten. Dies war von grosser Bedeutung; denn sicherkönnen Fürsten durch Soldaten, denen sie Sold zah-len, das Volk unterdrücken; auch fürchten sie nichtsmehr als die Freiheit der Soldaten, die zugleich Bür-ger sind, und durch deren Tapferkeit, Arbeit und Auf-wand von Blut die Freiheit und der Ruhm des Vater-landes gewonnen worden ist. Deshalb schalt Alexan-der vor der zweiten Schlacht gegen Darms nach ge-hörtem Rath des Parmenio nicht Diesen, der den Rathgegeben, sondern den Polysperchon, der bei ihmstand. Denn er vermochte, wie Curtius 4. Buch 3, 13sagt, es nicht, den Parmenio, den er bereits vor Kur-zem heftig behandelt hatte, nochmals zu verletzen,und er konnte die Freiheit der Macedonier, welche eram meisten fürchtete, nicht eher unterdrücken, als bis

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er die Zahl der Soldaten aus den Gefangenen weitüber die der Macedonier vermehrt hatte. Erst dannkonnte er seinem Willen freien Lauf lassen, den erselbst nicht bezwingen konnte, und der lange durchdie freie Meinungsäusserung seiner Mitbürger inSchranken gehalten worden war. Wenn sonach dieseFreiheit der als Soldaten dienenden Bürger schon dieFürsten weltlicher Staaten in Schränken hält, welchenur nach dem Ruhm der Siege lechzen, so musste sienoch weit mehr die Fürsten der Juden in Zaum halten,da deren Soldaten nicht für den Ruhm des Fürsten,sondern Gottes kämpften und die Schlacht nur began-nen, wenn die Antwort Gottes es gebilligt hatte.

Dazu kam, dass alle Fürsten der Juden durch diesesBand der Religion verknüpft waren; wäre Einer vonihr abgefallen, so hätte er das göttliche Recht einesJeden verletzt und hätte von den Andern als Feind be-handelt und mit Recht unterdrückt werden können.

Ferner verband sich damit drittens die Furcht voreinem neuen Propheten. Denn sobald Einer von gutemLebenswandel durch die anerkannten Zeichen sich alsProphet erwiesen hatte, so erlangte er damit die höch-ste Gewalt, d.h. er konnte wie Moses im Namen Got-tes, der ihm allein sich offenbarte, sprechen undbrauchte nicht wie die Fürsten die Vermittlung desHohenpriesters. Unzweifelhaft konnten solche Pro-pheten das unterdrückte Volk leicht an sich ziehen

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und durch leichte Zeichen nach ihren Absichten stim-men. Verwaltete dagegen der Fürst die Geschäfte gut,so konnte er in Zeiten sorgen, dass der Prophet zuvorvor Gericht ihm Rechenschaft geben musste und vonihm geprüft wurde, ob sein Lebenswandel gut, und ober sichere und zweifellose Zeichen seiner Sendunghabe, und ob das, was er Namens Gottes verkündenwollte, mit der angenommenen Lehre und den allge-meinen Gesetzen des Landes übereinstimme. Wardies nicht der Fall, oder die Lehre eine neue, so konn-te er ihn im Wege Rechtens zum Tode verurtheilen;im Uebrigen wurde er auf das blosse Ansehn undZeugniss des Fürsten zugelassen.

Dazu kam viertens, dass der Fürst den übrigenVornehmen nicht vorging, und dass die Herrschaftihm nicht durch Erbrecht, sondern nur wegen seinerTugend und seines Alters gebührte.

Endlich kam hinzu, dass die Fürsten und die ganzeMiliz den Krieg nicht mehr als den Frieden liebenkonnten, da die Miliz, wie gesagt, nur aus den Bür-gern bestand, und daher die Geschäfte des Kriegesvon denselben wie die Arbeiten des Friedens besorgtwurden. Der Soldat im Lager war auch der Bürger aufdem Markte; der Hauptmann im Lager war der Rich-ter im Gericht, und der Feldherr im Lager war derFürst im Staate. Deshalb verlangte Niemand nachKrieg um des Krieges, sondern um des Friedens

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willen und zum Schutz der Freiheit, und der Fürstmochte sich auch schon deshalb von neuen Unterneh-men fern halten, weil er dann den Hohenpriester nichtanzugehen und vor ihm gegen seine eigene Würdestehen zu müssen brauchte.

So viel über die Gründe, welche die Fürsten in denSchranken hielten. Es ist nun zu sehen, wie das Volkin Ordnung gehalten wurde. Die Grundlagen des Rei-ches geben auch darüber volle Auskunft. Denn beinur geringer Aufmerksamkeit sieht man, dass sie eineso starke Liebe in den Gemüthern der Bürger habenerzeugen müssen, dass ihnen nichts so schwer war,als das Vaterland zu verrathen oder von ihm abzufal-len. Alle mussten so ihm ergeben sein, dass sie eherdas Aeusserste als eine fremde Herrschaft erduldenmochten. Nachdem sie ihr Recht auf Gott übertragen,und ihr Reich ein Reich Gottes sein sollte, und sie al-lein dessen Kinder, die anderen Völker aber GottesFeinde, so hegten sie deshalb den stärksten Hassgegen diese, da sie auch dies für fromm hielten(Psalm CXXXIX. 21, 22). Deshalb musste ihnennichts schrecklicher sein, als einem Fremden Treue zuschwören und Gehorsam zu geloben. Es gab kein grö-sseres Verbrechen, und nichts Schändlicheres konntebei ihnen erdacht werden, als das Vaterland, d.h. dasReich Gottes, zu verrathen. Schon das Wohnen au-sserhalb des Landes galt als ein Verbrechen, weil man

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den Dienst Gottes, zu dem Jeder schuldig war, nur imVaterlande üben konnte; denn nur hier war die heiligeErde; überall anders war sie unrein und weltlich. Des-halb klagt David über seine Verbannung zu Saul mitden Worten: »Wenn Dich welche gegen mich aufre-gen, so sind es verworfene Menschen, weil sie michausschliessen, dass ich die Erbschaft Gottes nicht be-treten kann, und mir sagen: Gehe und verehre diefremden Götter.« Deshalb wurde auch kein Bürgermit der Verbannung bestraft, was bemerkenswerth ist;denn wer sündigt, ist zwar der Strafe, aber nicht derSchande verfallen.

Der Juden Liebe zum Vaterlande war deshalb keineeinfache Liebe, sondern eine Frömmigkeit, welche mitdem Hass gegen die übrigen Völker durch den tägli-chen Gottesdienst gepflegt und so genährt wurde, dasssie zur anderen Natur wurde. Denn ihr täglicher Got-tesdienst war nicht allein verschieden, sondern entge-gengesetzt, und dadurch kam es, dass sie vereinzeltund von den übrigen Völkern getrennt blieben. Ausden täglichen Verwünschungen musste ein starkerHass entstehen, der sich fest in die Seele grub; dennes war ein Hass, der aus grosser Andacht und Fröm-migkeit entsprungen und für fromm gehalten wurde,und einen grösseren und hartnäckigeren kann es nichtgeben. Auch fehlte die gewöhnliche Ursache nicht,welche den Hass immer mehr entzündet. Dieser Hass

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wurde nämlich erwidert; die anderen Völker warenhöchst feindselig gegen sie gesinnt.

Wie sehr Alles dies, die Freiheit in ihrem Staate,die Ergebenheit an das Vaterland, das unbeschränkteRecht auf alle Anderen und der nicht blos erlaubte,sondern fromme Hass gegen diese, die Feindschaftaller Anderen, die Eigenthümlichkeit ihrer Sitten undGebräuche, ich sage, wie sehr dies die Gemüther derJuden stärken musste, um Alles mit besonderer Stand-haftigkeit und Kraft für das Vaterland zu ertragen,lehrt die Vernunft deutlich und bezeugt die Geschich-te. Denn sie haben, so lange die Stadt stand, nie unterfremder Herrschaft ausgehalten, und Jerusalem hiessdeshalb die aufrührerische Stadt (Hezra, IV. 12, 15).Auch das zweite Reich, was kaum der Schatten desersten war, da die Hohenpriester auch die fürstlicheHerrschaft sich angemasst hatten, konnte nur schwervon den Römern zerstört werden, wie Tacitus im 2.Buch seiner Geschichten mit den Worten bezeugt:»Vespasian brachte den jüdischen Krieg durch dienoch übrige Eroberung von Jerusalem zu Ende; einhartes und schweres Werk, mehr wegen des Charak-ters des Volkes und seines hartnäckigen Aberglau-bens, als dass die Belagerten die genügende Kraft, umdie Noth zu ertragen, gehabt hätten.«

Ausser diesen nur von der Gesinnung abhängigenEigenthümlichkeiten gab es in diesem festen Staate

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eine andere, welche die Bürger von jedem Abfall undvon dem Verlassen des Vaterlandes zurückhielt, näm-lich der Nutzen, welcher die Stärke und das Lebenaller menschlichen Handlungen ausmacht. Denn nir-gends besassen die Bürger mit grösserem Recht ihreGüter, als die Unterthanen in diesem Staate, die einengleichen Antheil mit dem Fürsten an dem Lande undAeckern hatten, und wo Jeder in Ewigkeit Eigenthü-mer seines Antheils blieb. Denn wenn Jemand aus Ar-muth sein Grundstück oder seinen Acker verkaufthatte, musste es ihm bei Eintritt des Jubeljahres zu-rückgegeben werden, und ähnlich waren andere Ein-richtungen, welche den Verlust der Güter hinderten.Endlich konnte nirgends die Armuth leichter zu ertra-gen sein als hier, wo die Liebe zu dem Nächsten, d.h.gegen seine Mitbürger mit der höchsten Frömmigkeitgeübt wurde, um die Gnade Gottes, ihres Königs, zuerlangen.

So konnte den jüdischen Bürgern nur in ihremStaate wohl sein, und der Aufenthalt ausser demsel-ben war ihnen der grösste Schaden und Schande. Zuihrer Anhänglichkeit an das Vaterland und zur Besei-tigung der Bürgerkriege und Streitigkeiten trug auchwesentlich bei, dass Niemand Jemand Seinesgleichen,sondern nur Gott diente, und dass die Milde undLiebe zu seinem Mitbürger als die höchste Frömmig-keit galt, welche durch den gegenseitigen Hass

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zwischen Juden und dem übrigen Völkern erheblichgesteigert wurde.

Ferner half die strenge Zucht des Gehorsams, in dersie erzogen wurden; denn sie mussten Alles nach be-stimmten gesetzlichen Vorschriften thun. Man durftenicht nach Belieben pflügen, sondern nur zu bestimm-ten Zeiten und Jahren und nur mit einer Art Vieh zu-gleich. Auch das Säen und Ernten war nur auf einebestimmte Art und zu bestimmter Zeit gestattet, undihr ganzes Leben war eine fortwährende Hebung desGehorsams. (Man sehe Kap. 5 in Betreff des Nutzensder Gebräuche.) In Folge dieser Gewöhnung galtihnen selbst dieser Zwang nur als Freiheit, und des-halb verlangte Jeder nach Geboten, nicht nach derenAufhebung.

Ebenso half es, dass sie zu bestimmten Jahreszeitensich der Müsse und Lust zu überlassen schuldigwaren; nicht damit sie ihrer Lust, sondern damit sieGott mit Lust gehorchten. Dreimal im Jahre waren sieGäste Gottes (Deut. XVI.); am siebenten Tage derWoche ruhten sie von jeder Arbeit und mussten sichder Müsse ergeben, und daneben waren noch andereZeiten bestimmt, in denen anständige Lustbarkeitenund Gastmahle nicht blos erlaubt, sondern gebotenwaren. Es giebt nichts Wirksameres als dies für dieGewinnung der Herzen der Menschen; denn nichtsfesselt die Seele so als die Fröhlichkeit, welche

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zugleich aus der Andacht, d.h. aus Liebe und Bewun-derung vereint entspringt. Auch konnten sie dessendurch Gewohnheit nicht leicht überdrüssig werden;denn der Gottesdienst an den Festen war selten unddabei mannichfach. Dazu kam die grosse Verehrungdes Tempels, an der sie wegen der besonderen Ge-bräuche und der vor dem Eintritt zu beobachtendenHandlungen auf das Gewissenhafteste festhielten, sodass sie noch heilte mit Schaudern jene Unthat desManasse lesen, welcher die Errichtung eines Götzen-bildes selbst in dem Tempel gestattet hatte. Auch fürdie Gebräuche, welche im Innersten Heiligthum ge-wissenhaft beobachtet wurden, war die Eifersucht desVolkes nicht geringer, und man brauchte deshalb dasGerede und die Vorurtheile desselben nicht zu fürch-ten. Niemand wagte über göttliche Dinge ein Urtheilzu fällen, sondern Allem, was ihnen auf das Ansehneiner göttlichen, im Tempel empfangenen Antwortoder eines von Gott erlassenen Gesetzes gebotenwurde, hatten sie ohne alles Befragen der Vernunft zugehorchen.

Damit glaube ich die wesentlichen Verhältnissedieses Staates zwar kurz, aber doch deutlich klar ge-macht zu haben. Ich habe nun noch die Ursachen zuuntersuchen, weshalb die Juden so oft von dem Geset-ze abgefallen sind, weshalb sie so oft unterjocht wor-den sind, und weshalb ihr Staat zuletzt ganz zerstört

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werden konnte. Vielleicht sagt man, dies sei wegendes Volkes Ungehorsam geschehen; allein solche Ant-wort ist kindisch; denn weshalb war dieses Volk un-gehorsamer als die übrigen? etwa von Natur? Alleindie Natur erzeugt keine Völker, sondern nur Einzelne,welche erst durch Sprache, Gesetze und Sitten zu be-sonderen Völkern werden. Nur aus diesen beiden letz-ten, aus den Gesetzen und Sitten, können die beson-deren geistigen Anlagen, die besonderen Zuständeund die besonderen Vorurtheile hervorgehen. Wennalso auch wirklich die Juden ungehorsamer wie ande-re Sterbliche gewesen wären, so traf dies ihre fehler-haften Gesetze und Sitten. Allerdings hätte Gott,wenn er ihren Staat hätte dauerhafter machen wollen,ihnen auch andere Rechte und Gesetze und eine ande-re Verwaltung derselben geben müssen. Man kanndeshalb nur sagen, dass Gott ihnen schon gezürnthabe, nicht blos, wie Jeremias XXVII. 31 sagt, vonder Erbauung der Stadt ab, sondern schon von demErlass der Gesetze ab. Dieses bezeugt auch EzechielXX. 25 mit den Worten: »Denn ich gab ihnen keineguten Einrichtungen und keine Rechte, nach denen sieleben konnten, und ich habe sie verunreinigt mit ihrenGaben, indem ich alle Oeffnung der Gebärmutter (d.h.das Erstgeborne) zurückwies, damit ich sie verdürbe,und sie erkenneten, dass ich Jehova bin.« Damit dieseWorte und die Ursache der Zerstörung recht

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verstanden werden, ist festzuhalten, dass zuerst dieAbsicht war, den ganzen heiligen Dienst den Erstge-bornen zu übergeben und nicht den Leviten (Num. III.17). Allein nachdem Alle ausser den Leviten das Kalbangebetet hatten, sind die Erstgebornen verstossenund verunreinigt worden, und an deren Steile sind dieLeviten erwählt (Deut. X. 8), welche Veränderungmich, je länger ich sie betrachte, um so mehr zwingt,in des Tacitus Worte auszubrechen, dass Gottes Ab-sicht damals nicht deren Sicherheit, sondern dieRache gewesen. Und ich staune, dass der Zorn in derhimmlischen Seele so gross gewesen, dass er selbstdie Gesetze, die immer nur die Ehre des ganzen Vol-kes, sein Wohl und seine Sicherheit bezwecken, in derAbsicht, sich zu rächen und das Volk zu strafen, ab-gefasst, so dass die Gesetze keine Gesetze, d.h. nichtdas Heil des Volkes, sondern seine Strafe und seineBusse wurden. Denn alle Geschenke, welche sie denLeviten und Priestern zu bringen hatten, und auchdass sie die Erstgeburt einlösen mussten und den Le-viten ein Kopfgeld zahlen, und endlich, dass die Levi-ten allein den Zutritt zu dem Heiligthum hatten, warendas stete Zeugniss der Unreinigkeit und Verstossungder Uebrigen. Ferner konnten die Leviten ihnen stetsVorwürfe machen. Denn unzweifelhaft befanden sichunter so vielen Tausenden lästige Religionsgrübler;deshalb hatte das Volk die Neigung, die Thaten der

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Leviten, die ja auch Menschen waren, zu beobachtenund Alle des Vergehens um Eines willen anzuklagen.Daher erhoben sich fortwährend schlimme Gerüchte,und sie wurden unmuthig, dass sie müssige und ver-hasste Personen, die nicht mit ihnen verwandt waren,ernähren mussten, namentlich wenn das Getreidetheuer war.

Es ist also nicht zu verwundern, dass in den ruhi-gen Zeiten, wo die offenbaren Wunder aufhörten, undkeine Männer mit grossem Ansehn auftraten, der ge-reizte und geizige Sinn des Volkes ermattete und zu-letzt von dem Gottesdienst, der zwar göttlich, aber fürsie entehrend und verdächtig war, abfielen und nachNeuem verlangte; und dass die Fürsten, welche immerstreben, die Herrschaft allein zu gewinnen, nacheinem Wege suchten, wo sie das Volk sich verbändenund von dem Hohenpriester abzögen, ihm Alles ge-statteten und neue Gottesdienste einführten. Wäre derStaat, so wie es zuerst die Absicht war, eingerichtetworden, und hätten alle Stämme immer gleiche Rech-te und gleiche Ehre gehabt, so würde Alles sich inRuhe erhalten haben; denn wer hätte dann das heiligeRecht seiner Blutsverwandten verletzen mögen? Washätte man anders wollen können, als seinen Bruderund seine Eltern aus Anhänglichkeit an die Religionzu ernähren und ihnen die Auslegung der Gesetze zuüberlassen und von ihnen die göttlichen Antworten zu

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erwarten? Ferner wären auf diese Weise alle Stämmeweit enger unter einander verbunden gewesen, wennAlle das gleiche Recht zur Verwaltung des heiligenDienstes gehabt hätten, und man hätte nichts zufürchten brauchen, selbst wenn die Wahl der Leviteneinen anderen Grund als Zorn und Rache gehabthätte.

Allein sie hatten, wie gesagt, einen auf sie erzürn-ten Gott, welcher, um die Worte des Ezechiel zu wie-derholen sie durch ihre Geschenke verunreinigte undalle Erstgeburt der Mutter zurückwies, damit er sievertilge. Dies wird auch durch die Geschichte selbstbestätigt. Sobald das Volk in der Wüste Müsse hatte,waren viele Männer und nicht von dem gemeinenVolke über diese Wahl ungehalten und begannen zuglauben, dass Moses nicht nach Befehl Gottes, son-dern nach seinem Belieben Alles einrichte; weil ernämlich seinen Stamm vor Allen ausgewählt und dasAmt des Hohenpriesterthums seinem Bruder in Ewig-keit verliehen hatte. Sie begannen deshalb einen Auf-ruhr und gingen ihn mit dem Geschrei an, dass sieAlle gleich heilig seien, und dass er selbst in unge-rechter Weise sich über Alle erhebe. Moses konnte siedurch keine Gründe beruhigen, sondern Alle wurdenmittelst eines Wunders zum Zeichen seines Glaubensvernichtet. Daraus entstand ein neuer und allgemeinerAufstand des Volkes; denn sie glaubten, Jene seien

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nicht durch den Richterspruch Gottes, sondern durchdie Kunst des Moses vernichtet worden. Nach gro-ssem Blutvergiessen und Pest beruhigte er sie endlich,aber so, dass Alle lieber sterben als leben wollten.Der Aufstand hatte zwar aufgehört, aber die Eintrachtwar nicht eingetreten. Die Bibel bezeugt dies Deut.XXXIII. 21, wo Gott, nachdem er dem Moses ver-kündigt, dass das Volk nach seinem Tode von demgöttlichen Dienst abfallen werde, ihm sagt: »Denn ichkenne sein Begehren, und was es heute vorbereitet, solange ich es noch nicht in das Land geführt habenwerde, wie ich geschworen habe.« Und bald daraufsagt Moses dem Volke: »Denn ich kenne Euren Auf-ruhr und Euren Ungehorsam. Wenn Ihr, so lange ichmit Euch gelebt habe, aufrührerisch gegen Gott gewe-sen seid, so werdet Ihr es nach meinem Tode nochmehr sein.«

Und so geschah es auch wirklich, wie bekannt ist.Daher kamen die vielen Neuerungen, die grosse Aus-gelassenheit, Ueppigkeit und Sorglosigkeit, wodurchAlles schlimmer zu werden begann, bis sie nach häu-figen Unterjochungen das göttliche Recht völlig bra-chen und nach einem sterblichen König verlangten,damit der Königssitz des Reiches kein Tempel, son-dern ein Hof sei, und alle Stämme nicht mehr gemein-same Bürger durch das göttliche Recht und Hoheprie-sterthum, sondern durch den König wären. Dies gab

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starken Anlass zu neuem Aufruhr, woraus zuletzt derUntergang des ganzen Staates hervorging. Denn waskönnen die Könige weniger ertragen, als ein bittwei-ses Regieren, wo sie über ihre Herrschaft noch eineandere sich gefallen lassen sollen? Erst wurden sieaus den Bürgern erwählt und waren mit der Würde,zu der sie gelangt, zufrieden; allein nachdem dieSöhne die Herrschaft vermöge des Erbrechts erlang-ten, begannen sie allmählich Alles zu verändern,damit sie die Herrschaft allein hätten, deren grösserenTheil sie entbehrten, so lange die Gesetzgebung nichtvon ihnen ausging, sondern von dem Hohenpriester,welcher die Gesetze in dem Heiligthum verwahrte unddem Volke erklärte. Dadurch waren sie wie Untertha-nen an die Gesetze gebunden und konnten sie nichtabschaffen oder neue mit gleichem Ansehn geben.Das Recht der Leviten schloss die Könige ebenso wiedie Unterthanen als Laien von der Verwaltung derHeiligthümer aus, und die ganze Sicherheit ihrerHerrschaft hing von dem Willen blos eines Einzigenab, der als Prophet galt, wovon sie die Beispieleschon erlebt hatten. Denn Samuel gab dem Saul mitgrosser Freiheit Befehle und konnte leicht wegeneines Fehltrittes Saul's die Herrschaft auf David über-tragen. Deshalb hatten die Könige einen Herrscherüber ihrer Herrschaft und regierten nur bittweise.

Um dies zu beseitigen, liessen sie andere Tempel

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und Götter einweihen, damit die Leviten nicht mehrbefragt zu werden brauchten; dann suchten sie nachPersonen, die im Namen Gottes weissagten, damit siePropheten hätten, welche sie den wahren gegenüber-stellen könnten. Allein alle ihre Versuche erreichtennicht den Zweck; denn die Propheten waren auf Allesvorbereitet und warteten die passende Zeit ab, näm-lich den Eintritt des Nachfolgers, dessen Herrschaft,so lange noch das Andenken des Vorgängers lebendigbleibt, immer schwankend ist. Dann konnten sieleicht, auf die göttliche Autorität gestützt, irgendeinen feurigen und durch Tugend ausgezeichnetenKönig einführen, der das göttliche Recht wiederher-stellen und die Herrschaft oder einen Theil desselbenmit Recht besitzen konnte. Aber auch die Prophetenkonnten damit nicht weiter kommen; denn wenn sieauch den Tyrannen loswurden, so blieben doch dieUrsachen, und das Ergebniss war, dass sie mit vielemBlutvergiessen nur einen neuen Tyrannen sich erkaufthatten. Deshalb nahmen die Streitigkeiten und Bür-gerkriege kein Ende; die Ursachen für die Verletzun-gen des göttlichen Rechts blieben immer dieselbenund konnten nur mit dem Reiche selbst beseitigt wer-den.

Damit habe ich dargelegt, wie die Religion in denjüdischen Staat eingeführt worden ist, und wie derStaat sich für immer hätte halten können, wenn der

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gerechte Zorn des Gesetzgebers dessen Fortdauer ge-stattet hätte. Da dies nicht geschehen konnte, mussteer zuletzt untergehen. Ich habe hier nur von dem er-sten Reiche gehandelt; denn das zweite war kaum einSchatten des ersten, da das Recht der Perser, derenUnterthanen sie waren, in diesem zweiten Reiche galt;und als sie die Freiheit erlangten, maassten die Ho-henpriester sich die fürstlichen Rechte an und erlang-ten dadurch die unbeschränkte Herrschaft. Damit ent-stand für die Priester eine grosse Versuchung, zu herr-schen und das Hohepriesterthum zu gewinnen, undich brauche deshalb über dieses zweite Reich einMehreres nicht zu sagen. Ob aber das erste Reich inseiner dauerhaften Verfassung nachzuahmen sei, oderob es fromm ist, dasselbe, so weit es angeht, nachzu-ahmen, wird aus dem Folgenden sich ergeben. ZumSchluss will ich nur hier bemerken, dass, wie ich frü-her angedeutet, aus dem in diesem Kapitel Angeführ-ten hervorgeht, dass das göttliche Recht oder die Reli-gionsverfassung aus einem Vertrage entspringt, ohnewelchen nur das natürliche Recht vorhanden ist. Des-halb waren die Juden zu keiner Frömmigkeit gegendie Völker verbunden, welche an diesem Vertragekeinen Theil genommen hatten, sondern sie hatten nurgegen ihre Mitbürger Pflichten.

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Achtzehntes Kapitel

Aus dem Staat und der Geschichte der Juden werdeneinige politische Lehren abgeleitet.

Obgleich der jüdische Staat, wie ich ihn in dem vo-rigen Kapitel geschildert habe, für immer hätte beste-hen können, so ist doch seine Nachahmung wedermöglich noch räthlich. Denn wenn die Menschen ihrRecht auf Gott übertragen wollten, so müssten sie,wie die Juden, mit Gott einen ausdrücklichen Vertragschliessen, wozu nicht blos die Erklärung der Ueber-tragenden, sondern auch Gottes nöthig wäre, auf dendas Recht übertragen werden soll. Gott hat aber durchdie Apostel offenbart, dass der Vertrag mit Gott nichtmehr mit Tinte oder auf steinernen Tafeln, sonderndurch den Geist Gottes in die Herzen geschriebenwerde. Ferner würde eine solche Staatsform nur fürDie nützlich sein, welche für sich allein, ohne auswär-tigen Verkehr leben und sich in ihre Grenzen ein-schliessen und von dem übrigen Erdkreise trennenwollten; nicht aber für Die, welche mit Anderen ver-kehren müssen. Deshalb kann diese Staatsform nurfür sehr Wenige passen. Wenn sie indess auch nichtin Allem nachahmungswerth ist, so hat sie doch Vie-les enthalten, was die Aufmerksamkeit verdient, und

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dessen Nachahmung vielleicht sehr zweckmässig ist.Da ich indess nicht absichtlich über den Staat handelnwill, so lasse ich das Meiste davon unerwähnt undwill nur das berühren, was in meine Aufgabe fällt.Dahin gehört, dass es nicht gegen das Reich Gottesstreitet, wenn der Inhaber der höchsten Staatsgewaltgewählt wird; denn nachdem die Juden ihr Recht aufGott übertragen hatten, übergaben sie dem Moses diehöchste Staatsgewalt. Dieser allein hatte danach dasRecht, die Gesetze im Namen Gottes zu erlassen undaufzuheben, die Religionsdiener zu wählen, Recht zusprechen, zu lehren, zu strafen und Allen Alles unbe-schränkt zu befehlen. Ferner erhellt, dass die Religi-onsdiener, obgleich sie die Ausleger der Gesetzewaren, doch nicht Recht sprechen, noch Jemand ausder Gemeinschaft ausschliessen konnten; dies standnur den Richtern und den aus dem Volke erwähltenFürsten zu (Josua VI. 26, Richter XXI. 18 und 1.Sam. XIV. 20).

Neben diesem findet sich, wenn man auf die Erfol-ge und Erlebnisse der Juden achtet, noch mehreresBemerkenswerthes. Erstens gab es bei ihnen keineReligionssekten vor der Zeit, wo die Hohenpriester imzweiten Reiche die Macht der Gesetzgebung und Ver-waltung erlangt und zur Befestigung dieser Gewaltdas Recht des Fürsten sich angemaasst hatten undKönige heissen wollten. Der Grund liegt auf der

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Hand. Im ersten Reiche konnten die Beschlüsse ihrenNamen von keinem Hohenpriester haben, da er nichtdas Recht der Gesetzgebung besass, sondern nur aufBefragen des Fürsten oder des Rathes die AntwortenGottes mitzutheilen hatte. Deshalb hatten sie keinenAnlass, etwas Neues zu beschliessen, sondern sie ver-theidigten und verwalteten nur das Gewohnte undHergebrachte. Nur wenn sie die Gesetze unverletzt er-hielten, konnten sie ihre Freiheit selbst gegen denWillen der Fürsten aufrecht erhalten. Nachdem sieaber auch die Macht zur Leitung der Reichsgeschäfteund das fürstliche Recht zu dem Hohenpriesterthumhinzugenommen hatten, begann ihr Bestreben, in Re-ligions- und sonstigen Angelegenheiten einen be-rühmten Namen sich zu machen, indem sie Alles mitpriesterlicher Autorität entschieden und täglich Neue-rungen in den Gebräuchen, in dem Glauben und sonsteinführten, die ebenso heilig und gültig sein solltenwie die Gesetze Mosis. Dadurch versank die Religionin einen verderblichen Aberglauben, und der wahreSinn und die Auslegung der Gesetze wurde verdor-ben. Dazu kam, dass die Hohenpriester in der Zeit,wo sie während der Wiederherstellung des Reichssich den Weg zu der fürstlichen Gewalt bahnten, demVolke Alles bewilligten, um es an sich zu ziehen; siebilligten die Handlungen der Menge, selbst wenn siegottlos waren, und bequemten die Bibel ihren

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schlechten Sitten an. Malachias bezeugt dies aus-drücklich; nachdem er die Priester seiner Zeit geschol-ten und Verächter des Namens Gottes genannt hat,fährt er in seiner Züchtigung so fort: »Die Lippen desHohenpriesters sind die Wächter der Wissenschaft,und das Gesetz wird aus ihrem Munde verlangt, weilsie Abgesandte Gottes sind; Ihr aber seid vom Wegeabgewichen und habt das Gesetz zu einem Schadenfür Viele gemacht; Ihr habt den Vertrag Levi gebro-chen, sagt der Gott der Heerschaaren.« So fährt erfort, sie anzuklagen, dass sie die Gesetze willkürlichauslegten und nur auf die Personen, aber nicht aufGott achteten. Es ist gewiss, dass die Hohenpriesterdies nie so vorsichtig ausführen konnten, dass nichtdie Klügeren es bemerkt hätten. Deshalb behauptetendiese mit zunehmender Kühnheit, dass nur die ge-schriebenen Gesetze befolgt zu werden brauchten, unddass die Beschlüsse, welche die getäuschten Pharisä-er, die nach des Josephus Alterthümer meist aus nied-rigem Volke bestanden, die Ueberlieferung der Väternannten, nicht befolgt zu werden brauchten. Wie demauch sei, so ist gewiss, dass die Schmeichelei der Ho-henpriester, die Verderbniss der Religion und Gesetzeund das unglaubliche Anwachsen dieser Uebel vielund häufig Anlass zu Zank und Streit gegeben haben,welcher nicht beigelegt werden konnte. Denn wenndie Menschen in der Hitze des Aberglaubens und die

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eine Seite unter Beistand der Obrigkeit zu streiten be-ginnen, so ist die Beruhigung unmöglich und dieSpaltung in Sekten unvermeidlich.

Zweitens ist es merkwürdig, dass die Propheten,also einzelne Menschen, durch ihr freies Tadeln,Schelten und ihre Vorhaltungen die Menschen mehrerbittert als gebessert haben; da sie doch, wenn dieKönige sie ermahnten oder züchtigten, leicht nachga-ben. Die Propheten wurden selbst frommen Königenunerträglich wegen ihrer Macht, mit der sie über Allesurtheilten, ob es mit Recht oder unrecht geschehensei, und selbst die Könige züchtigten, wenn sie beieinem öffentlichen oder privaten Unternehmen gegenihren Ausspruch beharrten. Der König Asa, welchernach dem Zeugniss der Bibel fromm regiert hat,schickte den Propheten Ananias zu einem Bäcker (2.Chronik XVI.), weil Ananias ihn wegen eines mitdem König von Armenien geschlossenen Vertragesoffen zu tadeln und zu schelten wagte. Auch sonst fin-det man Beispiele, welche zeigen, dass die Religionvon dieser Freiheit mehr Schaden als Vortheil gehabthat, wobei ich gar nicht erwähnen will, dass aus die-sen Aussprüchen der Propheten grosse Kriege ent-standen sind.

Drittens ist auch bemerkenswerth, dass in der Zeit,wo das Volk die Herrschaft hatte, nur ein Bürgerkriegstattgefunden hat, der aber völlig gestillt wurde, und

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bei dem die Sieger die Besiegten so mild behandelten,dass sie dieselben in deren alte Würden und Machtwieder einsetzten. Als aber das Volk, was an Königenicht gewöhnt war, die erste Verfassung in eine Mon-archie umänderte, nahmen die Bürgerkriege keinEnde, und die Schlachten wurden so grausam, dass esallen Glauben übersteigt; denn in einer Schlacht sind,was beinahe unglaublich ist, 50,000 Israeliten vonden Juden getödtet worden, und in einem anderen töd-teten die Israeliten viele Juden, deren Anzahl dieBibel nicht angiebt, nahmen den König gefangen, zer-störten die Mauern von Jerusalem, beraubten selbstden Tempel, um ihren maasslosen Zorn zu bekunden,und legten erst die Waffen nieder, als sie, beladen miteiner ungeheuren, ihren Brüdern abgenommenenBeute, gesättigt im Blute, nach Empfang von Geis-seln, dem Könige nur ein ganz verwüstetes Land ge-lassen hatten, wobei sie nicht auf die Treue, sondernauf die Ohnmacht der Juden sich verliessen. Dennnach wenigen Jahren begann, als die Juden sich etwaserholt hatten, ein neuer Kampf, in dem die Israelitenwieder Sieger blieben; da schlachteten sie 120,000Juden, führten über 200,000 Weiber und Kinder alsGefangene fort und machten nochmals grosse Beute.Durch solche und andere Kämpfe, die in der Ge-schichte nur kurz erwähnt sind, erschöpft, wurden dieJuden zuletzt die Beute ihrer Feinde. - Selbst wenn

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man die Zeiten des tiefen Friedens betrachtet, zeigtsich ein grosser Unterschied gegen die Zeit vor denKönigen, wo sie oft 40 Jahre, und einmal, was kaumglaublich ist, 80 Jahre ohne äusseren Krieg und innereUnruhen verbracht haben. Nachdem aber die Königezur Herrschaft gekommen waren, wurden die Kriegenicht mehr wie früher um des Friedens und der Frei-heit willen geführt, die Zeit Salomo's ausgenommen,dessen Tugend, die Weisheit nämlich, besser im Frie-den als im Kriege sich zeigen konnte. Da begann eineverderbliche Herrschsucht, welche den Meisten ihrenWeg zur Herrschaft zu einem blutigen machte. Auchdie Gesetze wurden während der Volksherrschaft un-verderbt erhalten und beharrlicher befolgt; denn vorden Königen gab es nur wenig Propheten, die dasVolk ermahnten, aber nach der Königswahl standenviele zugleich auf. So befreite Habadias deren hundertvom Tode und versteckte sie, damit sie nicht mit denUebrigen getödtet würden. Auch findet sich nicht,dass das Volk früher von falschen Propheten betrogenworden ist, als nach Einsetzung der Könige, denen siemeistens zustimmten. Dazu kommt, dass der Sinn desVolkes je nach den Umständen bald stolz, bald de-müthig war, und es im Unglück sich leicht besserteund zu Gott wendete, die Gesetze herstellte und sichso aus allen Gefahren heraushalf; dagegen war derSinn der Könige immer stolz; sie konnten ohne

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Schande nicht nachgeben und hielten so hartnäckig anihren Fehlern fest, bis der Staat völlig zu Grundeging.

Daraus ergiebt sich deutlich, 1) wie gefährlich esfür die Religion und den Staat ist, den Priestern einRecht auf Gesetzgebung oder Reichsverwaltung ein-zuräumen; vielmehr bleibt Alles beständiger, wennman die Priester so hält, dass sie nur auf Befragenihre Meinung äussern dürfen, und bis dahin nur daslehren und üben, was hergebracht und im Gebraucheist; 2) wie gefährlich es ist, rein spekulative Fragen indas göttliche Recht zu ziehen und Gesetze über strei-tige Ansichten zu erlassen; denn die Herrschaft ist daam gewaltsamsten, wo Meinungen, zu denen Jederberechtigt ist, und denen er nicht entsagen kann, fürein Verbrechen gelten. Selbst der Zorn des grossenHaufens herrscht da am meisten, wo solches ge-schieht; denn Pilatus liess nur, um den Zorn der Pha-risäer zu beschwichtigen, Christus hinrichten, ob-gleich er ihn für unschuldig hielt. Auch die Pharisäerbegannen die Religionsstreitigkeiten und die Ankla-gen gegen die Sadducäer wegen Gottlosigkeit nur, umdie Reichen aus ihren Würden zu vertreiben. Nachdiesem Beispiele der Pharisäer wurden die Schlachtenund die Heuchler von der gleichen Leidenschaft er-fasst, die sie Eifer für Gottes Recht nannten; überallverfolgten sie die durch Frömmigkeit ausgezeichneten

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und durch Tugend bekannten und deshalb der Mengeverhassten Männer; sie verurtheilten öffentlich derenMeinungen und entzündeten den Zorn der wildenMenge gegen sie. Diese dreiste Ausgelassenheit, diesich den Mantel der Religion umhängt, kann nichtleicht aufgehalten werden, namentlich wenn dieStaatsgewalten eine Religionssekte einführen, die sienicht begründet haben. Dann gelten sie nicht als Aus-leger des göttlichen Rechtes, sondern als Sektirer, undsie müssen die Lehrer der Sekte als die Ausleger desgöttlichen Rechts anerkennen. Dann pflegt das An-sehn der Obrigkeit hierin bei der Menge zu sinken,und das Ansehn der Lehrer steigt um so mehr; manmeint dann, dass auch die Könige deren Auslegungenanerkennen müssen. Um dieses Uebel zu vermeiden,giebt es für den Staat kein besseres Mittel, als Fröm-migkeit und Religionsdienst nur in die Werke zu set-zen, d.h. nur in die Ausübung der Liebe und Gerech-tigkeit, und im Uebrigen Jedem seine Meinung frei zulassen. Doch hierüber werde ich nachher ausführlichsprechen.

3) erhellt, wie nöthig es für den Staat und die Reli-gion ist, dass der höchsten Staatsgewalt die Entschei-dung über Recht und Unrecht zustehe. Denn wenndieses Recht, über die Thaten zu entscheiden, selbstden göttlichen Propheten nur zum grossen Schadendes Reiches und der Religion eingeräumt werden

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konnte, so kann es noch weniger solchen eingeräumtwerden, die weder das Kommende vorhersagen, nochWunder verrichten können. Auch hierüber werde ichim Folgenden noch besonders handeln.

4) endlich erhellt, wie verderblich es für ein Volk,was an Könige nicht gewöhnt war und schon Gesetzehatte, wurde, dass sie die Monarchie wählten. Denndas Volk konnte eine solche Herrschaft nicht ertragen,und ebenso mochte die königliche Macht die Gesetzeund die Rechte des Volkes nicht, welche von geringe-ren Gewalten eingesetzt waren. Noch weniger warensie bereit, diese Rechte zu vertheidigen, da bei derenEinrichtung keine Rücksicht auf den König, sondernnur auf das Volk oder den Rath, welche die Herr-schaft zu besitzen meinten, genommen werden konn-te; hätte daher der König die alten Rechte des Volkesvertheidigt, so hätte er mehr der Knecht wie der Herrgeschienen. Deshalb wird ein neuer Monarch mit gro-ssem Eifer suchen, neue Gesetze zu geben und dieRechte des Landes in seinem Interesse zu ändern unddas Volk so zu stellen, dass es den Königen nichtebenso leicht ihre Würde nehmen wie geben kann.

Allein es ist nicht minder gefährlich, einen Monar-chen zu beseitigen, wenn es auch auf alle Weise fest-steht, dass er ein Tyrann ist. Denn ein an die königli-che Herrschaft gewöhntes und nur durch diese gezü-geltes Volk wird einen Geringeren verachten und

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verspotten. Beseitigt es deshalb den Einen, so musses, wie sonst die Propheten, einen Anderen an dessenStelle setzen, der nicht freiwillig, sondern aus NothTyrann sein wird. Denn soll er, wenn die von demKönigsmord noch blutigen Hände der Bürger und derVatermord als eine gute That gefeiert werden, glau-ben, es sei blos geschehen, um nur an diesem Einenein Beispiel aufzustellen? Fürwahr, will er König seinund das Volk nicht als Richter des Königs und alsseinen Herrn anerkennen, und will er nicht blos bitt-weise regieren, so muss er den Tod seines Vorgängersrächen und um seinetwillen ein Beispiel geben, damitdas Volk eine solche That nicht noch einmal zu voll-bringen wage. Nun kann aber der Mord des Tyrannendurch den Tod von Bürgern nicht wohl gerächt wer-den, ohne die Sache des früheren Tyrannen zugleichin Schutz zu nehmen und seine Thaten zu billigen,und so wird er nothwendig in alle Fusstapfen dessel-ben treten. Daher kommt es, dass ein Volk zwar denTyrannen oft wechseln, aber niemals beseitigen unddie monarchische Staatsform in eine andere umwan-deln kann. Das englische Volk hat ein verhängniss-volles Beispiel dazu geliefert. Es suchte nach Grün-den, den Monarchen mit dem Schein Rechtens zu be-seitigen; allein nachdem dies geschehen war, konntees nichts weniger als die Staatsform verändern, viel-mehr gelangte es nach vielem Blutvergiessen nur

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dahin, dass der neue Monarch einen anderen Titelbekam, als wenn der ganze Streit nur den Titel betrof-fen hätte, und dieser konnte sich nur dadurch erhalten,dass er die königliche Nachkommenschaft ganz ver-nichtete, die Freunde des Königs und die einer sol-chen nur Verdächtigen tödtete und die Musse desFriedens, die allen Gerüchten Glauben schenkt, durchKrieg vertrieb, damit die Menge durch die Neuerun-gen beschäftigt wurde, und die Gedanken von demKönigsmord auf Anderes gewendet wurden. So be-merkte das Volk erst spät, dass es für das Wohl desVaterlandes nichts gethan, als das Recht des gesetz-mässigen Königs verletzt und alle Angelegenheiten ineine schlimmere Lage gebracht hatte. Deshalb be-schloss es, sobald es anging, den gethanen Schritt zu-rückzuthun, und es ruhte nicht, bis Alles wieder inden alten Stand gebracht war.

Vielleicht entgegnet man, auf das Beispiel des Rö-mischen Volkes gestützt, dass das Volk leicht einenTyrannen beseitigen könne; allein ich glaube, diesBeispiel bestätigt eher meine Ansicht. Allerdingskonnte das Römische Volk einen Tyrannen viel leich-ter beseitigen und die Staatsform ändern, weil dasRecht, den König und dessen Nachfolger zu wählen,dem Volke zustand, und weil es sich noch nicht anden Gehorsam unter Könige gewohnt hatte; es waraus aufrührerischen und verbrecherischen Menschen

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zusammengesetzt, und von sechs Königen, die es vor-her gehabt, hatte es drei ermordet; allein dennoch ge-schah nichts weiter, als dass es statt eines Tyrannenmehrere erwählte, welche es immer in äusserlicheoder innerliche Kriege jämmerlich verwickelten, bisendlich die Herrschaft wieder auf einen Monarchenkam, der, wie in England, nur den Samen gewechselthatte. Was die Stände in Holland anlangt, so habendiese, so viel ich weiss, nie Könige gehabt, sondernGrafen, auf welche nie die Staatsgewalt übertragenworden ist. Denn die hochmögenden Stände von Hol-land thun in einer von ihnen zur Zeit des Grafen vonLeicester erlassenen Erklärung kund, dass sie sich ihrRocht, diese Grafen an ihre Pflicht zu erinnern, immervorbehalten, und dass sie die Macht sich vorbehalten,dieses Recht und die Freiheiten der Bürger zu verthei-digen und sich an ihnen, wenn sie in Tyrannen ausar-ten sollten, zu rächen und so sie in Zaum zu halten,dass sie ohne Zustimmung und Bewilligung der Stän-de nichts vermöchten. Danach ist die höchste Staats-gewalt immer bei den Ständen gewesen, und nur derletzte Graf hat sie für sich zu erlangen versucht. Des-halb kann man nicht sagen, dass sie von ihm abgefal-len wären; denn sie haben nur den alten, beinahe ver-lorenen Zustand wieder hergestellt.

Diese Beispiele bestätigen, was ich gesagt habe,dass die Verfassung eines Reiches nothwendig

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festzuhalten ist und ohne Gefahr des gänzlichen Un-terganges desselben nicht geändert werden kann. Diesist es, was darzulegen mir hier der Mühe werth er-schienen ist.

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Neunzehntes Kapitel

Es wird gezeigt, dass das oberste Recht inReligionsangelegenheiten bei der Staatsgewalt sein

müsse, und dass der äussere Gottesdienst demFrieden des Staates angepasst werden müsse, wenn

man Gott recht gehorchen wolle.

Wenn ich oben gesagt habe, dass die Inhaber derStaatsgewalt allein das Recht zu Allem haben, unddass alles Recht nur von ihrem Beschlusse abhängt,so habe ich dies nicht blos von dem bürgerlichenKochte, sondern auch von dem geistlichen gemeint;auch von diesem müssen sie die Erklärer und Verthei-diger sein. Ich erkläre das hier ausdrücklich undwerde in diesem Kapitel absichtlich darüber handeln,weil von Vielen bestritten wird, dass dieses geistlicheRecht der Staatsgewalt zustehe, und weil sie von die-sen nicht als Auslegerin des göttlichen Rechtes aner-kannt wird. Deshalb erlauben diese Leute sich auch,sie anzuklagen, sie abzusetzen, ja aus der Kirche aus-zuschliessen, wie zuerst Ambrosius mit dem KaiserTheodosius gethan hat. Es wird weiter unten gezeigtwerden, dass sie auf diese Weise die Staatsgewalt zer-theilten, ja selbst danach strebten; vorher will ich aberzeigen, dass die Religion die Kraft eines Gesetzes nur

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durch den Beschluss der Inhaber der Staatsgewalt er-langen kann, und dass Gott keine besondere Herr-schaft über die Menschen führt, sondern dies nurdurch Die thut, welche die Staatsgewalt haben; ferner,dass der Gottesdienst und die Uebung der Frömmig-keit sich dem Frieden und Nutzen des Staats unterord-nen muss und deshalb nur von der Staatsgewalt einge-richtet worden soll, die deshalb auch die Erklärerderselben sein muss. Ich spreche ausdrücklich von derUebung der Frömmigkeit und von dem äusseren Got-tesdienst, nicht von der Frömmigkeit selbst und vondem inneren Gottesdienst, oder von den Mitteln, wo-durch die Seele innerlich bestimmt wird, Gott mit vol-ler Seele zu verehren. Dieser innere Gottesdienst unddiese Frömmigkeit gehört zu den besonderen Rechtenjedes Einzelnen, die, wie in Kap. 17 gezeigt worden,auf einen Anderen nicht übertragen werden können.Was ich ferner unter Reich Gottes hier verstelle, er-hellt genügend aus Kap. 14, wo ich gezeigt habe, dassDerjenige das Gesetz Gottes erfüllt, welcher nachGottes Willen die Gerechtigkeit und Liebe übt; dar-aus folgt, dass das Reich Gottes da ist, wo die Ge-rechtigkeit und Liebe die Kraft des Rechts und Geset-zes haben. Auch erkenne ich hier keinen Unterschiedan, ob Gott den wahren Dienst der Gerechtigkeit undLiebe durch das natürliche Licht oder durch Offenba-rung gelehrt und geboten hat; denn auf die Art der

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Mittheilung kommt es dabei nicht an, wenn es nur dashöchste Gesetz ist und als solches den Menschen gilt.Wenn ich daher jetzt zeigen will, dass die Gerechtig-keit und Liebe die Kraft des Rechtes und Gesetzes nurdurch das Recht des Staats erlangen kann, so ergiebtsich leicht, da das Recht des Staats nur bei der höch-sten Gewalt ist, dass die Religion die Kraft desRechts nur durch den Beschluss Derer erlangen kann,welche die weltliche Staatsmacht innehaben, und dassGott neben Diesen nicht noch eine besondere Herr-schaft über die Menschen führt. Dass aber der Dienstder Gerechtigkeit und Liebe die Kraft des Rechts nurdurch das Recht des Staates erlangt, erhellt aus demFrüheren; denn in Kap. 16 habe ich nachgewiesen,dass im natürlichen Zustande die Vernunft nicht mehrRecht hat als die Begierde, und dass sowohl Die, wel-che nach den Gesetzen der Begierde, wie die, welchenach den Gesetzen der Vernunftleben, das Recht aufAlles, was sie vermögen, haben. Deshalb habe ich indem natürlichen Zustande keine Sünde angenommenund Gott nicht als einen Richter vorgestellt, der dieMenschen wegen ihrer Sünden straft, sondern dass daAlles nach den allgemeinen Gesetzen der ganzenNatur geschieht, und dieselben Ereignisse, um mit Sa-lomo zu reden, den Gerechten und Gottlosen, den Rei-nen und den Unreinen treffen, und weder Platz für Ge-rechtigkeit noch Liebe ist. Damit aber die Lehren der

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wahren Vernunft, d.h. wie ich in Kap. 4 bei dem gött-lichen Gesetz gezeigt habe, die göttlichen Lehren dieKraft des Rechtes unbedingt erhielten, war es nöthig,dass Jeder sein natürliches Recht aufgab, und Alle esauf Alle oder Einige oder Einem übertrugen. Erstdamit wurde klar, was Gerechtigkeit und Ungerechtig-keit, was Billigkeit und Unbilligkeit sei. Die Gerech-tigkeit und überhaupt alle Lehren der wahren Ver-nunft und folglich auch die Liebe gegen den Nächstenerhalten also nur durch das Recht des Staates, d.h.nach dem in demselben Kapitel Gezeigten, mir durchden Beschluss Derer die Kraft des Rechts und Geset-zes, welche die höchste Staatsgewalt inne haben. Danun, wie ich dargelegt, das Reich Gottes nur in demRechte der Gerechtigkeit und Liebe oder in demRechte der wahren Religion besteht, so folgt, wie ichbehauptet habe, dass Gott kein anderes Reich unterden Menschen hat als das durch die Inhaber derStaatsgewalt geübte. Es ist dabei gleich, ob manmeint, die Religion sei durch das natürliche Lichtoder mittelst der Propheten offenbart; denn der Be-weis gilt allgemein, da die Religion dieselbe von Gottmitgetheilte ist, mag sie so oder so den Menschen be-kannt geworden sein. Deshalb musste auch bei denJuden, wenn die durch die Propheten geoffenbarte Re-ligion die Kraft des Rechts erlangen sollte, Jeder seinnatürliches Recht aufgeben, und Alle gemeinsam

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festsetzen, nur dem zu gehorchen, was die Prophetenihnen offenbaren würden, wie dies in dem demokrati-schen Staat geschieht, wo Alle mit gemeinsamerUebereinstimmung beschliessen, nur nach dem Gebotder Vernunft zu leben.

Wenn auch die Juden nebenbei ihr Recht auf Gottübertragen haben, so konnten sie das doch nur in Ge-danken, aber nicht durch die That vollziehen. Dennsie behielten in Wahrheit, wie wir gesehen haben, dieunbeschränkte Staatsgewalt, bis sie diese auf Mosesübertrugen, welcher dann unbeschränkter Königblieb, und Gott hat die Juden nur durch ihn regiert.Ferner konnte aus diesem Gründe, dass die Religionnur durch das Recht des Staates die rechtliche Naturerlangt, Moses Diejenigen nicht ebenso mit dem Todebestrafen, welche vor dem Vertrage, wo sie also nochin ihrem natürlichen Rechte waren, den Sabbath ver-letzt hatten (Exod. XV. 30), als die, welche nach demVertrage dies thaten (Num. XV. 36), wo sie ihr Rechtabgetreten hatten, und der Sabbath nach dem Staats-recht die Kraft eines Gebotes annahm. Endlich hatdeshalb auch nach dem Untergang des jüdischen Staa-tes die geoffenbarte Religion aufgehört, die Kraft desRechts zu haben; denn unzweifelhaft hat von da ab,wo die Juden ihr Recht auf den babylonischen Königübertrugen, das Reich Gottes und das göttliche Rechtsofort aufgehört. Denn damit war der Vertrag völlig

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aufgehoben, in dem sie Gott zugesagt hatten, allenseinen Worten zu gehorchen, der die Grundlage desRechtes Gottes gebildet hatte, und sie konnten nichtmehr an denselben halten, da sie von da ab nicht mehrselbstständig waren, wie in der Wüste oder in ihremLande, sondern dem König von Babylon gehörten,dem sie, wie ich in Kap. 16 gezeigt habe, in Allem zugehorchen hatten. Auch Jeremias sagt dies ausdrück-lich XIX. 7. »Bedenkt«, sagt er, »den Frieden desReichs, wohin ich Euch als Gefangene geführt habe;bleibt jenes unversehrt, so werdet auch Ihr unversehrtbleiben.« Für die Wohlfahrt dieses Staates konntensie aber nicht als dessen Diener, da sie Gefangenewaren, sondern nur als dessen Sklaven sorgen; indemsie sich zur Vermeidung von Aufständen in Allem ge-horsam bewiesen, die Gesetze und Rechte des Landesbeobachteten, wenn sie auch von den im Vaterlandgewohnten sehr verschieden waren u.s.w.

Aus alledem ergiebt sich auf das Klarste, dass beiden Juden die Religion die Kraft des Rechts nur vondem Recht des Staates erhalten hat, und dass sie nachdessen Zerstörung nicht mehr als das Recht eines be-sonderen Staates, sondern als eine allgemeine Lehreder Vernunft gelten kann; der Vernunft, sage ich, dadie katholische Religion damals noch nicht offenbartwar.

Ich folgere deshalb unbedingt, dass die Religion,

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sei sie durch das natürliche Licht oder das propheti-sche offenbart, die Kraft eines Gebotes nur durch denBeschluss des Inhabers der Staatsgewalt erhält, unddass Gott kein besonderes Reich bei den Menschenhat, als nur durch Die, welche die Staatsgewalt innehaben. Dies folgt auch und wird deutlicher aus dem inKap. 4 Gesagten. Dort habe ich gezeigt, dass alle Be-schlüsse Gottes eine ewige Wahrheit und Nothwen-digkeit einschliessen, und dass man Gott nicht alseinen Fürsten oder Gesetzgeber für die Menschen auf-fassen könne. Deshalb erhalten die göttlichen Lehren,welche das natürliche oder prophetische Licht offen-bart, die Kraft eines Gebotes nicht unmittelbar vonGott, sondern nur von Denen oder mittelst Derer, wel-che das Recht der Staatsgewalt besitzen. Man kanndeshalb auch ohne ihre Vermittlung sich nicht vorstel-len, dass Gott über die Menschen herrscht und diemenschlichen Angelegenheiten nach Gerechtigkeitund Billigkeit leitet. Auch die Erfahrung bestätigtdies; denn man findet die Spuren der göttlichen Ge-rechtigkeit nur da, wo die Gerechten regieren; ander-wärts, um die Worte Salomo's zu wiederholen, trifftdas Gleiche den Gerechten wie den ungerechten, denReinen wie den Unreinen; ein Umstand, der Viele,welche meinten, Gott regiere die Menschen unmittel-bar und leite die ganze Natur zu ihrem Nutzen, an dergöttlichen Vorsehung hat zweifeln lassen.

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Wenn sonach sowohl die Erfahrung wie die Ver-nunft ergiebt, dass das göttliche Rocht von dem Be-schluss der Staatsgewalt abhängt, so folgt, dass sieauch seine Auslegerin ist. Aber in welcher Weise siedies ist, wird sich später zeigen; denn es ist Zeit, dassich darlege, wie der äussere Gottesdienst und alle He-bung der Frömmigkeit sich dem Frieden und der Er-haltung des Staates zu fügen hat, wenn man Gottrecht gehorchen will. Nach dieser Darlegung wirddann sich die Art leicht ergeben, in der die Staatsge-walt Religion und Frömmigkeit auszulegen hat.

Es ist gewiss, dass die Treue gegen das Vaterlanddas Höchste ist, was Jemand zu leisten hat; dennwenn der Staat aufgehoben ist, so kann nichts Gutesbestehen bleiben, Alles kommt in Gefahr, und nur dieLeidenschaften und die Gottlosigkeit herrschen danndurch die Furcht über Alles. Deshalb wird selbst dasFromme, was man dem Nächsten erweist, zu einemGottlosen, wenn es zum Schaden des ganzen Staatesgereicht, und ebenso kann man nichts Gottloses anihm begehen, was nicht als fromm gelten muss, wennes zur Erhaltung des Staates geschieht. So ist es z.B.fromm, Dem, der mit mir streitet und meinen Rocknehmen will, auch den Mantel zu geben; sollte aberdies der Erhaltung des Staates gefährlich werden, soist es im Gegentheil fromm, ihn vor Gericht zu for-dern, selbst wenn das Todesurtheil gegen ihn

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ausgesprochen werden muss. Deshalb wird ManliusTorquatus gefeiert, dass er das Wohl des Vaterlandesüber die Liebe zum Sohn gestellt hat. Ist dies richtig,so folgt, dass das Wohl des Volkes das höchste Ge-setz bildet, dem sich alle, sowohl menschliche wiegöttliche, unterordnen müssen. Da aber nur der höch-sten Staatsgewalt obliegt, zu bestimmen, was zu demWohl des ganzen Volkes und zur Sicherheit desRechts nöthig ist, und was sie dazu für nöthig hält,anzuordnen, so folgt, dass es auch nur ihr zukommt,zu bestimmen, wie Jeder seinem Nächsten in Fröm-migkeit zu helfen, d.h. wie Jeder Gott zu gehorchenhat.

Daraus ergiebt sich, in welchem Sinne die höchsteStaatsgewalt die Auslegerin der Religion ist, ferner,dass Niemand Gott recht gehorchen kann, wenn er dieHebung der Frömmigkeit, zu der Jeder schuldig ist,dem allgemeinen Nutzen nicht anpasst, und folglich,wenn er nicht allen Geboten der höchsten Staatsge-walt Folge leistet. Denn da wir Alle auf Gottes Gebotohne Ausnahme die Frömmigkeit üben und Nieman-dem schaden sollen, so folgt, dass es Niemandem er-laubt ist, Jemand auf Kosten eines Anderen und nochweniger mit dem Schaden des ganzen Staates zu hel-fen. Folglich kann Niemand nach Gottes Gebot sei-nem Nächsten in Frömmigkeit beistehen, wenn er dieFrömmigkeit der Religion nicht dem allgemeinen

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Nutzen anpasst. Nun kann aber der Einzelne nur ausden Beschlüssen der höchsten Staatsgewalt, welcherdie Sorge für die öffentlichen Angelegenheiten ob-liegt, entnehmen, was dem Staate nützlich ist; deshalbkann Niemand die Frömmigkeit recht üben und Gottrecht gehorchen, als nur, wenn er den Geboten derhöchsten Staatsgewalt Folge leistet.

Dies wird auch durch die Praxis bestätigt. KeinUnterthan darf Dem Hülfe leisten, welchen die höch-ste Staatsgewalt des Todes schuldig oder für ihrenFeind erklärt hat, sei es ein Bürger oder ein Fremder,ein Privatmann oder der Herrscher eines anderenStaates. Deshalb waren auch die Juden, obgleich esihnen geboten war, ihren Nächsten wie sich selbst zulieben (Levit. XIX. 17, 18), doch schuldig, den, dergegen das Gebot des Gesetzes etwas begangen hatte,dem Richter anzuzeigen (Lev. V. 1, Deut. XIII. 8, 9)und ihn, wenn er des Todes schuldig erklärt wurde, zutödten (Deut. XVII. 7). Damit ferner die Juden ihreerlangte Freiheit bewahren und das eroberte Landunter ihrer unbedingten Herrschaft behalten konnten,war es, wie ich Kap. 17 gezeigt habe, nothwendig,dass sie die Religion ihrem Staatswesen ausschliess-lich anpassten und von den übrigen Völkern sonder-ten. Deshalb war ihnen geheissen: Liebe DeinenNächsten und hasse Deinen Feind (Matth. V. 43).Nachdem sie aber die Staatsgewalt verloren hatten

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und in die babylonische Gefangenschaft geführt wor-den waren, belehrte Jeremias sie, auch dafür zu sor-gen, dass dem Staate, wohin sie als Gefangene ge-bracht worden, kein Schaden geschehe; und als Chri-stus sah, dass sie über den ganzen Erdkreis Zerstreutwerden würden, lehrte er, dass Alle die Frömmigkeitgegen Jedermann ohne Ausnahme üben sollten. DiesAlles zeigt auf das Klarste, dass die Religion immerdem Wohl des Staates angepasst worden ist.

Fragt aber Jemand, mit welchem Rechte denn dieJünger Christi, die blosse Privatleute waren, die Reli-gion haben lehren können, so antworte ich, dass sie esauf Grund der Gewalt gethan haben, die sie von Chri-stus gegen die unreinen Geister empfangen haben(Matth. X. 1). Denn ich habe schon oben am Schlussdes 16. Kapitels ausdrücklich bemerkt, dass man auchden Tyrannen die Treue bewahren müsse, mit Aus-nahme Dessen, dem Gott durch sichere Offenbarungeinen besonderen Beistand gegen den Tyrannen ver-sprochen hat. Deshalb kann daran Niemand ein Bei-spiel nehmen, wenn er nicht auch die Macht hat,Wunder zu verrichten; wie auch daraus erhellt, dassChristus seinen Jüngern gesagt hat, sie sollten Dienicht fürchten, welche den Körper tödten (Matth.XVI. 28). Wäre dies Jedem gesagt worden, so würdeder Staat vergeblich errichtet sein, und jene Worte Sa-lomo's (Sprüchwörter XXIV. 21): »Mein Sohn,

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fürchte Gott und den König,« wären ein gottlosesWort, was aber durchaus falsch ist, und man mussdeshalb anerkennen, dass jene Gewalt, welche Chri-stus seinen Jüngern ertheilt hat, ihnen nur für ihrePerson gegeben worden ist, und Andere daran keinBeispiel nehmen können.

Uebrigens machen mich die Gründe meiner Gegnernicht bedenklich, durch die sie das geistliche Rechtvon dem bürgerlichen trennen und behaupten, nur die-ses sei bei der höchsten Staatsgewalt, jenes aber beider allgemeinen Kirche; sie sind so leichtfertig, dasssie keine Widerlegung verdienen. Das Eine kann ichnicht mit Stillschweigen übergehen, dass sie sichselbst kläglich täuschen, wenn sie zur Rechtfertigungdieser aufrührerischen Ansicht, welches harte Wortman mir verzeihen möge, das Beispiel des Hohenprie-sters der Juden benutzen, da dieser ehedem auch dasRecht hatte, die heiligen Angelegenheiten zu verwal-ten; sie vergessen, dass die Hohenpriester diesesRecht von Moses empfangen hatten, welcher, wie ichoben gezeigt habe, die höchste Staatsgewalt allein be-sass, und durch dessen Beschluss sie mithin auch die-ses Rechtes wieder beraubt werden konnten. Er selbstwählte ja nicht blos den Aaron, sondern auch dessenSohn Eleazar und Enkel Pincha, und gab diesen dieMacht, das Hohepriesterthum zu verwalten, wasnachher die Hohenpriester so behielten, dass sie

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dennoch als die Beamten Mosis, d.h. der höchstenStaatsgewalt erscheinen. Denn Moses erwählte, wiegesagt, keinen Nachfolger in der Herrschaft, sondernvertheilte dessen Geschäfte so, dass die Späterenseine Verweser wurden, welche die Staatsgewalt ver-walteten, als wenn der König nur abwesend und nichttodt wäre. Im zweiten Reiche hatten dann die Hohen-priester dieses Recht unbeschränkt, nachdem sie zudem Priesterthum auch das fürstliche Recht erlangthatten.

Deshalb hängt das Recht des Hohenpriesters immervon der Bewilligung der Staatsgewalt ab, und die Ho-henpriester haben es immer nur mit derselben inne ge-habt. Ja, das Recht in Religionsangelegenheiten istimmer bei den Königen gewesen, wie sich aus dem indiesem Kapitel Folgenden ergeben wird. Nur einRecht hatten sie nicht; sie durften nicht bei Verwal-tung der Heiligthümer im Tempel helfen, weil Alle,die nicht von Aaron abstammten, für weltlich gehal-ten wurden, was aber bei einem christlichen Staatenicht stattfindet. Deshalb sind offenbar heutzutage dieReligionsangelegenheiten nur ein Recht der Staatsge-walt; deren Verwaltung verlangt eine besondere Sitt-lichkeit, aber nicht eine besondere Familie, und des-halb können die Inhaber der Staatsgewalt als Weltli-che nicht von ihnen ausgeschlossen werden, und nurauf der Macht oder der Erlaubniss der höchsten

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Staatsgewalt ruht das Recht und die Macht, die Reli-gionsangelegenheiten zu verwalten, ihre Diener zu er-wählen, die Grundlagen der Kirche und ihre Lehre zubestimmen und festzustellen, über die Sitten undfrommen Handlungen zu urtheilen, Jemand in die Kir-che aufzunehmen oder daraus zu verstossen und fürdie Armen zu sorgen.

Dies ist nicht blos wahr, wie ich bewiesen habesondern auch durchaus nothwendig, sowohl zur Er-haltung der Religion selbst wie des Staates. Denn esist bekannt, wie viel das Recht und die Macht überdie geistlichen Dinge bei dem Volke bedeutet, undwie Alle auf den Mund Dessen lauschen, der dieseMacht besitzt; so dass man sagen kann, dass der Inha-ber dieser Macht am meisten über die Gemüther ge-bietet. Wer mithin dieses Recht der höchsten Staats-gewalt entziehen will, strebt nach Theilung der Herr-schaft, woraus unvermeidlich, wie sonst zwischen denKönigen und Hohenpriestern der Juden, Streit undUnfrieden ohne Ende entstehen muss. Ja, wer dieseMacht der weltlichen Gewalt entziehen will, der suchtnach einem Weg zur Herrschaft, wie ich dargelegthabe. Denn was hat die Staatsgewalt zu beschliessen,wenn ihr dieses Recht verweigert wird? Fürwahrnichts, weder über den Krieg noch über den Friedennoch sonst eine Angelegenheit; da sie auf den Aus-spruch Dessen warten muss, der sie lehrt, ob das, was

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sie für nützlich hält, fromm oder gottlos ist; vielmehrgeschieht dann Alles nach dem Beschlusse Jenes, derüber das Fromme und Gottlose, über das Rocht undUnrecht urtheilen und entscheiden kann.

Alle Jahrhunderte haben Beispiele hierzu erlebt;ich will nur eins für viele anführen. Dem RömischenHohenpriester war dieses Recht eingeräumt, und sobrachte er allmählich alle Könige unter seine Gewalt,bis er zu dem Gipfel der Herrschaft aufgestiegen war.Wenn später die Fürsten und insbesondere die deut-schen Kaiser dessen Ansehen nur um ein Geringes zuvermindern suchten, so war dieses vergeblich; viel-mehr vermehrten sie nur dadurch in vielen Fällen des-sen Macht. Denn das, was kein Monarch mit Eisenoder Feuer, vermag, das haben die Priester mit derblossen Feder vermocht. Daraus allein erhellt ihreKraft und Gewalt und die Nothwendigkeit, dass dieStaatsgewalt diese Macht an sich behalte.

Ueberdenkt man, was ich früher ausgeführt, sosieht man, dass dieses auch nicht wenig zum Wachst-hum der Religion und Frömmigkeit selbst beitragenmuss. Denn ich habe oben gezeigt, dass selbst diePropheten trotz ihrer Begabung mit göttlicher Tugenddoch als Einzelne durch ihr Recht, zu ermahnen, zutadeln und zu schelten, die Menschen mehr gereizt alsgebessert haben; während sie leicht sich den Ermah-nungen oder Züchtigungen der Könige fügten. Ferner

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sind die Könige selbst oft nur deshalb, weil ihnen die-ses Recht nicht zustand, von der Religion abgefallenund mit ihnen beinahe das ganze Volk. Selbst inchristlichen Ländern hat sich dies aus diesem Grundeoft zugetragen.

Wenn man mich aber fragt, wer dann, wenn die In-haber der Staatsgewalt gottlos sein wollten, die Fröm-migkeit vertheidigen solle? ob Jene auch dann als Er-klärer derselben gelten sollen? so frage ich dagegen:Wie aber, wenn die Geistlichen, die auch Menschensind, und Einzelne, denen nur ihre Geschäfte zu be-sorgen obliegt, oder Andere, bei denen das Recht überdie geistlichen Dinge sein soll, gottlos sein wollen,sollen auch dann sie als dessen Erklärer gelten. Es istsicher, dass, wenn die Inhaber der Staatsgewalt nachihrem Belieben vorgehen wollten, Alles, mögen siedas Recht über die geistlichen Dinge haben odernicht, das Geistliche wie das Weltliche, in schlechtenZustand gerathen wird, und zwar um so schneller,wenn Einzelne das göttliche Recht in aufrührerischerWeise beanspruchen. Deshalb wird damit nichts er-reicht, dass ihnen dieses Recht versagt wird, sonderndas Uebel wird vielmehr vergrössert, da sie deshalballein gottlos werden müssen, wie die jüdischen Köni-ge, denen dieses Recht nicht unbedingt zustand, undsomit wird die Beschädigung des Staates und seinUnglück aus einem Ungewissen und zufälligen zu

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einem sicheren und nothwendigen gemacht.Sowohl in Hinsicht auf die Wahrheit der Sache wie

die Sicherheit des Staates und die Vermehrung derFrömmigkeit ist man deshalb zur Annahme genöthigt,dass das göttliche Recht oder das Recht über diegeistlichen Dinge von dem Beschluss der höchstenStaatsgewalt abhängig sein und sie der Ausleger undBeschützer derselben sein muss; woraus folgt, dasssie auch der Diener des Wortes Gottes ist, welcherdas Volk durch das Ansehn der höchsten Gewalt dieFrömmigkeit lehrt, wie sie nach ihrem Beschluss demallgemeinen Wohl angepasst ist.

Ich habe noch darzulegen, weshalb in den christli-chen Staaten immer über dieses Recht gestritten wor-den ist, während doch die Juden, so viel ich weiss,niemals darüber zweifelhaft gewesen sind. Es kann al-lerdings ungeheuerlich erscheinen, dass eine so klareund nothwendige Sache immer in Frage gestanden,und dass die höchsten Staatsgewalten dieses Rechtimmer nur mit Streit, ja mit Gefahr des Aufstandesund zum Schaden für die Religion besessen haben.Könnte ich hierfür keinen sicheren Grund angeben, sowürde ich gern glauben, dass die Ausführungen diesesKapitels nur eine Theorie sind und zu jener Gattungvon Spekulationen gehören, die keine Anwendungfinden können. Allein wenn man die Anfänge derchristlichen Religion betrachtet, so offenbart sich bald

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die Ursache davon. Denn die christliche Religion istnicht zuerst von den Königen gelehrt worden, sondernvon Privatpersonen, welche lange Zeit hindurch gegenden Willen der Staatsgewalt, deren Unterthanen siewaren, in Privatkirchen predigten, die heiligen Ge-bräuche einsetzten und verwalteten und Alles alleinohne Rücksicht auf die Staatsgewalt einrichteten undbeschlossen.

Als nun nach Abschluss vieler Jahre die Religiondie des Staates zu werden begann, so mussten dieGeistlichen, welche sie festgestellt hatten, sie auchden Kaisern lehren, und damit konnten sie es leichterlangen, dass sie als die Lehrer und Ausleger undHüter der Kirche und als die Stellvertreter Gottes an-erkannt wurden. Auch sorgten die Geistlichen vor-trefflich dafür, dass die christlichen Könige späterdiese Macht sich nicht anmassen konnten, indem sieden höheren Dienern der Kirche und dem höchstenAnsieger der Religion die Ehe untersagten. Dazukam, dass sie die Lehrsätze der Religion zu einer sogrossen Zahl vermehrt und mit der Philosophie sovermengt hatten, dass der oberste Ausleger auch dervornehmste Theologe und Philosoph sein und Müssefür eine Menge nutzloser Spekulationen habenmusste, was nur bei Privatpersonen, die Müsse genugübrig hatten, eintreffen konnte.

Bei den Juden verhielt sich die Sache aber ganz

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anders. Ihre Kirche begann gleichzeitig mit demStaat, der unbedingte Inhaber der Staatsgewalt lehrtedem Volke auch die Religion, ordnete die heiligenAemter und wählte deren Diener. Daher kam es, dassdie königliche Macht bei dem Volke am meisten galt,und dass das Recht in den geistlichen Dingen wesent-lich bei den Königen war. Denn wenn auch nachMosis Tode Niemand die Staatsgewalt unbeschränktbesass, so war doch das Recht der Gesetzgebung so-wohl in geistlichen Dingen wie sonst bei den Fürsten,und um in der Religion und Frömmigkeit belehrt zuwerden, musste das Volk ebenso den höchsten Richterwie den Hohenpriester antreten (Deut. XVII. 9, 11),und wenn auch die Könige nicht dasselbe Recht wieMoses hatten, so hing doch die ganze Ordnung unddas Wohl des geistlichen Dienstes von ihnen ab.Denn David richtete den ganzen Dienst des Tempelsein (1. Chronik XXVIII. 11, 12 u. f.); dann wählte eraus allen Leviten 24,000 zu dem Singen der Psalmen,und 6000, aus denen die Richter und Vorstände ge-wählt werden sollten, und 4000 Thürsteher, und4000, die die Flöte spielen sollten (1. Chronik XXIII.4, 5). Dann theilte er sie in Abtheilungen, deren Vor-steher er auch auswählte, und von denen jedesmaleiner der Reihe nach den Dienst verrichtete (daselbst5). Auch die Priester theilte er in so viel Abtheilun-gen. Damit ich nicht Alles einzeln darzustellen

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brauche, verweise ich den Leser auf die 2. ChronikVIII. 13, wo es heisst: »Der Gottesdienst sei so, wieihn Moses eingerichtet, auf Befehl Salomo's im Tem-pel verwaltet worden,« und v. 14, »dass er selbst (Sa-lomo) in seinen und der Leviten Aemtern die Priesterin Abtheilungen eingetheilt nach dem Befehl des gött-lichen Mannes David,« und in v. 15 bezeugt endlichder Geschichtschreiber: »dass sie in nichts von demGebote des Königs, was er an die Priester und Levi-ten erlassen, abgewichen seien; auch nicht in Verwal-tung der Schatzkammer.« Daraus und aus der übrigenGeschichte der Könige erhellt klar, dass die ganzeHebung der Religion und der geistliche Dienst nurvon dem Könige abgehangen hat; und wenn ich obengesagt, dass die Könige nicht wie Moses den Hohen-priester wählen, Gott unmittelbar befragen und diePropheten verurtheilen konnten, die ihnen bei ihremLeben weissagten, so habe ich dies nur gesagt, weildie Propheten nach ihrer Macht einen neuen Königwählen und dem Vatermörder verzeihen konnten; abersie konnten nicht den König, wenn er etwas gegen dieGesetze unternahm, vor Gericht laden und nach demRecht gegen ihn verfahren. Wenn es deshalb keinePropheten gegeben hätte, welche dem Vatermörderauf besondere Offenbarung Verzeihung sicher gewäh-ren konnten, so hätten die Könige das Recht zu allengeistlichen wie bürgerlichen Dingen gehabt. Deshalb

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haben die heutigen Inhaber der Staatsgewalt, wokeine Propheten bestehen und angenommen zu wer-den brauchen, da sie dem jüdischen Gesetze nicht zu-gethan sind, dieses Recht unbeschränkt, wenn sieauch verheirathet sind, und werden es immer behalten,wenn sie nur die Lehrsätze der Religion nicht zu sehrvermehren, noch mit den Wissenschaften vermengenlassen.

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Zwanzigstes Kapitel

Es wird gezeigt, dass in einem Freistaate Jedemerlaubt ist, zu denken, was er will, und zu sagen,

was er denkt.

Könnte man den Gedanken ebenso leicht gebietenwie der Zunge, so würde jeder Herrscher sicher regie-ren, und es gäbe keine gewaltsame Herrschaft; jederUnterthan würde nach dem Willen der Gebieter lebenund nur nach ihren Geboten bestimmen, was wahroder falsch, gut oder schlecht, gerecht oder ungerechtsei. Allein es ist, wie ich schon im Beginn von Kap.17 gesagt, unmöglich, dass die Seele sich ganz in derHerrschaft eines Anderen befinde, da Niemand seinnatürliches Recht oder sein Vermögen, frei zu denkenund über Alles zu urtheilen, auf einen Anderen über-tragen kann, noch dazu gezwungen werden kann.Deshalb gilt die Herrschaft für gewaltthätig, welchesich gegen die Gedanken richtet, und die Staatsgewaltscheint den Unterthanen unrecht zu thun und in ihrRecht einzugreifen, wenn sie Jedem vorschreiben will,was er als wahr annehmen, als falsch verwerfen, unddurch welche Ansichten Jeder sich zur Gottesfurchtbestimmen lassen soll. Dies sind Rechte des Einzel-nen, die Niemand, auch wenn er will, abtreten kann.

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Allerdings kann das Urtheil auf mannichfache undbeinahe unglaubliche Weise eingenommen werden, sodass es, obgleich es nicht geradezu unter dem Befehleines Anderen steht, doch von seinem Munde so ab-hängt, dass er der Herr desselben heissen könnte. Al-lein so viel auch die Kunst hier geleistet hat, so hatsie es doch niemals erreicht, dass nicht die Menschenimmer Ueberfluss an eigenen Meinungen gehabt hät-ten, und dass nicht die Sinne ebenso verschiedenwären wie die Geschmäcke. Selbst Moses, welchernicht durch Lust, sondern durch göttliche Tugend denSinn seines Volkes in hohem Maasse lenkte, da er fürgöttlich galt, der Alles nur nach Gottes Mittheilungsage und thue, konnte doch dem Gerede und den fal-schen Auslegungen des Volkes nicht entgehen. Nochviel weniger können es die anderen Monarchen, ob-gleich, wenn es wo möglich wäre, es in dem monar-chischen Staat noch am ehesten und in dem demokra-tischen am wenigsten möglich sein würde, wo Alleoder ein grosser Theil des Volkes gemeinsam regiert,wie Jeder leicht einsehen wird.

So sehr daher auch die höchste Staatsgewalt als diegilt, welche das Recht zu Allem hat und das Rechtund die Frömmigkeit auslegt, so konnten die Men-schen doch nie verhindert werden, über Alles nachihrem eigenen Sinn zu urtheilen und bald von dieser,bald von jener Leidenschaft erfasst zu werden.

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Allerdings kann die Staatsgewalt alle mit ihr nichtUebereinstimmenden mit Recht für Feinde erklären;aber ich spreche hier nicht von ihrem Recht, sondernvon dem Nützlichen; denn ich räume ein, dass sienach dem Rechte höchst gewaltsam regieren und dieBürger wegen unbedeutender Dinge hinrichten lassenkönne; allein Niemand wird behaupten, dass dies ver-ständig sei; ja, da dies nicht ohne grosse Gefahr fürden Staat möglich ist, so kann man selbst die Machtund folglich auch das Recht zu solchen und ähnlichenDingen ihnen absprechen, da dies Recht der höchstenStaatsgewalt sich nach ihrer Macht bestimmt.

Wenn also Niemand sich seiner Freiheit des Den-kens und Urtheilens begeben kann, sondern nach demNaturrecht der Herr seiner Gedanken ist, so folgt,dass in dem Staate es nur ein unglücklicher Versuchbleibt, wenn er die Menschen zwingen will, dass sienur nach der Vorschrift der Staatsgewalt sprechen sol-len, obgleich sie, verschiedener Ansicht sind, dennselbst die Klügsten, ganz abgesehen von der Menge,können nicht schweigen. Es ist dies ein gemeinsamerFehler der Menschen, dass sie Anderen ihre Gedankenselbst da mittheilen, wo Schweigen nöthig wäre; des-halb wird diejenige Herrschaft die gewaltthätigstesein, wo dem Einzelnen die Freiheit, seine Gedankenauszusprechen und zu lehren, versagt ist, und jene isteine gemässigte, wo Jeder diese Freiheit besitzt.

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Allein unzweifelhaft kann die Majestät ebenso durchWorte wie durch die That verletzt werden, und wennes auch unmöglich ist, diese Freiheit den Unterthanenganz zu nehmen, so würde es doch höchst schädlichsein, sie ihnen unbeschränkt einzuräumen; ich habedeshalb hier zu untersuchen, wie weit diese Freiheitunbeschadet des Friedens des Staates und des Rechtesder höchsten Staatsgewalt dem Einzelnen eingeräumtwerden kann und soll, eine Untersuchung, die wesent-lich meine Aufgabe bildet, wie ich im Beginn des 16.Kapitels bemerkt habe.

Aus den oben dargelegten Grundlagen des Staatesfolgt deutlich, dass sein Zweck nicht ist, zu herrschen,die Menschen in der Furcht zu erhalten und fremderGewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den Einzel-nen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher alsmöglich lebe, d.h. so, dass er sein natürliches Rechtzum Dasein ohne seinen und Anderer Schaden am be-sten sich erhalte. Ich sage, es ist nicht der Zweck desStaates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zuwilden Thieren oder Automaten zu machen; sondernihre Seele und ihr Körper soll in Sicherheit seine Ver-richtungen vollziehen, sie sollen frei ihre Vernunft ge-brauchen und weder mit Hass, Zorn oder List einan-der bekämpfen, noch in Unbilligkeit gegen einanderverfahren. Der Zweck des Staates ist also die Freiheit.

Ferner ergab sich, dass die Bildung des Staates

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erforderte, dass die Macht, über Alles zu beschlie-ssen, bei Allen oder Einigen oder bei Einem sei. Denndas Urtheil der Menschen ist verschieden; ein Jedermeint Alles zu verstehen, und es ist unmöglich, dassAlle desselben Sinnes sind und übereinstimmendsprechen; deshalb war ein friedliches Leben nur mög-lich, wenn Jeder sich des Rechtes, nach seinem eige-nen Gutfinden zu handeln, begab. Aber wenn dies ge-schah, so begab er sich doch nicht des Rechtes, zudenken und zu urtheilen; deshalb kann Niemand ohneVerletzung des Rechtes der Staatsgewalt gegen ihrenBeschluss handeln, wohl aber denken, urtheilen undfolglich auch sprechen, sobald es nur einfach gesagtoder gelehrt wird, und nur mit Vernunftgründen, abernicht mit List, Zorn, Hass oder der Absicht, etwas indem Staat durch das Ansehn seines eigenen Willenseinzuführen, geschieht. Wenn z.B. Jemand von einemGesetze zeigt, dass es der gesunden Vernunft wider-spreche, und deshalb dessen Abschaffung fordert, somacht er sich als guter Bürger um den Staat verdient,sofern er nur seine Ansicht dem Urtheil der Staatsge-walt unterwirft, die allein die Gesetze zu geben undaufzuheben hat, und wenn er einstweilen nichts gegendas Gebot dieses Gesetzes thut. Geschieht es aber, umdie Obrigkeit der Ungerechtigkeit zu beschuldigenund bei dem Volke verhasst zu machen, oder will erdas Gesetz gegen den Willen der Obrigkeit mit

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Gewalt beseitigen, so ist er ein Unruhestifter und Auf-rührer.

Damit ergiebt sich, wie ein Jeder, unbeschadet desRechts und der Macht der Staatsgewalt, d.h. unbe-schadet des Friedens des Staates, seine Gedanken äus-sern und lehren kann; nämlich wenn er den Beschlussüber die Ausführung ihr überlässt und nichts dagegenthut, sollte er auch dabei oft gegen das, was er klar fürgut erkannt und hält, handeln müssen. Dies kann un-beschadet der Gerechtigkeit und Frömmigkeit gesche-hen und soll geschehen, wenn er sich als ein gerechterund frommer Mann erweisen will. Denn die Gerech-tigkeit hängt, wie ich früher dargelegt, nur von demBeschluss der Staatsgewalt ab; deshalb kann nur Der,wer nach ihren Geboten lebt, gerecht sein. Die Fröm-migkeit ist aber, wie ich in dem vorgehenden Kapitelgezeigt, die Summe Alles dessen, was für den Friedenund die Ruhe des Staates gethan wird, und diese kannnicht erhalten bleiben, wenn Jeder nach seinem Belie-ben leben kann; deshalb ist es auch gottlos, nach sei-ner Ansicht etwas gegen die Beschlüsse der Staatsge-walt, welcher er untergeben ist, zu thun; denn wäredies Jedem erlaubt, so folgte daraus nothwendig derUntergang des Staates. Vielmehr kann er nicht gegenden Willen und das Gebot der eignen Vernunft han-deln, so lange er nach den Geboten der Staatsgewalthandelt; denn er hat in Anlass seiner eignen Vernunft

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beschlossen, sein Recht, nach seinem eigenen Willenzu leben, auf sie zu übertragen.

Dies kann ich auch nun durch die Praxis bestäti-gen. So geschieht selten in den Versammlungen derhöchsten und der niederen Staatsgewalten etwas inFolge der einstimmigen Meinung aller Mitglieder unddoch nach dem gemeinsamen Beschlusse Aller, so-wohl Derer, die dafür, wie Derer, die dagegen ge-stimmt haben.

Ich kehre jedoch zu meiner Aufgabe zurück; wirhaben aus der Grundlage des Staates entnommen, wieJeder sich seiner Freiheit des Urtheils unbeschadet desRechts der Staatsgewalt bedienen kann. Daraus kannman ebenso leicht bestimmen, welche Meinungen ineinem Staate als aufrührerisch gelten können; nämlichnur die, welche mit ihrer Aufstellung den Vertrag be-seitigen, wodurch Jeder sich des Rechts, nach eige-nem Belieben zu handeln, begeben hat. Behauptetz.B. Jemand, die Staatsgewalt sei nicht selbstständig,oder Niemand brauche seine Verträge zu halten, oderJeder müsse nach seinem Belieben leben können, undAehnliches der Art, welches dem erwähnten Vertraggeradezu widerspricht, so ist er ein Aufrührer nichtsowohl wegen dieses Urtheils und Meinung, sondernwegen der That, welche solche Urtheile enthalten,nämlich weil er schon dadurch, dass er solche Gedan-ken hat, die der Staatsgewalt stillschweigend oder

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ausdrücklich versprochene Treue bricht. Dagegensind andere Meinungen, welche keine That, d.h. kei-nen Vertragsbruch, keine Rache und keinen Zorn ein-schliessen, nicht aufrührerisch; höchstens nur ineinem Staate, der irgendwo verdorben ist, wo nämlichdie Abergläubischen und Ehrgeizigen, welche dieFreien nicht ertragen können, einen solchen Ruf er-langt haben, dass ihr Ansehn bei der Menge mehr alsdas der Staatsgewalt gilt. Ich bestreite jedoch nicht,dass es noch einzelne Ansichten giebt, die, obgleichsie sich anscheinend nur auf das Wahre oder Unwahrebeziehen, doch mit Unrecht aufgestellt oder verbreitetwerden. Im Kap. 15 habe ich auch dies angegeben,aber so, dass die Vernunft dabei doch frei blieb.

Bedenkt man endlich, dass die Treue gegen denStaat und gegen Gott nur aus den Werken erkanntwerden kann, nämlich aus der Liebe zu dem Näch-sten, so kann unzweifelhaft ein guter Staat Jedem die-selbe Freiheit des Philosophirens wie des Glaubensbewilligen. Allerdings können daraus einzelne Unan-nehmlichkeiten entstehen; allein wo gab es je eine soweise Einrichtung, dass kein Nachtheil daraus entste-hen konnte? Wer Alles durch Gesetze regeln will,wird die Fehler eher hervorrufen als verbessern. Wasman nicht hindern kann, muss man zugestehen, selbstwenn daraus oft Schaden entsteht. Denn wie vielUebel entspringen nicht aus der Schwelgerei, dem

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Neid, dem Geiz, der Trunkenheit und Aehnlichem?Allein man erträgt sie, weil man sie durch die Machtder Gesetze nicht hindern kann, obgleich es wirklichFehler sind; deshalb kann um so viel mehr die Frei-heit des Urtheils zugestanden werden, die in Wahrheiteine Tugend ist und nicht unterdrückt werden kann.

Dazu kommt, dass alle aus ihr entstehenden Nach-theile durch das Ansehn der Obrigkeit, wie ich gleichzeigen werde, vermieden werden können; wobei ichnicht erwähnen mag, dass diese Freiheit zur Beförde-rung der Wissenschaften und Künste unentbehrlichist; sie können nur von denen mit glücklichem Erfolgegepflegt werden, welche ein freies und nicht voreinge-nommenes Urtheil haben.

Aber man setze, dass diese Freiheit unterdrückt unddie Menschen so geknebelt werden können, dass sienur nach Vorschrift der höchsten Staatsgewalt einenLaut von sich geben, so wird es doch nie geschehen,dass sie auch nur das denken, was diese will, undfolglich würden die Menschen täglich anders reden,wie sie denken, die Treue, welche dem Staate so nö-thig ist, würde untergraben; eine abscheulicheSchmeichelei und Untreue würde dann gehegt, unddamit der Betrug und der Verderb aller guten Künste.Allein daran ist nicht zu denken, dass Alle so spre-chen, wie es vorgeschrieben ist; vielmehr werden dieMenschen, je mehr ihnen die Freiheit zu sprechen

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entzogen wird, desto hartnäckiger darauf bestehen,und zwar nicht die Geizigen, die Schmeichler und an-dere geistigen Schwächlinge, deren höchstes Glückblos darin besteht, dass sie das Geld im Kasten zäh-len und den Bauch voll haben, sondern Die, welcheeine gute Erziehung, ein rechtlicher Charakter und dieTugend der Freiheit zugewendet hat. Die Menschenkönnen ihrer Natur nach nichts weniger ertragen, alsdass Meinungen, die sie für wahr halten, als Verbre-chen gelten sollen, und dass ihnen als Unrecht das an-gerechnet werden solle, was sie zur Frömmigkeitgegen Gott und die Menschen bewegt. Dann kommtes, dass sie die Gesetze verwünschen und gegen dieObrigkeit sich vergehen und es nicht für schlecht,sondern für recht halten, wenn sie deshalb in Aufruhrsich erheben und jede böse That versuchen. Ist diemenschliche Natur so beschaffen, so treffen die Geset-ze gegen Meinungen nicht die Schlechten, sondern dieFreisinnigen; sie halten nicht die Böswilligen imZaum, sondern erbittern nur die Ehrlichen, und siekönnen nur mit grosser Gefahr für den Staat aufrechterhalten werden. Auch sind solche Gesetze überhauptohne Nutzen; denn wer die von den Gesetzen verbote-nen Ansichten für wahr hält, kann dem Gesetz nichtgehorchen, und wer sie für falsch hält, nimmt die sieverbietenden Gesetze wie ein Vorrecht und pocht sodarauf, dass die Obrigkeit sie später, selbst wenn sie

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will, nicht wieder aufheben kann. Dazu kommt dasoben in Kap. 18 aus der jüdischen Geschichte unterNo. 2 Abgeleitete. Wie viel Spaltungen sind endlichdaraus in der Kirche entstanden? Welche Streitigkei-ten der Gelehrten hat nicht die Obrigkeit durch Geset-ze beenden wollen? Hofften die Menschen nicht, Ge-setz und Obrigkeit auf ihre Seite zu ziehen, über ihreGegner unter dem Beifall der Menge zu triumphirenund Ehre zu gewinnen, so würden sie nie mit so unge-rechtem Eifer streiten, und keine solche Wuth würdeihr Gemüth ergreifen.

Dies lehrt nicht blos die Vernunft, sondern auch dieErfahrung in täglichen Beispielen. Solche Gesetze,welche Jedem vorschreiben, was er glauben soll, undumgekehrt, gegen diese oder jene Ansicht etwas zusagen oder zu schreiben verbieten, sind oft gemachtworden, um dem Zorn Derer zu fröhnen oder vielmehrnachzugeben, die keinen freien Sinn ertragen könnenund durch Missbrauch ihrer Amtsgewalt die Ansichtder aufrührerischen Menge leicht in Wuth verwandelnund gegen beliebige Personen aufhetzen können. Aberwäre es nicht heilsamer, den Zorn und der Wuth derMenge Einhalt zu thun, als unnütze Gesetze zugeben? Gesetze, die nur von Denen verletzt werdenkönnen, welche die Tugend und die Künste lieben undden Staat so in Verlegenheit bringen, dass er freieMänner nicht mehr ertragen kann? Welches grössere

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Uebel giebt es für einen Staat, als dass rechtlicheMänner, welche anders denken und sich nicht verstel-len können, wie Verbrecher in die Verbannung ge-schickt werden? Was ist verderblicher, als Menschennicht wegen eines Verbrechens oder einer Unthat,sondern wegen ihres freien Sinnes für Feinde zu hal-ten und zum Tode zu führen, so dass die Richtstätte,der Schrecken der Schlechten, sich in das schönsteTheater verwandelt, wo ein Beispiel höchster Dul-dung und Tugend zur Schande der Majestät des Staa-tes dargeboten wird. Denn die sich als ehrliche Leutekennen, fürchten den Tod nicht, wie Verbrecher, undbitten nicht um Gnade. Ihr Gemüth ist nicht durch dieReue über eine schlechte That beängstigt, und sie hal-ten es für recht und ruhmvoll und nicht für ein Ver-brechen, wenn sie für die gute Sache und die Freiheitsterben. Welches Beispiel soll also mit dem TodeSolcher gegeben werden, deren Sache die Trägen undSchwachen nicht verstehen, die Aufrührerischen has-sen und die Ehrlichen lieben? Es kann nur ein Bei-spiel zur Nachahmung oder mindestens zur Bewunde-rung daraus entnommen werden.

Damit also nicht die blosse Zustimmung, sonderndie Treue geschützt bleibe, und die Staatsgewalt denStaat in gutem Stand erhalte und nicht genöthigt sei,den Aufrührern nachzugeben, muss die Freiheit desUrtheils zugestanden, und die Menschen müssen so

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regiert werden, dass sie trotzdem, dass sie unverhoh-len verschiedener und entgegengesetzter Ansicht sind,doch friedlich mit einander leben. Unzweifelhaft istdies die beste und mit den wenigsten Nachtheilen ver-knüpfte Art der Regierung, denn sie stimmt am bestenmit der Natur des Menschen überein. Denn in dem de-mokratischen Staat, welcher sich dem natürlichen Zu-stand am meisten nähert, sind Alle übereingekommen,nach gemeinsamem Beschluss zu handeln, aber nichtzu urtheilen und zu denken; d.h. weil alle Menschennicht gleichen Sinnes sein können, ist man übereinge-kommen, dass das, was die Mehrheit der Stimmen fürsich habe, die Kraft des Beschlusses haben solle, mitVorbehalt, es wieder aufzuheben, wenn Besseres sichzeigt. Je weniger daher dem Menschen die Freiheitdes Urtheils gestattet ist, desto mehr entfernt er sichvon dem natürlichen Zustand, und desto mehr wird erdurch Gewalt regiert.

Auch sind Beispiele genug vorhanden, und ichbrauche nicht weit danach zu suchen, dass aus dieserFreiheit keine solchen Nachtheile erwachsen, welchedie Staatsgewalt nicht beseitigen konnte, und dass siegenügt, damit die Menschen, wenn sie auch offen zuentgegengesetzten Meinungen sich bekennen, dochvon gegenseitiger Verletzung abgehalten werden kön-nen. Die Stadt Amsterdam giebt ein solches Beispiel,welche zu ihrem grossen Wachsthum und zur

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Bewunderung aller Völker die Früchte dieser Freiheitgeniesst. Denn in diesem blühenden Staat und vor-trefflichen Stadt leben alle Völker und Sekten inhöchster Eintracht, und will man da sein VermögenJemand anvertrauen, so fragt man nur, ob er reichoder arm sei, und ob er redlich oder hinterlistig zuhandeln pflege; im Uebrigen kümmert sie die Religi-on und Sekte nicht, weil vor dem Richter damit nichtsgerechtfertigt oder verurtheilt werden kann, und selbstdie Anhänger der verhasstesten Sekten werden, wennsie nur Niemand verletzen, Jedem das Seinige gebenund ehrlich leben, durch das Ansehn und die Hülfeder Obrigkeit geschützt. Als dagegen vordem derStreit der Demonstranten und Contra-Demonstrantenüber die Religion von den Staatsmännern und denProvinzialständen aufgenommen wurde, wurde zuletzteine Religionsspaltung daraus, und viele Fälle bewie-sen damals, dass Religionsgesetze, welche den Streitbeilegen wollen, die Menschen mehr erbittern als bes-sern. Andere entnehmen daraus eine schrankenloseFreiheit, und es zeigt sich, dass die Spaltungen nichtaus dem Streben nach Wahrheit, als der Quelle derMilde und Sanftmuth, sondern aus der Herrschsuchtentspringen. Deshalb sind offenbar nur Diejenigenabtrünnig, welche die Schriften Anderer verdammenund den ausgelassenen Pöbel gegen die Schriftstellerzur Gewalt aufhetzen, aber nicht diese Schriftsteller,

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welche meist nur für die Gelehrten schreiben und nurdie Vernunft zur Hülfe haben. Deshalb sind in einemStaate Diejenigen die wahren Unruhestifter, welchedas freie Urtheil, was sich nicht unterdrücken lässt,doch beseitigen wollen.

Damit habe ich gezeigt, 1) dass den Menschen dieFreiheit, das, was sie denken, zu sagen, nicht genom-men werden kann; 2) dass diese Freiheit ohne Scha-den für das Recht und Ansehn der Staatsgewalt Jedemzugestanden und von ihm geübt werden kann, sobalder sich nur hütet, damit etwas als Recht in den Staateinzuführen oder etwas gegen die geltenden Gesetzezu thun; 3) dass Jedweder diese Freiheit haben kannohne Schaden für den Frieden des Staates, und ohnedass ein Nachtheil entstände, dem man nicht leichtentgegentreten könnte; 4) dass Jeder diese Freiheitauch unbeschadet der Frömmigkeit haben kann; 5)dass Gesetze, welche über spekulative Dinge erlassenwerden, unnütz sind; 6) endlich habe ich gezeigt, dassdiese Freiheit nicht blos ohne Schaden für den Frie-den des Staates, die Frömmigkeit. und das Recht derStaatsgewalt bewilligt werden kann, sondern dassdies auch zur Erhaltung derselben geschehen muss.Denn wo man dem entgegen dies den Menschen ent-ziehen will, und wo der Streitenden Meinung, abernicht die Absicht, die allein strafbar ist, vor Gerichtgestellt wird, da wird an rechtlichen Leuten ein

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Beispiel aufgestellt, was vielmehr für ein Märtyrer-thum gilt und die Anderen mehr erbittert und mehrzum Mitleiden stimmt, als von der Rache abschreckt.Ferner gehen dabei die guten Kräfte und der guteGlaube zu Grunde; die Schmeichler und Treulosenwerden gepflegt, und die Gegner triumphiren, weilman ihrem Zorne nachgiebt, und weil sie die Inhaberder Staatsgewalt zu Anhängern ihrer Meinung ge-macht haben, als deren Ausleger sie gelten. Deshalbwagen sie deren Ansehn und Recht sich anzumaassenund scheuen sich nicht, zu behaupten, dass Gott sieunmittelbar auserwählt habe, und dass ihre Beschlüs-se göttliche, aber die der Staatsgewalt nur menschli-che seien und deshalb den göttlichen, d.h. ihren eige-nen, weichen müssen. Jedermann sieht ein, dass diesdem Wohl des Staates geradezu widerspricht, unddeshalb schliesse ich, wie oben in Kap. 18, damit,dass für den Staat nichts heilsamer ist, als wenn dieFrömmigkeit und Religion nur in die Ausübung derLiebe und Billigkeit gesetzt wird und das Recht derStaatsgewalt in geistlichen wie in weltlichen Dingennur für die Handlungen gilt, und im Uebrigen Jedemgestattet ist, zu denken, was er will, und zu sagen,was er denkt.

Damit habe ich den in dieser Abhandlung mir ge-setzten Zweck erfüllt. Ich habe nur noch ausdrücklichzu erklären, dass ich Alles darin mit Freuden der

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Prüfung und dem Urtheil der höchsten Staatsgewaltmeines Vaterlandes unterwerfe. Sollte etwas darin denGesetzen des Landes oder dem allgemeinen Wohlnach ihrem Urtheil schaden, so will ich es nicht ge-sagt haben. Ich weiss, dass ich ein Mensch bin undirren kann; aber ich habe mich emsig bemüht, nicht inden Irrthum zu gerathen und nur das zu schreiben,was den Gesetzen meines Vaterlandes, der Frömmig-keit und den guten Sitten entspricht.

Ende.

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Fußnoten

1 Es ist ein Hebraismus. Wer eine Sache hat oder inseiner Natur besitzt, heisst der Herr der Sache; soheisst bei den Juden der Vogel der Herr der Flügel,weil er Flügel hat, und der Verständige der Herr desVerstandes, weil er Verstand hat.

2 Ein Hebraismus, welcher nur das Leben bedeutet.

3 Das hebräische Wort »mezima« bezeichnet eigent-lich das Denken, die Ueberlegung und Wachsamkeit.

4 Ist die Bezeichnung des Empfangenhabens.

5 Ein Hebraismus, womit die Zeit des Todes bezeich-net wird; »zu seinen Vätern versammelt werden«heisst sterben. Man sehe Gen. XLIX. 29, 33.

6 Bedeutet »anständig ergötzen«, wie das niederländi-sche Sprüchwort sagt: Mit Gott und mit Ehre.

7 Bezeichnet die Herrschaft, wie man ein Pferd imZügel hält.

8 Die Juden glauben, dass Gott dem Noah sieben

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Gebote gegeben hat, und dass alle Völker nur andiese gebunden sind; nur den Juden habe er noch vielMehrere gegeben, um sie glücklicher als die Anderenzu machen.

9 Ich verstehe hier unter Natur nicht blos den Stoff,d.h. Zustände, sondern noch unendlich Vieles ausserdem Stoffe.

10 Im Hebräischen bedeutet »rephaim« die Ver-dammten, scheint aber auch ein Eigenname zu seinnach 1. Chron. Kap. 20. Ich glaube deshalb, dass eshier eine Familie bezeichnet.

11 »Sepher« bezeichnet im Hebräischen häufig einenBrief oder eine Schrift.

12 Ich entsinne mich, dies in einem Briefe gegen Mai-monides gelesen zu haben, der sich unter denen befin-det, die dem Maimonides zugeschrieben werden.