Speyerer Stadtsiegel im Visier der Kriminalistik

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Ein ganz besonderes Kooperations- projekt ist im Verlauf des Jahres 2015 im Speyerer Stadtarchiv durchgeführt worden. Gemeinsam mit dem Gieße- ner Kunsthistoriker Dr. Markus Späth (Justus-Liebig-Universität Gießen) und Spezialisten des Landeskriminal- amts (!) in Mainz wurde das altehr- würdige Speyerer Stadtsiegel krimina- listisch-forensisch unter die Lupe ge- nommen. Das Speyerer Stadtsiegel wurde im Namen der Bürgerschaft von Bürger- meistern und Rat der Stadt ununter- brochen seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bis zum Ende der reichs- städtischen Zeit (Ende des 18. Jahr- hunderts) für die Besiegelung von Ur- kunden und Verträgen genutzt. Das Wachssiegel ist aus kunsthistorischer Sicht ein „Meilenstein“ der Darstel- lungskunst des Mittelalters. Der Stem- pel für dieses 9,7 cm durchmessende Stadtsiegel wurde vermutlich 1231, dem Jahr – in dem der erste Abdruck erhalten ist – oder kurz zuvor von ei- nem talentierten Goldschmied am Oberrhein geschnitten. Eingefasst durch die Umschrift + SIGILLVM CI- VIVM SPIRENSIVM, welche die Bürger Speyers als kollektive Inhaber des Siegels benennt, wird das Bildfeld von der Darstellung eines vielgliedri- gen Kirchenbaus dominiert, der deut- lich als Speyerer Dom zu erkennen ist. Der Betrachterstandpunkt ist von Norden her gewählt, denn an das zen- trale Langhaus fügen sich zur Linken eine Chorapsis sowie zur Rechten die Westfassade an. Über den Enden des Langhauses erhebt sich jeweils eine mächtige Kuppel, die wiederum von je einem Paar schlanker Flankentürme gerahmt wird. Zwischen den beiden vorderen öffnet sich im Langhausbe- reich ein Kleeblattbogen, unter dem die Gottesmutter als Stadt- und Dom- patronin mit dem Christuskind auf ih- rem linken Arm erscheint. Eine Besonderheit Das Siegel wurde mittels eines Stem- pels in das weiche Wachs des Siegelkör- pers gedrückt. Die Besonderheit: Viele der mittelalterlichen Siegel zeigen auf ihren Rückseiten Eindrücke, die von Fingerabdrücken herrühren. Das Spey- erer Siegel ragt hier besonders hervor, denn auf den Rückseiten fast aller sei- ner Prägungen findet sich ein charakte- ristisches Muster von drei vertikal in der Mittelachse angeordneten, tiefen Fingerabdrücken. Sie dienten mutmaß- lich der zusätzlichen „Beglaubigung“ durch diejenigen Personen, die an der Beurkundung beteiligt waren oder bei 39 Speyerer Stadtsiegel im Visier der Kriminalistik Stadtarchiv Speyer war mittelalterlichen Fingerabdrücken auf der Spur Vorderseite des Speyerer Stadtsiegels (Stadtarchiv Speyer, 1U Nr. 548)

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Ein ganz besonderes Kooperations-projekt ist im Verlauf des Jahres 2015im Speyerer Stadtarchiv durchgeführtworden. Gemeinsam mit dem Gieße-ner Kunsthistoriker Dr. Markus Späth(Justus-Liebig-Universität Gießen)und Spezialisten des Landeskriminal-amts (!) in Mainz wurde das altehr-würdige Speyerer Stadtsiegel krimina-listisch-forensisch unter die Lupe ge-nommen. Das Speyerer Stadtsiegel wurde imNamen der Bürgerschaft von Bürger-meistern und Rat der Stadt ununter-brochen seit der ersten Hälfte des 13.Jahrhunderts bis zum Ende der reichs-städtischen Zeit (Ende des 18. Jahr-hunderts) für die Besiegelung von Ur-kunden und Verträgen genutzt. DasWachssiegel ist aus kunsthistorischerSicht ein „Meilenstein“ der Darstel-lungskunst des Mittelalters. Der Stem-pel für dieses 9,7 cm durchmessendeStadtsiegel wurde vermutlich 1231,dem Jahr – in dem der erste Abdruckerhalten ist – oder kurz zuvor von ei-nem talentierten Goldschmied amOberrhein geschnitten. Eingefasstdurch die Umschrift + SIGILLVM CI-VIVM SPIRENSIVM, welche dieBürger Speyers als kollektive Inhaberdes Siegels benennt, wird das Bildfeldvon der Darstellung eines vielgliedri-gen Kirchenbaus dominiert, der deut-lich als Speyerer Dom zu erkennen ist.Der Betrachterstandpunkt ist vonNorden her gewählt, denn an das zen-trale Langhaus fügen sich zur Linkeneine Chorapsis sowie zur Rechten dieWestfassade an. Über den Enden desLanghauses erhebt sich jeweils einemächtige Kuppel, die wiederum von jeeinem Paar schlanker Flankentürmegerahmt wird. Zwischen den beiden

vorderen öffnet sich im Langhausbe-reich ein Kleeblattbogen, unter demdie Gottesmutter als Stadt- und Dom-patronin mit dem Christuskind auf ih-rem linken Arm erscheint.

Eine BesonderheitDas Siegel wurde mittels eines Stem-pels in das weiche Wachs des Siegelkör-pers gedrückt. Die Besonderheit: Vieleder mittelalterlichen Siegel zeigen aufihren Rückseiten Eindrücke, die vonFingerabdrücken herrühren. Das Spey-erer Siegel ragt hier besonders hervor,denn auf den Rückseiten fast aller sei-ner Prägungen findet sich ein charakte-ristisches Muster von drei vertikal inder Mittelachse angeordneten, tiefenFingerabdrücken. Sie dienten mutmaß-lich der zusätzlichen „Beglaubigung“durch diejenigen Personen, die an derBeurkundung beteiligt waren oder bei

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Speyerer Stadtsiegel im Visier der KriminalistikStadtarchiv Speyer war mittelalterlichen Fingerabdrücken auf der Spur

Vorderseite des Speyerer Stadtsiegels(Stadtarchiv Speyer, 1U Nr. 548)

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der Stadt Speyer für das Urkundenwe-sen zuständig waren. Da das Speyerer Stadtsiegel zu denam besten überlieferten aus demMittelalter zählt, nahm das SpeyererStadtarchiv den Vorschlag aus Gießengerne an, ein gemeinsames Pilotpro-jekt zu beantragen (Titel: „Verkörpe-rung kommunaler Identität. Eine fo-rensische Analyse von Fingereindrü-ck en auf den spätmittelalterlichen undfrühneuzeitlichen Prägungen desSpeyerer Stadtsiegels“). Mit der dann erfolgten Förderungdurch die Volkswagenstiftung (ca.28.000€) wurde schnell deutlich, dassder „Pilot“, abgesehen von einem fastzeitgleichen englischen Projekt, welt-weit Neuland betreten würde! Finger-abdrücke des Mittelalters auf Siegelnwaren noch nie zuvor Gegenstand ei-nes Forschungsprojekts gewesen. Das Projektteam konnte sich mit demMainzer Spezialisten für Daktylosko-pie (Fingerabdrücke), Werner Comes,sowie dessen Mitarbeiterinnen vom

Landeskriminalamt ausgewiesene kri-minalistische Experten mit ins Bootholen. Für die Vorbereitung und Auf-bereitung der Fingerabdrücke konntedie Hilfe der Kriminaltechniker dernahe gelegenen KriminaldirektionLudwigshafen in Anspruch genom-men werden. Die Heilbronner Spezi-alfirma BMB (Gesellschaft für Mate-rialprüfung mbH), eigentlich überwie-gend für die Automobil- und Luft-fahrtindustrie bzw. Bahn- undElek troindustrie tätig, konnte alsDienstleister für die Anfertigunghochauflösender CT-Scans gewonnenwerden: Die Geräte von BMB fertig-ten schließlich 3D-Scans der Siegelund Fingerabdrücke an; ein CT-Scanbenötigte dabei jeweils mehrere Stun-den – im Vergleich dauert ein norma-ler Scan von Vorder- und Rückseiteeines Siegels bzw. einer Urkunde we-nige Minuten. Im Projekt wurden exemplarisch 30Siegel /Fingerabdrücke digitalisiert.Die Fragen, die zu beantworten wa-ren, lauteten unter anderem: – War es jeweils eine oder waren esmehrere Person(en), die auf einemAbdruck absichtlich ihre Spurenhinterließen? – Wie lange ist ein und dieselbe Per-son im wiederholten Herstellungspro-zess nachweisbar (bei mehreren Sie-geln in mehreren Jahren)? Durch diese Erkenntnis kann die Teil-habe von Bürgern an einem zentralenRechtsakt der mittelalterlichen Städteoffengelegt werden, über die dieschriftlichen Quellen schweigen.Der neue, innovative Ansatz des Pro-jekts verband somit Fragen der Kunst-und Stadtgeschichte mit naturwissen-schaftlichen Methoden. Zu erwartenwar von Beginn an, dass das Pilotpro-jekt mehr Zeit in Anspruch nehmenwürde, als eigentlich geplant war: Dieursprüngliche Zielsetzung ging von ei-ner kurzen Laufzeit der Digitalisie-

Rückseite des Speyerer Stadtsiegels(Stadtarchiv Speyer, 1U Nr. 548)

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rung und der anschließenden daktylo-skopischen Analyse aus (Februar bisMai 2015). Es zeigte sich aber früh,dass die Durchführung und Vorberei-tung sowie die Anfertigung der 3D-Scans mehr Zeit in Anspruch nehmenwürde – jedes nach Heilbronn zumDienstleister BMB gebrachte Siegelbzw. jede Urkunde war anders zu be-handeln, die Tiefe der Fingerabdrückeim Wachs variierte.

Dank Flexibilität und Unterstützungdurch den Dienstleister konnte dasProjekt dennoch zu einem guten Ab-schluss gebracht werden. Schließlich erfolgte, nach mehrerenUrkundentransporten von Speyernach Heilbronn (BMB), nach Mainz

(Landeskriminalamt) und sogar an dieTechnische Hochschule Mittelhessen(Gießen) die Erstellung des umfang -reichen daktyloskopischen Gutach-tens durch den LKA-Experten Wer-ner Comes. Comes gelang es, für eineganze Reihe der Siegelabdrücken aus-sagekräftige daktyloskopische Aussa-gen und Informationen zu „Personen-gleichheiten“ über größere Zeiträumetreffen zu können – nach teils über600 Jahren, die zwischen der damali-gen Besiegelung (und dem Eindruckder Finger) und der Untersuchung imJahr 2015 vergangen sind! Das Gut-achten gibt vor allem auch zahlreicheAnhaltspunkte dafür, wie bei weiterenund vor allem größeren Projekten ver-fahren werden kann. Das SpeyererStadtsiegel wird auch in zukünftigenVorhaben und Forschungen zweifelloseine wichtige Rolle spielen, zumal esauf dem europäischen Kontinent daserste Siegel überhaupt war, das auf dieReste von Körperspuren (Fingerab-drücke) untersucht worden ist! Die Projektpartner führten zum Ab-schluss des Projekts am 14. und 15.September eine Arbeitstagung an derUniversität Gießen durch, bei der sich„digitale“ Siegelforscher bzw. Archiva-rinnen und Archivare aus Belgien,Deutschland, Frankreich und Groß-britannien intensiv austauschten. Na-türlich stand dabei das Speyerer Pro-jekt zu Fingerabdrücken im Mittel-punkt. Eine gemeinsame Publikationder Vorträge aus einem Forschungs-feld, das bisher kaum bekannt warund das Naturwissenschaftler, Krimi-nalisten und (Kunst)Historiker zu-sammenbrachte, könnte evtl. im Jahr2016 erfolgen. Wer sich vorher schonüber das Projekt informieren möchte,dem sei ein Blick in das „Projektblog“empfohlen: http://siegel.hypotheses.org/

Dr. Joachim KemperLeiter Kulturelles Erbe/Stadtarchiv

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Speyerer Urkunde und Stadtsiegel im CT-Scanner (Firma BMB, Heilbronn)

3D-Scan eines Fingerabdrucks (FirmaBMB, Heilbronn)