Sozialpolitik Sozialversicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003 1 Die Soziale Sicherung.
-
Upload
britta-schuster -
Category
Documents
-
view
224 -
download
3
Transcript of Sozialpolitik Sozialversicherung © Anselm Dohle-Beltinger 2003 1 Die Soziale Sicherung.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 20031
Die Soziale Sicherung
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 20032
Übersicht
• Die Stellung der Sozialen Sicherung innerhalb der Sozialpolitik
• Soziale Risiken und ihre Abfederung– Berufsunfähigkeitsversicherung– Rentenversicherung– Krankenversicherung– Arbeitslosenversicherung– Sozialhilfe– Pflegeversicherung
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 20033
Sozialpolitik• Das Handeln der für eine Gemeinschaft
verantwortlichen (bzw. sich verant-wortlich fühlenden) Personen mit dem Ziel der Erreichung von Verteilungsnormen, die der Markt nicht erfüllt.
• Handelnde sind staatliche Organe, Verbände, Unternehmen, Personen-gruppen (Vereine etc.), Einzelpersonen
• Arbeitsgebiete: Arbeitswelt sowie Notlagen oder Entwicklungsdefizite soweit sie mit materiellen Hilfen verbessert werden können.
Deshalb neigen wir dazu, Verteilungs-vorstellungen als utopisch abzutun
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 20034
Leitgedanke• Der Sozialstaat ist ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil unserer
gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kultur. Ohne Sozialpolitik wäre die marktwirtschaftliche Ordnung nicht denkbar.
• Sozialpolitik stabilisiert und fördert die Entwicklung unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Sie trägt zu wirtschaftlichem und sozialem Ausgleich wie zur Verbesserung der Chancengleichheit bei und ist damit von zentraler Bedeutung für sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Allgemeine und berufliche Qualifikation und Weiterbildung sowie Rehabilitation fördern den für die deutsche Volkswirtschaft wichtigen Produktionsfaktor Humankapital.
• Das System betrieblicher und überbetrieblicher Arbeitnehmer- Arbeitgeberbeziehungen unterstützt die Produktivität der Gesamtwirtschaft und den sozialen Frieden in der Gesellschaft.
• Die Absicherung gegen Lebensrisiken erweitert den Handlungsspielraum der Menschen und fördert so die Bildungs-, Mobilitäts-, Anpassungs- und Wagnisbereitschaft.
• Erst die sozialverträgliche Gestaltung des Strukturwandels schafft in einer demokratischen Gesellschaftsordnung die hierfür notwendige Akzeptanz.
Quelle: Sozialbericht 2001 der Bundesregierung, S. 17
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 20035
Gestaltungsziele• Eigenverantwortung und aktivierender
Sozialstaat• Generationengerechtigkeit und
Nachhaltigkeit• Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern
durch Gleichstellung von Mann und Frau• Flexibilisierung und Wahlfreiheiten• Vermeidung sozialer Ausgrenzung,
Förderung des sozialen Zusammenhalts• Einbindung in europäische und
internationale Zusammenhänge.Quelle: Sozialbericht 2001 der Bundesregierung, S. 17
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 20036
Soziale Sicherung als Element der Sozialpolitik
• Wenn sich eine Gesellschaft auf Vertei-lungsziele einigt, dann sind diese meist darauf ausgerichtet, über das gesamte Leben hinweg materiell stabilisierend zu wirken, d.h. Armut zu vermeiden.– Z.B.: Eine Sicherung des Existenzminimums nur bis
zum Alter von 18 Jahren würde nicht als „human“ anerkannt.
• Das Gesamtbündel aus Geben und Nehmen muss der Verteilungsnorm entsprechen
Mittelbeschaffung gehört auch zur Sozialpolitik
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 20037
Steuern oder Versicherung• Wenn Verteilungsziele moralisch begründet
werden (Ausgangspunkt Naturrecht oder religiöse Lehren), dann können sie nicht auf Teile der Bevölkerung eingeschränkt werden.
• Wenn eine Verteilungsnorm gleichmäßig durchgesetzt werden soll, so kann nicht rein freiwillig gearbeitet werden.
• Es herrscht also eine Zwangsvorsorge. Diese kann finanziert werden durch Abgaben ohne Leistungsanspruch (Steuern) oder durch Abgaben mit Leistungsanspruch (Gebühren und Beiträge)
Naturrecht und Sozialverpflichtung: Erst materielle Sicherheit erlaubt intellektuelle Teilhabe, also volles Menschsein
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 20038
Einnahmearten des Staates• Gebühren sind daran gebunden, dass ein
Entgelt zur Kostendeckung für einen tatsächlich vermittelten Nutzen erhoben wird.
• Beiträge finanzieren Güter, bei denen die Nutzenvermutung abstrakt ist, d.h. der mögliche Nutzen daraus wird nur eventuell gezogen.
• Steuern sind Zwangsabgaben ohne Gegenleistung, d.h. es muss nicht einmal abstrakt eine Möglichkeit bestehen, Nutzen aus den damit finanzierten Gütern zu ziehen.
Die definitorische Dreiteilung führt fast zwangsläufig dazu, dass ein Sicherungssystem mit Umverteilungs-komponenten weitgehend mit Beiträgen finanziert wird. Ohne diese Umverteilung kä-men auch Gebüh-ren in Frage.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 20039
„Versicherungsfremde Leistungen“• Je geringer der Zusammenhang zwischen Beitrag und
Leistung ist, desto mehr spricht für eine Steuerfinanzierung der Umverteilung
• Leistungen, die (sozial-)politisch gewollt sind, bei denen aber kein Zusammenhang mit der Beitragsleistung einerseits und dem versicherungstypischen Risikoausgleich andererseits besteht, nennt man „versicherungsfremde Leistungen“
• Beispiele: Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, Leistungen für Spätaussiedler, Rentenzahlungen nach West-Standard an Rentner Ost.
• Sie müssten aus anderen als Beitragsmitteln finanziert werden
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200310
Das System der Sozialen Sicherung
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200311
Lebenszyklus und Armutsrisiken
Kleinkind
Erziehungsgeld
vor Geburt AlterBildung
Arbeitslosengeld, Unfallrente,
Berufsunfähigkeit
Arbeit
BAföGErwerbsfreies Einkommen
Rente
Sterbegeld
Lohnfort-zahlung im
Mutter-schutz
Krankheit und Pflege
Existenzielle Armut
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200312
SchwerpunktverschiebungenQuelle: Sozialbudget 2001; Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung www.bmgs.bund.de
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200313
Schwerpunktverschiebungen
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200314
1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005
Wiedervereini-gungsboom
Ölpreisschock und Ausbau des
Sozialstaates
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200315
Entwicklung der Sozialversicherungsbeiträge in der BRD
05
1015202530354045
Jun
49
Jun
54
Jun
59
Jun
64
Jun
69
Jun
74
Jun
79
Jun
84
Jun
89
Jun
94
Jun
99
Rentenversicherung
Krankenversicherung
ArbeitslosenversicherungPflegeversicherung
Quelle: Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) www.bfa.de
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200316
West-Ost-Vergleich
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200317
Staatliche Finanzierung
• Bund: – Erziehungsgeld, Arbeitslosenhilfe, besondere
Arbeitsmarktprogramme, – Zuschüsse zur Rentenversicherung, zur Bundesanstalt für Arbeit,
zur Alterssicherung der Landwirte – gemeinsam mit den Ländern Kriegsopferversorgung, Wohngeld
und Ausbildungsförderung.• Länder:
– Krankenhausfinanzierung, öffentliches Gesundheitswesen, besondere Arbeitsmarktprogramme sowie
– mit dem Bund Kriegsopferversorgung, Wohngeld und Ausbildungsförderung
– in Unterstützung der Kommunen: Sozialhilfe und Jugendhilfe, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
• Kommunen: – Sozialhilfe und Jugendhilfe, freiwillige soziale Leistungen,
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz• Darüber hinaus finanzieren Bund, Länder und Kommunen als
„Arbeitgeber" im vollen Umfang die soziale Sicherung ihrer Beamtinnen sowie paritätisch die Sozialversicherungsleistungen ihrer Arbeiterinnen und Angestellten
Die Kommunen beklagen in den letzten Jahren, dass der Bund zunehmend Leistungen auf sie verlagert, die Finanzierungsmittel aber behält. Interessant wird deshalb, wie die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe aussehen wird.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200318
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200319
Quelle: Sozialbudget 2001 - Materialband
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200320
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200321
Die Belastung des Faktors Arbeit
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200322
Quelle: IW, Wirtschaft in Zahlen 2002
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200323
Der internationale Wettbewerb
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200324
Korrektur um die Produktivität
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200325
Verursacher oder Opfer • In der Wirtschaft gilt es als wichtiges Prinzip,
Kosten verursachungsgerecht zuzuordnen. Andernfalls versagt die Allokationsfunktion der Preise.
• Das würde bedeuten, dass Güter bzw. Produktionsfaktoren in falschen Mengen angeboten werden: bei nach unten verfälschten Kosten zu viele Güter und zu wenig Arbeitskraft, bei zu hohen umgekehrt.
• Da die Leistungen der Sozialversicherung den Arbeitnehmern zugute kommen ist es konsequent, sie auch dem Faktor Arbeit zuzuordnen und anzulasten.
Fehlallokation besteht z.B. bei zu billigem Benzin: der Flottenver-brauch bleibt hoch, weil die gesellschaftlichen Kosten nicht eingerechnet werden.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200326
Rückwirkung der richtigen Allokation
• Die Verteuerung des Faktors Arbeit bewirkt bei den Unternehmen ein vermehrtes Interesse, – die Produktivität zu verbessern = Maschinen
statt Arbeitskraft einzusetzen und– Unvermeidliche Arbeitsnachfrage dort zu
befriedigen, wo die Arbeitskraft billiger ist. • „Sozialdumping“ und Produktivitäts-
steigerungen bei geringem Absatz-wachstum führen dazu, dass die Lasten des Sozialsystems immer mehr auf einzelne Arbeitnehmer gebündelt werden und sich dieser Ausweichprozess eher beschleunigt
Arbeitslosigkeit durch Sozialstaat = Kontraproduktivität
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200327
Lösungsansätze
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200328
Anpassung an Kosten oder Beiträge
• Prinzipiell gibt es zwei Wege, mit dem Finanzierungsdilemma der Sozialversicherung umzugehen:– das Mittelaufkommen den steigenden
Kosten anpassen oder– die Leistungen auf das langfristig
finanzierbare Maß absenken.• Derzeit ist noch offen, welche Politik
in Deutschland konsensfähig ist.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200329
Lösungsstrategien auf der Finanzierungsseite (1) - Maschinensteuer
• Umbasierung der Sozialabgaben auf andere Produktionsfaktoren, z.B. durch Einführung einer Maschinensteuer.– Umsetzung: Es wird eine Abgabe in % des
Bilanzbestandes an Produktionsmitteln (zu AHK oder Buchwert) oder des jährlichen Investitionsvolumens verlangt.
– Folge: Technologierückstand durch Verschiebung der relativen Preise zuungunsten der Maschinen, d.h. Investitionen werden verteuert.
• Keine brauchbare Lösung für den Beschäftigungsabbau
2001 wurden bei einem BIP von 1.979 Mrd. € Waren für 637 Mrd € ausgeführt = 32 %.Die Verlangsa-mung der techno-logischen Anpas-sungsprozesse würde zu steigen-der Arbeitslosig-keit im Export-bereich führen.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200330
Finanzierungsseite (2) – Mehr Zahler
• Einbeziehung weiterer Zahler– Wer Beiträge bezahlt, dem muss wegen der
abstrakten Nutzenvermutung auch ein Anrecht auf Leistungsbezug eingeräumt werden.
– Es handelt sich also nur so lange um eine Verringerung (des Anstieges) der Lohnnebenkosten wie der Leistungsbezug mit Verzögerung oder mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit als bei den bisherigen Zahlern eintritt.
– Letzteres kann ein Argument sein, die Arbeitslosen- und Krankenversicherungspflicht noch weiter auszudehnen. Für die Rentenversicherung gibt es in jedem Fall einen Bumerang-Effekt.
Sozialpolitik als Verschiebebahnhof:Loch zu – Loch auf
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200331
Finanzierungsseite (3) – Steuern statt Beiträge
• Steuerfinanzierung bedeutet Abkehr vom Äquivalenzprinzip, d.h. der (um den Solidarausgleich korrigierten) Entsprechung von Beitragsleistung und Versicherungsleistung. Dies ergibt sich aus der nicht vorhandenen Zweck- (und Nutzen-)bindung der Haushaltsmittel.
• Darüber hinaus ist Steuerfinanzierung je nach gewählter Bemessungsgrundlage (s. Maschinen-steuer) auch eine Abkehr vom Verursacherprinzip, da nicht alle Zahler auch Nutznießer sein werden.
• Es eröffnet Raum für gezielte – oder willkürliche – Verteilungskorrekturen bei der Absicherung von Lebensrisiken.
• Eine mögliche Konsequenz wäre dann z.B. eine Einheitsrente für alle, die sich etwa am Sozialhilfeniveau orientiert. Damit wäre der bisherige Gedanke der Statuskontinuität aufgegeben.
Non-Affektationsprinzip der Steuer
Statuskontinuität: die relative Position während des Erwerbslebens soll auch in der Leistungsphase im Verhältnis zu den anderen Leistungs-beziehern der Versicherung weiter bestehen.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200332
Finanzierungsseite (4) - Einkunftsarten• Einbeziehung weiterer Einkunftsquellen
– Zahlungspflichtig sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber meist gleichzeitig.
– Bemessungsgrundlage ist nur der Lohn, nicht andere Einkünfte des Arbeitnehmers, die er außerhalb des Unternehmens erzielt. Würde man sie mit einbeziehen, so ließen sich die Kosten je Arbeitsstunde (lohnbasiert) senken und es würden insgesamt nicht unbedingt zusätzliche Ansprüche begründet.
– Ändern würde sich aber insbesondere in der Altervorsorge die Verteilung der Leistungen. Da diese bislang an die Einzahlungen gekoppelt sind, würden diejenigen, die über hohe Vermögenswerte verfügen und daraus Erträge ziehen (sind auch meist höhere Einkommensgruppen), überproportional höhere Zahlungen erhalten als der Rest.
– Da der Arbeitgeber die wirtschaftliche Gesamtsituation seiner Arbeitnehmer nicht kennt, kann ihm wegen Unkalkulierbarkeit auch keine anteilige Mitfinanzierung auferlegt werden. Dies widerspricht der bisherigen Tradition, die darauf aufbaut, dass der Solidarbeitrag mit dem Nutzen aus dem sozialen Frieden und der stabilen Nachfrage aufgewogen wird.
Relativ beste Lösung ohne Abkehr vom bisherigen System
Machbar, soweit die Umvertei-lungswirkung bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern gesellschaftlich konsensfähig ist.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200333
Lösungsstrategien auf der Leistungsseite
• In den letzten Monaten fand in zunehmend nachdrücklicher Weise eine Diskussion über Leistungseinschnitte statt.
• Egal ob geänderte Rentenformel, Wegfall des Krankengeldes oder verringerte Zahlungsdauer der Arbeitslosenversicherung: allmählich wird sparen salonfähiger als noch mehr umverteilen.
Finanzierungsseite läuft auf höhere Mittelbeschaffung hinaus um die Leistungen zu sichern.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200334
Die Versicherungsarten
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200335
Berufsunfähigkeitsversicherung
• Für die meisten ist ihre Arbeitskraft der wesentliche Quell von Kaufkraft und Wohlstand. Fällt diese weg, so drohen existenzielle Risiken gerade für Berufsanfänger, die keine finanziellen Polster haben und kaum auf Überbrückungsleistungen anderer Versicherungen hoffen können.
• Früher war die Berufsunfähigkeit ein Leistungsbestandteil der gesetzlichen Rentenversicherung. Für alle ab dem 1.1.1961 geborenen gilt das nicht mehr.
Zusammen mit einer privaten Haftpflicht ist die Berufsunfähigkeitsversicherung ein absolutes Muss – auch für Studenten.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200336
Die Rentenversicherung
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200337
Struktur der Alterssicherung der BRD• Es gibt im wesentlichen drei Säulen der
Alterssicherung:– Die gesetzliche Rentenversicherung– Die betriebliche Altersversorgung– Die private Altersversorgung
• Während die beiden letzten typischerweise damit verbunden sind, dass Gelder oder Vermögenswerte angesammelt (und verzinst) werden (=Kapitaldeckung) wird erstere nicht aus zurückgelegten Beiträgen des Rentners, sondern aus denen der aktuell berufstätigen Personen gespeist (=Umlageverfahren).
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200338
Kapitaldeckungs- gegen Umlageverfahren• Das grundsätzliche Problem besteht bei beiden
Versicherungsarten: sie können nur dann die erwartete Leistung erbringen, wenn die wirtschaftliche Entwicklung positiv ist.
• Im negativen Fall fehlen bei der Umlage die Zahler, bei der Kapitaldeckung die Neuabschlüsse und die Renditen aus dem Deckungsstock (Kursverfall von Aktien, Mietstagnation und niedrige Zinsen derzeit gekoppelt).
• In beiden Fällen hat die Erosion des Mittelaufkommens die Tendenz, sich zu beschleunigen. Ob der Deckungsstock wie ein Bremsfallschirm wirkt hängt von der Anlagestrategie der Versicherungen ab. Hohe Renditen erfordern hohe Risiken!
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200339
Die Idee der gesetzlichen Rentenversicherung
• Generationenvertrag (Entstehung 1889): die aktiv arbeitende Bevölkerung bezahlt die Renten der alten Generation. Fragestellung: Was tun um schneller eine Rente auszuzahlen als sie ansparbar ist? Lösung: Umlage
• Der soziale Status zur Zeit der Berufstätigkeit soll auch im Rentenalter relativ, d.h. auf niedrigerem Niveau, gewahrt bleiben. Deshalb bei der Rentenanspruchsberechnung immer Bezug des eigenen Einkommens eines Jahres auf das Durchschnittseinkommen der versicherungspflichtig Beschäftigten im betreffenden Jahr.
• Versorgungsfunktion der Rente: aus der Beitragszahlung resultiert nicht nur ein lebenslanger Anspruch des Zahlers, sondern nach seinem Ableben - in verringertem Umfang - auch seiner Hinterbliebenen.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200340
Fragestellungen• Kernproblem ist hier (wie auch bei der Kranken- und
Pflegeversicherung) noch vor der hohen Arbeitslosigkeit demografische Entwicklung.
• Einer wachsenden Zahl an Leistungsbeziehern steht eine sinkende Zahl an Zahlern gegenüber.
• Ob eine erhöhte Geburtenanzahl bei weiter fortschreitender Produktivitätssteigerung und auf absehbare Zeit moderaten Wachstumsraten wirklich sinnvoll ist zur Lösung des Problems, muss stark bezweifelt werden.
• Arbeitskräfte stehen genug zur Verfügung, wenn die potentiellen Rentner länger arbeiten. Außerdem würde ein Arbeitskräftemangel sehr rasch eine Wohlstandsmigration auslösen, die zum Marktausgleich führt.
Das Regelalter der Verrentung ist zwar 65, das tatsächliche Eintrittsalter liegt aber u.a. durch zahlreiche „sozialverträgliche“ Frühverrentungen unter 60 Jahren – und das bei gestiegener Lebenserwartung
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200341
Altersstruktur BRD im Jahre 2000 in 1.000 Personen
-4.000 -2.000 0 2.000 4.000
0 - 5
10 - 15
20 - 25
30 - 35
40 - 45
50 - 55
60 - 65
70 - 75
80 - 85
90 u. mehr
MännerFrauen
Altersstruktur BRD 2020
-4.000 -2.000 0 2.000 4.000
0 - 5
10 - 15
20 - 25
30 - 35
40 - 45
50 - 55
60 - 65
70 - 75
80 - 85
90 u. mehr
MännerFrauen
Altersstruktur BRD 2010
-4.000 -2.000 0 2.000 4.000
0 - 5
10 - 15
20 - 25
30 - 35
40 - 45
50 - 55
60 - 65
70 - 75
80 - 85
90 u. mehr
MännerFrauen
Altersstruktur BRD 2030
-4.000 -2.000 0 2.000 4.000
0 - 5
10 - 15
20 - 25
30 - 35
40 - 45
50 - 55
60 - 65
70 - 75
80 - 85
90 u. mehr
MännerFrauen
Quelle: Statistisches Bundesamt (StBA; www.statistik-bund.de); 9. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung Juli 2000Wichtige Rahmenbedingung: Jährlicher Zuwanderungsgewinn von 100.000 Menschen
Gesamtbevölkerung 81.946 Tsddavon 40.001 Männerund 41.945 Frauen
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200342
Erwerbstätigkeit in der BRD des Jahres 2030
-4.000 -2.000 0 2.000 4.000
0 - 5
10 - 15
20 - 25
30 - 35
40 - 45
50 - 55
60 - 65
70 - 75
80 - 85
90 u. mehr
MännlicheErwerbspersonenWeiblicheErwerbspersonenübrige Männer
übrige Frauen
Erwerbspersonen sind Erwerbstätige und Erwerbslose zusammen. Als erwerbstätig gelten dabei alle Personen, die eine haupt- oder nebenberufliche Erwerbsarbeit ausüben, während zu den Erwerbslosen alle Personen ohne Arbeitsverhältnis gehören, die sich um eine Arbeitsstelle bemühen.
Basis: Strukturdaten zur Erwerbstätigkeit von Männern und Frauen im Jahr 1999 des StBA
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200343
Weitere Tendenzen Die Zunahme der Lebenserwartung hat Folgen für die
Beitragsentwicklung: Wenn wir heute noch die Rentenlaufzeiten von 1960 hätten, dann könnte der Beitragssatz zwischen 12 und 13 % statt bei 19,5 % liegen.
Die Erwerbsbiographien verändern sich. Durchgehende Vollzeitbeschäftigung vom 16. bis 65. Lebensjahr wird nicht unbedingt die Regel sein. Häufig wechseln Ausbildung, Studium, Beruf, Weiterbildung, neuer Beruf, Familienpause und Arbeitslosigkeit. Unterbrechungen und Veränderungen kommen auch bei Männern immer öfter vor.
Der Anteil von Frauen im Erwerbsleben nimmt weiter zu. Die heutige Hinterbliebenenversorgung basiert auf einem überholten Gesellschaftsbild: Ein Ehepartner - in der Regel der Mann - versorgte als Alleinverdiener die Familie. Da die gesellschaftliche Wirklichkeit heute häufig anders ist, brauchen Frauen eine eigenständige Altersversorgung.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200344
(Diskutierte) Lösungsversuche
• Vermehrte Übernahme versicherungsfremder Leistungen in den Bereich der Steuerfinanzierung (Einführung der Ökosteuer; vergrößert Zahl der „Beitragszahler“) um die Beiträge bis 2030 unter 22% zu halten.
• Einbeziehung neuer Beitragszahler: 325 €-Jobs, Scheinselbständige (wird wieder abgeschwächt);
• Immer wieder in der Diskussion: Versicherungspflicht für Beamte und alle Selbständigen (kommt wohl nicht)
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200345
Lösung durch Niveauanpassung• Aussetzung der Nettolohnanpassung für zwei
Jahre. Nur noch (verzögerter) Inflations-ausgleich. Folge: Absenkung des Renten-niveaus von 71% in 2000 auf etwa 68 % in 2030 (Nichtregierungsquellen sprechen von 64%, da es den „Eckrentner“ mit 45 Beitragsjahren und Rentenbezug ab 65 kaum noch gibt)
• Ausgleich der Absenkung durch eine steuerlich begünstigte private Altersvorsorge (sog. Riester-Rente), die das Niveau auf 76% steigen lassen soll.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200346
Krankenversicherung
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200347
Probleme der GKV
• Averse Risikoselektion– Die guten Risiken sind im Regelfall Personen mit höheren
Einkommen. Diese haben Wahlfreiheit bei der Versicherung und nutzen sie zur Beitragsverbilligung bzw. gehen zu privaten Krankenversicherungen.
– Übrig bleiben z.B. alte und gesundheitlich bereits geschädigte Personen sowie Nutznießer der Mitversicherungsregelungen, für die die privaten Krankenversicherer zu teuer sind.
– Die steigende Lebenserwartung führt zu einer Zunahme von komplexen und langwierigen Krankheitsbildern mit hohen Behandlungskosten
– Viele Krankheiten werden jetzt therapierbar. Da die gesellschaftliche Anforderung besteht, keine Zwei-Klassen-Medizin zu praktizieren, ist der Arzt verpflichtet, bei jedem Patienten das volle Therapiespektrum auszuschöpfen
– Folge: Kostenzuwachs bei gleichzeitigem Rückgang der Bemessungsgrundlage
Geringe Lei-stungsdifferenzie-rung der Versiche-rungen erleichtert Wechsel.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200348
Lösungsansätze• Leistungskürzungen in den Bereichen
Lohnfortzahlung, Sterbegeld, plastische Chirurgie, Zahnersatz, Geburtsrisiken, …
• Mehr Preis- (und Qualitäts-)wettbewerb zwischen den Ärzten und den Apotheken
• Trennung von Verordnung und Kontolle der Verordnung (Hausarzt als Manager; Abschaffung der KV als anonymisie-render Verwaltungsstelle der Abrechnungen)
• Einführung von Pauschalhonoraren für Fälle
• Vermehrte Abrechnungskontrolle• Senkung der Verwaltungskosten
GKV übernimmt sozialversiche-rungsrechtliche Kontrollfunktionen, die die PKVs nicht haben.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200349
Pflegeversicherung
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200350
Verwandtschaft zur KV
• Nicht nur die Art der Leistungen ist ähnlich, sondern auch die Problemstellung: – Wegen der älter werdenden Bevölkerung nimmt
die Zahl der Pflegefälle rasch zu. Parallel dazu steigt durch Verkleinerung und Zerrissenheit der Familienverbände der externe Betreuungsaufwand.
– Derzeit scheinen die Vertragsärzte angewiesen, die Pflegeklassen sehr restriktiv zuzuordnen.
– Mittlerweile wird überlegt, die Versicherung voll zu privatisieren, da die Kosten auch damit nicht in den Griff zu kriegen scheinen
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200351
Arbeitslosenversicherung
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200352
Probleme
• Sie wurde und wird als Parkplatz für „sozialverträgliche“ Auflösungen der Arbeitsverträge benutzt bevor die ehemaligen Arbeitnehmer verrentet werden können.
• Dies geht an der eigentlichen Aufgabenstellung vorbei, da sie nicht als Zwischenstation zur Rente konzipiert ist, sondern zu erneuter Arbeit.
• Ihr Mittelbedarf ist prozyklisch: in schlechten Konjunkturzeiten steigt er an. Allerdings sorgt die Mittelverwendung für einen antizyklischen Effekt, da die Kaufkraft der Arbeitslosen stabilisiert wird.
Deshalb proble-matisch, weil hier Motivaton zu möglichst langem Leistungsbezug statt zu Arbeits-suche besteht.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200353
Therapie
• Eine aktive Arbeitsmarktpolitik umfasst mehrere Teilbereiche– Konjunkturelle Impulse setzen im Steuerrecht
und im Haushalt– Qualifikation bei fehlender Marktfähigkeit der
Arbeitslosen– Qualifizierte Vermittlung von
Stellensuchenden– Akquisition von freien Stellen
• Die Leistung von Zahlungen ist kein Beitrag zur Beschäftigungserhöhung
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200354
Unfallversicherung
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200355
Ausgestaltung
• Sie leistet für Unfälle auf dem direkten Weg zu und von der Arbeit sowie während der Arbeit. Ihren Beitrag zahlen allein die Arbeitgeber.
• Die hohe Beitragskonstanz hängt zusammen mit der Abnahme von Arbeitskräften und mit der Verringerung gefährlicher Tätigkeiten.
• Sie ist kaum von den aktuellen Debatten betroffen.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200356
Sozialhilfe
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200357
System of last resort
• Das letzte Auffangnetz des Sozialsystems für alle, deren eigene Mittel nicht zur Existenzsicherung reichen, ist die Sozialhilfe.
• Sie dient der Deckung des Existenzminimums, das jedoch nicht eindeutig definiert werden kann.
• Teilweise wird deshalb eine Mischung aus Sachbezug (Miete, da stark standortspezifisch; Möblierung; Kleidung) und Geldbezug (für Nahrung) praktiziert.
Sozialpolitik Sozialversicherung
© Anselm Dohle-Beltinger 200358
Das Problem• Hier stellt sich genauso wie bei den meisten anderen
Sozialsystemen das Problem der Zyklizität: in wirtschaftlich schlechten Zeiten kollidiert ein wachsender Mittelbedarf mit einem absinkenden Mittelaufkommen.
• Dieser Bereich war in der Vergangenheit derjenige, der am stärksten von Kürzungen betroffen war. Auch die derzeitigen Pläne lassen weitere Kürzungen erwarten.
• Das Grundproblem bei der Frage der Angemessenheit ist aber ungelöst:– Will man ein Verschuldensprizip einführen, das umgekehrt
zum restlichen Rechtssystem läuft: wer arbeitsfähig ist bekommt weniger bis er nachweist, dass er nicht arbeitsfähig ist.
– Billigt man einen statusorientierten Konsum zu (alle haben eine Glotze, also auch der Sozialhilfeempfänger) oder geht es nur um die Aufrechterhaltung der physischen Existenz.
– Letztere Position ist mit Naturrechtsgrundsätzen nicht leicht zur Deckung zu bringen, wenn man einen Zusammenhang zwischen materieller Sicherheit und individueller Entfaltung akzeptiert.
Kann ich von Chancengerech-tigkeit sprechen, wenn materielle Not durch Kür-zungen provoziert wird und diese Chancen nimmt?