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Was richtet der ver- dammte Krebs an, wenn er in eine glückliche Fa- milie einbricht? Er macht alle krank – Partner, Kinder, Freunde. Hendrick Melle (54) hat ein Buch* über dieses Schicksal geschrieben. BILD druckt exklusiv Auszüge. ★★★ Utas Nummer auf dem Dis- play. Sie wollte jetzt sofort Tagliatelle alla Chef von ihrem Lieblingsrestaurant. Ich machte mich auf den Weg, war im Stress, schaute nicht genau hin, fuhr beim Ausparken in einen ver- dammten scheiß Audi A6. Noch bevor der ande- re Fahrer ausgestiegen war, stand ich schon ne- ben seiner Tür und brüllte ihn in Grund und Boden. Es gibt nichts, was so wütend macht wie Hilflosigkeit! „Scheiße,“ brüllte ich in die Stadt, „meine Frau liegt im Krankenhaus! Ihr sind gerade beide Brüste am- putiert worden! Zu Hause warten die Kinder, und jetzt wird wegen dieser Schei- ße hier auch noch das verfluchte Es- sen kalt!“ „Fahren Sie ins Krankenhaus!“, sagte der Mann. „Ich kümmere mich um die Bagatelle hier!“ „Bitte?“, brüllte ich. Kümmern Sie sich um Ih- ren Kram“, sagte er noch mal. „Das hier ist nicht wichtig. Fahren Sie zu Ih- rer Frau.“ Ich spürte, wie der Druck aus mir wich. Meine Knie wurden weich. „Danke!“ Ich musste schlucken. „Danke.“ Ich heulte auf dem gan- zen Weg ins Klinikum. ★★★ Uta war wieder zu Hause. Uta war zu schnell für mich. Sie bat mich zu sich auf ihr Hochbett, legte ihren Oberkörper frei, führte Wunden, Wundflüssigkeit und Narben vor. Sie zeig- te jedes blutige Detail ih- rer Operation und erklär- te: „Am besten, du schaust dir alles genau an, dann kannst du besser erken- nen, wo es weh tut und wo nicht. Du darfst meine Nar- ben streicheln und küssen und auch sonst fast überall – aber unter den Armen tut es weh – da musst du ganz vorsichtig sein, da habe ich auch Angst vor Berührun- gen – Angst da- vor, dass es weh- tun könnte ...“ Mir stellten sich die Nacken- haare auf. Blutige Narben streicheln und küssen? Ich sah ein Schlacht- feld: aufgeschnittene Haut, durchtrennte Mus- keln, abgetragenes Gewe- be. Haut, die plötzlich viel zu groß geworden war. Blut sickerte durch die Wund- pflaster, wo einmal Utas kleine Brüste gewesen wa- ren. Keine Brustwarzen mehr. Ich vermisste sie so. Ich vermisste die heile Welt; zum ersten Mal war ich so mit der neuen Wirk- lichkeit konfrontiert. Ich wollte nicht alles ganz genau sehen. Wie viele offene Wun- den verträgt die Erotik, um erotisch zu bleiben? ★★★ Am 5. Mai musste Uta wieder unters Messer; der Port. Es sah bru- tal aus. Aber es war ein Teil des Rettungs- planes. Die Haare fielen aus. Das ging ganz schnell. Erst einzeln, dann büschel- weise. Das war ein gutes Zeichen. Faustregel: Ne- benwirkungen schlimm, Präparat gut! Eine Freundin kam bei uns vorbei und schor Uta den Kopf. Bleiche Haut, eingesun- kene Augen, Glatze; deut- licher ging es nicht mehr: Krebs! Krebs! Krebs! Lesen Sie morgen: Krebs macht einsam. Und die Frage: Brüste wieder aufbauen – ja oder nein? IN SERIE „Die Amazone vom Kollwitz- platz“ von F. Hen- drick Melle (112 Seiten, ab sofort im Life Trust Verlag, 9,90 Euro) KREBS UND EROTIK – wie geht das eigentlich? Teil2

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Was richtet der ver-dammte Krebs an, wenn er in eine glückliche Fa-milie einbricht?

Er macht alle krank – Partner, Kinder, Freunde. Hendrick Melle (54) hat ein Buch* über dieses Schicksal geschrieben. BILD druckt exklusiv Auszüge.

★★★Utas Nummer auf dem Dis-play. Sie wollte jetzt sofort Tagliatelle alla Chef von ihrem Lieblingsrestaurant.

Ich machte mich auf den Weg, war im Stress, schaute nicht genau hin, fuhr beim Ausparken in einen ver-dammten scheiß Audi A6.

Noch bevor der ande-re Fahrer ausgestiegen war, stand ich schon ne-ben seiner Tür und brüllte ihn in Grund und Boden. Es gibt nichts, was so wütend macht wie Hilflosigkeit!

„Scheiße,“ brüllte ich in die Stadt, „meine Frau liegt im Krankenhaus! Ihr sind gerade beide Brüste am-putiert worden! Zu Hause warten die Kinder, und jetzt wird wegen dieser Schei-

ße hier auch noch das verfluchte Es-sen kalt!“

„Fahren Sie ins Krankenhaus!“, sagte der Mann. „Ich kümmere mich um die Bagatelle hier!“

„Bitte?“, brüllte ich.Kümmern Sie sich um Ih-

ren Kram“, sagte er noch mal. „Das hier ist nicht wichtig. Fahren Sie zu Ih-rer Frau.“

Ich spürte, wie der Druck aus mir wich. Meine Knie wurden weich. „Danke!“ Ich musste schlucken. „Danke.“

Ich heulte auf dem gan-zen Weg ins Klinikum.

★★★Uta war wieder zu Hause. Uta war zu schnell für mich.

Sie bat mich zu sich auf ihr Hochbett, legte ihren Oberkörper frei, führte Wunden, Wundflüssigkeit und Narben vor. Sie zeig-te jedes blutige Detail ih-rer Operation und erklär-te: „Am besten, du schaust dir alles genau an, dann kannst du besser erken-nen, wo es weh tut und wo nicht. Du darfst meine Nar-ben streicheln und küssen und auch sonst fast überall – aber unter den Armen tut es weh – da musst du ganz vorsichtig sein, da habe ich auch Angst vor Berührun-

gen – Angst da-vor, dass es weh-tun könnte ...“

Mir stellten sich die Nacken-

haare auf. Blutige Narben streicheln

und küssen?Ich sah ein Schlacht-

feld: aufgeschnittene Haut, durchtrennte Mus-keln, abgetragenes Gewe-be. Haut, die plötzlich viel zu groß geworden war. Blut sickerte durch die Wund-pflaster, wo einmal Utas kleine Brüste gewesen wa-ren.

Keine Brustwarzen mehr. Ich vermisste sie so. Ich vermisste die heile Welt; zum ersten Mal war ich so mit der neuen Wirk-lichkeit konfrontiert. Ich wollte nicht alles ganz genau sehen.

Wie viele offene Wun-den verträgt die Erotik, um erotisch zu bleiben?

★★★Am 5. Mai musste Uta wieder unters Messer; der Port. Es sah bru-tal aus. Aber es war ein Teil des Rettungs-planes.

Die Haare fielen aus. Das ging ganz schnell. Erst einzeln, dann büschel-weise. Das war ein gutes Zeichen. Faustregel: Ne-benwirkungen schlimm,

Präparat gut!Eine Freundin kam bei

uns vorbei und schor Uta den Kopf.

Bleiche Haut, eingesun-kene Augen, Glatze; deut-licher ging es nicht mehr: Krebs! Krebs! Krebs!

Lesen Sie morgen:Krebs macht einsam. Und die Frage: Brüste wieder aufbauen –

ja oder nein?

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„Die Amazone vom Kollwitz-platz“ von F. Hen-drick Melle (112 Seiten, ab sofort im Life Trust Verlag, 9,90 Euro)

Ich bin Blindtext, von Geburt an. Es hat langer

Ich bin Blindtext, von Geburt an. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein: 05 Es macht keinen Sinn. Man wirkt hier und da aus dem Zusammenhang

gerissen. Oft wird man gar nicht erst gelesen. Aber bin ich deshalb 10 ein schlech-ter Text? Ich weiss, dass ich nie die Chance haben wer-de im Stern zu erscheinen.Aber bin ich darum w

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18. NOVEMBER 2014 ✶ BILD -BUNDESAUSGABE

Krebs und erotiK –

wie geht das eigentlich?

Teil2