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Rolf Ahlrichs Demokratiebildung im Jugendverband

Rolf Ahlrichs

Demokratiebildung im Jugendverband Grundlagen – empirische Befunde – Entwicklungsperspektiven

Der Autor

Rolf Ahlrichs, Jg. 1972, Dr. phil., Dipl.-Sozialpädagoge und Sozialmanager (M.A.) ist Studienleiter am Evang. Bildungszentrum Hospitalhof und Lehrbeauftragter an der Evang. Hochschule Ludwigsburg. Diese Arbeit wurde unter dem Titel „Demokratiebildung im Jugendverband. Zum Selbstverständnis von Jugendbildungsreferent*innen in Stuttgart“ als Dissertation an der Universität Hamburg angenommen.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. Dieses Buch ist erhältlich als: ISBN 978-3-7799-3980-1 Print ISBN 978-3-7799-5255-8 E-Book (PDF) 1. Auflage 2019 © 2019 Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel Werderstraße 10, 69469 Weinheim Alle Rechte vorbehalten Herstellung: Ulrike Poppel Satz: text plus form, Dresden Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Printed in Germany

Weitere Informationen zu unseren Autor_innen und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2018 am Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität Hamburg als Disser-tation angenommen.

Den zahlreichen Personen, die mich bei der Erstellung dieser Arbeit auf vielfältige Art unterstützt haben, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich dan-ken.

Zuallererst danke ich meinem Betreuer und Erstgutachter Prof. Dr. Helmut Richter für das umfangreiche Vertrauen, die klugen und konstruktiven Anmer-kungen und vor allem die Eröffnung eines neuen wissenschaftlichen Horizonts. Ebenso gilt mein Dank meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Benedikt Sturzen-hecker für wertvolle Anregungen und unterstützende Begleitung. Prof. Dr. Michael Lindenberg hat mich entscheidend dazu motiviert, diese Dissertation zu beginnen und mir manchen Weg geebnet – auch dafür herzlichen Dank.

Allen Jugendbildungsreferent*innen, die an dieser Studie mitgewirkt haben, danke ich sehr herzlich für ihre Bereitschaft, mir Einblick in ihr professionelles Handeln und ihren Jugendverband zu gewähren und mit mir gemeinsam über Demokratiebildung nachzudenken.

Ein besonderer Dank gilt den Mitgliedern des Kooperativen Promotions-kolloquiums „Sozialpädagogik, Partizipation und Bildung“ an der Universität Hamburg für lehrreiche, fachliche Diskussionen. Insbesondere danke ich Fa-bian Fritz, Stephanie Haupt, Mathias Gintzel, Sinah Mielich, Teresa Lehmann, Theresa Riechert und Moritz Schwerthelm für Diskurs und Solidarität, Tipps und Kritik. Wertvolle Korrekturhinweise lieferten Doris Hamer, Karin Karche-ter, Susanne Meier und Karl Veltzé.

Der Württembergischen Evangelischen Landeskirche danke ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuss und der Evangelischen Kirche in Stuttgart für flexible Arbeitszeitgestaltung und Unterstützung während der vergangenen Jahre. Insbesondere danke ich meiner Kollegin Monika Renninger, die mir in entscheidenden Promotionsphasen den Rücken freigehalten hat.

Mein ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern für ihre moralische Unter-stützung und für die Eröffnung zahlreicher Vereinserfahrungen seit meiner Kindheit. Ich widme diese Arbeit meiner Frau Ulrike Bauer. Ohne ihr Ver-ständnis, ihre oft endlose Geduld sowie ihre Bereitschaft, meine Gedanken und Forschungsergebnisse immer und immer wieder mit mir zu diskutieren, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

Stuttgart, im August 2018 Rolf Ahlrichs

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Inhalt

Abbildungsverzeichnis 11

Abkürzungsverzeichnis 12

1 Einleitung 15 1.1 Demokratie in der Krise – Demokratiebildung als Lösung? 16 1.2 Fragestellung und Vorgehensweise 18

Teil 1: Theoretische Grundlagen

2 Der Zusammenhang von Bildung und Demokratie 24 2.1 Begriffliche Unschärfen rund um den Jugendverband 25

2.1.1 Demokratie oder Partizipation? 28 2.1.2 Mündigkeit oder Kompetenz? 32 2.1.3 Jugendverein oder Jugendverband? 38 2.1.4 Bildungsauftrag oder Verwaltungstätigkeit? 42

2.2 Nahezu unerforscht: Demokratiebildung im Jugendverband 45 2.2.1 Kinder und Jugendliche in Vereinen 46 2.2.2 Vereine als biografisch bedeutsame Bildungsorte 50 2.2.3 Demokratiebildung im Verein 53 2.2.4 Anzahl und Bedeutung Hauptamtlicher

in Jugendverbänden 56 2.2.5 Fazit: Forschungslücken und Anschlussmöglichkeiten 61

2.3 Zur Legitimation von Macht in der Demokratie 62 2.3.1 Politisches und kommunikatives Handeln 64 2.3.2 System und Lebenswelt 67 2.3.3 Legitimation durch Deliberation 71

2.4 Willensbildung und Entscheidungsverfahren 74 2.4.1 Liberale Expertendemokratie 75 2.4.2 Republikanische Konsensdemokratie 79 2.4.3 Deliberative Kompromissdemokratie 82 2.4.4 Die Rolle der Zivilgesellschaft 85

2.5 Deliberation und Pädagogik 87 2.5.1 Bildungsvoraussetzungen deliberativer Demokratie 88 2.5.2 Demokratie als Lebens- und Regierungsform 92 2.5.3 Kritik einer auf die Schule reduzierten Demokratiebildung 98

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3 Demokratiebildung in der Jugendverbandsarbeit 105 3.1 Exkurs: Demokratie in der postnationalen Konstellation 107 3.2 Demokratiebildung als Vereinspädagogik 112

3.2.1 Kommune und Verein 113 3.2.2 Gemeinsamkeiten: Demokratierelevante

Strukturprinzipien 115 3.2.3 Unterschiede: Kategorien der Weltanschauung 124

3.3 Selbstverständnis im Wandel 128 3.3.1 Autonomes Jugendreich und weltanschauliche

Erziehung 129 3.3.2 Von der vergesellschafteten zur gesellschaftskritischen

Jugendarbeit 133 3.3.3 Neues Selbstverständnis als „Werkstätten der Demokratie“ 141

3.4 Kolonialisierung der Jugendverbandsarbeit 146 3.4.1 Familiarisierung, Verbetrieblichung, Verschulung 147 3.4.2 Politische Indienstnahme der Jugendverbandsarbeit

in Baden-Württemberg 153

4 Zwischenbetrachtung 160

Teil 2: Empirische Befunde

5 Die Studie: Forschung als diskursiver Bildungsprozess 168 5.1 Hinweise zur methodologischen Einordung der Studie 169

5.1.1 Das Spezifische sozialpädagogischer Forschung 169 5.1.2 Anmerkungen zur qualitativen Forschung 172 5.1.3 Handlungspausenforschung als pädagogische Forschung 175

5.2 Hinweise zum methodischen Vorgehen 178 5.2.1 Datenauswahl: Samplebildung 179 5.2.2 Datenerhebung: Dokumentenanalyse

und diskursive Interviews 183 5.2.3 Dateninterpretation: Auswertung und Validierung 185 5.2.4 Datenverwendung: Rückbindung an das Forschungsfeld 189

5.3 Einblicke in die Durchführung der Studie 190 5.3.1 Begründung des Samples 191 5.3.2 Publikationen: Konzepte, Berichte und Satzungen 199 5.3.3 Erstkontakt: Das gemeinsame Thema 199 5.3.4 Daten zu Gesprächen und Gesprächspartner*innen 201 5.3.5 Erste Auswertungsebene: Kommunikative Validierung 204 5.3.6 Zweite Auswertungsebene: Argumentative Validierung 204 5.3.7 Rückbindung an das Forschungsfeld 206

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5.4 Vorstellung der befragten Jugendverbände 207 5.4.1 Sportliche Jugendverbände 208 5.4.2 Religiöse Jugendverbände 212 5.4.3 Politische Jugendverbände 217 5.4.4 Helfende Jugendverbände 220 5.4.5 Ökologische Jugendverbände 221 5.4.6 Jugendringe 223

6 Befunde (1): Selbstverständnis der befragten Jugendbildungsreferent*innen 227

6.1 Mitbestimmungsrechte 228 6.1.1 Rechtliche Rahmenbedingungen von Vereinen 228 6.1.2 Mitbestimmung ohne Altersvorbehalt

beim aktiven Wahlrecht 230 6.1.3 Mitbestimmung unter Altersvorbehalt 234 6.1.4 Mitbestimmung nach dem Delegationsprinzip 236 6.1.5 Begründungen für fehlende Mitbestimmungsrechte 239 6.1.6 Fazit: Die strukturellen Unterschiede 241

6.2 Weltanschauliche oder demokratische Bildung? 242 6.2.1 Sportliche Jugendverbände: Herausforderung

„Sonderrolle“ 243 6.2.2 Religiöse Jugendverbände: Verkündigung

oder Demokratiebildung? 248 6.2.3 Politische Jugendverbände: Mitbestimmung

und politische Bildung 255 6.2.4 Helfende Jugendverbände: Herausforderung

Imagekorrektur 260 6.2.5 Ökologische Jugendverbände: Demokratie

zwischen Ortsverein und Verband 263 6.2.6 Fazit: Sach-, Gemeinschafts- und Demokratieorientierung 268

6.3 Bedeutung der Vereinsprinzipien 270 6.3.1 Lokalität 270 6.3.2 Öffentlichkeit 278 6.3.3 Demokratisches Ehrenamt 283 6.3.4 Freiwilligkeit und Mitgliedschaft 286 6.3.5 Fazit: Die geringe Bedeutung der Vereinsprinzipien 288

6.4 Rolle und Aufgaben von Jugendbildungsreferent*innen 289 6.4.1 Hauptamtlich im Ehrenamtlichenverband 290 6.4.2 Vom Umgang mit der knapper werdenden Zeit 295 6.4.3 Kooperationen mit der Schule 300 6.4.4 Formelle Bildungsprozesse: Juleica-Schulungen 305 6.4.5 Erfahrungslernen und Reflexion 309

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6.4.6 Fazit: Die Gatekeeper-Funktion von Jugendbildungsreferent*innen 315

6.5 Verortung demokratischer Erfahrungen 316 6.5.1 Formelle Demokratieerfahrungen 317 6.5.2 Non-formelle und informelle Demokratieerfahrungen 322 6.5.3 Formelle, non-formelle und informelle

Demokratieerfahrungen 325 6.5.4 Fazit: Vorläufige Typenbildung 330

7 Befunde (2): Validierung im Diskurs 333 7.1 Gruppengespräche: Bestätigung und Erweiterung 333

7.1.1 Mitbestimmung in Gremien 334 7.1.2 Mitbestimmung in Gruppen 338 7.1.3 Demokratie oder Weltanschauung: Eine falsche Alternative? 340 7.1.4 Das „Problem“ Schule 344 7.1.5 Rolle der Hauptamtlichen: Repräsentant*in

oder Ermöglicher*in? 348 7.1.6 Prinzip Öffentlichkeit: Blinder Fleck der Jugendverbände? 351

7.2 Diskursive Bildungsprozesse 356 7.2.1 Demokratie als Lebensform ermöglichen 357 7.2.2 Weltanschauung: Zurück zu den Wurzeln 358 7.2.3 Wer repräsentiert die Jugend? 362

Teil 3: Schlussfolgerungen

8 Zusammenfassung und Ausblick 368 8.1 Zusammenfassung: Idealtypen demokratischen

Selbstverständnisses 369 8.1.1 Typ 1: Demokratie als Lebensform 370 8.1.2 Typ 2: Demokratie als Regierungsform 374 8.1.3 Typ 3: Demokratie als Lebens- und Regierungsform 378

8.2 Ausblick: Gemeinsam mehr Demokratie wagen! 382 8.2.1 Demokratiebildung für Jugendbildungsreferent*innen 383 8.2.2 Demokratiebildung in Jugendverbänden 392 8.2.3 Demokratiebildung in der kommunalen Öffentlichkeit 398

9 Schlussbetrachtung 402

Literaturverzeichnis 405

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Ausgewählte Bildungsprozesse und -settings im Jugendverband 37

Abbildung 2: Unterscheidungsebenen der Jugendverbandsarbeit 42 Abbildung 3: Vereinsmitgliedschaft Jugendlicher in ausgewählten

Jugendstudien 48 Abbildung 4: Hauptamtliche in Jugendverbänden, ausgewählte

Verbände 57 Abbildung 5: Beschäftigte in der Kinder- und Jugendarbeit

von 1998 bis 2014 58 Abbildung 6: Austauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt 69 Abbildung 7: Demokratieansatz nach Himmelmann 99 Abbildung 8: Systematisierung der strukturellen Charakteristika

von Jugendarbeit, Schule und Familie 116 Abbildung 9: Jugendverbände im Ost-West-Vergleich nach

Weltanschauungen 128 Abbildung 10: Schematische Darstellung der

Handlungspausenforschung 178 Abbildung 11: Ausgaben für die Kinder- und Jugendarbeit

im Ländervergleich 193 Abbildung 12: Haupt- und Nebenamtliche in Jugendverbänden in BW 194 Abbildung 13: Jugendliche in Stuttgarter Jugendverbänden

mit und ohne Jugendbildungsreferent*innen 195 Abbildung 14: Jugendliche in Stuttgarter Jugendverbänden nach

weltanschaulicher Ausrichtung 196 Abbildung 15: Übersicht über die befragten Jugendverbände (JV) 198 Abbildung 16: Biografische Daten der Gesprächspartner*innen 202 Abbildung 17: Ablauf der Studie 207 Abbildung 18: Befragte Jugendverbände nach Mitgliedszahl

und Zuordnung 225 Abbildung 19: Orientierungen in den befragten Jugendverbänden 269 Abbildung 20: Vorläufige Typen der Demokratieerfahrungen 331 Abbildung 21: Typ 1 – Demokratie als Lebensform 371 Abbildung 22: Typ 2 – Demokratie als Regierungsform 375 Abbildung 23: Typ 3 – Demokratie als Lebens- und Regierungsform 379 Abbildung 24: Schlüsselsituationen der Demokratiebildung 395

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Abkürzungsverzeichnis

Allgemeine Abkürzungen AfD Alternative für Deutschland BGB Bürgerliches Gesetzbuch BW Baden-Württemberg DJI Deutsches Jugendinstitut EMRK Europäische Menschenrechtskonvention, eigentlich:

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

EUV Vertrag über die Europäische Union KJHG Kinder- und Jugendhilfegesetz, eigentlich: Sozialgesetzbuch

Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) KVJS Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg FSJ Freiwilliges Soziales Jahr GD Gruppendiskussion GG Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland GP Gesprächspartner*in JBiG Jugendbildungsgesetz JV Jugendverein/Jugendverband JWG Jugendwohlfahrtsgesetz SGB Sozialgesetzbuch UN-KRK Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, eigentlich:

Übereinkommen über die Rechte des Kindes VereinsG Vereinsgesetz (Gesetz zur Regelung des öffentlichen

Vereinsrechts)

Jugendverbände/Jugendringe/Erwachsenenverbände aej Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend

in Deutschland e. V. AWO Arbeiterwohlfahrt e. V. BDKJ Bund der Deutschen Katholischen Jugend e. V. CVJM Christlicher Verein Junger Menschen e. V. DAV Deutscher Alpenverein e. V. DBJR Deutscher Bundesjugendring e. V. DGB Deutscher Gewerkschaftsbund DLRG Deutsche-Lebens-Rettungs-Gesellschaft e. V. DRK Deutsches Rotes Kreuz e. V.

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dsj Deutsche Sportjugend im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) e. V.

EJUS Evangelische Jugend Stuttgart ejw Evangelisches Jugendwerk in Württemberg EKD Evangelische Kirche in Deutschland JDAV Jugend des Deutschen Alpenvereins e. V. JRK Jugendrotkreuz KJG Katholische junge Gemeinde LJR Landesjugendring Baden-Württemberg e. V. LSV Landessportverband Baden-Württemberg e. V. NABU Naturschutzbund Deutschland e. V. NAJU Naturschutzjugend Baden-Württemberg e. V. NFJ Naturfreundejugend Landesverband Württemberg SKJ Sportkreisjugend Stuttgart im Sportkreis Stuttgart e. V. SJR Stadtjugendring Stuttgart e. V. WLSB Württembergischer Landessportbund e. V. WSJ Württembergische Sportjugend

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1 Einleitung

„Our democracy is threatened whenever we take it for granted.“ (Obama 2017)

Mit einem Plädoyer für die Demokratie verabschiedete sich der ehemalige US-Präsident Barack Obama im Januar 2017 aus dem Amt: Er rief die Bürger*in-nen dazu auf, die Demokratie mitzugestalten und sich aktiv in politische Diskus-sionen einzubringen. Denn die Demokratie sei gefährdet, wenn Bürger*innen sie für selbstverständlich erachten. Die Gefahren für die amerikanische Demo-kratie macht Obama in zunehmender ökonomischer und sozialer Ungleichheit, in Rassismus und Polarisierung der Gesellschaft sowie in der abnehmenden Be-reitschaft zu Diskurs und Kompromiss fest (vgl. Obama 2017).

Obama ist nicht das einzige, aber vielleicht das prominenteste Beispiel in ei-ner Reihe von Politiker*innen, die sich in den vergangenen Jahren besorgt über den Zustand der Demokratie äußerten. Dabei bestand vor nicht allzu langer Zeit noch Einigkeit über die Stabilität westlicher Demokratien. Nach dem Ende des Kalten Krieges erwartete man Anfang der 1990er Jahre – Fukuyamas’ These vom Ende der Geschichte (vgl. Fukuyama 1992) folgend – den Siegeszug der li-beralen Demokratie westlicher Prägung. Doch diese Entwicklung ist ausgeblie-ben. Stattdessen wird im politikwissenschaftlichen Diskurs mittlerweile intensiv über eine „Krise der Demokratie“ diskutiert (z. B. APuZ 2016; Blätter 2013; Brühlmeier und Mastronardi 2016; Merkel 2016; Streeck 2016, Vorländer 2017).1 Ein wichtiges Thema ist dabei die „Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich für unser demokratisches System, das Gemeinwesen und für einen toleranten Umgang miteinander einzusetzen“ (BMFSFJ 2016b, S. 11). Diese Be-reitschaft soll durch gezielte Maßnahmen gefördert werden. Neben dem Aus-bau der demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten geht es um die „Stärkung von Personen in ihrer Urteilskraft und Teilhabe in demokratischen Prozessen und in ihrer Handlungskompetenz gegenüber demokratiefeindlichen Haltun-gen“ (BMFSFJ 2016b, S. 11). Kann Demokratiebildung also die Lösung für die Krise der Demokratie sein (Kap. 1.1)? Wenn das so wäre, stellt sich die Frage nach dem geeigneten Ort für eine demokratische Bildung. In der vorliegenden Arbeit wird die These vertreten, dass Jugendverbände solche Orte sind bzw. sein können und damit einen wichtigen Beitrag zur Demokratiebildung von Kindern und Jugendlichen leisten (können). Anhand theoretischer Vorüberle-

1 Diese Diskussion wird auch in der Sozialpädagogik bzw. Sozialen Arbeit geführt, vgl. z. B. Geisen et al. 2013; Mührel und Birgmeier 2013; Widersprüche 2013.

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gungen und einer darauf aufbauenden empirischen Studie werden ihr Selbst-verständnis und die konkrete Umsetzung von Demokratiebildung in Jugend-verbänden untersucht (Kap. 1.2).

1.1 Demokratie in der Krise – Demokratiebildung als Lösung?

Die Diagnose der „Krise der Demokratie“ ist nicht neu (vgl. Merkel 2016, S. 4, Vorländer 2017, S. 72). Der amerikanische Soziologe Larry Diamond macht seit 10 Jahren eine „Demokratie-Rezession“ (Diamond 2015, S. 144) aus, die inzwi-schen auch bislang stabil geglaubte Demokratien erreicht habe. Diamond sieht die größte Gefahr für die Demokratie darin, dass Menschen das Vertrauen in demokratische Prozesse und politische Institutionen verlieren (vgl. Diamond 2015, S. 154). Diese Unzufriedenheit gibt Kräften Auftrieb, die mit einfachen Lösungen den komplexen Herausforderungen und der „neuen Unübersicht-lichkeit“ (Habermas 1985b) begegnen wollen. Gegenwärtig bezieht sich der do-minante Krisendiskurs deshalb vor allem auf das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in verschiedenen Ländern Europas und in den USA. Diese politischen Bewegungen berufen sich darauf, das „Volk“ zu vertreten, sie wenden sich ge-gen die „etablierten“ Medien und Parteien und zweifeln an der Funktionsfähig-keit der parlamentarischen Demokratie.

So ist auch der frühere Bundespräsident Joachim Gauck zu verstehen, der in seiner Abschiedsrede eine Legitimationskrise der Demokratie konstatierte: „Die liberale Demokratie und das politische und normative Projekt des Westens, sie stehen unter Beschuss“ (Gauck 2017). Die Bedrohung der Demokratie sieht Gauck in der Haltung zur Demokratie: „Die entscheidende Trennlinie verläuft zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten. Es zählt nicht die Herkunft, sondern die Haltung“ (Gauck 2017). Nötig sei deshalb eine intensivere „De-mokratieerziehung“ in pädagogischen Institutionen wie Kindergärten, Schulen und Universitäten, aber auch in den Medien. Demokratie müsse gelernt und gelebt werden, „als Respekt vor dem Anderen“, „als Verantwortung für das Ge-meinwesen“ und als „ständige Selbstermächtigung zur politischen Teilhabe“ (Gauck 2017). In ihrer Stellungnahme zum 15. Kinder- und Jugendbericht for-dert die Bundesregierung daran anknüpfend:

„Perspektivisch müssten neue, attraktive Formen der Vermittlung demokratischer Werte entwickelt werden, die sich verstärkt auch als ‚Demokratiebildung‘ verstehen. Offene Diskussion, Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Auffassungen, die Befähigung zu Kompromissen und zur Akzeptanz mehrheitlicher Entscheidungen sowie zur Wahrung von Minderheitenrechten müssen dabei die zentralen Inhalte sein.“ (BMFSFJ 2017, S. 27)

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Bislang spielte der Begriff Demokratiebildung in den Kinder- und Jugend-berichten keine Rolle. Wenn nun Demokratiebildung allenthalben gefordert wird, so ist dies offensichtlich die Reaktion auf ein festgestelltes Defizit: Die ge-nannten „demokratischen Werte“ wurden nicht intensiv oder nicht attraktiv genug vermittelt, so dass sich demokratiefeindliche Einstellungen manifestieren konnten. Demokratiebildung wird somit einerseits als Vermittlung von Kom-petenzen für die (spätere) Rolle als Staatsbürger*innen konzipiert, andererseits als präventive Maßnahme gegen eine demokratiefeindliche Haltung. Dieser präventive Charakter der aktuellen Bemühungen um die Demokratie zeigt sich auch daran, dass die Bundesregierung die bundes- und landesweiten Program-me zur Demokratiebildung unter der Überschrift „Extremismusprävention und Demokratieförderung“ (BMFSFJ 2016b) bündelt. Unter Demokratieförderung versteht die Bundesregierung „Angebote, Strukturen und Verfahren, die demo-kratisches Denken und Handeln stärken, eine demokratische politische Kultur auf Grundlage der wertegebundenen Verfassung fördern und entsprechende Bil-dungsprozesse und Formen des Engagements anregen“ (BMFSFJ 2016b, S. 11).

Der zugrunde gelegte Demokratiebegriff bleibt dabei recht unbestimmt, so als ob klar wäre, wovon man redet, wenn man von Demokratie redet. Auch bleibt unscharf, wer, wie, von wem und warum demokratisch gebildet werden soll. Dieses Defizit der aktuellen Diskussion über Demokratiebildung ist ein Aus-gangspunkt der vorliegenden Arbeit. Wenn es stimmt, dass „Demokratie […] die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung [ist], die gelernt werden muss – immer wieder, tagtäglich und bis ins hohe Alter hinein“ (Negt 2016, S. 13), dann bedarf es nicht eines präventiven Schutzes vor „Nicht-Demokraten“, sondern es geht um eine grundsätzliche lebenslange Bildungsaufgabe für alle Menschen. Diese leitet sich von einem Demokratiebegriff ab, der Demokratie nicht nur als Regierungs-, sondern auch als Lebensform akzentuiert und Demokratiebildung nicht auf die Kompetenzvermittlung für die Staatsbürgerrolle reduziert, sondern als Aneignung von Demokratie durch die verantwortliche Mitgestaltung des Ge-meinwesens unter gleichberechtigten Bürger*innen versteht. Wenn es außerdem stimmt, dass man Demokratie nur lernt, „indem man sie praktiziert“ (Scherr und Sturzenhecker 2014, S. 375), dann geht es um die Frage, wo Menschen Demo-kratie im Zusammenleben erleben können, wo Menschen also Demokrat*innen werden, indem sie bereits Demokrat*innen sein können (vgl. Richter 2015, S. 275). Bezogen auf Kinder und Jugendliche ist damit zu klären, an welchen Sozialisationsorten Kinder und Jugendliche als gleichberechtigte Bürger*innen über Angelegenheiten, die sie betreffen, demokratisch mitentscheiden können.

Mit der Identifizierung von Jugendverbänden als Ort demokratischer Bil-dung knüpfe ich nicht nur an ihren gesetzlichen Auftrag2, sondern auch an den

2 Vgl. zur gesetzlichen Grundlage der Jugendverbandsarbeit ausführlich Kap. 2.1.3.

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selbst formulierten Anspruch3 der Jugendverbände an. Diese reklamieren, „Werkstätten der Demokratie“ (DBJR 2002, S. 2) zu sein, da die demokratische Organisation des Jugendverbands die aktive Aneignung von Demokratie er-möglicht. Dieses Selbstverständnis lässt sich jedoch, so der 15. Kinder- und Ju-gendbericht, „empirisch […] nur schwer unterfüttern“ (BMFSFJ 2017, S. 424).

1.2 Fragestellung und Vorgehensweise

Die vorliegende Studie will zur empirischen Fundierung beitragen. Dazu wer-den das Selbstverständnis und die Handlungspraxis demokratischer Bildung in Jugendverbänden mit Jugendbildungsreferent*innen erörtert. Jugendbildungs-referent*innen können als hauptamtliche Mitarbeiter*innen mit einem sozial-pädagogischen Bildungsauftrag wesentliche Unterstützer*innen der selbsttätigen Aneignung von Demokratie im Jugendverband sein, so meine Ausgangsthese. Ihre Rolle als Hauptamtliche in einem von Ehrenamtlichkeit geprägten Jugend-verband ist allerdings „diffus“ (Hafenegger 2008, S. 12). Einerseits wird ihnen zugestanden, eine „stabilisierende Funktion“ (Seckinger et al. 2009, S. 37) für Jugendverbände zu haben und eine wesentliche Bedingung für ehrenamtliches Engagement zu sein (vgl. BMFSFJ 2002, S. 200). Andererseits wird ihnen vorge-worfen, die „Bürokratisierung“ (Giesecke 1980, S. 189–190) bzw. „Verbetriebli-chung“ (Riekmann 2011b, S. 122) von Jugendverbänden zu verstärken und zu wenige Anregungen für die Selbstbildungsprozesse von Kindern und Jugend-lichen zu bieten (vgl. Delmas und Scherr 2005, S. 109). Insbesondere seien sich Jugendbildungsreferent*innen des Potenzials der Jugendverbandsarbeit für die Demokratiebildung nicht bewusst (vgl. Sturzenhecker 2006, S. 191).

Im Rahmen dieser Arbeit wird deshalb untersucht, wie hauptamtliche Ju-gendbildungsreferent*innen ihren Auftrag zur Demokratiebildung verstehen und umsetzen. In diskursiver Verständigung werden die aktuelle Praxis reflek-tiert und aktuelle Herausforderungen thematisiert. Auf diese Weise können Wahrnehmungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Argumentationen zur Bedeutung von Demokratiebildung im eigenen Verband herausgearbeitet werden. Die Fragestellung der Untersuchung lautet: Wie verstehen und gestalten Jugendbildungsreferent*innen in Jugendverbänden ihren Auftrag zur Demokra-tiebildung und welche Erfahrungen machen sie dabei?

Zur theoretischen Fundierung der Ergebnisse dieser Studie werden zunächst die zentralen Begrifflichkeiten dieser Arbeit definiert (Kap. 2.1). Im Anschluss daran wird der Forschungsstand dargestellt (Kap. 2.2). Sind schon zur Demo-kratiebildung in Jugendverbänden bislang nur wenige Forschungsergebnisse

3 Vgl. zum Selbstverständnis der Jugendverbände Kap. 3.3.

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zu finden, gilt dies im besonderen Maße für die Rolle hauptamtlicher Jugend-bildungsreferent*innen. Generell leidet die aktuelle Debatte zur Demokratie-bildung aber auch darunter, dass die gesellschafts- und demokratietheoreti-schen Grundlagen selten ausgeführt werden. Dies leisten die folgenden Kapitel unter Bezugnahme auf das deliberative Demokratieverständnis von Jürgen Ha-bermas (Kap. 2.3 und Kap. 2.4). Habermas verbindet Demokratieerfahrungen in der Zivilgesellschaft mit der Idee des Rechtsstaates. Damit gelingt ihm die theoretische Koppelung der Demokratie als Lebens- und als Regierungsform. Ich werde darlegen, dass ein solches Demokratieverständnis geeignet ist, um den gesetzlichen Auftrag der Jugendverbandsarbeit und ihren möglichen Bei-trag zu demokratischen Entscheidungsprozessen zu konkretisieren. Habermas bindet die deliberative Demokratietheorie zwar an demokratische Sozialisa-tionserfahrungen, ohne diese jedoch pädagogisch auszuarbeiten. Die pädagogi-sche Basis der demokratietheoretischen Grundlagen wird deshalb unter Rück-griff auf John Dewey entwickelt. Deweys Ideen wurden vor allem im Kontext der Schule rezipiert. Deshalb werfe ich zum Abschluss des Kapitels einen kriti-schen Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen schulischer Demokratiebildung (Kap. 2.5).

Für die Lösung der „Krise der Demokratie“ lassen sich in der aktuellen poli-tischen Diskussion drei Strömungen ausmachen: die Rückkehr zu national-staatlichen Regelungen, das Bemühen um den Ausbau europäischer oder sogar kosmopolitischer Demokratie sowie die Stärkung kommunalpolitischer Ent-scheidungshoheit (Kap. 3.1). Die Ebene der Kommune erscheint mir für den hier zu untersuchenden Kontext bedeutsam. Denn für die Demokratiebildung von Kindern und Jugendlichen ist die Kommune ein wichtiges, wenngleich we-nig reflektiertes Fundament. Die Darstellung der Potenziale von Jugendverbän-den zur Demokratiebildung beginnt deshalb mit einem Blick auf die Bedeutung der Kommune. Den Zugang dafür bilden das Konzept der Vereinspädagogik von Helmut Richter sowie die grundlegenden Prinzipien der Jugendverbandsarbeit. Jugendverbände sind allerdings äußerst vielfältig. Neben strukturellen Unter-schieden ist vor allem die weltanschauliche Ausrichtung ein prägendes Merk-mal (Kap. 3.2). Beim Blick auf ihre historische Entwicklung wird deutlich, dass sich Jugendverbände ihrem Selbstverständnis nach keinesfalls schon immer als Orte demokratischer Bildung verstanden haben. In den letzten Jahren verdich-tet sich dieser Anspruch jedoch in einer Vielzahl von Publikationen (Kap. 3.3). Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen offenbaren allerdings gesellschaftliche und innerverbandliche Herausforderungen, vor denen Jugendverbände stehen. Dazu gehört auch ihre politische Indienstnahme im Rahmen der Bildungs-debatte, die ich am Beispiel Baden-Württembergs darstelle (Kap. 3.4). Eine Zwischenbetrachtung schließt den theoretischen Teil dieser Arbeit ab und fasst die erkenntnisleitenden Forschungsfragen für die empirische Untersuchung zu-sammen (Kap. 4).

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Eine Darstellung der Forschungsmethode macht den Forschungsprozess nachvollziehbar und dient dazu, die Ergebnisse einordnen zu können. Die vor-liegende Untersuchung greift auf die Handlungspausenforschung (vgl. Richter et al. 2003) zurück, die Forschung als diskursiven Bildungsprozess aller Betei-ligten konzipiert. Zunächst stelle ich die methodologischen Vorüberlegungen und die Grundlagen der Handlungspausenforschung vor (Kap. 5.1). Die Aus-führungen zum methodischen Vorgehen weisen auf die angewandten Metho-den der empirischen Untersuchung in den vier Schritten Datenauswahl, -erhe-bung, -interpretation und -verwendung hin (Kap. 5.2). Daran anschließend wird der konkrete Verlauf der Studie erläutert. Dabei lege ich dar, wie die Aus-wahl der Gesprächspartner*innen erfolgte, welche Schritte in Datenerhebung und -auswertung vorgenommen wurden und wie die Ergebnisse an die teil-nehmenden Jugendverbände zurückfließen (Kap. 5.3). Eine detaillierte Vorstel-lung der befragten Jugendverbände leitet über zu den Ergebnissen der Studie (Kap. 5.4).

Die Darstellung der Befunde der empirischen Studie bildet den Hauptteil dieser Arbeit. In einem ersten Schritt werden die Befunde der Einzelgespräche systematisiert und zu fünf Kernaussagen verdichtet präsentiert. Wesentlich für die Demokratiebildung sind erstens die Mitbestimmungsrechte. Die befragten Jugendverbände unterscheiden sich hier deutlich, was erste Erkenntnisse über die Potenziale demokratischer Erfahrungen zulässt (Kap. 6.1). Die zweite Kern-aussage betrifft das Verhältnis zwischen Weltanschauung und Demokratie. Die Auswertung der Aussagen der Jugendbildungsreferent*innen ergibt ebenfalls ein heterogenes Bild (Kap. 6.2). Anknüpfend an die im theoretischen Teil dieser Studie herausgearbeiteten Strukturprinzipien der Jugendverbandsarbeit, unter-suche ich drittens, welche Bedeutung die Gesprächspartner*innen den Vereins-prinzipien beimessen (Kap. 6.3). Die Definition der eigenen Rolle als Jugend-bildungsreferent*in bei der Ermöglichung demokratischer Erfahrungen sowie Aussagen zu Aufgaben und Angeboten sowie den gesellschaftlichen Herausforde-rungen werden als vierte Kernaussage dargestellt (Kap. 6.4). Fünftens werden die Gespräche dahingehend analysiert, auf welcher Ebene die Jugendbildungs-referent*innen die wesentlichen Demokratiebildungsprozesse in ihrem Jugend-verband verorten: Bieten sie Erfahrungen der Demokratie als Lebensform, als Regierungsform oder als Lebens- und Regierungsform (Kap. 6.5)?

In einem zweiten Schritt wird die Zustimmung bzw. Ablehnung der Ju-gendbildungsreferent*innen zu diesen fünf zentralen Kernaussagen dargestellt. Die Befunde der argumentativen Validierung dienen dazu, die Interpretationen zu verdichten oder zu korrigieren (Kap. 7.1). Zugleich zeigen die Gruppen-gespräche, welche Entwicklungs- bzw. Bildungsprozesse durch die Studie ange-stoßen worden sind, inwieweit der Forschungsprozess von den Beteiligten als Bildungsprozess genutzt wurde und welche Themen den Jugendbildungsrefe-rent*innen dabei wichtig geworden sind (Kap. 7.2).

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Zentrale Ergebnisse der empirischen Untersuchung werden im Folgenden zusammengefasst. Drei Typen des demokratischen Selbstverständnisses von Ju-gendbildungsreferent*innen lassen sich generalisieren (Kap. 8.1). Diese Typen können als Grundlage für innerverbandliche Diskussionsprozesse einerseits und weitere wissenschaftliche Forschungsprojekte zur Jugendverbandsarbeit an-dererseits genutzt werden. Sie lassen eine Einordnung bestehender Praxis zu und geben Hinweise zur Weiterentwicklung. Die Konsequenzen der empiri-schen Untersuchung weisen über die hier untersuchten Jugendverbände hinaus. Sie lassen sich auf der personellen, institutionellen und (kommunal)politischen Ebene verorten (Kap. 8.2). Zunächst leite ich aus den zuvor dargestellten Er-gebnissen Hinweise für die Qualifizierung von Jugendbildungsreferent*innen ab. Darauf aufbauend mache ich einen Vorschlag zur konzeptionellen Veranke-rung von Demokratiebildung in Jugendverbänden und formuliere Hinweise zur (kommunal)politischen Verantwortung. Eine Schlussbetrachtung fasst die we-sentlichen Ergebnisse der Arbeit zusammen, reflektiert den Forschungsprozess und formuliert abschließend weiteren Forschungsbedarf (Kap. 9).

Mit der vorliegenden Arbeit soll die Diskussion über Demokratiebildung in Jugendverbänden angeregt werden. Es ist das Ziel dieser Arbeit, den selbst for-mulierten Anspruch der Jugendverbände als Orte demokratischer Bildung zu rekonstruieren, ihre konkrete Umsetzung zu analysieren und Demokratiebil-dung damit als Kernaufgabe der Jugendverbandsarbeit zu profilieren. Es geht mir dabei um die Erhaltung und Stärkung der Jugendverbände als einen der wenigen gesellschaftlichen Orte, an denen Kinder und Jugendliche demokrati-sche Praxis einüben können.

Teil 1: Theoretische Grundlagen

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2 Der Zusammenhang von Bildung und Demokratie

„Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschafts-ordnung, die in ständig erneuerter Kraftanstrengung gelernt wer-den muss; eine solche politische Verfassung der Gesellschaft ist auf Dauer nur haltbar, wenn die im Wesenskern einer solchen Ordnung enthaltene Idee der tendenziellen Überwindung nicht-legitimer Ungleichheit, der ‚Herrschaft der Menschen über Menschen‘, für eine Bevölkerung Überzeugungskraft behält.“ (Negt 2016, S. 520)

Im Eingangszitat dieses Kapitels postuliert Oskar Negt, dass eine demokratische Gesellschaftsordnung zwingend Prozessen demokratischer Bildung bedarf – und zwar solcher Prozesse, die die demokratische Idee der Selbstbestimmung gleichberechtigter Bürger*innen überzeugend vermitteln und erfahrbar ma-chen. Zudem wirft er die Frage nach der Legitimation von Herrschaft auf. Die aktuelle Debatte zur Krise der Demokratie betrifft genau diesen Punkt. So ist zwar die Zustimmung zur Demokratie in allen Bevölkerungsschichten und Al-tersgruppen in Deutschland nach wie vor hoch, allerdings fühlen sich viele Menschen von ihren Repräsentant*innen nicht (mehr) vertreten bzw. gehen davon aus, dass politische Parteien aktuelle Probleme nicht in ihrem Sinne lö-sen (vgl. Zick et al. 2016, S. 118, siehe auch Kap. 3.1). Die Legitimation der Herrschaft durch das Volk ist gefährdet, weil Entscheidungen von der Willens-bildung im Volk abgekoppelt sind. Wenn staatliche Entscheidungen jedoch dem Volkswillen entsprechen sollen, stellt sich die Frage, wie dieser zustande kommt. Die Rückbindung staatlicher Entscheidungen an demokratische Mei-nungsbildungs- und Entscheidungsprozessen im Gemeinwesen basiert einer-seits auf der Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich daran zu beteiligen, andererseits muss der Wille des Volkes auch zu den gewählten Repräsen-tant*innen durchdringen und von ihnen aufgenommen werden.

Mit der deliberativen Demokratietheorie hat Jürgen Habermas einen Vor-schlag unterbreitet, der Meinungsbildungsprozesse in der Öffentlichkeit mit der Rechtsetzung zusammenführt und damit politische Entscheidungen an öffent-liche Willensbildungsprozesse bindet. Demokratie ist daran anschließend erst dann gegeben, wenn die Bürger*innen über Rechte und Möglichkeiten verfü-gen, an Diskursen im Gemeinwesen teilzunehmen und die daraus resultieren-den Meinungsbildungsprozesse in politische Entscheidungsprozesse eingespeist werden. Angesprochen ist einerseits das Verhältnis von Mensch und Staat bzw.

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die Verteilung von Macht in der Gesellschaft, also eine Gesellschaftstheorie. Andererseits geht es um die Frage, wie die Demokratie gestaltet wird, um eine weitreichende Mitbestimmung der Bürger*innen zu gewährleisten, also eine Demokratietheorie. Und zum Dritten geht es um die Frage, wie Menschen zur demokratischen Mitbestimmung befähigt werden, also eine Theorie der Demo-kratiebildung.

Im Folgenden werden zunächst die zentralen Begriffe dieser Untersuchung erörtert. Es geht mir darum, zu einer Klärung der bereits angeführten begriff-lichen Unschärfe in der pädagogischen Debatte um Demokratiebildung bei-zutragen (Kap. 2.1). Es folgt eine Darstellung des Forschungsstandes zur De-mokratiebildung in Jugendverbänden, die die eingangs aufgestellte Hypothese einer entsprechenden Forschungslücke bestätigt (Kap. 2.2). Unter Rückgriff auf den Begriff des politischen Handelns bei Hannah Arendt sowie des kommuni-kativen Handelns bei Jürgen Habermas werde ich sodann die oben skizzierten Überlegungen gesellschaftstheoretisch entfalten und die Verteilung von Macht in der Gesellschaft thematisieren (Kap. 2.3). Dies führt mich zur Frage, wie Ent-scheidungen in modernen, pluralistischen Gesellschaften demokratisch gefällt werden können. Ich mache den Vorschlag, deliberative Entscheidungsverfahren als kompromissorientiert zu verstehen, und grenze sie von konsensorientierten und von expertokratischen Verfahren ab (Kap. 2.4). Ungeklärt bleibt bis dahin, wie die Voraussetzungen der deliberativen Demokratie gesichert werden kön-nen, wie also die demokratische Haltung der Bürger*innen entsteht, faire Kom-promisse zu schließen. Antworten darauf aus pädagogischer Perspektive sind bei John Dewey zu finden. Dewey konzentrierte sich zwar auf die Schule, hatte aber auch – wie Habermas – die Zivilgesellschaft als wichtigen Ort der Demo-kratiebildung im Blick. Das führt mich schließlich zur Kritik einer auf die Schu-le reduzierten Demokratiebildung (Kap. 2.5).

2.1 Begriffliche Unschärfen rund um den Jugendverband

Ich beziehe mich mit dieser Arbeit auf die Kinder- und Jugendarbeit, konkre-ter auf die Jugendverbandsarbeit als Kernbereich der Sozialpädagogik. Nach Gertrud Bäumers Definition bezeichnet Sozialpädagogik1 „nicht ein Prinzip,

1 An dieser Stelle kann nicht ausführlich auf die begriffliche Unterscheidung von Sozial-arbeit und Sozialpädagogik eingegangen werden. Mit Sozialarbeit werden ursprünglich in der Regel besondere Hilfs- und Unterstützungsangebote für benachteiligte Gruppen der Gesellschaft assoziiert. Sozialpädagogik schränkt degegen den Adressatenkreis nicht von vornherein ein, vgl. Müller 2005, S. 23. Heute werden die Begriffe allerdings häufig synonym benutzt, bzw. sie werden unter der Überschrift Soziale Arbeit subsumiert, vgl. Niemeyer 2005; Staub-Bernasconi 1994.

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dem die gesamte Pädagogik, sowohl ihre Theorie wie ihre Methoden, wie ihre Anstalten und Werke – also vor allem die Schule – unterstellt ist, sondern einen Ausschnitt: alles was Erziehung, aber nicht Schule und nicht Familie ist“ (Bäu-mer 1929, S. 3).2 Mit dieser Formulierung grenzt sich Bäumer von Paul Natorp ab. Dieser formulierte Ende des 19. Jahrhunderts eine erste Definition der So-zialpädagogik.3 Anders als Bäumer versteht Natorp unter Sozialpädagogik nicht „einen abgegrenzten Teil der Pädagogik als vielmehr eine bestimmte Anschau-ung ihrer ganzen Aufgabe, nämlich diejenige, welche bei der Bestimmung des Ziels wie der Mittel der Erziehung die Gemeinschaft, nicht das Individuum in den Vordergrund stellt“ (Natorp 1899, S. 701). Die starke Gemeinschaftsorien-tierung ist für Natorp die einzig mögliche Antwort auf die Folgen der Industria-lisierung, der damit zusammenhängenden Armut und des Bevölkerungswachs-tums in den Städten. Diesem Verständnis folgt im Prinzip auch Bäumer. Sie weist jedoch darauf hin, dass von den Einrichtungen und Organisationen, die Spiel, Sport, Kultur, Bildungsangebote oder Freizeitfahrten anbieten, grundsätz-lich alle Kinder und Jugendlichen profitieren könnten (vgl. Bäumer 1929, S. 15). Die außerschulische Kinder- und Jugendarbeit kann mit Bäumer als Kern-bereich der Sozialpädagogik verstanden werden, der sich von anderen außer-schulischen und außerfamiliären Bereichen wie z. B. der Pädagogik der frühen Kindheit oder der Erwachsenenbildung abgrenzen lässt (vgl. Richter 1998, S. 18).

Kinder- und Jugendarbeit wird als juristischer Begriff erst seit dem 19914 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) verwendet. Sie wird

2 Bäumer weist darauf hin, dass die Schule ursprünglich eine „sozialpädagogische Schöp-fung“ ist. Durch ihre Verengung auf die Funktion „Lehranstalt“ im Zuge der allgemeinen Schulpflicht löste sie sich jedoch von anderen Feldern des Erziehungswesens, vgl. Bäu-mer 1929, S. 3 f.

3 Die Anfänge der Sozialpädagogik liegen nach Niemeyer (2005, S. 124 ff.) bei Pestalozzi und Wichern. Der Begriff Sozialpädagogik wurde jedoch Mitte des 19. Jahrhunderts durch Friedrich Diesterweg und Karl Mager eingeführt. Seine wissenschaftliche und sys-tematische Entfaltung geht auf Paul Natorps 1899 erschienene Schrift Sozialpädagogik zurück, vgl. Müller 2005; Niemeyer 2005, S. 126.

4 Das KJHG wurde 1990 beschlossen. Es trat in den westlichen Bundesländern am 01. 01.

1991 in Kraft, in den ostdeutschen bereits zur Wiedervereinigung am 03. 10. 1990. Vor-läufer des SGB VIII war das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 bzw. dessen Novellierung im Jahr 1961 zum Gesetz für die Jugendwohlfahrt (JWG). Zu den zentralen Elementen des KJHG gehören die Beschreibung der Jugendhilfeangebote, das Wunsch- und Wahlrecht sowie der Rechtsanspruch auf Jugendhilfeleistungen, vgl. Münder und Trenczek 2011, 23 ff. Aktuell laufen die Verhandlungen zur Reform des SGB VIII. Über den derzeit laufenden Prozess kann an dieser Stelle nicht abschließend geurteilt werden. Zu den Auswirkungen der Reformpläne auf die Kinder- und Jugendarbeit gibt es jedoch eine kontroverse fachpolitische Debatte. Bislang liegen keine Veränderungspläne zu den hier zitierten Paragrafen vor (Stand: 31. 07. 2017), von Jugendverbänden wird v. a. die Einführung des neuen § 48b SGB VIII kritisiert, vgl. z. B. https://www.dbjr.de/nationale-jugendpolitik/kjhg/aktion48b.html [21. 08. 2017].

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darin von anderen Teilen der Kinder- und Jugendhilfe, wie z. B. Jugendsozial-arbeit, Familienhilfe, Kindertageseinrichtungen oder Hilfe zur Erziehung, un-terschieden (vgl. §§ 11–41 SGB VIII). In § 11 Abs. 1 SBG VIII (Jugendarbeit) werden die inhaltlichen Ziele der Kinder- und Jugendarbeit definiert:

„Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Ange-bote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu so-zialem Engagement anregen und hinführen.“

Mit dem ersten Satz wird dem öffentlichen Träger die Kinder- und Jugend-arbeit als Pflichtaufgabe zugewiesen (vgl. Münder und Trenczek 2011, S. 57). Der zweite Satz hat programmatischen Charakter und definiert die Schwer-punktaufgaben der Jugendarbeit. Dabei wird deutlich, dass Jugendarbeit keinen Angebots- oder Dienstleistungscharakter hat, sondern Selbstbestimmung und Mitverantwortung von Jugendlichen für sie „konstitutiv“ (Münder et al. 2013, S. 187) sind. Aufgabe der Jugendarbeit ist also die Erziehung zu Selbstbestim-mung, gesellschaftlicher Verantwortung und sozialem Engagement – und zwar durch Mitbestimmung und Mitgestaltung der Angebote. Daraus kann ein zwei-facher Auftrag der Jugendarbeit zur Demokratiebildung abgeleitet werden: Kin-der und Jugendliche sollen zu demokratischer Mitbestimmung und Mitver-antwortung in der Jugendarbeit selbst und darüber hinaus in der Gesellschaft befähigt werden (vgl. Sturzenhecker und Richter 2012, S. 469). Das geschieht über die in der Jugendarbeit gemachten Erfahrungen demokratischer Hand-lungspraxis.

In der Fachdiskussion der Sozialpädagogik lässt sich allerdings eine begriff-liche Unschärfe feststellen, wenn es um Demokratiebildung geht.5 Das betrifft zunächst den Demokratiebegriff selbst. Im Folgenden geht es um die Frage, was Demokratie eigentlich ist und wie sich dieses Verständnis von dem Begriff der Partizipation unterscheidet (Kap. 2.1.1). Bildung wird nicht nur im erziehungs-

5 In der Theorie der Kinder- und Jugendarbeit insgesamt und der Jugendverbandsarbeit im Besonderen wurde lange Zeit wenig über Demokratie diskutiert. Im Schlagwortregis-ter des fast 1 200 Seiten starken Handbuchs Kinder- und Jugendhilfe taucht das Stich-wort Demokratie noch Anfang der 2000er Jahre nicht auf, vgl. Schröer et al. 2002, S. 1161–1169. Dasselbe gilt für andere Standardwerke, vgl. Böhnisch et al. 1991; Böh-nisch und Münchmeier 1999; Giesecke 1971; Müller et al. 1977. Erst in der vierten Auf-lage des Handbuchs Soziale Arbeit (2011) wurde ein Artikel zur Demokratie ergänzt, vgl. Richter 2015. In den letzten Jahren sind einige grundlegende Veröffentlichungen erschie-nen, die Demokratiebildung als Aufgabe der Kinder- und Jugendarbeit herausstellen, vgl. Coelen und Gusinde 2011; Hafeneger 2013a; Knauer und Sturzenhecker 2016; Müller 2005; Richter 1998, 2001.

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wissenschaftlichen Diskurs sehr unterschiedlich verstanden, sondern erfreut sich auch eines enormen öffentlichen Interesses. Der „Leitbegriff der Erzie-hungswissenschaften“ (Andresen 2009, S. 76) hat längst das Feld der Pädagogik verlassen und ist Teil eines breiten gesellschaftlichen Diskurses geworden. Bil-dung wird von Ökonomie, Soziologie und Neurowissenschaften jeweils unter-schiedlich definiert und instrumentalisiert, indem vom jeweiligen Verständnis politische und pädagogische Forderungen abgeleitet werden. Es wird in dieser Studie ein Bildungsbegriff verwendet, der sich als Selbstbildung skizzieren lässt und vom dominanten Kompetenzbegriff schulischer Bildung abhebt (Kap. 2.1.2).

Die Jugendverbandsarbeit ist ein Teilbereich der Kinder- und Jugendarbeit. Beide Begriffe sind seit 1990 im Kinder- und Jugendhilfegesetz eindeutig geregelt. Diese Klarheit spiegelt sich im Fachdiskurs allerdings nicht wider. Es ist deshalb eine Ab- bzw. Eingrenzung des in dieser Studie fokussierten Teilbereichs der Jugendverbandsarbeit nötig, insbesondere gilt es Verein und Verband zu unter-scheiden (Kap. 2.1.3). Innerhalb der Jugendverbandsarbeit markiert die Berufs-gruppe der Jugendbildungsreferent*innen das Untersuchungsfeld. Ihnen gelten die abschließenden begrifflichen Klärungen (Kap. 2.1.4).

2.1.1 Demokratie oder Partizipation?

Der Begriff Demokratie stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus den beiden Begriffen demos (Volk) und kratia (Macht, Herrschaft) zusammen. Wörtlich übersetzt bedeutet Demokratie also Volksherrschaft oder Herrschaft des Volkes. In Art. 20 GG heißt es etwa: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Or-gane der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung aus-geübt.“ In den meisten Demokratien werden politische Entscheidungen – wie im Grundgesetz formuliert – durch gewählte Volksvertreter*innen getroffen. Diese Idee der repräsentativen Demokratie hat sich weitgehend durchgesetzt.6 Schmidt definiert die Demokratie als

„eine Staatsverfassung von Klein- und Flächenstaaten, in der die Herrschaft auf der Basis politischer Freiheit und Gleichheit sowie auf der Grundlage weitreichender po-

6 Die repräsentative oder mittelbare Demokratie ist die heutige Herrschaftsform von fast zwei Dritteln der Staaten weltweit. Sie wird zum Teil durch direktdemokratische Ele-mente, beispielsweise auf kommunaler Ebene, ergänzt. Die Organisation Freedom House zählte im Jahr 2016 bei der Untersuchung von insgesamt 195 Staaten weltweit 125 Staa-ten, in denen demokratische Wahlen stattfanden, und bezeichnet diese als „electoral de-mocracies“ (Freedom House 2016, S. 9). Allerdings zeigt sich die Praxis der Demokratie in den als demokratisch bezeichneten Staaten sehr unterschiedlich.

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litischer Beteiligungsrechte aller erwachsenen Staatsangehörigen mittel- oder un-mittelbar aus dem Staatsvolk hervorgeht, in offenen Willensbildungs- und Entschei-dungsprozessen erörtert und unter Berufung auf das Interesse der Gesamtheit oder der Mehrheit der Stimmberechtigten ausgeübt wird, und zwar unter dem Damokles-schwert der Abwahl der Regierenden durch das Volk oder dessen Vertreter in regel-mäßig stattfindenden allgemeinen, freien, gleichen, fairen Wahlen bzw. in parlamen-tarischen Abstimmungen über Regierungswechsel.“ (Schmidt 2010, S. 19)

Damit sind einige zentrale Elemente der Demokratie benannt:

Das Volk ist der Souverän, von ihm geht die Staatsgewalt mittelbar oder un-mittelbar aus.

Der Begriff der Volkssouveränität impliziert die politischen Beteiligungs-rechte der erwachsenen Staatsangehörigen.7

Die Basis der Demokratie sind Freiheit und Gleichheit sowie Rechte zur Be-teiligung.

Die Regierung wird in allgemeinen, freien und gleichen Wahlen für eine be-stimmte Dauer gewählt und kann abgewählt werden.

Willens- und Entscheidungsbildungsprozesse werden öffentlich und diskur-siv geführt, wobei die staatlichen Handlungen dem (mehrheitlichen) Volks-willen entsprechen müssen.8

Der letzte Punkt verweist auf die Partizipation von Bürger*innen, also die Betei-ligung an demokratischen Entscheidungsprozessen:

„[D]ie Demokratie lebt wie keine andere Herrschaftsform von der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der politischen Meinungs- und Willensbildung und am politischen Entscheidungsprozess. […] Zur Idee der Demokratie gehört ein ausrei-chendes Maß an institutionellen Partizipationschancen und an tatsächlicher Partizi-pation, also die Öffnung des politischen Entscheidungsprozesses zur Gesellschaft.“ (Meyer 2009, S. 133)

Als Grundlage der Demokratie wird hier die Beteiligung von Bürger*innen an politischen Entscheidungen definiert. Es ist damit eine zentrale Herausforde-rung der Demokratie, Menschen die Möglichkeit zur Partizipation an demokra-tischen Prozessen zu eröffnen. Nach Fatke heißt Partizipation, „dass die Bür-

7 Zur Problematik des Ausschlusses von nicht-erwachsenen Staatsangehörigen s. u. 8 Als weitere Kennzeichen der Demokratie gelten: Parlamentarismus und Mehrparteien-

system, Oppositionsrechte und Minderheitenschutz, sozialstaatliche Mindestgarantien sowie die in Parteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen organisierte Interessensvielfalt, vgl. Waschkuhn 1998, S. 7 f.