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Leseprobe Dr. Robert Gerwarth Reinhard Heydrich Biographie Bestellen Sie mit einem Klick für 18,00 € Seiten: 480 Erscheinungstermin: 09. April 2013 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de

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Leseprobe

Dr Robert Gerwarth

Reinhard Heydrich Biographie

Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 1800 euro

Seiten 480

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Mehr zum Autor

Zum Buch Eine der zentralen Figuren des NS-Regimes im Spiegel seiner Zeit

Reinhard Heydrich (1904 ndash1942) war einer der maumlchtigsten Maumlnner des

raquoDritten Reichslaquo Als Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und engster

Mitarbeiter Heinrich Himmlers lenkte er den Terrorapparat der

Nationalsozialisten Robert Gerwarth folgt in seiner Biographie dem steilen

Aufstieg Heydrichs und beleuchtet dessen Rolle im NS-Regime sowie die

Stilisierung zum Maumlrtyrer nach seinem Tod durch ein Attentat in Prag

Autor

Dr Robert Gerwarth Robert Gerwarth geboren 1976 hat Geschichte in

Berlin studiert und in Oxford promoviert Nach

Stationen an den Universitaumlten Harvard und

Princeton lehrt Gerwarth heute als Professor fuumlr

Moderne Geschichte am University College in Dublin

und ist Gruumlndungsdirektor des dortigen Zentrums fuumlr

Kriegsstudien das vom European Research Council

und der Guggenheim Stiftung gefoumlrdert wird Er ist

Fellow der Royal Historical Society Mitglied der

Royal Irish Academy und Autor zahlreicher

Publikationen Sein Buch raquoDer Bismarck-Mythos Die

Deutschen und der Eiserne Kanzlerlaquo (2007) wurde

mit dem renommierten Fraenkel Prize

ausgezeichnet Bei Siedler erschienen von ihm

zuletzt raquoDie Besiegten Das blutige Erbe des Ersten

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Robert Gerwarth

ReinhaRd heydRichBiographie

aus dem englischen vonUdo Rennert

Pantheon

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Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel raquoHitlerrsquos Hangman The Life and Death of Reinhard Heydrichlaquobei Yale University Press London Fuumlr die deutsche Ausgabe wurde der Text vom Autor uumlberarbeitet

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

4 Auflage

Copyright copy 2011 by Robert GerwarthCopyright copy dieser Ausgabe 2013 by Pantheon Verlag MuumlnchenCopyright copy der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Siedler Verlag Muumlnchen in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straszlige 28 81673 MuumlnchenUmschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt Muumlnchen Lektorat und Satz Peter Palm BerlinKarten Peter Palm BerlinReproduktionen Mega-Satz-Service BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-570-55206-3

wwwpantheon-verlagde

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Fuumlr Porscha

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inhalt

Einleitung 9

kapitel iTod in Prag 17

kapitel iiDer junge Reinhard 33

die Familie heydrich 33Krieg und nachkrieg 43in der Marine 52Lina von Osten 59entlassung und Krise 64

kapitel iiiEine zweite Chance 71

Begegnung mit himmler 71die Machtergreifung 86Machtkampf um Preuszligen 100ausschaltung der Sa 103Familienprobleme 106

kapitel ivBekaumlmpfung der raquoReichsfeindelaquo 111

auf der Suche nach neuen Gegnern 111die Juden 118die Kirchen 127die Freimaurer 132raquoasozialelaquo 134ein Leben mit Privilegien 137

kapitel vProben fuumlr den Krieg 147

die Fritsch-Blomberg-affaumlre 147raquoanschlusslaquo 150

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raquoReichskristallnachtlaquo 157das ende der Tschechoslowakei 165raquoUnternehmen Tannenberglaquo 169

kapitel viExperimente mit Massenmorden 177

die invasion Polens 177errichtung einer neuen Rassenordnung 186Judenverfolgung im besetzten Polen 192Terror an der heimatfront 201

kapitel viiIm Krieg mit der Welt 215

nach Westen 215der Madagaskar-Plan 221Vorbereitung auf den totalen Krieg 229raquoUnternehmen Barbarossalaquo 236Schicksalhafte entscheidungen 244Wannsee 258

kapitel viiiReichsprotektor 269

das Protektorat Boumlhmen und Maumlhren 269raquoBefriedunglaquo der Tschechen 277das Regieren eines Staates 281Wirtschaftliche ausbeutung 289die Germanisierung des Protektorats 297ausweitung der Judenvernichtung 311Kulturimperialismus 318der erstarkende Widerstand 327

kapitel ixVermaumlchtnisse der Zerstoumlrung 337

dank 355anmerkungen 357Bibliographie 433Verzeichnis der abkuumlrzungen 472Personenregister 473Bildnachweis 479

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einleitung

Reinhard heydrich der chef des Reichssicherheitshauptamtes verkoumlrpert wiekaum ein anderer die fuumlr den nationalsozialistischen Terrorapparat charakteris-tische Kombination aus beflissener effizienz fanatischer ideologie und kaltemVerbrechertum angezogen und zugleich abgestoszligen hat diese Figur des zyni-schen raquoTodesengelslaquo Journalisten Schriftsteller und Filmregisseure deren Fan-tasie durch heydrich und seinen gewaltsamen Tod in Prag immer wieder befluuml-gelt wurde Seine steile Karriere im raquodritten Reichlaquo das attentat und dessenblutige Folgen bis hin zur Zerstoumlrung des boumlhmischen dorfes Lidice haben denStoff geliefert fuumlr mehr als ein dutzend dokumentarfilme und Werke der cine-matographischen Kriegspropaganda darunter den von Fritz Lang und BertoltBrecht 1943 in hollywood produzierten Film Hangmen also Die heinrich MannsRoman Lidice (1942) setzte den Opfern nationalsozialistischer Repression nachdem attentat schon fruumlh ein literarisches denkmal waumlhrend Laurent Binets 2010erschienenes Werk HHhH fuumlr das der Schriftsteller den wichtigsten franzoumlsi-schen Literaturpreis den Prix Goncourt erhielt von heydrichs Leben handelt

das bis heute anhaltende interesse laumlsst sich leicht erklaumlren Obwohl Rein-hard heydrich zum Zeitpunkt des attentats durch tschechische Fallschirmagen-ten erst 38 Jahre alt war spielte er eine zentrale Rolle innerhalb des komplexenMachtsystems des dritten Reichesals Leiter der Terrorzentrale der nS-diktaturdes Reichssicherheitshauptamtes stellvertretender Reichsprotektor von Boumlhmenund Maumlhren chefplaner der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo und Vorsitzenderder Wannsee-Konferenz stand er fuumlr Verfolgung und Vernichtung im drittenReich und weit uumlber dessen Grenzen hinaus

Umso sonderbarer ist es dass es uumlber diese zentrale Figur des nS-Terror-regimes fast sieben Jahrzehnte nach ende des Zweiten Weltkriegs noch immerkeine wissenschaftlichen anspruumlchen genuumlgende empirisch gesaumlttigte Studie gibtdie mehr bietet als die gaumlngigen Klischees vom raquojungen boumlsen Todesgottlaquo oderdas irrefuumlhrende Bild des ideologisch gleichguumlltigen allein karriereorientiertenraquoManagers des Massenmordeslaquo1 erstaunlich auch dass die wohl wichtigste Studiezu heydrichs fruumlhem Leben schon mehr als vierzig Jahre zuruumlckliegt 1967 legteder israelische historiker Shlomo aronson eine wichtige allerdings jenseits der

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historischen Zunft kaum beachtete dissertation uumlber die Rolle heydrichs in derFruumlhgeschichte der Gestapo und des Sd vor ndash der beiden Organisationen dieheydrich bis zu seinem Tod leitete2

in aronsons arbeit die mit der vollstaumlndigen Kontrolle der deutschen Poli-zei durch die SS im Jahr 1936 endet wird eine Fuumllle von Material ausgebreitetdennoch ist sie keine Biographie im eigentlichen Sinne dem autor der wichtigezeitgenoumlssische aussagen uumlber heydrichs Kindheit und Jugend sammelte kommtauch das Verdienst zu einen langlebigen Mythos widerlegt zu haben der bereitswaumlhrend heydrichs Jugend in halle an der Saale aufkam und trotz groumlszligter an-strengungen der Familie ihn zu widerlegen immer wieder von ehemaligen SS-Kollegen und fruumlhen Biographen neu belebt wurde den Mythos von heydrichsjuumldischer abstammung So behauptete etwa himmlers finnischer Masseur FelixKersten ndash vermutlich um den absatz seiner weitgehend unzuverlaumlssigen Memoi-ren zu steigern ndash sowohl der Reichsfuumlhrer SS als auch hitler haumltten seit anfangder dreiszligiger Jahre von heydrichs raquodunklem Geheimnislaquo gewusst sich jedochentschieden raquoden hochbegabte[n] aber auch sehr gefaumlhrliche[n] Mannlaquo mit denmoumlrderischsten aufgaben des Regimes zu betrauen3 das trug dazu bei dass sichder an und fuumlr sich leicht zu entkraumlftende Mythos von heydrichs juumldischer ab-stammung selbst unter serioumlsen historikern als zaumlhlebig erwies der OxforderGeschichtsprofessor hugh Trevor-Roper etwa schrieb im Vorwort zur englischenausgabe von Kerstens Memoiren raquonach aller Kenntnis uumlber die ich verfuumlgelaquo seiheydrich ein Jude gewesen ndash eine These die renommierte deutsche historikerwie Karl dietrich Bracher und der hitler-Biograph Joachim Fest unkritisch uumlber-nahmen4 als schizophrener von antisemitischem Selbsthass getriebener Fanati-ker so mutmaszligte Fest habe heydrich sich stets beweisen muumlssen er habe sichzu einem Mann raquowie ein Peitschenknalllaquo entwickelt habe den Terrorapparat desdritten Reiches mit raquoseiner luziferischen Gefuumlhlskaumlltelaquo geleitet stets mit demfesten Ziel vor augen eines Tages hitlers raquonachfolgerlaquo zu werden5

Fests psychologisierende charakterstudie uumlber heydrich beruhte nicht zu-letzt auf den aussagen ehemaliger Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshaupt-amt (RSha) die aus apologetischer absicht versucht hatten ihre eigene Verant-wortung fuumlr die Verbrechen des dritten Reiches kleinzureden und ihren chef zuraquodaumlmonisierenlaquo als heydrich himmler und hitler tot waren und das dritteReich in Truumlmmern lag suchten unter anderen ranghohe SS-Offiziere in alliierterKriegsgefangenschaft die Verantwortung auf ihre ehemaligen Vorgesetztenabzuwaumllzen und zu raquobeweisenlaquo dass sie lediglich Befehle ausgefuumlhrt haumlttendr Werner Best etwa heydrichs langjaumlhriger Stellvertreter charakterisierte sei-nen toten chef als die raquodaumlmonischstelaquo Figur des dritten Reiches Widerspruch

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habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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18 i tod in prag

sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Eine der zentralen Figuren des NS-Regimes im Spiegel seiner Zeit

Reinhard Heydrich (1904 ndash1942) war einer der maumlchtigsten Maumlnner des

raquoDritten Reichslaquo Als Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und engster

Mitarbeiter Heinrich Himmlers lenkte er den Terrorapparat der

Nationalsozialisten Robert Gerwarth folgt in seiner Biographie dem steilen

Aufstieg Heydrichs und beleuchtet dessen Rolle im NS-Regime sowie die

Stilisierung zum Maumlrtyrer nach seinem Tod durch ein Attentat in Prag

Autor

Dr Robert Gerwarth Robert Gerwarth geboren 1976 hat Geschichte in

Berlin studiert und in Oxford promoviert Nach

Stationen an den Universitaumlten Harvard und

Princeton lehrt Gerwarth heute als Professor fuumlr

Moderne Geschichte am University College in Dublin

und ist Gruumlndungsdirektor des dortigen Zentrums fuumlr

Kriegsstudien das vom European Research Council

und der Guggenheim Stiftung gefoumlrdert wird Er ist

Fellow der Royal Historical Society Mitglied der

Royal Irish Academy und Autor zahlreicher

Publikationen Sein Buch raquoDer Bismarck-Mythos Die

Deutschen und der Eiserne Kanzlerlaquo (2007) wurde

mit dem renommierten Fraenkel Prize

ausgezeichnet Bei Siedler erschienen von ihm

zuletzt raquoDie Besiegten Das blutige Erbe des Ersten

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Robert Gerwarth

ReinhaRd heydRichBiographie

aus dem englischen vonUdo Rennert

Pantheon

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Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel raquoHitlerrsquos Hangman The Life and Death of Reinhard Heydrichlaquobei Yale University Press London Fuumlr die deutsche Ausgabe wurde der Text vom Autor uumlberarbeitet

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

4 Auflage

Copyright copy 2011 by Robert GerwarthCopyright copy dieser Ausgabe 2013 by Pantheon Verlag MuumlnchenCopyright copy der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Siedler Verlag Muumlnchen in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straszlige 28 81673 MuumlnchenUmschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt Muumlnchen Lektorat und Satz Peter Palm BerlinKarten Peter Palm BerlinReproduktionen Mega-Satz-Service BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-570-55206-3

wwwpantheon-verlagde

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Fuumlr Porscha

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inhalt

Einleitung 9

kapitel iTod in Prag 17

kapitel iiDer junge Reinhard 33

die Familie heydrich 33Krieg und nachkrieg 43in der Marine 52Lina von Osten 59entlassung und Krise 64

kapitel iiiEine zweite Chance 71

Begegnung mit himmler 71die Machtergreifung 86Machtkampf um Preuszligen 100ausschaltung der Sa 103Familienprobleme 106

kapitel ivBekaumlmpfung der raquoReichsfeindelaquo 111

auf der Suche nach neuen Gegnern 111die Juden 118die Kirchen 127die Freimaurer 132raquoasozialelaquo 134ein Leben mit Privilegien 137

kapitel vProben fuumlr den Krieg 147

die Fritsch-Blomberg-affaumlre 147raquoanschlusslaquo 150

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raquoReichskristallnachtlaquo 157das ende der Tschechoslowakei 165raquoUnternehmen Tannenberglaquo 169

kapitel viExperimente mit Massenmorden 177

die invasion Polens 177errichtung einer neuen Rassenordnung 186Judenverfolgung im besetzten Polen 192Terror an der heimatfront 201

kapitel viiIm Krieg mit der Welt 215

nach Westen 215der Madagaskar-Plan 221Vorbereitung auf den totalen Krieg 229raquoUnternehmen Barbarossalaquo 236Schicksalhafte entscheidungen 244Wannsee 258

kapitel viiiReichsprotektor 269

das Protektorat Boumlhmen und Maumlhren 269raquoBefriedunglaquo der Tschechen 277das Regieren eines Staates 281Wirtschaftliche ausbeutung 289die Germanisierung des Protektorats 297ausweitung der Judenvernichtung 311Kulturimperialismus 318der erstarkende Widerstand 327

kapitel ixVermaumlchtnisse der Zerstoumlrung 337

dank 355anmerkungen 357Bibliographie 433Verzeichnis der abkuumlrzungen 472Personenregister 473Bildnachweis 479

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einleitung

Reinhard heydrich der chef des Reichssicherheitshauptamtes verkoumlrpert wiekaum ein anderer die fuumlr den nationalsozialistischen Terrorapparat charakteris-tische Kombination aus beflissener effizienz fanatischer ideologie und kaltemVerbrechertum angezogen und zugleich abgestoszligen hat diese Figur des zyni-schen raquoTodesengelslaquo Journalisten Schriftsteller und Filmregisseure deren Fan-tasie durch heydrich und seinen gewaltsamen Tod in Prag immer wieder befluuml-gelt wurde Seine steile Karriere im raquodritten Reichlaquo das attentat und dessenblutige Folgen bis hin zur Zerstoumlrung des boumlhmischen dorfes Lidice haben denStoff geliefert fuumlr mehr als ein dutzend dokumentarfilme und Werke der cine-matographischen Kriegspropaganda darunter den von Fritz Lang und BertoltBrecht 1943 in hollywood produzierten Film Hangmen also Die heinrich MannsRoman Lidice (1942) setzte den Opfern nationalsozialistischer Repression nachdem attentat schon fruumlh ein literarisches denkmal waumlhrend Laurent Binets 2010erschienenes Werk HHhH fuumlr das der Schriftsteller den wichtigsten franzoumlsi-schen Literaturpreis den Prix Goncourt erhielt von heydrichs Leben handelt

das bis heute anhaltende interesse laumlsst sich leicht erklaumlren Obwohl Rein-hard heydrich zum Zeitpunkt des attentats durch tschechische Fallschirmagen-ten erst 38 Jahre alt war spielte er eine zentrale Rolle innerhalb des komplexenMachtsystems des dritten Reichesals Leiter der Terrorzentrale der nS-diktaturdes Reichssicherheitshauptamtes stellvertretender Reichsprotektor von Boumlhmenund Maumlhren chefplaner der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo und Vorsitzenderder Wannsee-Konferenz stand er fuumlr Verfolgung und Vernichtung im drittenReich und weit uumlber dessen Grenzen hinaus

Umso sonderbarer ist es dass es uumlber diese zentrale Figur des nS-Terror-regimes fast sieben Jahrzehnte nach ende des Zweiten Weltkriegs noch immerkeine wissenschaftlichen anspruumlchen genuumlgende empirisch gesaumlttigte Studie gibtdie mehr bietet als die gaumlngigen Klischees vom raquojungen boumlsen Todesgottlaquo oderdas irrefuumlhrende Bild des ideologisch gleichguumlltigen allein karriereorientiertenraquoManagers des Massenmordeslaquo1 erstaunlich auch dass die wohl wichtigste Studiezu heydrichs fruumlhem Leben schon mehr als vierzig Jahre zuruumlckliegt 1967 legteder israelische historiker Shlomo aronson eine wichtige allerdings jenseits der

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10 einleitung

historischen Zunft kaum beachtete dissertation uumlber die Rolle heydrichs in derFruumlhgeschichte der Gestapo und des Sd vor ndash der beiden Organisationen dieheydrich bis zu seinem Tod leitete2

in aronsons arbeit die mit der vollstaumlndigen Kontrolle der deutschen Poli-zei durch die SS im Jahr 1936 endet wird eine Fuumllle von Material ausgebreitetdennoch ist sie keine Biographie im eigentlichen Sinne dem autor der wichtigezeitgenoumlssische aussagen uumlber heydrichs Kindheit und Jugend sammelte kommtauch das Verdienst zu einen langlebigen Mythos widerlegt zu haben der bereitswaumlhrend heydrichs Jugend in halle an der Saale aufkam und trotz groumlszligter an-strengungen der Familie ihn zu widerlegen immer wieder von ehemaligen SS-Kollegen und fruumlhen Biographen neu belebt wurde den Mythos von heydrichsjuumldischer abstammung So behauptete etwa himmlers finnischer Masseur FelixKersten ndash vermutlich um den absatz seiner weitgehend unzuverlaumlssigen Memoi-ren zu steigern ndash sowohl der Reichsfuumlhrer SS als auch hitler haumltten seit anfangder dreiszligiger Jahre von heydrichs raquodunklem Geheimnislaquo gewusst sich jedochentschieden raquoden hochbegabte[n] aber auch sehr gefaumlhrliche[n] Mannlaquo mit denmoumlrderischsten aufgaben des Regimes zu betrauen3 das trug dazu bei dass sichder an und fuumlr sich leicht zu entkraumlftende Mythos von heydrichs juumldischer ab-stammung selbst unter serioumlsen historikern als zaumlhlebig erwies der OxforderGeschichtsprofessor hugh Trevor-Roper etwa schrieb im Vorwort zur englischenausgabe von Kerstens Memoiren raquonach aller Kenntnis uumlber die ich verfuumlgelaquo seiheydrich ein Jude gewesen ndash eine These die renommierte deutsche historikerwie Karl dietrich Bracher und der hitler-Biograph Joachim Fest unkritisch uumlber-nahmen4 als schizophrener von antisemitischem Selbsthass getriebener Fanati-ker so mutmaszligte Fest habe heydrich sich stets beweisen muumlssen er habe sichzu einem Mann raquowie ein Peitschenknalllaquo entwickelt habe den Terrorapparat desdritten Reiches mit raquoseiner luziferischen Gefuumlhlskaumlltelaquo geleitet stets mit demfesten Ziel vor augen eines Tages hitlers raquonachfolgerlaquo zu werden5

Fests psychologisierende charakterstudie uumlber heydrich beruhte nicht zu-letzt auf den aussagen ehemaliger Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshaupt-amt (RSha) die aus apologetischer absicht versucht hatten ihre eigene Verant-wortung fuumlr die Verbrechen des dritten Reiches kleinzureden und ihren chef zuraquodaumlmonisierenlaquo als heydrich himmler und hitler tot waren und das dritteReich in Truumlmmern lag suchten unter anderen ranghohe SS-Offiziere in alliierterKriegsgefangenschaft die Verantwortung auf ihre ehemaligen Vorgesetztenabzuwaumllzen und zu raquobeweisenlaquo dass sie lediglich Befehle ausgefuumlhrt haumlttendr Werner Best etwa heydrichs langjaumlhriger Stellvertreter charakterisierte sei-nen toten chef als die raquodaumlmonischstelaquo Figur des dritten Reiches Widerspruch

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11einleitung

habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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13einleitung

auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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15einleitung

stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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42 ii der junge reinhard

henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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Robert Gerwarth

ReinhaRd heydRichBiographie

aus dem englischen vonUdo Rennert

Pantheon

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Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel raquoHitlerrsquos Hangman The Life and Death of Reinhard Heydrichlaquobei Yale University Press London Fuumlr die deutsche Ausgabe wurde der Text vom Autor uumlberarbeitet

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

4 Auflage

Copyright copy 2011 by Robert GerwarthCopyright copy dieser Ausgabe 2013 by Pantheon Verlag MuumlnchenCopyright copy der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Siedler Verlag Muumlnchen in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straszlige 28 81673 MuumlnchenUmschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt Muumlnchen Lektorat und Satz Peter Palm BerlinKarten Peter Palm BerlinReproduktionen Mega-Satz-Service BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-570-55206-3

wwwpantheon-verlagde

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Fuumlr Porscha

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inhalt

Einleitung 9

kapitel iTod in Prag 17

kapitel iiDer junge Reinhard 33

die Familie heydrich 33Krieg und nachkrieg 43in der Marine 52Lina von Osten 59entlassung und Krise 64

kapitel iiiEine zweite Chance 71

Begegnung mit himmler 71die Machtergreifung 86Machtkampf um Preuszligen 100ausschaltung der Sa 103Familienprobleme 106

kapitel ivBekaumlmpfung der raquoReichsfeindelaquo 111

auf der Suche nach neuen Gegnern 111die Juden 118die Kirchen 127die Freimaurer 132raquoasozialelaquo 134ein Leben mit Privilegien 137

kapitel vProben fuumlr den Krieg 147

die Fritsch-Blomberg-affaumlre 147raquoanschlusslaquo 150

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raquoReichskristallnachtlaquo 157das ende der Tschechoslowakei 165raquoUnternehmen Tannenberglaquo 169

kapitel viExperimente mit Massenmorden 177

die invasion Polens 177errichtung einer neuen Rassenordnung 186Judenverfolgung im besetzten Polen 192Terror an der heimatfront 201

kapitel viiIm Krieg mit der Welt 215

nach Westen 215der Madagaskar-Plan 221Vorbereitung auf den totalen Krieg 229raquoUnternehmen Barbarossalaquo 236Schicksalhafte entscheidungen 244Wannsee 258

kapitel viiiReichsprotektor 269

das Protektorat Boumlhmen und Maumlhren 269raquoBefriedunglaquo der Tschechen 277das Regieren eines Staates 281Wirtschaftliche ausbeutung 289die Germanisierung des Protektorats 297ausweitung der Judenvernichtung 311Kulturimperialismus 318der erstarkende Widerstand 327

kapitel ixVermaumlchtnisse der Zerstoumlrung 337

dank 355anmerkungen 357Bibliographie 433Verzeichnis der abkuumlrzungen 472Personenregister 473Bildnachweis 479

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einleitung

Reinhard heydrich der chef des Reichssicherheitshauptamtes verkoumlrpert wiekaum ein anderer die fuumlr den nationalsozialistischen Terrorapparat charakteris-tische Kombination aus beflissener effizienz fanatischer ideologie und kaltemVerbrechertum angezogen und zugleich abgestoszligen hat diese Figur des zyni-schen raquoTodesengelslaquo Journalisten Schriftsteller und Filmregisseure deren Fan-tasie durch heydrich und seinen gewaltsamen Tod in Prag immer wieder befluuml-gelt wurde Seine steile Karriere im raquodritten Reichlaquo das attentat und dessenblutige Folgen bis hin zur Zerstoumlrung des boumlhmischen dorfes Lidice haben denStoff geliefert fuumlr mehr als ein dutzend dokumentarfilme und Werke der cine-matographischen Kriegspropaganda darunter den von Fritz Lang und BertoltBrecht 1943 in hollywood produzierten Film Hangmen also Die heinrich MannsRoman Lidice (1942) setzte den Opfern nationalsozialistischer Repression nachdem attentat schon fruumlh ein literarisches denkmal waumlhrend Laurent Binets 2010erschienenes Werk HHhH fuumlr das der Schriftsteller den wichtigsten franzoumlsi-schen Literaturpreis den Prix Goncourt erhielt von heydrichs Leben handelt

das bis heute anhaltende interesse laumlsst sich leicht erklaumlren Obwohl Rein-hard heydrich zum Zeitpunkt des attentats durch tschechische Fallschirmagen-ten erst 38 Jahre alt war spielte er eine zentrale Rolle innerhalb des komplexenMachtsystems des dritten Reichesals Leiter der Terrorzentrale der nS-diktaturdes Reichssicherheitshauptamtes stellvertretender Reichsprotektor von Boumlhmenund Maumlhren chefplaner der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo und Vorsitzenderder Wannsee-Konferenz stand er fuumlr Verfolgung und Vernichtung im drittenReich und weit uumlber dessen Grenzen hinaus

Umso sonderbarer ist es dass es uumlber diese zentrale Figur des nS-Terror-regimes fast sieben Jahrzehnte nach ende des Zweiten Weltkriegs noch immerkeine wissenschaftlichen anspruumlchen genuumlgende empirisch gesaumlttigte Studie gibtdie mehr bietet als die gaumlngigen Klischees vom raquojungen boumlsen Todesgottlaquo oderdas irrefuumlhrende Bild des ideologisch gleichguumlltigen allein karriereorientiertenraquoManagers des Massenmordeslaquo1 erstaunlich auch dass die wohl wichtigste Studiezu heydrichs fruumlhem Leben schon mehr als vierzig Jahre zuruumlckliegt 1967 legteder israelische historiker Shlomo aronson eine wichtige allerdings jenseits der

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historischen Zunft kaum beachtete dissertation uumlber die Rolle heydrichs in derFruumlhgeschichte der Gestapo und des Sd vor ndash der beiden Organisationen dieheydrich bis zu seinem Tod leitete2

in aronsons arbeit die mit der vollstaumlndigen Kontrolle der deutschen Poli-zei durch die SS im Jahr 1936 endet wird eine Fuumllle von Material ausgebreitetdennoch ist sie keine Biographie im eigentlichen Sinne dem autor der wichtigezeitgenoumlssische aussagen uumlber heydrichs Kindheit und Jugend sammelte kommtauch das Verdienst zu einen langlebigen Mythos widerlegt zu haben der bereitswaumlhrend heydrichs Jugend in halle an der Saale aufkam und trotz groumlszligter an-strengungen der Familie ihn zu widerlegen immer wieder von ehemaligen SS-Kollegen und fruumlhen Biographen neu belebt wurde den Mythos von heydrichsjuumldischer abstammung So behauptete etwa himmlers finnischer Masseur FelixKersten ndash vermutlich um den absatz seiner weitgehend unzuverlaumlssigen Memoi-ren zu steigern ndash sowohl der Reichsfuumlhrer SS als auch hitler haumltten seit anfangder dreiszligiger Jahre von heydrichs raquodunklem Geheimnislaquo gewusst sich jedochentschieden raquoden hochbegabte[n] aber auch sehr gefaumlhrliche[n] Mannlaquo mit denmoumlrderischsten aufgaben des Regimes zu betrauen3 das trug dazu bei dass sichder an und fuumlr sich leicht zu entkraumlftende Mythos von heydrichs juumldischer ab-stammung selbst unter serioumlsen historikern als zaumlhlebig erwies der OxforderGeschichtsprofessor hugh Trevor-Roper etwa schrieb im Vorwort zur englischenausgabe von Kerstens Memoiren raquonach aller Kenntnis uumlber die ich verfuumlgelaquo seiheydrich ein Jude gewesen ndash eine These die renommierte deutsche historikerwie Karl dietrich Bracher und der hitler-Biograph Joachim Fest unkritisch uumlber-nahmen4 als schizophrener von antisemitischem Selbsthass getriebener Fanati-ker so mutmaszligte Fest habe heydrich sich stets beweisen muumlssen er habe sichzu einem Mann raquowie ein Peitschenknalllaquo entwickelt habe den Terrorapparat desdritten Reiches mit raquoseiner luziferischen Gefuumlhlskaumlltelaquo geleitet stets mit demfesten Ziel vor augen eines Tages hitlers raquonachfolgerlaquo zu werden5

Fests psychologisierende charakterstudie uumlber heydrich beruhte nicht zu-letzt auf den aussagen ehemaliger Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshaupt-amt (RSha) die aus apologetischer absicht versucht hatten ihre eigene Verant-wortung fuumlr die Verbrechen des dritten Reiches kleinzureden und ihren chef zuraquodaumlmonisierenlaquo als heydrich himmler und hitler tot waren und das dritteReich in Truumlmmern lag suchten unter anderen ranghohe SS-Offiziere in alliierterKriegsgefangenschaft die Verantwortung auf ihre ehemaligen Vorgesetztenabzuwaumllzen und zu raquobeweisenlaquo dass sie lediglich Befehle ausgefuumlhrt haumlttendr Werner Best etwa heydrichs langjaumlhriger Stellvertreter charakterisierte sei-nen toten chef als die raquodaumlmonischstelaquo Figur des dritten Reiches Widerspruch

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11einleitung

habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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12 einleitung

szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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14 einleitung

die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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15einleitung

stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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41die familie heydrich

waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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42 ii der junge reinhard

henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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Robert Gerwarth

ReinhaRd heydRichBiographie

aus dem englischen vonUdo Rennert

Pantheon

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Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel raquoHitlerrsquos Hangman The Life and Death of Reinhard Heydrichlaquobei Yale University Press London Fuumlr die deutsche Ausgabe wurde der Text vom Autor uumlberarbeitet

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

4 Auflage

Copyright copy 2011 by Robert GerwarthCopyright copy dieser Ausgabe 2013 by Pantheon Verlag MuumlnchenCopyright copy der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Siedler Verlag Muumlnchen in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straszlige 28 81673 MuumlnchenUmschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt Muumlnchen Lektorat und Satz Peter Palm BerlinKarten Peter Palm BerlinReproduktionen Mega-Satz-Service BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-570-55206-3

wwwpantheon-verlagde

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Fuumlr Porscha

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inhalt

Einleitung 9

kapitel iTod in Prag 17

kapitel iiDer junge Reinhard 33

die Familie heydrich 33Krieg und nachkrieg 43in der Marine 52Lina von Osten 59entlassung und Krise 64

kapitel iiiEine zweite Chance 71

Begegnung mit himmler 71die Machtergreifung 86Machtkampf um Preuszligen 100ausschaltung der Sa 103Familienprobleme 106

kapitel ivBekaumlmpfung der raquoReichsfeindelaquo 111

auf der Suche nach neuen Gegnern 111die Juden 118die Kirchen 127die Freimaurer 132raquoasozialelaquo 134ein Leben mit Privilegien 137

kapitel vProben fuumlr den Krieg 147

die Fritsch-Blomberg-affaumlre 147raquoanschlusslaquo 150

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raquoReichskristallnachtlaquo 157das ende der Tschechoslowakei 165raquoUnternehmen Tannenberglaquo 169

kapitel viExperimente mit Massenmorden 177

die invasion Polens 177errichtung einer neuen Rassenordnung 186Judenverfolgung im besetzten Polen 192Terror an der heimatfront 201

kapitel viiIm Krieg mit der Welt 215

nach Westen 215der Madagaskar-Plan 221Vorbereitung auf den totalen Krieg 229raquoUnternehmen Barbarossalaquo 236Schicksalhafte entscheidungen 244Wannsee 258

kapitel viiiReichsprotektor 269

das Protektorat Boumlhmen und Maumlhren 269raquoBefriedunglaquo der Tschechen 277das Regieren eines Staates 281Wirtschaftliche ausbeutung 289die Germanisierung des Protektorats 297ausweitung der Judenvernichtung 311Kulturimperialismus 318der erstarkende Widerstand 327

kapitel ixVermaumlchtnisse der Zerstoumlrung 337

dank 355anmerkungen 357Bibliographie 433Verzeichnis der abkuumlrzungen 472Personenregister 473Bildnachweis 479

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einleitung

Reinhard heydrich der chef des Reichssicherheitshauptamtes verkoumlrpert wiekaum ein anderer die fuumlr den nationalsozialistischen Terrorapparat charakteris-tische Kombination aus beflissener effizienz fanatischer ideologie und kaltemVerbrechertum angezogen und zugleich abgestoszligen hat diese Figur des zyni-schen raquoTodesengelslaquo Journalisten Schriftsteller und Filmregisseure deren Fan-tasie durch heydrich und seinen gewaltsamen Tod in Prag immer wieder befluuml-gelt wurde Seine steile Karriere im raquodritten Reichlaquo das attentat und dessenblutige Folgen bis hin zur Zerstoumlrung des boumlhmischen dorfes Lidice haben denStoff geliefert fuumlr mehr als ein dutzend dokumentarfilme und Werke der cine-matographischen Kriegspropaganda darunter den von Fritz Lang und BertoltBrecht 1943 in hollywood produzierten Film Hangmen also Die heinrich MannsRoman Lidice (1942) setzte den Opfern nationalsozialistischer Repression nachdem attentat schon fruumlh ein literarisches denkmal waumlhrend Laurent Binets 2010erschienenes Werk HHhH fuumlr das der Schriftsteller den wichtigsten franzoumlsi-schen Literaturpreis den Prix Goncourt erhielt von heydrichs Leben handelt

das bis heute anhaltende interesse laumlsst sich leicht erklaumlren Obwohl Rein-hard heydrich zum Zeitpunkt des attentats durch tschechische Fallschirmagen-ten erst 38 Jahre alt war spielte er eine zentrale Rolle innerhalb des komplexenMachtsystems des dritten Reichesals Leiter der Terrorzentrale der nS-diktaturdes Reichssicherheitshauptamtes stellvertretender Reichsprotektor von Boumlhmenund Maumlhren chefplaner der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo und Vorsitzenderder Wannsee-Konferenz stand er fuumlr Verfolgung und Vernichtung im drittenReich und weit uumlber dessen Grenzen hinaus

Umso sonderbarer ist es dass es uumlber diese zentrale Figur des nS-Terror-regimes fast sieben Jahrzehnte nach ende des Zweiten Weltkriegs noch immerkeine wissenschaftlichen anspruumlchen genuumlgende empirisch gesaumlttigte Studie gibtdie mehr bietet als die gaumlngigen Klischees vom raquojungen boumlsen Todesgottlaquo oderdas irrefuumlhrende Bild des ideologisch gleichguumlltigen allein karriereorientiertenraquoManagers des Massenmordeslaquo1 erstaunlich auch dass die wohl wichtigste Studiezu heydrichs fruumlhem Leben schon mehr als vierzig Jahre zuruumlckliegt 1967 legteder israelische historiker Shlomo aronson eine wichtige allerdings jenseits der

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historischen Zunft kaum beachtete dissertation uumlber die Rolle heydrichs in derFruumlhgeschichte der Gestapo und des Sd vor ndash der beiden Organisationen dieheydrich bis zu seinem Tod leitete2

in aronsons arbeit die mit der vollstaumlndigen Kontrolle der deutschen Poli-zei durch die SS im Jahr 1936 endet wird eine Fuumllle von Material ausgebreitetdennoch ist sie keine Biographie im eigentlichen Sinne dem autor der wichtigezeitgenoumlssische aussagen uumlber heydrichs Kindheit und Jugend sammelte kommtauch das Verdienst zu einen langlebigen Mythos widerlegt zu haben der bereitswaumlhrend heydrichs Jugend in halle an der Saale aufkam und trotz groumlszligter an-strengungen der Familie ihn zu widerlegen immer wieder von ehemaligen SS-Kollegen und fruumlhen Biographen neu belebt wurde den Mythos von heydrichsjuumldischer abstammung So behauptete etwa himmlers finnischer Masseur FelixKersten ndash vermutlich um den absatz seiner weitgehend unzuverlaumlssigen Memoi-ren zu steigern ndash sowohl der Reichsfuumlhrer SS als auch hitler haumltten seit anfangder dreiszligiger Jahre von heydrichs raquodunklem Geheimnislaquo gewusst sich jedochentschieden raquoden hochbegabte[n] aber auch sehr gefaumlhrliche[n] Mannlaquo mit denmoumlrderischsten aufgaben des Regimes zu betrauen3 das trug dazu bei dass sichder an und fuumlr sich leicht zu entkraumlftende Mythos von heydrichs juumldischer ab-stammung selbst unter serioumlsen historikern als zaumlhlebig erwies der OxforderGeschichtsprofessor hugh Trevor-Roper etwa schrieb im Vorwort zur englischenausgabe von Kerstens Memoiren raquonach aller Kenntnis uumlber die ich verfuumlgelaquo seiheydrich ein Jude gewesen ndash eine These die renommierte deutsche historikerwie Karl dietrich Bracher und der hitler-Biograph Joachim Fest unkritisch uumlber-nahmen4 als schizophrener von antisemitischem Selbsthass getriebener Fanati-ker so mutmaszligte Fest habe heydrich sich stets beweisen muumlssen er habe sichzu einem Mann raquowie ein Peitschenknalllaquo entwickelt habe den Terrorapparat desdritten Reiches mit raquoseiner luziferischen Gefuumlhlskaumlltelaquo geleitet stets mit demfesten Ziel vor augen eines Tages hitlers raquonachfolgerlaquo zu werden5

Fests psychologisierende charakterstudie uumlber heydrich beruhte nicht zu-letzt auf den aussagen ehemaliger Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshaupt-amt (RSha) die aus apologetischer absicht versucht hatten ihre eigene Verant-wortung fuumlr die Verbrechen des dritten Reiches kleinzureden und ihren chef zuraquodaumlmonisierenlaquo als heydrich himmler und hitler tot waren und das dritteReich in Truumlmmern lag suchten unter anderen ranghohe SS-Offiziere in alliierterKriegsgefangenschaft die Verantwortung auf ihre ehemaligen Vorgesetztenabzuwaumllzen und zu raquobeweisenlaquo dass sie lediglich Befehle ausgefuumlhrt haumlttendr Werner Best etwa heydrichs langjaumlhriger Stellvertreter charakterisierte sei-nen toten chef als die raquodaumlmonischstelaquo Figur des dritten Reiches Widerspruch

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11einleitung

habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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12 einleitung

szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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13einleitung

auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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14 einleitung

die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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15einleitung

stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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Page 5: Robert Gerwarth - penguinrandomhouse.de

Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel raquoHitlerrsquos Hangman The Life and Death of Reinhard Heydrichlaquobei Yale University Press London Fuumlr die deutsche Ausgabe wurde der Text vom Autor uumlberarbeitet

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten so uumlbernehmen wir fuumlr deren Inhalte keine Haftung da wir uns diese nicht zu eigen machen sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveroumlffentlichung verweisen

Penguin Random House Verlagsgruppe FSCreg N001967

4 Auflage

Copyright copy 2011 by Robert GerwarthCopyright copy dieser Ausgabe 2013 by Pantheon Verlag MuumlnchenCopyright copy der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Siedler Verlag Muumlnchen in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straszlige 28 81673 MuumlnchenUmschlaggestaltung Buumlro Jorge Schmidt Muumlnchen Lektorat und Satz Peter Palm BerlinKarten Peter Palm BerlinReproduktionen Mega-Satz-Service BerlinDruck und Bindung CPI books GmbH LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-570-55206-3

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Fuumlr Porscha

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inhalt

Einleitung 9

kapitel iTod in Prag 17

kapitel iiDer junge Reinhard 33

die Familie heydrich 33Krieg und nachkrieg 43in der Marine 52Lina von Osten 59entlassung und Krise 64

kapitel iiiEine zweite Chance 71

Begegnung mit himmler 71die Machtergreifung 86Machtkampf um Preuszligen 100ausschaltung der Sa 103Familienprobleme 106

kapitel ivBekaumlmpfung der raquoReichsfeindelaquo 111

auf der Suche nach neuen Gegnern 111die Juden 118die Kirchen 127die Freimaurer 132raquoasozialelaquo 134ein Leben mit Privilegien 137

kapitel vProben fuumlr den Krieg 147

die Fritsch-Blomberg-affaumlre 147raquoanschlusslaquo 150

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raquoReichskristallnachtlaquo 157das ende der Tschechoslowakei 165raquoUnternehmen Tannenberglaquo 169

kapitel viExperimente mit Massenmorden 177

die invasion Polens 177errichtung einer neuen Rassenordnung 186Judenverfolgung im besetzten Polen 192Terror an der heimatfront 201

kapitel viiIm Krieg mit der Welt 215

nach Westen 215der Madagaskar-Plan 221Vorbereitung auf den totalen Krieg 229raquoUnternehmen Barbarossalaquo 236Schicksalhafte entscheidungen 244Wannsee 258

kapitel viiiReichsprotektor 269

das Protektorat Boumlhmen und Maumlhren 269raquoBefriedunglaquo der Tschechen 277das Regieren eines Staates 281Wirtschaftliche ausbeutung 289die Germanisierung des Protektorats 297ausweitung der Judenvernichtung 311Kulturimperialismus 318der erstarkende Widerstand 327

kapitel ixVermaumlchtnisse der Zerstoumlrung 337

dank 355anmerkungen 357Bibliographie 433Verzeichnis der abkuumlrzungen 472Personenregister 473Bildnachweis 479

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einleitung

Reinhard heydrich der chef des Reichssicherheitshauptamtes verkoumlrpert wiekaum ein anderer die fuumlr den nationalsozialistischen Terrorapparat charakteris-tische Kombination aus beflissener effizienz fanatischer ideologie und kaltemVerbrechertum angezogen und zugleich abgestoszligen hat diese Figur des zyni-schen raquoTodesengelslaquo Journalisten Schriftsteller und Filmregisseure deren Fan-tasie durch heydrich und seinen gewaltsamen Tod in Prag immer wieder befluuml-gelt wurde Seine steile Karriere im raquodritten Reichlaquo das attentat und dessenblutige Folgen bis hin zur Zerstoumlrung des boumlhmischen dorfes Lidice haben denStoff geliefert fuumlr mehr als ein dutzend dokumentarfilme und Werke der cine-matographischen Kriegspropaganda darunter den von Fritz Lang und BertoltBrecht 1943 in hollywood produzierten Film Hangmen also Die heinrich MannsRoman Lidice (1942) setzte den Opfern nationalsozialistischer Repression nachdem attentat schon fruumlh ein literarisches denkmal waumlhrend Laurent Binets 2010erschienenes Werk HHhH fuumlr das der Schriftsteller den wichtigsten franzoumlsi-schen Literaturpreis den Prix Goncourt erhielt von heydrichs Leben handelt

das bis heute anhaltende interesse laumlsst sich leicht erklaumlren Obwohl Rein-hard heydrich zum Zeitpunkt des attentats durch tschechische Fallschirmagen-ten erst 38 Jahre alt war spielte er eine zentrale Rolle innerhalb des komplexenMachtsystems des dritten Reichesals Leiter der Terrorzentrale der nS-diktaturdes Reichssicherheitshauptamtes stellvertretender Reichsprotektor von Boumlhmenund Maumlhren chefplaner der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo und Vorsitzenderder Wannsee-Konferenz stand er fuumlr Verfolgung und Vernichtung im drittenReich und weit uumlber dessen Grenzen hinaus

Umso sonderbarer ist es dass es uumlber diese zentrale Figur des nS-Terror-regimes fast sieben Jahrzehnte nach ende des Zweiten Weltkriegs noch immerkeine wissenschaftlichen anspruumlchen genuumlgende empirisch gesaumlttigte Studie gibtdie mehr bietet als die gaumlngigen Klischees vom raquojungen boumlsen Todesgottlaquo oderdas irrefuumlhrende Bild des ideologisch gleichguumlltigen allein karriereorientiertenraquoManagers des Massenmordeslaquo1 erstaunlich auch dass die wohl wichtigste Studiezu heydrichs fruumlhem Leben schon mehr als vierzig Jahre zuruumlckliegt 1967 legteder israelische historiker Shlomo aronson eine wichtige allerdings jenseits der

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historischen Zunft kaum beachtete dissertation uumlber die Rolle heydrichs in derFruumlhgeschichte der Gestapo und des Sd vor ndash der beiden Organisationen dieheydrich bis zu seinem Tod leitete2

in aronsons arbeit die mit der vollstaumlndigen Kontrolle der deutschen Poli-zei durch die SS im Jahr 1936 endet wird eine Fuumllle von Material ausgebreitetdennoch ist sie keine Biographie im eigentlichen Sinne dem autor der wichtigezeitgenoumlssische aussagen uumlber heydrichs Kindheit und Jugend sammelte kommtauch das Verdienst zu einen langlebigen Mythos widerlegt zu haben der bereitswaumlhrend heydrichs Jugend in halle an der Saale aufkam und trotz groumlszligter an-strengungen der Familie ihn zu widerlegen immer wieder von ehemaligen SS-Kollegen und fruumlhen Biographen neu belebt wurde den Mythos von heydrichsjuumldischer abstammung So behauptete etwa himmlers finnischer Masseur FelixKersten ndash vermutlich um den absatz seiner weitgehend unzuverlaumlssigen Memoi-ren zu steigern ndash sowohl der Reichsfuumlhrer SS als auch hitler haumltten seit anfangder dreiszligiger Jahre von heydrichs raquodunklem Geheimnislaquo gewusst sich jedochentschieden raquoden hochbegabte[n] aber auch sehr gefaumlhrliche[n] Mannlaquo mit denmoumlrderischsten aufgaben des Regimes zu betrauen3 das trug dazu bei dass sichder an und fuumlr sich leicht zu entkraumlftende Mythos von heydrichs juumldischer ab-stammung selbst unter serioumlsen historikern als zaumlhlebig erwies der OxforderGeschichtsprofessor hugh Trevor-Roper etwa schrieb im Vorwort zur englischenausgabe von Kerstens Memoiren raquonach aller Kenntnis uumlber die ich verfuumlgelaquo seiheydrich ein Jude gewesen ndash eine These die renommierte deutsche historikerwie Karl dietrich Bracher und der hitler-Biograph Joachim Fest unkritisch uumlber-nahmen4 als schizophrener von antisemitischem Selbsthass getriebener Fanati-ker so mutmaszligte Fest habe heydrich sich stets beweisen muumlssen er habe sichzu einem Mann raquowie ein Peitschenknalllaquo entwickelt habe den Terrorapparat desdritten Reiches mit raquoseiner luziferischen Gefuumlhlskaumlltelaquo geleitet stets mit demfesten Ziel vor augen eines Tages hitlers raquonachfolgerlaquo zu werden5

Fests psychologisierende charakterstudie uumlber heydrich beruhte nicht zu-letzt auf den aussagen ehemaliger Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshaupt-amt (RSha) die aus apologetischer absicht versucht hatten ihre eigene Verant-wortung fuumlr die Verbrechen des dritten Reiches kleinzureden und ihren chef zuraquodaumlmonisierenlaquo als heydrich himmler und hitler tot waren und das dritteReich in Truumlmmern lag suchten unter anderen ranghohe SS-Offiziere in alliierterKriegsgefangenschaft die Verantwortung auf ihre ehemaligen Vorgesetztenabzuwaumllzen und zu raquobeweisenlaquo dass sie lediglich Befehle ausgefuumlhrt haumlttendr Werner Best etwa heydrichs langjaumlhriger Stellvertreter charakterisierte sei-nen toten chef als die raquodaumlmonischstelaquo Figur des dritten Reiches Widerspruch

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11einleitung

habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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Fuumlr Porscha

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inhalt

Einleitung 9

kapitel iTod in Prag 17

kapitel iiDer junge Reinhard 33

die Familie heydrich 33Krieg und nachkrieg 43in der Marine 52Lina von Osten 59entlassung und Krise 64

kapitel iiiEine zweite Chance 71

Begegnung mit himmler 71die Machtergreifung 86Machtkampf um Preuszligen 100ausschaltung der Sa 103Familienprobleme 106

kapitel ivBekaumlmpfung der raquoReichsfeindelaquo 111

auf der Suche nach neuen Gegnern 111die Juden 118die Kirchen 127die Freimaurer 132raquoasozialelaquo 134ein Leben mit Privilegien 137

kapitel vProben fuumlr den Krieg 147

die Fritsch-Blomberg-affaumlre 147raquoanschlusslaquo 150

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raquoReichskristallnachtlaquo 157das ende der Tschechoslowakei 165raquoUnternehmen Tannenberglaquo 169

kapitel viExperimente mit Massenmorden 177

die invasion Polens 177errichtung einer neuen Rassenordnung 186Judenverfolgung im besetzten Polen 192Terror an der heimatfront 201

kapitel viiIm Krieg mit der Welt 215

nach Westen 215der Madagaskar-Plan 221Vorbereitung auf den totalen Krieg 229raquoUnternehmen Barbarossalaquo 236Schicksalhafte entscheidungen 244Wannsee 258

kapitel viiiReichsprotektor 269

das Protektorat Boumlhmen und Maumlhren 269raquoBefriedunglaquo der Tschechen 277das Regieren eines Staates 281Wirtschaftliche ausbeutung 289die Germanisierung des Protektorats 297ausweitung der Judenvernichtung 311Kulturimperialismus 318der erstarkende Widerstand 327

kapitel ixVermaumlchtnisse der Zerstoumlrung 337

dank 355anmerkungen 357Bibliographie 433Verzeichnis der abkuumlrzungen 472Personenregister 473Bildnachweis 479

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einleitung

Reinhard heydrich der chef des Reichssicherheitshauptamtes verkoumlrpert wiekaum ein anderer die fuumlr den nationalsozialistischen Terrorapparat charakteris-tische Kombination aus beflissener effizienz fanatischer ideologie und kaltemVerbrechertum angezogen und zugleich abgestoszligen hat diese Figur des zyni-schen raquoTodesengelslaquo Journalisten Schriftsteller und Filmregisseure deren Fan-tasie durch heydrich und seinen gewaltsamen Tod in Prag immer wieder befluuml-gelt wurde Seine steile Karriere im raquodritten Reichlaquo das attentat und dessenblutige Folgen bis hin zur Zerstoumlrung des boumlhmischen dorfes Lidice haben denStoff geliefert fuumlr mehr als ein dutzend dokumentarfilme und Werke der cine-matographischen Kriegspropaganda darunter den von Fritz Lang und BertoltBrecht 1943 in hollywood produzierten Film Hangmen also Die heinrich MannsRoman Lidice (1942) setzte den Opfern nationalsozialistischer Repression nachdem attentat schon fruumlh ein literarisches denkmal waumlhrend Laurent Binets 2010erschienenes Werk HHhH fuumlr das der Schriftsteller den wichtigsten franzoumlsi-schen Literaturpreis den Prix Goncourt erhielt von heydrichs Leben handelt

das bis heute anhaltende interesse laumlsst sich leicht erklaumlren Obwohl Rein-hard heydrich zum Zeitpunkt des attentats durch tschechische Fallschirmagen-ten erst 38 Jahre alt war spielte er eine zentrale Rolle innerhalb des komplexenMachtsystems des dritten Reichesals Leiter der Terrorzentrale der nS-diktaturdes Reichssicherheitshauptamtes stellvertretender Reichsprotektor von Boumlhmenund Maumlhren chefplaner der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo und Vorsitzenderder Wannsee-Konferenz stand er fuumlr Verfolgung und Vernichtung im drittenReich und weit uumlber dessen Grenzen hinaus

Umso sonderbarer ist es dass es uumlber diese zentrale Figur des nS-Terror-regimes fast sieben Jahrzehnte nach ende des Zweiten Weltkriegs noch immerkeine wissenschaftlichen anspruumlchen genuumlgende empirisch gesaumlttigte Studie gibtdie mehr bietet als die gaumlngigen Klischees vom raquojungen boumlsen Todesgottlaquo oderdas irrefuumlhrende Bild des ideologisch gleichguumlltigen allein karriereorientiertenraquoManagers des Massenmordeslaquo1 erstaunlich auch dass die wohl wichtigste Studiezu heydrichs fruumlhem Leben schon mehr als vierzig Jahre zuruumlckliegt 1967 legteder israelische historiker Shlomo aronson eine wichtige allerdings jenseits der

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historischen Zunft kaum beachtete dissertation uumlber die Rolle heydrichs in derFruumlhgeschichte der Gestapo und des Sd vor ndash der beiden Organisationen dieheydrich bis zu seinem Tod leitete2

in aronsons arbeit die mit der vollstaumlndigen Kontrolle der deutschen Poli-zei durch die SS im Jahr 1936 endet wird eine Fuumllle von Material ausgebreitetdennoch ist sie keine Biographie im eigentlichen Sinne dem autor der wichtigezeitgenoumlssische aussagen uumlber heydrichs Kindheit und Jugend sammelte kommtauch das Verdienst zu einen langlebigen Mythos widerlegt zu haben der bereitswaumlhrend heydrichs Jugend in halle an der Saale aufkam und trotz groumlszligter an-strengungen der Familie ihn zu widerlegen immer wieder von ehemaligen SS-Kollegen und fruumlhen Biographen neu belebt wurde den Mythos von heydrichsjuumldischer abstammung So behauptete etwa himmlers finnischer Masseur FelixKersten ndash vermutlich um den absatz seiner weitgehend unzuverlaumlssigen Memoi-ren zu steigern ndash sowohl der Reichsfuumlhrer SS als auch hitler haumltten seit anfangder dreiszligiger Jahre von heydrichs raquodunklem Geheimnislaquo gewusst sich jedochentschieden raquoden hochbegabte[n] aber auch sehr gefaumlhrliche[n] Mannlaquo mit denmoumlrderischsten aufgaben des Regimes zu betrauen3 das trug dazu bei dass sichder an und fuumlr sich leicht zu entkraumlftende Mythos von heydrichs juumldischer ab-stammung selbst unter serioumlsen historikern als zaumlhlebig erwies der OxforderGeschichtsprofessor hugh Trevor-Roper etwa schrieb im Vorwort zur englischenausgabe von Kerstens Memoiren raquonach aller Kenntnis uumlber die ich verfuumlgelaquo seiheydrich ein Jude gewesen ndash eine These die renommierte deutsche historikerwie Karl dietrich Bracher und der hitler-Biograph Joachim Fest unkritisch uumlber-nahmen4 als schizophrener von antisemitischem Selbsthass getriebener Fanati-ker so mutmaszligte Fest habe heydrich sich stets beweisen muumlssen er habe sichzu einem Mann raquowie ein Peitschenknalllaquo entwickelt habe den Terrorapparat desdritten Reiches mit raquoseiner luziferischen Gefuumlhlskaumlltelaquo geleitet stets mit demfesten Ziel vor augen eines Tages hitlers raquonachfolgerlaquo zu werden5

Fests psychologisierende charakterstudie uumlber heydrich beruhte nicht zu-letzt auf den aussagen ehemaliger Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshaupt-amt (RSha) die aus apologetischer absicht versucht hatten ihre eigene Verant-wortung fuumlr die Verbrechen des dritten Reiches kleinzureden und ihren chef zuraquodaumlmonisierenlaquo als heydrich himmler und hitler tot waren und das dritteReich in Truumlmmern lag suchten unter anderen ranghohe SS-Offiziere in alliierterKriegsgefangenschaft die Verantwortung auf ihre ehemaligen Vorgesetztenabzuwaumllzen und zu raquobeweisenlaquo dass sie lediglich Befehle ausgefuumlhrt haumlttendr Werner Best etwa heydrichs langjaumlhriger Stellvertreter charakterisierte sei-nen toten chef als die raquodaumlmonischstelaquo Figur des dritten Reiches Widerspruch

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habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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inhalt

Einleitung 9

kapitel iTod in Prag 17

kapitel iiDer junge Reinhard 33

die Familie heydrich 33Krieg und nachkrieg 43in der Marine 52Lina von Osten 59entlassung und Krise 64

kapitel iiiEine zweite Chance 71

Begegnung mit himmler 71die Machtergreifung 86Machtkampf um Preuszligen 100ausschaltung der Sa 103Familienprobleme 106

kapitel ivBekaumlmpfung der raquoReichsfeindelaquo 111

auf der Suche nach neuen Gegnern 111die Juden 118die Kirchen 127die Freimaurer 132raquoasozialelaquo 134ein Leben mit Privilegien 137

kapitel vProben fuumlr den Krieg 147

die Fritsch-Blomberg-affaumlre 147raquoanschlusslaquo 150

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raquoReichskristallnachtlaquo 157das ende der Tschechoslowakei 165raquoUnternehmen Tannenberglaquo 169

kapitel viExperimente mit Massenmorden 177

die invasion Polens 177errichtung einer neuen Rassenordnung 186Judenverfolgung im besetzten Polen 192Terror an der heimatfront 201

kapitel viiIm Krieg mit der Welt 215

nach Westen 215der Madagaskar-Plan 221Vorbereitung auf den totalen Krieg 229raquoUnternehmen Barbarossalaquo 236Schicksalhafte entscheidungen 244Wannsee 258

kapitel viiiReichsprotektor 269

das Protektorat Boumlhmen und Maumlhren 269raquoBefriedunglaquo der Tschechen 277das Regieren eines Staates 281Wirtschaftliche ausbeutung 289die Germanisierung des Protektorats 297ausweitung der Judenvernichtung 311Kulturimperialismus 318der erstarkende Widerstand 327

kapitel ixVermaumlchtnisse der Zerstoumlrung 337

dank 355anmerkungen 357Bibliographie 433Verzeichnis der abkuumlrzungen 472Personenregister 473Bildnachweis 479

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einleitung

Reinhard heydrich der chef des Reichssicherheitshauptamtes verkoumlrpert wiekaum ein anderer die fuumlr den nationalsozialistischen Terrorapparat charakteris-tische Kombination aus beflissener effizienz fanatischer ideologie und kaltemVerbrechertum angezogen und zugleich abgestoszligen hat diese Figur des zyni-schen raquoTodesengelslaquo Journalisten Schriftsteller und Filmregisseure deren Fan-tasie durch heydrich und seinen gewaltsamen Tod in Prag immer wieder befluuml-gelt wurde Seine steile Karriere im raquodritten Reichlaquo das attentat und dessenblutige Folgen bis hin zur Zerstoumlrung des boumlhmischen dorfes Lidice haben denStoff geliefert fuumlr mehr als ein dutzend dokumentarfilme und Werke der cine-matographischen Kriegspropaganda darunter den von Fritz Lang und BertoltBrecht 1943 in hollywood produzierten Film Hangmen also Die heinrich MannsRoman Lidice (1942) setzte den Opfern nationalsozialistischer Repression nachdem attentat schon fruumlh ein literarisches denkmal waumlhrend Laurent Binets 2010erschienenes Werk HHhH fuumlr das der Schriftsteller den wichtigsten franzoumlsi-schen Literaturpreis den Prix Goncourt erhielt von heydrichs Leben handelt

das bis heute anhaltende interesse laumlsst sich leicht erklaumlren Obwohl Rein-hard heydrich zum Zeitpunkt des attentats durch tschechische Fallschirmagen-ten erst 38 Jahre alt war spielte er eine zentrale Rolle innerhalb des komplexenMachtsystems des dritten Reichesals Leiter der Terrorzentrale der nS-diktaturdes Reichssicherheitshauptamtes stellvertretender Reichsprotektor von Boumlhmenund Maumlhren chefplaner der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo und Vorsitzenderder Wannsee-Konferenz stand er fuumlr Verfolgung und Vernichtung im drittenReich und weit uumlber dessen Grenzen hinaus

Umso sonderbarer ist es dass es uumlber diese zentrale Figur des nS-Terror-regimes fast sieben Jahrzehnte nach ende des Zweiten Weltkriegs noch immerkeine wissenschaftlichen anspruumlchen genuumlgende empirisch gesaumlttigte Studie gibtdie mehr bietet als die gaumlngigen Klischees vom raquojungen boumlsen Todesgottlaquo oderdas irrefuumlhrende Bild des ideologisch gleichguumlltigen allein karriereorientiertenraquoManagers des Massenmordeslaquo1 erstaunlich auch dass die wohl wichtigste Studiezu heydrichs fruumlhem Leben schon mehr als vierzig Jahre zuruumlckliegt 1967 legteder israelische historiker Shlomo aronson eine wichtige allerdings jenseits der

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historischen Zunft kaum beachtete dissertation uumlber die Rolle heydrichs in derFruumlhgeschichte der Gestapo und des Sd vor ndash der beiden Organisationen dieheydrich bis zu seinem Tod leitete2

in aronsons arbeit die mit der vollstaumlndigen Kontrolle der deutschen Poli-zei durch die SS im Jahr 1936 endet wird eine Fuumllle von Material ausgebreitetdennoch ist sie keine Biographie im eigentlichen Sinne dem autor der wichtigezeitgenoumlssische aussagen uumlber heydrichs Kindheit und Jugend sammelte kommtauch das Verdienst zu einen langlebigen Mythos widerlegt zu haben der bereitswaumlhrend heydrichs Jugend in halle an der Saale aufkam und trotz groumlszligter an-strengungen der Familie ihn zu widerlegen immer wieder von ehemaligen SS-Kollegen und fruumlhen Biographen neu belebt wurde den Mythos von heydrichsjuumldischer abstammung So behauptete etwa himmlers finnischer Masseur FelixKersten ndash vermutlich um den absatz seiner weitgehend unzuverlaumlssigen Memoi-ren zu steigern ndash sowohl der Reichsfuumlhrer SS als auch hitler haumltten seit anfangder dreiszligiger Jahre von heydrichs raquodunklem Geheimnislaquo gewusst sich jedochentschieden raquoden hochbegabte[n] aber auch sehr gefaumlhrliche[n] Mannlaquo mit denmoumlrderischsten aufgaben des Regimes zu betrauen3 das trug dazu bei dass sichder an und fuumlr sich leicht zu entkraumlftende Mythos von heydrichs juumldischer ab-stammung selbst unter serioumlsen historikern als zaumlhlebig erwies der OxforderGeschichtsprofessor hugh Trevor-Roper etwa schrieb im Vorwort zur englischenausgabe von Kerstens Memoiren raquonach aller Kenntnis uumlber die ich verfuumlgelaquo seiheydrich ein Jude gewesen ndash eine These die renommierte deutsche historikerwie Karl dietrich Bracher und der hitler-Biograph Joachim Fest unkritisch uumlber-nahmen4 als schizophrener von antisemitischem Selbsthass getriebener Fanati-ker so mutmaszligte Fest habe heydrich sich stets beweisen muumlssen er habe sichzu einem Mann raquowie ein Peitschenknalllaquo entwickelt habe den Terrorapparat desdritten Reiches mit raquoseiner luziferischen Gefuumlhlskaumlltelaquo geleitet stets mit demfesten Ziel vor augen eines Tages hitlers raquonachfolgerlaquo zu werden5

Fests psychologisierende charakterstudie uumlber heydrich beruhte nicht zu-letzt auf den aussagen ehemaliger Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshaupt-amt (RSha) die aus apologetischer absicht versucht hatten ihre eigene Verant-wortung fuumlr die Verbrechen des dritten Reiches kleinzureden und ihren chef zuraquodaumlmonisierenlaquo als heydrich himmler und hitler tot waren und das dritteReich in Truumlmmern lag suchten unter anderen ranghohe SS-Offiziere in alliierterKriegsgefangenschaft die Verantwortung auf ihre ehemaligen Vorgesetztenabzuwaumllzen und zu raquobeweisenlaquo dass sie lediglich Befehle ausgefuumlhrt haumlttendr Werner Best etwa heydrichs langjaumlhriger Stellvertreter charakterisierte sei-nen toten chef als die raquodaumlmonischstelaquo Figur des dritten Reiches Widerspruch

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habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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raquoReichskristallnachtlaquo 157das ende der Tschechoslowakei 165raquoUnternehmen Tannenberglaquo 169

kapitel viExperimente mit Massenmorden 177

die invasion Polens 177errichtung einer neuen Rassenordnung 186Judenverfolgung im besetzten Polen 192Terror an der heimatfront 201

kapitel viiIm Krieg mit der Welt 215

nach Westen 215der Madagaskar-Plan 221Vorbereitung auf den totalen Krieg 229raquoUnternehmen Barbarossalaquo 236Schicksalhafte entscheidungen 244Wannsee 258

kapitel viiiReichsprotektor 269

das Protektorat Boumlhmen und Maumlhren 269raquoBefriedunglaquo der Tschechen 277das Regieren eines Staates 281Wirtschaftliche ausbeutung 289die Germanisierung des Protektorats 297ausweitung der Judenvernichtung 311Kulturimperialismus 318der erstarkende Widerstand 327

kapitel ixVermaumlchtnisse der Zerstoumlrung 337

dank 355anmerkungen 357Bibliographie 433Verzeichnis der abkuumlrzungen 472Personenregister 473Bildnachweis 479

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Reinhard heydrich der chef des Reichssicherheitshauptamtes verkoumlrpert wiekaum ein anderer die fuumlr den nationalsozialistischen Terrorapparat charakteris-tische Kombination aus beflissener effizienz fanatischer ideologie und kaltemVerbrechertum angezogen und zugleich abgestoszligen hat diese Figur des zyni-schen raquoTodesengelslaquo Journalisten Schriftsteller und Filmregisseure deren Fan-tasie durch heydrich und seinen gewaltsamen Tod in Prag immer wieder befluuml-gelt wurde Seine steile Karriere im raquodritten Reichlaquo das attentat und dessenblutige Folgen bis hin zur Zerstoumlrung des boumlhmischen dorfes Lidice haben denStoff geliefert fuumlr mehr als ein dutzend dokumentarfilme und Werke der cine-matographischen Kriegspropaganda darunter den von Fritz Lang und BertoltBrecht 1943 in hollywood produzierten Film Hangmen also Die heinrich MannsRoman Lidice (1942) setzte den Opfern nationalsozialistischer Repression nachdem attentat schon fruumlh ein literarisches denkmal waumlhrend Laurent Binets 2010erschienenes Werk HHhH fuumlr das der Schriftsteller den wichtigsten franzoumlsi-schen Literaturpreis den Prix Goncourt erhielt von heydrichs Leben handelt

das bis heute anhaltende interesse laumlsst sich leicht erklaumlren Obwohl Rein-hard heydrich zum Zeitpunkt des attentats durch tschechische Fallschirmagen-ten erst 38 Jahre alt war spielte er eine zentrale Rolle innerhalb des komplexenMachtsystems des dritten Reichesals Leiter der Terrorzentrale der nS-diktaturdes Reichssicherheitshauptamtes stellvertretender Reichsprotektor von Boumlhmenund Maumlhren chefplaner der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo und Vorsitzenderder Wannsee-Konferenz stand er fuumlr Verfolgung und Vernichtung im drittenReich und weit uumlber dessen Grenzen hinaus

Umso sonderbarer ist es dass es uumlber diese zentrale Figur des nS-Terror-regimes fast sieben Jahrzehnte nach ende des Zweiten Weltkriegs noch immerkeine wissenschaftlichen anspruumlchen genuumlgende empirisch gesaumlttigte Studie gibtdie mehr bietet als die gaumlngigen Klischees vom raquojungen boumlsen Todesgottlaquo oderdas irrefuumlhrende Bild des ideologisch gleichguumlltigen allein karriereorientiertenraquoManagers des Massenmordeslaquo1 erstaunlich auch dass die wohl wichtigste Studiezu heydrichs fruumlhem Leben schon mehr als vierzig Jahre zuruumlckliegt 1967 legteder israelische historiker Shlomo aronson eine wichtige allerdings jenseits der

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historischen Zunft kaum beachtete dissertation uumlber die Rolle heydrichs in derFruumlhgeschichte der Gestapo und des Sd vor ndash der beiden Organisationen dieheydrich bis zu seinem Tod leitete2

in aronsons arbeit die mit der vollstaumlndigen Kontrolle der deutschen Poli-zei durch die SS im Jahr 1936 endet wird eine Fuumllle von Material ausgebreitetdennoch ist sie keine Biographie im eigentlichen Sinne dem autor der wichtigezeitgenoumlssische aussagen uumlber heydrichs Kindheit und Jugend sammelte kommtauch das Verdienst zu einen langlebigen Mythos widerlegt zu haben der bereitswaumlhrend heydrichs Jugend in halle an der Saale aufkam und trotz groumlszligter an-strengungen der Familie ihn zu widerlegen immer wieder von ehemaligen SS-Kollegen und fruumlhen Biographen neu belebt wurde den Mythos von heydrichsjuumldischer abstammung So behauptete etwa himmlers finnischer Masseur FelixKersten ndash vermutlich um den absatz seiner weitgehend unzuverlaumlssigen Memoi-ren zu steigern ndash sowohl der Reichsfuumlhrer SS als auch hitler haumltten seit anfangder dreiszligiger Jahre von heydrichs raquodunklem Geheimnislaquo gewusst sich jedochentschieden raquoden hochbegabte[n] aber auch sehr gefaumlhrliche[n] Mannlaquo mit denmoumlrderischsten aufgaben des Regimes zu betrauen3 das trug dazu bei dass sichder an und fuumlr sich leicht zu entkraumlftende Mythos von heydrichs juumldischer ab-stammung selbst unter serioumlsen historikern als zaumlhlebig erwies der OxforderGeschichtsprofessor hugh Trevor-Roper etwa schrieb im Vorwort zur englischenausgabe von Kerstens Memoiren raquonach aller Kenntnis uumlber die ich verfuumlgelaquo seiheydrich ein Jude gewesen ndash eine These die renommierte deutsche historikerwie Karl dietrich Bracher und der hitler-Biograph Joachim Fest unkritisch uumlber-nahmen4 als schizophrener von antisemitischem Selbsthass getriebener Fanati-ker so mutmaszligte Fest habe heydrich sich stets beweisen muumlssen er habe sichzu einem Mann raquowie ein Peitschenknalllaquo entwickelt habe den Terrorapparat desdritten Reiches mit raquoseiner luziferischen Gefuumlhlskaumlltelaquo geleitet stets mit demfesten Ziel vor augen eines Tages hitlers raquonachfolgerlaquo zu werden5

Fests psychologisierende charakterstudie uumlber heydrich beruhte nicht zu-letzt auf den aussagen ehemaliger Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshaupt-amt (RSha) die aus apologetischer absicht versucht hatten ihre eigene Verant-wortung fuumlr die Verbrechen des dritten Reiches kleinzureden und ihren chef zuraquodaumlmonisierenlaquo als heydrich himmler und hitler tot waren und das dritteReich in Truumlmmern lag suchten unter anderen ranghohe SS-Offiziere in alliierterKriegsgefangenschaft die Verantwortung auf ihre ehemaligen Vorgesetztenabzuwaumllzen und zu raquobeweisenlaquo dass sie lediglich Befehle ausgefuumlhrt haumlttendr Werner Best etwa heydrichs langjaumlhriger Stellvertreter charakterisierte sei-nen toten chef als die raquodaumlmonischstelaquo Figur des dritten Reiches Widerspruch

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habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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Reinhard heydrich der chef des Reichssicherheitshauptamtes verkoumlrpert wiekaum ein anderer die fuumlr den nationalsozialistischen Terrorapparat charakteris-tische Kombination aus beflissener effizienz fanatischer ideologie und kaltemVerbrechertum angezogen und zugleich abgestoszligen hat diese Figur des zyni-schen raquoTodesengelslaquo Journalisten Schriftsteller und Filmregisseure deren Fan-tasie durch heydrich und seinen gewaltsamen Tod in Prag immer wieder befluuml-gelt wurde Seine steile Karriere im raquodritten Reichlaquo das attentat und dessenblutige Folgen bis hin zur Zerstoumlrung des boumlhmischen dorfes Lidice haben denStoff geliefert fuumlr mehr als ein dutzend dokumentarfilme und Werke der cine-matographischen Kriegspropaganda darunter den von Fritz Lang und BertoltBrecht 1943 in hollywood produzierten Film Hangmen also Die heinrich MannsRoman Lidice (1942) setzte den Opfern nationalsozialistischer Repression nachdem attentat schon fruumlh ein literarisches denkmal waumlhrend Laurent Binets 2010erschienenes Werk HHhH fuumlr das der Schriftsteller den wichtigsten franzoumlsi-schen Literaturpreis den Prix Goncourt erhielt von heydrichs Leben handelt

das bis heute anhaltende interesse laumlsst sich leicht erklaumlren Obwohl Rein-hard heydrich zum Zeitpunkt des attentats durch tschechische Fallschirmagen-ten erst 38 Jahre alt war spielte er eine zentrale Rolle innerhalb des komplexenMachtsystems des dritten Reichesals Leiter der Terrorzentrale der nS-diktaturdes Reichssicherheitshauptamtes stellvertretender Reichsprotektor von Boumlhmenund Maumlhren chefplaner der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo und Vorsitzenderder Wannsee-Konferenz stand er fuumlr Verfolgung und Vernichtung im drittenReich und weit uumlber dessen Grenzen hinaus

Umso sonderbarer ist es dass es uumlber diese zentrale Figur des nS-Terror-regimes fast sieben Jahrzehnte nach ende des Zweiten Weltkriegs noch immerkeine wissenschaftlichen anspruumlchen genuumlgende empirisch gesaumlttigte Studie gibtdie mehr bietet als die gaumlngigen Klischees vom raquojungen boumlsen Todesgottlaquo oderdas irrefuumlhrende Bild des ideologisch gleichguumlltigen allein karriereorientiertenraquoManagers des Massenmordeslaquo1 erstaunlich auch dass die wohl wichtigste Studiezu heydrichs fruumlhem Leben schon mehr als vierzig Jahre zuruumlckliegt 1967 legteder israelische historiker Shlomo aronson eine wichtige allerdings jenseits der

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historischen Zunft kaum beachtete dissertation uumlber die Rolle heydrichs in derFruumlhgeschichte der Gestapo und des Sd vor ndash der beiden Organisationen dieheydrich bis zu seinem Tod leitete2

in aronsons arbeit die mit der vollstaumlndigen Kontrolle der deutschen Poli-zei durch die SS im Jahr 1936 endet wird eine Fuumllle von Material ausgebreitetdennoch ist sie keine Biographie im eigentlichen Sinne dem autor der wichtigezeitgenoumlssische aussagen uumlber heydrichs Kindheit und Jugend sammelte kommtauch das Verdienst zu einen langlebigen Mythos widerlegt zu haben der bereitswaumlhrend heydrichs Jugend in halle an der Saale aufkam und trotz groumlszligter an-strengungen der Familie ihn zu widerlegen immer wieder von ehemaligen SS-Kollegen und fruumlhen Biographen neu belebt wurde den Mythos von heydrichsjuumldischer abstammung So behauptete etwa himmlers finnischer Masseur FelixKersten ndash vermutlich um den absatz seiner weitgehend unzuverlaumlssigen Memoi-ren zu steigern ndash sowohl der Reichsfuumlhrer SS als auch hitler haumltten seit anfangder dreiszligiger Jahre von heydrichs raquodunklem Geheimnislaquo gewusst sich jedochentschieden raquoden hochbegabte[n] aber auch sehr gefaumlhrliche[n] Mannlaquo mit denmoumlrderischsten aufgaben des Regimes zu betrauen3 das trug dazu bei dass sichder an und fuumlr sich leicht zu entkraumlftende Mythos von heydrichs juumldischer ab-stammung selbst unter serioumlsen historikern als zaumlhlebig erwies der OxforderGeschichtsprofessor hugh Trevor-Roper etwa schrieb im Vorwort zur englischenausgabe von Kerstens Memoiren raquonach aller Kenntnis uumlber die ich verfuumlgelaquo seiheydrich ein Jude gewesen ndash eine These die renommierte deutsche historikerwie Karl dietrich Bracher und der hitler-Biograph Joachim Fest unkritisch uumlber-nahmen4 als schizophrener von antisemitischem Selbsthass getriebener Fanati-ker so mutmaszligte Fest habe heydrich sich stets beweisen muumlssen er habe sichzu einem Mann raquowie ein Peitschenknalllaquo entwickelt habe den Terrorapparat desdritten Reiches mit raquoseiner luziferischen Gefuumlhlskaumlltelaquo geleitet stets mit demfesten Ziel vor augen eines Tages hitlers raquonachfolgerlaquo zu werden5

Fests psychologisierende charakterstudie uumlber heydrich beruhte nicht zu-letzt auf den aussagen ehemaliger Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshaupt-amt (RSha) die aus apologetischer absicht versucht hatten ihre eigene Verant-wortung fuumlr die Verbrechen des dritten Reiches kleinzureden und ihren chef zuraquodaumlmonisierenlaquo als heydrich himmler und hitler tot waren und das dritteReich in Truumlmmern lag suchten unter anderen ranghohe SS-Offiziere in alliierterKriegsgefangenschaft die Verantwortung auf ihre ehemaligen Vorgesetztenabzuwaumllzen und zu raquobeweisenlaquo dass sie lediglich Befehle ausgefuumlhrt haumlttendr Werner Best etwa heydrichs langjaumlhriger Stellvertreter charakterisierte sei-nen toten chef als die raquodaumlmonischstelaquo Figur des dritten Reiches Widerspruch

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habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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15einleitung

stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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historischen Zunft kaum beachtete dissertation uumlber die Rolle heydrichs in derFruumlhgeschichte der Gestapo und des Sd vor ndash der beiden Organisationen dieheydrich bis zu seinem Tod leitete2

in aronsons arbeit die mit der vollstaumlndigen Kontrolle der deutschen Poli-zei durch die SS im Jahr 1936 endet wird eine Fuumllle von Material ausgebreitetdennoch ist sie keine Biographie im eigentlichen Sinne dem autor der wichtigezeitgenoumlssische aussagen uumlber heydrichs Kindheit und Jugend sammelte kommtauch das Verdienst zu einen langlebigen Mythos widerlegt zu haben der bereitswaumlhrend heydrichs Jugend in halle an der Saale aufkam und trotz groumlszligter an-strengungen der Familie ihn zu widerlegen immer wieder von ehemaligen SS-Kollegen und fruumlhen Biographen neu belebt wurde den Mythos von heydrichsjuumldischer abstammung So behauptete etwa himmlers finnischer Masseur FelixKersten ndash vermutlich um den absatz seiner weitgehend unzuverlaumlssigen Memoi-ren zu steigern ndash sowohl der Reichsfuumlhrer SS als auch hitler haumltten seit anfangder dreiszligiger Jahre von heydrichs raquodunklem Geheimnislaquo gewusst sich jedochentschieden raquoden hochbegabte[n] aber auch sehr gefaumlhrliche[n] Mannlaquo mit denmoumlrderischsten aufgaben des Regimes zu betrauen3 das trug dazu bei dass sichder an und fuumlr sich leicht zu entkraumlftende Mythos von heydrichs juumldischer ab-stammung selbst unter serioumlsen historikern als zaumlhlebig erwies der OxforderGeschichtsprofessor hugh Trevor-Roper etwa schrieb im Vorwort zur englischenausgabe von Kerstens Memoiren raquonach aller Kenntnis uumlber die ich verfuumlgelaquo seiheydrich ein Jude gewesen ndash eine These die renommierte deutsche historikerwie Karl dietrich Bracher und der hitler-Biograph Joachim Fest unkritisch uumlber-nahmen4 als schizophrener von antisemitischem Selbsthass getriebener Fanati-ker so mutmaszligte Fest habe heydrich sich stets beweisen muumlssen er habe sichzu einem Mann raquowie ein Peitschenknalllaquo entwickelt habe den Terrorapparat desdritten Reiches mit raquoseiner luziferischen Gefuumlhlskaumlltelaquo geleitet stets mit demfesten Ziel vor augen eines Tages hitlers raquonachfolgerlaquo zu werden5

Fests psychologisierende charakterstudie uumlber heydrich beruhte nicht zu-letzt auf den aussagen ehemaliger Mitarbeiter aus dem Reichssicherheitshaupt-amt (RSha) die aus apologetischer absicht versucht hatten ihre eigene Verant-wortung fuumlr die Verbrechen des dritten Reiches kleinzureden und ihren chef zuraquodaumlmonisierenlaquo als heydrich himmler und hitler tot waren und das dritteReich in Truumlmmern lag suchten unter anderen ranghohe SS-Offiziere in alliierterKriegsgefangenschaft die Verantwortung auf ihre ehemaligen Vorgesetztenabzuwaumllzen und zu raquobeweisenlaquo dass sie lediglich Befehle ausgefuumlhrt haumlttendr Werner Best etwa heydrichs langjaumlhriger Stellvertreter charakterisierte sei-nen toten chef als die raquodaumlmonischstelaquo Figur des dritten Reiches Widerspruch

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habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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15einleitung

stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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habe er nicht geduldetWalter Schellenberg der juumlngste Leiter einer amtsgruppeim Reichssicherheitshauptamt sprach von einem Mann mit raquoraubtieraumlhnlicheminstinktlaquo und der raquoGabelaquo raquodie persoumlnlichen fachlichen aber auch die politi-schen Schwaumlchen anderer Menschen sofort zu erkennenlaquo und diese Kenntnisdann im richtigen augenblick auszunutzenVor dem chef so der Tenor der aus-sagen von heydrichs engsten Mitarbeitern nach 1945 haumltten sich alle im Reichs-sicherheitshauptamt gefuumlrchtet6

die in der unmittelbaren nachkriegszeit verbreitete Wahrnehmung von SS-Fuumlhrern als furchteinfloumlszligenden raquodaumlmonenlaquo wurde zunehmend fragwuumlrdig alssich heydrichs chefberater in raquojuumldischen angelegenheitenlaquoadolf eichmann indem weltweit aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem 1961 als alles andere dennals raquodaumlmonischelaquo Figur entpuppte Blass unsicher und unterwuumlrfig trat hier einerder haupttaumlter der Shoah auf und praumlsentierte sich als langweiliger Befehlsemp-faumlnger als Personifizierung der raquoBanalitaumlt des Boumlsenlaquo7

angestoszligen durch den eichmann-Prozess und eine bahnbrechende zu ebendieser Zeit veroumlffentlichte holocaust-Studie von Raul hilberg wurde die Shoahzunehmend als ergebnis eines buumlrokratisch-technisierten Prozesses beschrieben8

es waren Buumlrokraten Aumlrzte und Wirtschaftsfachleute demographen und agro-nomen in schwarzen Uniformen die ihre Opfer auf der Grundlage amoralischeraber scheinbar raquorationalerlaquo entscheidungen die aus rassehygienischen und geo-politischen erwaumlgungen und oumlkonomischen Planungen resultierten hochtechni-sierten Todesfabriken uumlberantworteten9 in dem SS-Personal das an diesen raquoste-rilenlaquo Massenmorden beteiligt war sah man dementsprechend raquounsentimentaleTechnokraten der Machtlaquo diese Sichtweise uumlbte einen starken einfluss auf die bisheute wohl am weitesten verbreitete populaumlrwissenschaftliche heydrich-Biogra-phie aus Guumlnther deschners 1977 erschienenen Statthalter der totalen Machtdeschner folgte dem vorherrschenden Trend der 1970er und 1980er Jahre indemer heydrich als modernen Manager des Massenmordes darstellte dem es primaumlrum effizienz Leistungssteigerung und raquototale Machtlaquo gegangen sei und dem dienationalsozialistische Weltanschauung zunaumlchst und vor allem dazu gedient habeim dritten Reich Karriere zu machen10

an der populaumlren Wahrnehmung heydrichs als gefuumlhlskaltem ideologischdesinteressiertem Manager des Genozids hat sich uumlber die Jahre wenig geaumlndertobwohl die axiome auf die sich dieses Bild stuumltzt in den letzten beiden Jahrzehn-ten von der Taumlterforschung zunehmend in Zweifel gezogen worden sind erstenshat eine Reihe von wichtigen Regionalstudien uumlber die besetzten Gebiete in Ost-europa in erinnerung gerufen dass die Vernichtung der Juden keineswegs nurraquoindustrielllaquo vonstatten ging sondern vielfach das ergebnis blutiger erschie-

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szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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42 ii der junge reinhard

henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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szligungsaktionen war an denen die vermeintlichen raquoSchreibtischtaumlterlaquo aus demRSha oftmals als Kommandierende Offiziere teilnahmen Zweitens steht in-zwischen fest dass die nationalsozialistische Weltanschauung bei den hohenSS-Fuumlhrern eine wesentliche Rolle als handlungsleitendes Motiv gespielt hat undjeder Versuch in ihnen entweder kranke auszligenseiter oder rein karriereorien-tierte administratoren zu sehen in houmlchstem Maszlige irrefuumlhrend ist in zahl-reichen einzelbiographien aus juumlngster Zeit uumlber einige hochrangige SS-Fuumlhrerwie heinrich himmler ernst Kaltenbrunner adolf eichmann und Werner Best11

sowie in zwei bahnbrechenden gruppenbiographischen Studien uumlber das Fuumlh-rungspersonal in heydrichs Reichssicherheitshauptamt wurde zudem dokumen-tiert dass die meisten SS-Taumlter uumlber eine weit uumlberdurchschnittliche Bildungverfuumlgten es handelte sich in der Regel um aufstiegsorientierte ehrgeizige Uni-versitaumltsabsolventen die zumeist aus intakten Familien kamen und keineswegswie lange angenommen um angehoumlrige einer gestoumlrten Minderheit oder extre-misten vom kriminellen Rand ndash ganz im Gegenteil die Taumlter waren junge Maumln-ner aus der Mitte der deutschen Gesellschaft12

die Befunde der kollektivbiographischen Studien zum Reichssicherheits-hauptamt sind fuumlr einen Biographen heydrichs zweifellos von zentraler Bedeu-tung doch zugleich werfen sie Fragen auf zu den Grenzen der gruppenbiogra-phischen Methode War heydrich ein typischer Vertreter der aufstiegsorientiertenund ideologisch zutiefst vom nationalsozialismus uumlberzeugten raquoGeneration desUnbedingtenlaquo die dem Reichssicherheitshauptamt sein besonderes ethos ver-lieh Gehoumlrte er zu denen die zunehmend bereit waren millionenfachen Mordin Kauf zu nehmen und so hitlers dystopische Welterneuerungsfantasien zurgrausamen Wirklichkeit werden zu lassen Oder war er schlicht einer jener raquoganznormalenlaquo deutschen die unter den radikalisierenden einfluumlssen der national-sozialistischen ideologie und der ausufernden Gewalt des Zweiten Weltkriegsihre aufgabe darin sahen die zum Problem erklaumlrte raquoJudenfragelaquo durch Massen-mord zu loumlsen13

in dem hier vorliegenden Buch wird gezeigt dass gruppenbiographische er-klaumlrungen allein nicht ausreichen wenn man zu heydrichs Leben und Wirkenangemessene aussagen treffen will da dieser ein typischer wie ein atypischerVetreter der raquoGeneration des Unbedingtenlaquo war der aufstieg des 1904 in hallean der Saale geborenen Sohnes einer wohlhabenden katholischen Musikerfami-lie seine Transformation vom unsicheren und eher apolitischen einzelgaumlngerzum selbstbewusst auftretenden und ideologisch gefestigten Leiter des RShaund zum Organisator des holocaust verlief deutlich anders als bei vielen seinerspaumlteren Untergebenen

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auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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13einleitung

auf der einen Seite teilte der junge heydrich die Krisenerfahrungen seinerGeneration die Kriegsniederlage von 1918 die Revolution und die hyperinflationder fruumlhen 1920er Jahre doch wurde er im Unterschied zu den meisten anderenspaumlteren Spitzenfunktionaumlren des raquodritten Reicheslaquo durch sie weder zum gluuml-henden antisemiten noch zum Parteigaumlnger der jungen nationalsozialistischenBewegung durch den wirtschaftlichen niedergang seiner Familie der Moumlglich-keit beraubt eine aumlhnliche Karriere anzustreben wie der Vater ein OpernsaumlngerKomponist und Konservatoriumsdirektor ging heydrich 1922 zur Reichsmarinedie in den unsicheren Zeiten ein sicheres einkommen und gesellschaftliches an-sehen versprach doch 1931 auf dem houmlhepunkt der Weltwirtschaftskrise wurdeer wegen eines gebrochenen heiratsversprechens und seines arroganten auftre-tens vor dem zur Klaumlrung der affaumlre zusammengetretenen militaumlrischen ehren-rat aus der Marine ausgeschlossen diese unehrenhafte entlassung war der Wen-depunkt in heydrichs Leben der arbeitslose junge Mann ohne Zukunft undfamiliaumlre Unterstuumltzung beugte sich dem druck seiner neuen Verlobten der gluuml-henden nationalsozialistin Lina von Osten und bewarb sich um einen Verwal-tungsposten bei der damals noch winzigen SS in Muumlnchen Bis zu diesem Zeit-punkt haumltte sein Leben einen ganz anderen Verlauf nehmen koumlnnen denn auszligergroszligem ehrgeiz und dem verbissenen Willen nie wieder zu scheitern besaszlig erwenige offensichtliche Talente fuumlr seine spaumltere Rolle als chef des Sd oder alsOrganisator des Massenmordes im Weltkrieg

heydrichs politische Radikalisierung die rasche aneignung der nS-ideolo-gie und die gekonnte Selbststilisierung als raquoidealer SS-Mannlaquo faumlllt somit erst indie Jahre 1931 bis 1936 entscheidend fuumlr diese entwicklung waren die erfahrun-gen und persoumlnlichen Begegnungen die er innerhalb der SS machte also in einemvergleichsweise homogenen politischen Milieu aus ideologisch radikalen undaufstiegsorientierten jungen Maumlnnern hier gab man sich Gewaltfantasien hintraumlumte davon deutschland von seinen raquoinneren Feindenlaquo zu saumlubern die buumlr-gerlichen Moralvorstellungen der Vaumltergeneration lehnten sie ab Sie galten alsuumlberholt und geradezu hinderlich wenn man die raquonationale Wiedergeburtlaquodeutschlands anstrebte

die rauschhafte erfahrung des rasanten aufstiegs nach hitlers Regierungs-uumlbernahme von 1933 durch die der eben noch beruflich gescheiterte ehemaligeOberleutnant in die Lage versetzt wurde auf staumlndig wachsende Machtressour-cen zuruumlckzugreifen sollte heydrich in dem Glauben bestaumlrken dass seinehinwendung zur radikalsten Organisation innerhalb der nS-Bewegung richtiggewesen war auch fuumlr die Zukunft schien dieser Weg ihm noch weitere auf-stiegschancen zu eroumlffnen auf der anderen Seite foumlrderten Zuruumlcksetzungen

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14 einleitung

die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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die er waumlhrend seines aufstiegs immer wieder erfuhr seine abneigung gegennS-Parteifunktionaumlre Gauleiter Ministerialbeamte und Militaumlrs in denen er dieVerantwortlichen fuumlr Verwaumlsserungen der raquoreinen Lehrelaquo und ndash nach 1941 ndash fuumlrausbleibende Fronterfolge sah

die Mittel und das Ziel der nationalsozialistischen Unterdruumlckungs- undVerfolgungspolitik wie sie von heydrich und himmler verantwortet wurdesollten sich zwischen 1933 und 1942 dramatisch veraumlndern zum Teil in Reaktionauf Umstaumlnde und ereignisse jenseits der Kontrolle heydrichs ndash vom ausbruchdes Zweiten Weltkriegs bis hin zum Scheitern verschiedener deportations-plaumlne ndash zum Teil infolge des Machbarkeitswahns der viele hohe SS-FuumlhrerMilitaumlrs und raquoRassehygienikerlaquo nach dem deutschen Uumlberfall auf Polen erfassteeine Mischung aus kriegsbedingter Brutalisierung enttaumluschung uumlber fehl-geschlagene Vertreibungsplaumlne druck von lokalen deutschen Verwaltern imbesetzten Osten und nicht zuletzt die weltanschaulich motivierte entschlossen-heit die raquoJudenfragelaquo ein fuumlr alle Mal zu loumlsen fuumlhrte zu jener raquokumulati-ven Radikalisierunglaquo die sich schlieszliglich in zuumlgellosen Massenmorden nieder-schlug14

die raquoLoumlsung der Judenfragelaquo fuumlr die heydrich seit ende der dreiszligiger Jahredie unmittelbare Verantwortung trug war allerdings lediglich ein erster Schrittauf dem Weg zur blutigen entflechtung der komplexen ethnischen Zusammen-setzung europas durch ein groszlig angelegtes Projekt der Vertreibung Umsiedlungund ermordung von Millionen raquonichtarischerlaquo Menschen in Mittel- und Ost-europa15 Vor diesem hintergrund war es folgerichtig dass heydrich im September1941 ndash nur zwei Monate nach dem Beginn des raquoUnternehmens Barbarossalaquo und ineinem entscheidenden augenblick des Uumlbergangs vom Massenmord an sowjeti-schen und serbischen Juden zum europaweiten Genozid ndash zum stellvertretendenReichsprotektor von Boumlhmen und Maumlhren ernannt wurde dies hatte auch mitdem wachsenden Widerstand im Protektorat zu tun der die Produktivitaumlt derkriegswichtigen tschechischen Ruumlstungsindustrie bedrohte doch nicht zuletzt hathitler Reinhard heydrich nach Prag entsandt mit der aufgabe dort die naumlchstePhase der nationalsozialistischen Rassenpolitik einzuleiten und zu uumlberwachendenn er hatte soeben die deportation aller Juden aus deutschland und dem Pro-tektorat sanktioniert daruumlber hinaus musste die restlose Germanisierung desProtektorats also die vollstaumlndige rassische politische und kulturelle eingliede-rung von Boumlhmen und Maumlhren ins deutsche Reich nach dem siegreichen ab-schluss des Zweiten Weltkriegs vorbereitet werden

heydrichs Werden und Wirken eroumlffnet somit einen intimen und organi-schen Blick auf einige zentrale aspekte der nS-diktatur von denen viele in der

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stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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15einleitung

stark spezialisierten Literatur zum dritten Reich separat behandelt werden undbietet die Moumlglichkeit ein Gesamtpanorama zu erstellen das weit uumlber eine kon-ventionelle Lebensbeschreibung hinausgeht dieses kann deutlich machen wieund wo heydrichs Lebensweg durch bewusste persoumlnliche entscheidungen ge-praumlgt wurde wann ereignisse die er nicht vorhersehen konnte und Strukturendie in der Regel seiner Kontrolle entzogen waren ihn lenkten das gilt nicht nurfuumlr seine Jugend im Schatten des ersten Weltkrieges und den sozialen niedergangseiner eltern sondern auch fuumlr seinen aufstieg seine handlungsspielraumlume undchancen im dritten Reich Letztlich lassen sich seine handlungen und politi-schen Uumlberzeugungen nur dann befriedigend erklaumlren wenn sie in den Kontextder intellektuellen politischen kulturellen und soziooumlkonomischen Rahmen-bedingungen gestellt werden von denen die deutsche Geschichte in der erstenhaumllfte des 20 Jahrhunderts gepraumlgt war

im vorliegenden Buch sind daher private Lebensgeschichte politische Bio-graphie und Strukturgeschichte verschraumlnkt und es wird einblick geboten in alljene Bereiche in denen heydrich Verantwortung trug vom auf- und ausbau desraquoSS-Staateslaquo im dritten Reich uumlber die Verfolgung politischer und rassischerGegner bis hin zum holocaust und der Germanisierungspolitik in Boumlhmen undMaumlhren auf einer staumlrker personalisierten ebene werden die historischen Um-staumlnde beleuchtet unter denen junge Maumlnner aus vollkommen raquonormalenlaquo Fa-milien der buumlrgerlichen Mittelschicht zu politischen extremisten und Massen-moumlrdern werden konnten

Bei der annaumlherung an das schwierige Thema wurde ein ansatz gewaumlhlt dersich am besten als raquokalte empathielaquo beschreiben laumlsst es ist der Versuch heyd-richs Leben mit kritischer distanz zu rekonstruieren ohne jedoch der Gefahr zuerliegen die Rolle des historikers mit der eines Staatsanwalts bei einem Kriegs-verbrecherprozess zu verwechseln die zentrale aufgabe des historikers ist eshandlungsmotivationen Strukturen und Kontexte zu erklaumlren weshalb ich michbemuumlht habe den teilweise reiszligerischen Ton fruumlherer Biographien zu vermeidenheydrichs handlungen seine ausdrucksweise und sein Verhalten sprechenohnehin fuumlr sich und offenbaren uns einen zunehmend von der eigenen ideolo-gischen Sendung uumlberzeugten genozidalen Massenmoumlrder aus der Mitte derdeutschen Gesellschaft

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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41die familie heydrich

waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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42 ii der junge reinhard

henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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Heydrichs offener Mercedesnach dem Anschlag in Prag27 Mai 1942

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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35die familie heydrich

der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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kapitel iTod in Prag

der 27 Mai 1942 war ein strahlend schoumlner Fruumlhlingstag der Morgen daumlmmerteklar und verheiszligungsvoll uumlber den boumlhmischen Landen nach einem langen undungewoumlhnlich kalten Winter war endlich der Fruumlhling gekommen die Baumlumestanden in voller Bluumlte und die Kellner in den Prager Straszligencafeacutes hatten allehaumlnde voll zu tun1

Seit 1939 war das Land von der deutschen Wehrmacht besetzt Kaum zwanzigKilometer noumlrdlich der hauptstadt im Park seines ausgedehnten LandsitzesJungfern-Breschan (Panenskeacute Břežany) spielte der unbestrittene herrscher desraquoProtektorats Boumlhmen und Maumlhrenlaquo und chef des nationalsozialistischen Ter-rorapparats Reinhard heydrich mit seinen beiden kleinen Soumlhnen Klaus undheider waumlhrend seine Frau Lina hochschwanger mit dem vierten Kind ihnenvon der Terrasse aus zusah an der hand das Toumlchterchen Silke2

Privat wie beruflich hatte heydrich allen Grund zur Zufriedenheit im altervon gerade einmal 38 Jahren war er der maumlchtigste Mann in der SS hinter hein-rich himmler er befehligte ein im gesamten besetzten europa operierendes re-pressives netzwerk aus politischen Polizeieinheiten Sd-agenten und SS-einsatz-gruppen die deutsche Kriegserklaumlrung an die Vereinigten Staaten vom dezember1941 und einige empfindliche militaumlrische Ruumlckschlaumlge vor den Toren Moskaushatten zwar ein paar dunkle Wolken uumlber den Fronten aufziehen lassen aberheydrich schien eine glaumlnzende Zukunft bevorzustehen auf der vor wenigenMonaten von ihm einberufenen Wannsee-Konferenz hatte man seine Fuumlhrungs-rolle bei der raquoendloumlsung der Judenfragelaquo bestaumltigt mit deren Planung heydrichim Januar 1939 (und erneut im Juli 1941) betraut worden war Zwar hatten seitdem deutschen einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 die aktivitaumlten desWiderstands uumlberall in europa zugenommen doch heydrich hatte guten Grundzu der annahme dass diese herausforderungen den einfluss der SS in der deut-schen Besatzungspolitik eher staumlrken als schwaumlchen wuumlrden Und auf diesemFeld war heydrich in den augen vieler Beobachter der kommende Mann3

entgegen seiner Gewohnheit sich kurz nach Sonnenaufgang in die Stadtfahren zu lassen verlieszlig heydrich sein Landgut an diesem Morgen erst gegenzehn Uhr Sein Fahrer Johannes Klein wartete bereits in der eingangshalle er

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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sollte den chef in die amtsraumlume auf dem Prager hradschin chauffieren und vondort zum Flughafen von wo das Flugzeug ihn nach Berlin bringen sollte dortwuumlrde er hitler uumlber die politische Lage im Protektorat Bericht erstatten undweitreichende Vorschlaumlge zum weiteren Vorgehen gegen die eskalierenden Wi-derstandsaktivitaumlten im besetzten europa machen Wie gewoumlhnlich verzichteteheydrich bei der kurzen Fahrt in die Stadt auf eine Polizeieskorte als Klein undheydrich in dem offenen Mercedes-dienstwagen Platz nahmen konnten sienicht ahnen dass die Fahrt nach nur wenigen Kilometern im Prager Vorort Libeňan einer haarnadelkurve enden wuumlrde dort warteten naumlmlich bereits drei ausengland eingeflogene tschechoslowakische Fallschirmagenten in ziviler Kleidungzunehmend nervoumls darauf heydrichs Leben ein ende zu setzen4

Plaumlne fuumlr ein attentat auf Reinhard heydrich wurden seit ende September1941 vom britischen Geheimdienst und der tschechoslowakischen exilregierungin London unter Praumlsident edvard Beneš entwickelt die uumlberlieferten Geheim-dienstdokumente zu dem attentat lassen deutlich erkennen dass der Planheydrich zu toumlten aus Verzweiflung geboren worden war Seit der niederlageFrankreichs im Sommer 1940 und der uumlberhasteten evakuierung des britischenexpeditionsheeres aus duumlnkirchen stand die Londoner Fuumlhrung unter starkemdruck die militaumlrische initiative zuruumlckzugewinnen Zwar verschafften die ge-wonnene raquoLuftschlacht um englandlaquo und der deutsche Uumlberfall auf die Sowjet-union im Sommer 1941 Groszligbritannien eine kurze atempause doch der Kriegwar noch lange nicht gewonnen im September 1941 schien ein deutscher Sieguumlber die Sowjetunion sogar in greifbarer naumlhe was bedeutete dass der direkteangriff auf Groszligbritannien nur aufgeschoben war die englaumlnder verstaumlrktendaher ihren druck auf die polnischen franzoumlsischen und tschechischen exil-regierungen in London um in den von den deutschen besetzten Gebieten moumlg-lichst viele Widerstandsnester einzurichten5

insbesondere hugh dalton der britische Minister fuumlr Kriegswirtschaft ver-folgte den Plan hinter den feindlichen Linien subversive Organisationen aufzu-bauen waumlhrend das Kriegsministerium mit nachdruck forderte raquogegen dengravierenden Vertrauensverlust in das britische empire anzukaumlmpfen hellip der seitunseren juumlngsten Ruumlckschlaumlgen um sich greiftlaquo6 Weder dalton noch irgendje-mand sonst im britischen Kabinett hatte allerdings eine klare Vorstellung von denimmensen Schwierigkeiten vor denen die Untergrundorganisationen in den vonder deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten europas standen und sie hattenerst recht keine ahnung wie kompliziert es war selbst kleine Sabotageakte zuveruumlben Uumlberdies wollten die tschechischen und polnischen exilregierungen inPutney und Kensington aus gutem Grund die muumlhsam aufgebauten geheim-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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42 ii der junge reinhard

henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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dienstlichen netze in ihren heimatlaumlndern nicht durch die Organisation ehrgei-ziger Massenaufstaumlnde in Gefahr bringen die angesichts der erdruumlckenden deut-schen Militaumlrpraumlsenz nur scheitern konnten Unter diesen Umstaumlnden bewegtensich die Widerstandsaktivitaumlten gegen die Besatzer im Fruumlhjahr und Sommer1941 auf einem niedrigen niveau doch selbst bei bescheidenen anspruumlchen wardas ergebnis mager Vor allem die Tschechen standen in der Kritik und galten inden augen der englaumlnder als die groumlszligten druumlckeberger Benešrsquo Geheimdienstchefund oberster Militaumlrberater František Moravec erklaumlrte nach dem Krieg in Bezugauf die aktivitaumlten des demokratischen Widerstands in den besetzten Gebietenhabe raquodie Tschechoslowakei stets am ende der Liste gestanden Praumlsident Benešwar diese Tatsache houmlchst unangenehm er sagte mir dass in seinen Beratungenmit Vertretern der alliierten das Thema eines [fehlenden] ernsthaften Wider-stands gegen den Feind mit demuumltigender Beharrlichkeit immer wieder ange-sprochen wurde die Briten und die Russen hart bedraumlngt auf den Schlachtfel-dern hielten Beneš immer wieder vor dass jedes Land unbedingt sein Bestesgeben muumlsse auch die Tschechoslowakeilaquo7

der Mangel an wirkungsvollen tschechischen Widerstandsaktionen gegendie deutsche Besatzungsmacht gefaumlhrdete zusehends Benešrsquo politische Plaumlne fuumlrdie Zeit nach dem Krieg naumlmlich die Wiederherstellung der Tschechoslowakeiin den Grenzen vor 1938 er befuumlrchtete dass ein moumlglicher Verstaumlndigungsfrie-den zwischen deutschland und england das Muumlnchner abkommen von 1938 dasdie deutsche annexion des Sudetenlandes sanktionierte bestaumltigen und sogarBoumlhmen und Maumlhren dauerhaft der einflusssphaumlre des dritten Reiches zuschla-gen koumlnnte Ganz unbegruumlndet waren diese Sorgen nicht denn die britische Re-gierung hatte das Muumlnchner abkommen nach wie vor nicht aufgekuumlndigt ja sieschob jede entscheidung in dieser angelegenheit sogar bewusst vor sich her umBeneš unter druck zu setzen8 am 5 September 1941 schickte daher ein zuneh-mend nervoumlser Beneš der Zentralen Fuumlhrung des heimatwiderstandes (UacuteVOd)in Prag folgenden Funkspruch raquoes ist von groumlszligter Bedeutung von theoretischenPlaumlnen und Vorbereitungen zu Taten uumlberzugehen hellip in London und Moskauwurden wir daruumlber informiert dass die Zerstoumlrung oder zumindest eine spuumlr-bare Beeintraumlchtigung der Ruumlstungsindustrie zum gegenwaumlrtigen Zeitpunkt diedeutschen empfindlich treffen wuumlrde hellip Unsere ganze Position wird in einemdauerhaft unguumlnstigen Licht erscheinen wenn wir nicht mindestens mit den an-deren Schritt haltenlaquo9

Unter dem druck aus London verstaumlrkte die UacuteVOd ihre Sabotageaktionenund koordinierte zwischen dem 14 und 21 September einen erfolgreichen Boy-kott der von den Besatzern kontrollierten Protektoratspresse doch schon eine

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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Woche spaumlter erlebte Beneš eine bittere enttaumluschung denn hitler lieszlig in Reak-tion auf diese entwicklung seinen fuumlr zu raquoweichlaquo befundenen Reichsprotektor inPrag Konstantin von neurath raquokrankheitsbedingtlaquo abberufen und durch denberuumlchtigten chef des Reichssicherheitshauptamts ersetzen Kaum war heydrichim September 1941 in Prag eingetroffen rollte eine konzertierte Verhaftungswelleder Gestapo uumlber das Land die nahezu alle Kommunikationslinien zwischendem Protektorat und London zerstoumlrte10

es schien so als muumlsse Beneš seine ehrgeizigen Plaumlne fuumlr den tschechischenWiderstand allmaumlhlich begraben doch dann fand er einen Verbuumlndeten der eben-falls unter wachsendem Legitimationsdruck stand die Special Operations execu-tive (SOe) die geheimdienstliche britische Spezialeinheit war im Juli 1940 vombritischen Premierminister Winston churchill ins Leben gerufen und beauftragtworden raquoeuropa in Brand zu setzenlaquo durch das anzetteln von aufstaumlnden hinterden feindlichen Linien doch sie konnte zunaumlchst keine nennenswerten erfolgevorweisen so dass ihr chef der Kriegswirtschaftsminister hugh dalton entmu-tigt in sein Tagebuch schrieb raquoUnsere juumlngsten Berichte waren fast allesamt langeaufzaumlhlungen dessen was nicht getan worden ist hellip Wir brauchen dringend eineoder zwei erfolgreiche Operationenlaquo11 Wie Beneš benoumltigte die SOe einen erfolgeinen Befreiungsschlag zumal ihr Rivale der etablierte Secret intelligence Service(SiS) im august 1941 verlangte die alleinige Verantwortung fuumlr Sabotageakte auffeindlichem Gebiet wieder dem SiS und seinem direktor Sir Stewart Menzies zuuumlbertragen Menzies und seine Leute sahen in der SOe eine dilettantische Laien-truppe und trachteten die vermeintlich inkompetenten Rivalen auszuschalten12

Waumlhrend der folgenden Wochen trafen sich Benešrsquo Geheimdienstchef Franti-šek Moravec und hochrangige Vertreter der SOe mehrmals um eine Loumlsung fuumlrihr gemeinsames Problem zu finden Zusammen erarbeiteten sie Plaumlne nachdenen tschechische exilsoldaten mit hilfe der Royal air Force (RaF) in kleinenGruppen in das Protektorat eingeschleust und dort Sabotageakte vorbereiten so-wie Spionagedienste leisten sollten Schlechtes Wetter und der Umstand dassman keine Funkverbindung zu den Fuumlhrern des Widerstands vor Ort aufbauenkonnte machten jedoch alle Bemuumlhungen immer wieder zunichte der blau-aumlugige enthusiasmus der zunaumlchst geherrscht hatte wich bald der ernuumlchterungdoch je weniger erfolg sie hatten desto ambitionierter wurden sie nur einespektakulaumlre aktion mit groszliger Signalwirkung das wusste man wuumlrde die Kriti-ker zum Schweigen bringen Und so reifte schlieszliglich ein houmlchst anspruchsvollerPlan da hitler unerreichbar war wollte man versuchen Reinhard heydrich denchef des nationalsozialistischen Terrorapparats und hitlers Stellvertreter im Pro-tektorat zu ermorden13

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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am 3 Oktober 1941 kam es in London zu einer geheimen Besprechung zwi-schen dem chef der SOe Frank nelson und František Moravec Zwei Tage zuvorwar heydrich in einem Geheimdossier der SOe als der raquovermutlich gefaumlhrlichsteMann im von deutschland besetzten europalaquo nach hitler bezeichnet wordenJetzt war man zusammengekommen um einzelheiten einer durchschlagendenMission zu besprechen Man vereinbarte dass die SOe die Waffen besorgen undzwei von Moravecrsquo Maumlnnern vorbereiten sollte raquoeinen spektakulaumlren politischenMord zu veruumlben nach Moumlglichkeit an heydrichlaquo das attentat auf heydrich ndashmit dem Kodenamen Operation Anthropoid ndash wuumlrde sowohl die Faumlhigkeit derSOe unter Beweis stellen dem nS-Terrorapparat einen schweren Schlag zu ver-setzen als auch die entschlossenheit des tschechischen Widerstands sich gegendie deutschen Unterdruumlcker zur Wehr zu setzen14

die spaumlrlichen informationen uumlber die Zielperson der Operation Anthropoidverdankte der britische Militaumlrgeheimdienst weitgehend dem Buch Inside the Ge-stapo das 1940 von dem damals schon exilierten ehemaligen Sd-Mitarbeiterheinrich Pfeiffer unter dem Pseudonym hansjuumlrgen Koehler veroumlffentlicht wor-den war dieser beschrieb seinen ehemaligen Vorgesetzten heydrich als den raquoall-maumlchtigen Polizeichef des dritten Reichs hellip Ohne ihn waumlre himmler nur einehirnlose attrappe hellip er ist der Mann der alles bewegt ndash hinter der Buumlhne jedochmit sicherem Geschick ndash er ist die Macht hinter dem Thron er zieht die Faumldenund verfolgt seine eigenen finsteren Ziele heydrich ist jung und intelligent hellipKurzum er ist der brutale despotische und unbarmherzige herr der nazipolizeiein draufgaumlnger der jedoch nie sein Ziel aus den augen verliert hellip Obwohl erhitzkoumlpfig und impulsiv sein kann bleibt er nuumlchtern kalt berechnend im hin-tergrund und weiszlig dass ihm die Macht die er begehrt bereits gehoumlrt Grausam-keit und Wutausbruumlche gehoumlren ebenso zu seinem naturell wie sein unermuumld-licher aktivismuslaquo die aussage dass heydrich unmittelbar verantwortlich seifuumlr raquounermeszligliches Leid elend und Todlaquo war in dem exemplar des Buches un-terstrichen das der SOe-akte uumlber heydrich beilag15

der von der SOe kaum eine Woche spaumlter ausgearbeitete attentatsplan warbereits sehr detailliert er sah einen unmittelbaren angriff auf heydrich waumlhrendder Fahrt von seinem Landgut zum hradschin vor am besten an einer Kreuzungwo der Wagen die Fahrt verlangsamen musste16 auch daruumlber was nach demanschlag geschehen wuumlrde machte man sich Gedanken Brutale deutsche Ver-geltungsmaszlignahmen so die Kalkulation wuumlrden einen allgemeinen aufstand dertschechischen Bevoumllkerung gegen die deutsche Besatzungsmacht ausloumlsen daBeneš selbst raquoeinige Befuumlrchtungen im hinblick auf die moumlglichen auswirkun-gen im Protektorat hegtelaquo und die britische Regierung nicht in Verdacht geraten

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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durfte internationale normen der Kriegfuumlhrung zu verletzen indem sie terroris-tischen handlungen Vorschub leistete hielt man es fuumlr notwendig eine raquodeck-geschichte zu erfindenlaquo das attentat sollte von der alliierten Propaganda als einspontaner akt des tschechischen demokratischen Widerstands ausgegeben wer-den geplant und ausgefuumlhrt vom Prager Untergrund Tatsaumlchlich wurden dieWiderstandsgruppen im Protektorat uumlber den in London gefassten Plan heyd-rich zu ermorden aber nie unterrichtet17

als Weihnachten 1941 naumlherruumlckte warteten drei Fallschirmagentengrup-pen mit geheimer Mission auf ihren Transport in das Protektorat Anthropoiddas zweikoumlpfige Team das fuumlr das attentat auf heydrich ausgebildet wordenwar sowie Silver A und Silver B zwei Gruppen die die unterbrochenen Funk-verbindungen zwischen London und dem tschechischen Widerstand wiederher-stellen sollten18

die beiden Maumlnner die man fuumlr das attentat auf heydrich ausgewaumlhlt hattewaren auf ihre Mission gut vorbereitet Jan Kubiš ein 27 Jahre alter ehemaligerUnteroffizier aus Maumlhren hatte seine ersten erfahrungen mit Widerstandsaktio-nen gegen die deutschen im Fruumlhjahr 1939 gesammelt als angehoumlriger einer klei-nen Widerstandsgruppe die sich nach dem einmarsch der deutschen Wehrmachtspontan gebildet hatte als die Gestapo ihn verhaften wollte gelang ihm dieFlucht nach Polen wo er Josef Gabčiacutek kennenlernte den zweiten kuumlnftigen at-

Soldatenausweise der AttentaumlterJan Kubiš geb 1913 Bauernsohn aus Maumlhren

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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42 ii der junge reinhard

henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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tentaumlter Gabčiacutek war ein untersetzter aber kraumlftig gebauter Schlosser aus der Slo-wakei der ebenso wie Jan Kubiš als Unteroffizier in der fruumlheren tschechischenarmee gedient und nach dem deutschen einmarsch die Flucht ins ausland er-griffen hatte19

Wie viele andere mittellose junge Fluumlchtlinge aus der ehemaligen Tschecho-slowakei schlossen sich Gabčiacutek und Kubiš der franzoumlsischen Fremdenlegionan und kaumlmpften im Fruumlhsommer 1940 kurze Zeit an der Westfront nachder niederlage Frankreichs evakuierte man sie nach england wo sie in die etwa3000 Mann starke Tschechische Brigade den kleinen militaumlrischen arm vonBenešrsquo exilregierung aufgenommen wurden als die SOe dann Maumlnner fuumlr Ge-heimoperationen im Protektorat anwarb meldeten sich Gabčiacutek und Kubiš alsFreiwillige nach monatelangem Spezialtraining anfangs in der naumlhe von Man-chester danach im ausbildungslager fuumlr Sabotageoperationen im schottischenhochland und in der Villa Bellasis einem Landsitz in den home counties beidorking teilte man ihnen schlieszliglich mit dass man sie fuumlr eine besonders heikleMission ausgewaumlhlt habe fuumlr das attentat auf heydrich20

Beide Maumlnner wussten dass sie kaum chancen hatten die Mission zu uumlber-leben Selbst wenn es ihnen tatsaumlchlich gelingen sollte sich nach Prag durch-zuschlagen und ihren auftrag zu erfuumlllen war die Wahrscheinlichkeit von derGestapo gestellt gefoltert und hingerichtet zu werden extrem hoch Beide haben

Josef Gabčiacutek geboren 1912 in der Slowakeigelernter Schlosser

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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daher am 28 dezember 1941 dem Tag ihres abflugs von einem RaF-Stuumltzpuktim suumldenglischen Sussex ein Testament aufgesetzt21

die mit neun Fallschirmagenten und der Bordmannschaft schwer beladenehalifax uumlberquerte den Kanal und tauchte dann in die dunklen Wolken uumlber demvon der Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs Uumlber deutschland geriet sie wie-derholt unter Beschuss durch Flakbatterien und war mehreren angriffen vonnachtjaumlgern der Luftwaffe ausgesetzt erreichte aber trotzdem kurz nach zweiUhr morgens den Luftraum uumlber dem Protektorat Boumlhmen und Maumlhren dichtesSchneetreiben am Boden und tief haumlngende Wolken machten es dem Pilotenunmoumlglich die vorbestimmten absprungzonen fuumlr die drei Teams zu erkennenStatt nach Pilsen zu fliegen wo die Fallschirmspringer Kontakt zu lokalen Mit-gliedern des tschechischen Widerstands aufnehmen sollten setzte der PilotGabčiacutek und Kubiš versehentlich uumlber einem Schneefeld in der naumlhe des dorfsnehvizdy ab etwa dreiszligig Kilometer oumlstlich von Prag ihre Kontaktadressen wa-ren damit nutzlos22

es gab noch weitere Probleme Gabčiacutek verstauchte sich bei der Landung aufvereistem Boden den Fuszlig Mit Recht nahm er an dass der absprung nicht unbe-merkt geblieben war da der Pilot in der nacht kaum etwas erkennen konnte warer mit der viermotorigen Maschine bis auf 200 Meter houmlhe heruntergegangenbevor er die beiden Fallschirmagenten absetzte der Laumlrm der Triebwerke hattemehrere dorfbewohner geweckt und mindestens zwei Maumlnner hatten gesehenwie die Fallschirmspringer zur erde schwebten nach den Regeln der Wahr-scheinlichkeit wuumlrde die Gestapo fruumlher oder spaumlter auf ihre Spuren stoszligen23 andiesem Tag hatten sie aber Gluumlck denn der ortsansaumlssige Wildhuumlter der sie ent-deckte teilte die politischen Ziele des Widerstands nachdem er die unter Schneebegrabenen Fallschirme und eine leere Konservendose mit englischer aufschriftin einer nahegelegenen huumltte gefunden hatte verfolgte er ihre Spuren bis zueinem Steinbruch Bald stieszlig Břetislav Baumann dorfmuumlller von nehvizdy undMitglied einer tschechischen Widerstandsgruppe zu den dreien Baumann ver-sorgte die beiden Fallschirmagenten mit Kontaktadressen in Prag dafuumlr sollte erwenige Monate spaumlter teuer bezahlen nach heydrichs Tod wurden er und seineFrau verhaftet und in das Konzentrationslager Mauthausen verbracht wo beideermordet wurden24

Kurz nach neujahr nahmen Gabčiacutek und Kubiš den Zug in die tschechischehauptstadt wo sie sich waumlhrend der naumlchsten fuumlnf Monate in verschiedenen si-cheren Unterkuumlnften versteckten die ihnen die UacuteVOd beschaffte auf der Suchenach einem idealen Ort fuumlr den anschlag auf den stellvertretenden Reichspro-tektor erkundeten sie zunaumlchst zu Fuszlig oder mit dem Fahrrad die Umgebung des

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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hradschin des Landsitzes der Familie heydrich sowie der Straszligen die heydrichauf seinem taumlglichen Weg in die innenstadt befuhr anfang Februar hatten siewie es schien eine ideale Stelle fuumlr den anschlag gefunden eine haarnadelkurvein dem Prager Vorort Libeň heydrichs Fahrer musste an dieser Stelle die Ge-schwindigkeit drosseln um langsam die enge Kurve zu nehmen das Tempo derFahrzeuge war hier so gering dass Gabčiacutek und Kubiš hofften ihr Opfer ausnaumlchster naumlhe erschieszligen zu koumlnnen Kurz hinter der Kurve befand sich zudemeine Straszligenbahnhaltestelle an der die beiden auf den Wagen heydrichs wartenkonnten ohne groszliges aufsehen zu erregen25

die Leichtigkeit mit der es den beiden Maumlnnern gelungen war unbehelligtin das Protektorat und nach Prag zu gelangen lieszlig sie allerdings unvorsichtigerwerden als unter den obwaltenden Umstaumlnden geraten war Kubiš begann eineaffaumlre mit der hausangestellten der Familie Kučerovaacute bei der er Unterschlupfgefunden hatte das verstieszlig gegen alle Regeln der Geheimhaltung Uumlberdieswurden zahlreiche Menschen mit ihren Familien im Umfeld des tschechischenWiderstands durch den leichtsinnigen Umgang der beiden mit sicheren Woh-nungen und geliehenen Fahrraumldern Kleidungsstuumlcken und aktentaschen ohnenot in Gefahr gebracht Uumlber diese adressen und Gegenstaumlnde sollte die Gestapospaumlter an die helfer der attentaumlter gelangenVorlaumlufig blieben Gabčiacutek und Kubišjedoch unentdeckt26

andere hatten weniger Gluumlck die Fallschirmagenten der Gruppen Silver Aund Silver B die in der nacht des 28 dezember nur wenige Minuten nach Gabčiacutekund Kubiš uumlber dem Protektorat abgesprungen waren trennten sich bald Fastalle wurden von der Gestapo verhaftet oder stellten sich freiwillig da sie befuumlrch-teten ihre verhafteten Kameraden koumlnnten sie unter der Folter verraten unddann waumlren auch ihre angehoumlrigen im Protektorat gefaumlhrdet gewesen nur derGruppenfuumlhrer von Silver A alfreacuted Bartoš erfuumlllte seine Mission Mit hilfe derUacuteVOd installierte er einen Radiosender mit dem codenamen Libuše der baldwichtige informationen uumlber die tschechische industrieproduktion und die Stim-mung in der Bevoumllkerung nach London uumlbermittelte Bartoš berichtete dassWiderstandsoperationen im Protektorat raquoaumluszligerst schwieriglaquo oder gar unmoumlglichgemacht wuumlrden da raquoauf jeden politischen aktivisten ein staumlndiger agent derGestapo angesetztlaquo sei27

die entwicklung im Protektorat bestaumltigte Bartošrsquo Berichte weitgehendZwischen dezember 1941 und ende Mai 1942 wurden sechzehn weitere Fallschirm-agenten aus england uumlber dem Protektorat abgesetzt von denen keiner seineMission erfuumlllen konnte Zwei wurden kurz nach der Landung von der Polizeiverhaftet zwei stellten sich freiwillig der Gestapo zur Verfuumlgung um Gefaumlngnis-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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41die familie heydrich

waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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42 ii der junge reinhard

henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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haft und Folter zu entgehen andere wurden auf der Flucht erschossen oder begin-gen Selbstmord sobald sie von der deutschen Polizei gestellt wurden einer derMaumlnner lieszlig seiner Mutter die nachricht zukommen er sei im Lande und es geheihm gut die aufgeregte Mutter teilte die neuigkeit sogleich einer nachbarin mitdie mit dieser information zur Gestapo ging der Vater und zwei Bruumlder des Man-nes wurden daraufhin von der Gestapo in Geiselhaft genommen und mit dem Todbedroht die drohung wirkte der Fallschirmagent gab auf und stellte sich28

im Mai bat Bartoš seine Vorgesetzten in Groszligbritannien die entsendung vonFallschirmagenten einzustellen raquoSie schicken uns Leute fuumlr die wir keine Ver-wendung habenlaquo teilte er London mit raquoSie sind eine weitere Belastung fuumlr dasOrganisationsnetz die in diesen schwierigen Zeiten einfach nicht tragbar ist dietschechischen und die deutschen Geheimdienste verfuumlgen uumlber so viele informa-tionen und erkenntnisse uumlber uns dass eine Wiederholung derartiger Operatio-nen eine Vergeudung von Menschen und Material waumlrelaquo29 doch die SOe undBeneš houmlrten nicht auf ihn

als Bartoš anfang Mai durch Zufall erfuhr mit welchem auftrag Gabčik undKubiš in das Protektorat geschickt worden waren war er entsetzt30 Zweimalschickte die UacuteVOd in den ersten Maitagen flehentliche Bitten an Beneš die Vor-bereitungen zu dem attentat abzubrechen raquonach den Vorbereitungen zu urtei-len die Ota und Zdenek [die codenamen fuumlr Gabčiacutek und Kubiš] treffen unddem Ort wo sie diese Vorbereitungen treffen nehmen wir an obwohl sie dar-uumlber striktes Stillschweigen bewahren dass sie beabsichtigen rsaquohlsaquo zu ermordendieser Mord wuumlrde den alliierten in keiner Weise nuumltzen und koumlnnte unab-sehbare Folgen fuumlr unser Land haben er wuumlrde nicht nur unsere Geiseln undpolitischen Gefangenen gefaumlhrden sondern auch Tausende weitere Leben kos-ten die Tat wuumlrde das Volk beispiellosen Folgen aussetzen und gleichzeitig dieletzten Uumlberreste der [Untergrund-]Organisation vernichten als Folge davonwuumlrde es unmoumlglich werden in Zukunft noch etwas nuumltzliches fuumlr die alliiertenzu tun deshalb bitten wir Sie uumlber Silver a anweisungen zu geben das attentatnicht auszufuumlhren Jedes Zoumlgern koumlnnte gefaumlhrlich sein Senden Sie die instruk-tion umgehend Falls ein attentat trotz alledem aus auszligenpolitischen erwaumlgun-gen wuumlnschenswert erscheinen sollte waumlhlen Sie eine andere Zielperson auslaquo31

Zwei Tage spaumlter antwortete Benešrsquo Geheimdienstchef František Moravec miteiner irrefuumlhrenden Botschaft raquoMachen Sie sich im hinblick auf Terroranschlaumlgekeine Sorgen Unserer Meinung nach sehen wir die Lage klar und angesichts derLage kommen aktionen gegen Vertreter des deutschen Reichs nicht in BetrachtUumlbermitteln Sie das der UacuteVOdlaquo einen Tag spaumlter am 15 Mai schickte Benešpersoumlnlich eine Botschaft an den Untergrund in der er das geplante attentat mit

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keiner Silbe erwaumlhnte raquoich rechne damit dass die deutschen in der bevorstehen-den Offensive mit allen Kraumlften vorstoszligen werden Sie werden damit fragloseinen gewissen erfolg haben hellip die Krise wuumlrde [fuumlr uns] eine gravierendesein hellip in dieser Situation ist ein akt der Gewalt wie Unruhen direkte Subver-sion Sabotage oder demonstrationen unbedingt geboten ja notwendig fuumlr unserLand das wuumlrde die nation international retten und selbst groszlige Opfer waumlrenes wertlaquo32

Beneš wurde offenbar von der britischen Regierung zunehmend unterdruck gesetzt der die bevorstehende deutsche Sommeroffensive in der Sowjet-union groszlige Sorgen bereitete Geheimdienstanalysten in London hatten auszliger-dem darauf hingewiesen raquodass die tschechische Bevoumllkerung sich mehr undmehr auf die Russen verlaumlsstlaquo eine solche entwicklung bedrohte die langfristi-gen interessen englands in Mitteleuropa ebenso wie Benešrsquo Traum von der Wie-derherstellung der Tschechoslowakischen Republik in den Grenzen vor 1938der demokratische tschechische Untergrund schloss der britische Geheim-dienstbericht halte sich offenbar bewusst zuruumlck und sei raquozweifellos in der Lagewesentlich groumlszligere anstrengungen auf sich zu nehmenlaquo es sei jetzt raquosowohlvom militaumlrischen als auch vom politischen Standpunkt aus wesentlich drasti-sche Maszlignahmen zu treffenlaquo33

auch Gabčiacutek und Kubiš lieszligen sich durch die appelle ihrer Beschuumltzer ausdem Prager Untergrund die Mission abzubrechen nicht irritierenals ein tsche-chischer informant aus dem hradschin dem Untergrund die Reiseplaumlne heyd-richs fuumlr eine Unterredung mit hitler am 27 Mai verriet und die Vermutungaumluszligerte dass heydrich vielleicht mehrere Wochen lang nicht im Land sein werdesahen die beiden die Zeit zum handeln gekommen und beschlossen das attentatan diesem Tag auszufuumlhren34

Waumlhrend heydrich am Morgen des 27 Mai noch auf seinem Landgut mit denKindern spielte nahmen Gabčiacutek und Kubiš ihre Stellungen in der naumlhe der haar-nadelkurve ein Trotz des warmen Wetters trug Gabčiacutek einen Regenmantel uumlberdem arm unter dem er die Maschinenpistole versteckt hielt auf der anderenStraszligenseite lehnte Kubiš an einer Laterne in seiner aktentasche befanden sichzwei Zuumlndgranaten ein dritter Mann Josef Valčiacutek der zu der mittlerweile aufge-loumlsten Gruppe Silver A gehoumlrt hatte bezog Posten oberhalb der Kurve und solltemit seinem Rasierspiegel ein Signal geben sobald heydrichs Wagen sich naumlherteda heydrich sich verspaumltete stieg bei der Gruppe Anthropoid die Spannung insUnertraumlgliche erst gegen 10 Uhr 20 sandte Valčiacutek das erloumlsende Signal dass sichheydrichs Mercedes-Kabriolett naumlhere35

Wie erwartet drosselte heydrichs Fahrer das Tempo vor der haarnadel-

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kurve als der Wagen in die Kehre fuhr sprang Gabčiacutek vor zielte mit der Maschi-nenpistole auf heydrich und betaumltigte den abzug doch die Waffe die zuvor inihre einzelteile zerlegt in einer aktenrasche unter einer Lage Gras versteckt gewe-sen war hatte Ladehemmung heydrich lieszlig den Fahrer anhalten und zog seinePistole um Gabčiacutek niederzuschieszligen dass er annahm es nur mit einem attentauml-ter zu tun zu haben und dem chauffeur befahl anzuhalten statt den Wagen zubeschleunigen war ein verhaumlngnisvoller Fehler der ihn das Leben kosteteals derWagen stand trat Kubiš naumlmlich aus der deckung und warf eine seiner Zuumlndgra-naten die jedoch nicht das Wageninnere traf sondern neben dem hinterrad ex-plodierte die Wucht der explosion war so stark dass Kubiš Granatsplitter insGesicht flogen und die Fenster einer vorbeifahrenden Straszligenbahn zerbarstenheydrich der von kleinen Metallsplittern getroffen worden war schien nur leichtverletzt denn er sprang ndash mit gezogener Pistole ndash aus dem Wagen Klein durch dieexplosion desorientiert torkelte auf Kubiš zu dem es aber gelang sein Fahrrad zubesteigen und bergab davonzufahren uumlberzeugt dass das attentat fehlgeschlagenwar doch dann brach heydrich ploumltzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusam-men so dass auch Gabčiacutek aus seinem Schussfeld entkommen konnte36

Kaum waren die attentaumlter verschwunden eilten tschechische und deutschePassanten heydrich zu hilfe und hielten den Lieferwagen eines Baumlckers an mitdem er zum nahegelegenen Bulovka-Krankenhaus gebracht wurde die dort an-gefertigte Roumlntgenaufnahme zeigte einen Riss im Zwerchfell zudem warenMetallsplitter der Granate und Rosshaare von der Sitzpolsterung des Wagens inseine Milz eingedrungen Trotz starker Schmerzen lehnte heydrich es aber absich von einem arzt der Klinik operieren zu lassen ndash zu groszlig war mittlerweileseine Paranoia und sein Misstrauen gegen jeden Tschechen Vielmehr verlangteer einen Spezialisten aus Berlin herbeizutelefonieren der ihn operieren sollteUm die Mittagszeit willigte er schlieszliglich in einen Kompromiss ein die Opera-tion sollte von einem Team lokaler Spezialisten unter der Leitung von ProfessorJosef a hohlbaum von der deutschen chirurgischen Klinik Prag durchgefuumlhrtwerden himmler und hitler die man sofort von dem attentat in Kenntnisgesetzt hatte schickten dennoch ihre Leibaumlrzte Professor Karl Gebhardt unddr Theodor Morell nach Prag37

Waumlhrend heydrich im hospital lag und der ausgang der Operation nochungewiss war entlud sich der Zorn vieler deutscher im Protektorat in Gewalt inmehreren Faumlllen musste die Polizei raquoVolksdeutschelaquo davon abhalten tschechi-sche Geschaumlfte Lokale und Restaurants zu uumlberfallen oder ihre tschechischennachbarn zu lynchen38 Offiziell spielte die Presse des dritten Reiches die Bedeu-tung des attentats noch herunter und betonte dass heydrich nicht in Lebensge-

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fahr schwebe39 im privaten Kreis war die Parteifuumlhrung aber houmlchst beunruhigtam 28 Mai 1942 schrieb etwa Goebbels in sein Tagebuch raquoeine alarmierendenachricht kommt aus Pragauf heydrich ist in einer Vorstadt von Prag ein Bom-benattentat veruumlbt worden das ihn ziemlich schwer verletzte Wenn auch imaugenblick keine akute Lebensgefahr besteht so ist sein Zustand doch besorgnis-erregend hellip es waumlre zu wuumlnschen daszlig man die attentaumlter bekaumlme dann muumlszligteein entsprechendes Strafgericht an ihnen und an ihren hintermaumlnnern vorgenom-men werden die hintergruumlnde des attentats sind im augenblick noch nicht klaraber es ist sehr bezeichnend daszlig von London aus die Meldung von dem attentatschon sehr bald gegeben werden kannWir muumlssen uns klar daruumlber sein daszlig einsolches attentat Schule machen wuumlrde wenn wir nicht mit brutalsten Mitteln da-gegen vorgehen wuumlrdenlaquo40

der raquoFuumlhrerlaquo sah das aumlhnlich Weniger als eine Stunde nach dem attentats-versuch befahl ein wutschnaubender hitler heydrichs Stellvertreter dem houmlherenSS- und Polizeifuumlhrer von Boumlhmen und Maumlhren Karl hermann Frank zur Ver-geltung fuumlr das attentat bis zu 10 000 Tschechen erschieszligen zu lassen Spaumlter amabend wiederholte himmler hitlers Befehl und praumlzisierte raquoUnter den befohle-nen 10 000 Geiseln sind [sic] in erster Linie die gesamte oppositionelle tschechi-sche intelligenz zu verhaften Von den hauptgegnern aus dieser tschechischenintelligenz sind heute nacht bereits die hundert wichtigsten zu erschieszligenlaquo41

Frank der befuumlrchtete dass derart umfangreiche Vergeltungsmaszlignahmendie kriegswichtige Wirtschaftsleistung des Protektorats schwaumlchen und den Wi-derstandswillen des tschechischen Volkes staumlrken koumlnnten flog umgehend nachBerlin um hitler davon zu uumlberzeugen dass das attentat eine von London ge-steuerte Kommandoaktion und kein akt des tschechischen Widerstands gewesensei hitler war jedoch auszliger sich vor Zorn und drohte den fuumlr seine brutalenMethoden bei der Partisanenbekaumlmpfung in Weiszligrussland und Ostpolen beruumlch-tigten SS-Obergruppenfuumlhrer erich von dem Bach-Zelewski nach Prag zu schi-cken raquoweil er noch schaumlrfer und brutaler als heydrich durchgreifen und ohnehemmungen durch ein Meer von Blut waten koumlnne Gerade dies aber sollten dieTschechen merken das heiszligt Wenn sie einen abschieszligen so kommt sofort im-mer wieder ein noch viel rsaquoschlimmererlsaquolaquo Schlieszliglich gelang es Frank immerhinhitler dazu zu bewegen den Befehl wahllos 10 000 Tschechen erschieszligen zulassen zuruumlckzunehmenallerdings beharrte er darauf dass die attentaumlter inner-halb kuumlrzester Zeit gefasst werden muumlssten42

noch vor seiner abreise aus Prag hatte Frank uumlber das Protektorat den zivi-len ausnahmezustand verhaumlngt und schaumlrfste Konsequenzen fuumlr all jene ange-droht die den attentaumltern zu helfen bereit seien raquoWer den Taumltern irgendwelche

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hilfe gewaumlhrt oder ihren aufenthaltsort kennt und dies nicht der Polizei meldetwird mit seiner ganzen Familie erschossenlaquo43 Binnen weniger Stunden verwan-delte sich Prag daraufhin in eine Geisterstadt alle oumlffentlichen Verkehrsmittelmussten den Betrieb einstellen Lichtspielhaumluser und Theater Restaurants undKaffeehaumluser schlieszligen die Prager Musikwochen die heydrich wenige Tage zu-vor feierlich eroumlffnet hatte wurden abgebrochen Fuumlr die Zeit von 9 Uhr abendsbis 6 Uhr morgens galt eine ausgangssperre auf Weisung hitlers wurde fuumlr dieergreifung der attentaumlter eine Belohnung von 10 000 Kronen ausgesetzt dietschechische Protektoratsregierung distanzierte sich demonstrativ von den at-tentaumltern indem sie die Belohnung verdoppelte44

im Laufe des nachmittags erhielt Kurt daluege der chef der deutschen Ord-nungspolizei telefonisch von hitler den auftrag das amt des stellvertretendenReichsprotektors zu uumlbernehmen und die attentaumlter mit allen zur Verfuumlgung ste-henden Mitteln zu verfolgen45 daluege ordnete unverzuumlglich die groumlszligte Fahn-dungsaktion des Zweiten Weltkriegs an Prag wurde von der deutschen Polizeiund der Wehrmacht vollstaumlndig abgeriegelt Gestapo-einheiten ndash verstaumlrkt durchKontingente der Ordnungspolizei der SS sowie der tschechischen Gendarme-rie und drei Wehrmachtsbataillone insgesamt mehr als 12 000 Mann begannenmit der durchsuchung von 36 000 Gebaumluden46 etwa 500 Personen wurden we-gen kleinerer Vergehen verhaftet die nichts mit dem anschlag zu tun hattenTrotz zahlreicher hinweise und denunziationen durch tschechische und deut-sche Buumlrger konnten die attentaumlter jedoch nicht aufgespuumlrt werden47

Waumlhrend die tschechische Zivilbevoumllkerung aus Furcht vor Vergeltungsmaszlig-nahmen wie erstarrt war schickte Beneš eine euphorische Funkbotschaft anBartoš raquoich sehe daszlig ihr und alle eure Freunde voll entschlossenheit seid es istmir ein Beweis dafuumlr daszlig der Standpunkt des ganzen Volkes felsenfest ist ichversichere ihnen daszlig es erfolg bringt die Begebenheiten von Zuhause wirkensehr stark und rufen groszlige anerkennung fuumlr die Resistenz des tschechischenVolkes aus [sic]laquo48

Zu diesem Zeitpunkt stand allerdings noch gar nicht fest dass heydrich sei-nen Verletzungen erliegen wuumlrde am 31 Mai stattete himmler seinem engstenMitarbeiter einen Besuch am Prager Krankenbett ab dessen Zustand bessertesich zusehends und er konnte sogar ein kurzes Gespraumlch fuumlhren49 Zwei Tagespaumlter kam es jedoch zu einer infektion in der Bauchhoumlhle haumltte damals indeutschland schon Penicillin zur Verfuumlgung gestanden (das es seinerzeit nur inengland gab) haumltte heydrich wohl uumlberlebt So aber stieg sein Fieber unaufhalt-sam und er fiel ins Koma in Berlin bangte man um sein Leben am 2 Juni no-tierte Goebbels in sein Tagebuch raquoein Verlust von heydrich waumlre fuumlr den augen-

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blicklichen Stand der dinge geradezu unersetzlichlaquo50 Aumlhnlich sah man das inLondon raquoFalls heydrich den anschlag nicht uumlberleben oder fuumlr laumlngere Zeitarbeitsunfaumlhig sein solltelaquo notierte ein britischer Geheimdienstmitarbeiter raquowaumlredies fuumlr das naziregime tatsaumlchlich ein herber Verlust Man kann wohl sagen dassheydrich neben himmler die Seele des Terrorapparats ist von dem das Schicksalder inneren Front im Reich abhaumlngt der Verlust des rsaquoSuperhirnslsaquo wird gravie-rende Folgen habenlaquo51

am 3 Juni verschlechterte sich heydrichs Zustand weiter die Aumlrzte hattenkeine Mittel gegen die Sepsis der Patient hatte konstant hohes Fieber und starkeSchmerzen die mit Morphium gelindert wurden am folgenden Morgen umneun Uhr erlag heydrich seiner Blutvergiftung der raquohenkerlaquo des dritten Rei-ches wie ihn Thomas Mann in seinem beruumlhmten BBc-Kommentar DeutscheHoumlrer einen Tag spaumlter nannte war tot52

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Konzertsaal des Konservatoriums derFamilie Heydrich in Halle Guumltchenstraszligeerbaut 1908

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kapitel iider junge Reinhard

Die Familie Heydrich

Reinhard Tristan eugen heydrich wurde am 7 Maumlrz 1904 in der preuszligischenStadt halle an der Saale geboren1 Seine Vornamen verrieten dass die Familie derer entstammte der Musik zugeneigt war Sein Vater Bruno heydrich war einuumlberregional bekannter Komponist Opernsaumlnger und Gruumlndungsdirektor deshalleschen Konservatoriums an dem seine Frau elisabeth Unterricht als Klavier-lehrerin erteilte Bei der namensgebung des erstgeborenen Sohnes lieszligen dieeltern sich von der Musik inspirieren die sie umgab raquoReinhardlaquo war der namedes tragischen helden in Bruno heydrichs erster Oper Amen die 1895 erstmalsaufgefuumlhrt wurde raquoTristanlaquo war eine Reverenz gegenuumlber Richard Wagner undseiner Oper Tristan und Isolde raquoeugenlaquo war der name des verstorbenen Groszlig-vaters muumltterlicherseits der Musikprofessor und hofrat eugen Krantz war di-rektor des Koumlniglichen Konservatoriums zu dresden einer der renommiertestendeutschen Musikakademien2

Reinhards Geburt fiel in eine Periode des rasanten wirtschaftlichen Wachs-tums in deutschland Unter Bismarck und Wilhelm ii hatte sich das 1871 ge-gruumlndete deutsche Reich zur modernsten und dynamischsten industrienationeuropas entwickelt seine wirtschaftliche und militaumlrische Staumlrke auf dem Konti-nent war uumlberragend seine Wissenschaftslandschaft und seine Kulturszene wur-den in aller Welt bewundert der technisch-wirtschaftlichen Fortschrittlichkeitund der kulturellen Modernitaumlt die das wilhelminische deutschland auszeichne-ten stand jedoch ein politisch semi-autoritaumlres Regierungssystem gegenuumlberdas dominiert war von ruumlckstaumlndigen eliten diese profitierten von dem unde-mokratischen dreiklassenwahlrecht in Preuszligen und von den mangelnden Kon-trollkompetenzen des Reichstags gegenuumlber der deutschen Regierung eine wei-tere Kehrseite der deutschen industrialisierung und Urbanisierung war ndash in denaugen der buumlrgerlichen wie aristokratischen Funktionseliten ndash das stetige Wachs-tum der sozialdemokratischen arbeiterbewegung deren Mitglieder zumindestin der Theorie den anspruch erhoben einer revolutionaumlren Partei anzugehoumlrendas deutsche Kaiserreich ist daher nicht zu Unrecht vielfach als raquojanuskoumlpfiglaquo

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charakterisiert worden als ein Staat der von Zukunftsoptimismus und wachsen-der nervositaumlt zugleich gekennzeichnet war auf der einen Seite politisch ruumlck-staumlndig und mit einer Fuumlhrung die bereit war dem Land durch leichtsinnigeauszligenpolitische abenteuer wie Flottenbau und Kolonialexpansion mehr interna-tionale Geltung zu verschaffen auf der anderen Seite kulturell und oumlkonomischdeutlich dynamischer als etwa Groszligbritannien oder Frankreich3

Reinhard heydrichs Vater Bruno war ein nutznieszliger des wirtschaftlichenaufschwungs der deutschland im letzten drittel des 19 Jahrhunderts grund-legend veraumlndert hatte4 am 23 Februar 1863 hatte er in dem saumlchsischen dorfLeuben als Sohn des verarmten protestantischen Moumlbeltischlers Karl Julius Rein-hold heydrich das Licht der Welt erblickt die Kindheit war karg 1867 gingenKarl und seine Frau ernestine Wilhelmine in die Porzellanmanufakturstadt Mei-szligen dort starb der Vater am 8 Mai 1874 im alter von knapp 37 Jahren an Tuber-kulose er hinterlieszlig drei Soumlhne und drei Toumlchter im alter zwischen drei unddreizehn Jahren5

der Tod des ernaumlhrers lieszlig die Familie ohne nennenswertes erbe in einerwirtschaftlich verzweifelten Lage zuruumlck Brunos Mutter war gezwungen Gele-genheitsarbeiten anzunehmen um den Lebensunterhalt fuumlr sich und ihre sechsKinder zu verdienen der Sohn erinnerte sich noch viele Jahre spaumlter an eineraquoschwierige traurige Jugendlaquo nachdem sein aumllterer Bruder Reinhold Ottoneunzehnjaumlhrig gestorben war hatte er die doppelrolle des raquoernaumlhrers und er-zieherslaquo seiner juumlngeren Geschwister uumlbernehmen muumlssen daran aumlnderte sichwenig als seine Mutter am 3 Mai 1877 den dreizehn Jahre juumlngeren protestanti-schen Schlossergehilfen Gustav Robert Suumlszlig heiratete dessen raquojuumldisch klingen-derlaquo Familienname Jahre spaumlter zu Spekulationen uumlber heydrichs raquonichtari-schelaquo Vorfahren fuumlhren sollte6

Unter diesen druumlckenden Verhaumlltnissen war Brunos entscheidung eineLaufbahn als Berufsmusiker einzuschlagen uumlberaus ungewoumlhnlich und setzteeine betraumlchtliche Begabung und Motivation voraus die musikalische ausbil-dung kostete ja viel Geld und das hatte Brunos Mutter nicht doch Bruno lieszligsich nicht beirren Seine Freude an der Musik erschloss der Familie bald einehochwillkommene einnahmequelle denn Bruno und sein juumlngerer BruderRichard besserten das Familieneinkommen auf indem sie auf Jahrmaumlrkten san-gen im alter von zwoumllf Jahren noch waumlhrend der Schulzeit in Meiszligen lernte erzuerst Geige und dann Tenorhorn zu spielen spaumlter kamen Kontrabass undTuba hinzu Brunos Talent als Saumlnger blieb auch nicht unbemerkt Mit dreizehnJahren trat er bereits als Solist mit dem Meiszligener Jugendorchester bei oumlffent-lichen Konzerten auf7

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der begabte und entschlossene junge Mann fand allmaumlhlich auch uumlber dieGrenzen der kleinen Meiszligener Gemeinde hinaus anerkennung im april 1879gewann er ein Stipendium fuumlr eine dreijaumlhrige ausbildung in Komposition undGesang am Koumlniglichen Konservatorium in dresden Sachsens bekanntester ein-richtung fuumlr Musikerziehung im Juli 1888 schloss Bruno seine ausbildung dortmit Bestnoten ab und verdiente sein Geld zunaumlchst indem er in den hoforches-tern von Meiningen und dresden Kontrabass spielte nach Gastauftritten alsLyonel in Friedrich von Flotows komischer Oper Martha am hoftheater in Son-dershausen (1887) als Titelheld im Lohengrin zu Weimar (1889) sowie im Tann-haumluser und im Faust zu Magdeburg (1890) folgten engagements als heldentenorin Stettin Kolberg aachen Koumlln halle und Frankfurt am Main Schlieszliglich sahman ihn auch auf den internationalen Buumlhnen von antwerpen Genf BruumlsselWien Prag und Marienbad8

Bruno heydrichs erfolge als Tenor waren durchaus betraumlchtlich aber dieGagen nicht so hoch dass er damit den Lebensunterhalt haumltte bestreiten koumlnnendenn er musste weiterhin seine Mutter drei Schwestern und zwei halbschwesternunterstuumltzen immerhin verschaffte ihm sein fruumlher erfolg eine einladung nachBayreuth wo er im Sommer 1890 auszuumlge aus Lohengrin Parsifal Die Meister-singer und Rienzi vor Richard Wagners Witwe cosima sang er erhoffte sich vondiesem auftritt den groszligen Karrieredurchbruch doch der Traum von einem en-gagement bei den Bayreuther Festspielen erfuumlllte sich nicht er wurde nie wiederdorthin eingeladen9

auch wenn er in Bayreuth nicht reuumlssierte duumlrften die aussagen einiger nachdem Zweiten Weltkrieg befragter Zeitzeugen bei Bruno heydrich habe es sichum einen raquoMusiker zweiter oder dritter Garniturlaquo gehandelt ungerecht und vorallem durch das Wissen um die Verbrechen seines Sohnes im dritten Reich be-einflusst gewesen sein10 Bruno Walter etwa der chefdirigent des new york Phil-harmonic Orchestra der als deutscher Jude 1933 von den nationalsozialisten insexil gezwungen wurde war heydrich 1895 in Koumlln begegnet nach dem Kriegschrieb er dass Reinhard heydrichs Vater uumlber eine raquoreizlose nicht mehr ganzfrische Stimmelaquo verfuumlgt und in Kollegenkreisen als raquobedenklicher charakterlaquogegolten habe der raquonazi-henkerlaquo Reinhard heydrich fuumlgte er hinzu raquowar derfuumlrchterliche Sohn des Mannes und ich habe wenn ich von jenem Sadisten lasoft an den mediokren Saumlnger mit der haumlszliglichen Stimme denken muumlssen der sogar nichts houmlllisches an sich hatte und doch vom Schicksal bestimmt war einenTeufel zu zeugenlaquo11

Walters Urteil nach dem Krieg steht in einem deutlichen Gegensatz zu zeit-genoumlssischen Kommentaren uumlber Bruno heydrichs Faumlhigkeiten Tatsaumlchlich

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fielen die einschaumltzungen der Tagespresse um die Jahrhundertwende sehr vielwohlwollender aus und machen deutlich dass der Tenor bei zeitgenoumlssischendeutschen Musikkritikern durchaus hohes ansehen genoss Uumlber seinen auftrittals Siegfried im Koumllner Stadttheater im Jahre 1896 schrieb etwa der Koumllner Mu-sikkritiker Otto Reitzel er sei von raquomusicalischer Unfehlbarkeitlaquo gekennzeichnetgewesen ein anderer Kritiker lobte heydrichs darstellung des Titelhelden in FraDiavolo in Braunschweig als raquogeradezu vollendete Verkoumlrperung dieses heldenlaquound wusste von raquobrausendem Jubellaquo zu berichten raquomit dem herr heydrich vondem Publikum begruumlszligt wurdelaquo12 1895 also im Jahr der Begegnung mit BrunoWalter machte heydrich in Koumlln die Bekanntschaft von hans Pfitzner der vondem Talent des Saumlngers houmlchst angetan war und ihm die Titelrolle in seinerneuen Oper Der arme Heinrich in Mainz anbot13

neben seiner beruflichen Taumltigkeit als Opernsaumlnger widmete sich Brunoheydrich zunehmend der Komposition im Laufe der Zeit schrieb er immerhinfuumlnf Opern Amen (1895) Frieden (1907) Zufall (1914) Das Leiermaumldchen (1921)und Das Ewige Licht (1923) Bis zum ausbruch des ersten Weltkriegs verfasste erinsgesamt sechzig Kompositionen ndash darunter mehrere Klaviersonaten chor-werke lyrische Trios und Kammermusikstuumlcke ndash was ihm einen durchaus acht-baren Platz in der Geschichte der deutschen Musik des ausgehenden 19 undfruumlhen 20 Jahrhunderts einbrachte Zweifellos gehoumlren seine Werke nicht zu denbedeutendsten Kompositionen ihrer Zeit doch dass mehrere seiner Opern imMutterland der klassischen Musik neben den Werken von Beethoven Mendels-sohn Wagner und Strauss uumlberhaupt aufgefuumlhrt wurden ist an sich schon alsbeachtlicher erfolg zu werten

im hinblick auf Stil und inhalt waren heydrichs Kompositionen inspiriertvon den Werken Richard Wagners dessen vierteiliges Musikdrama Der Ringdes Nibelungen (1876) die internationale Opernszene revolutioniert hatte diegroszligen Themen Wagners ndash Liebe Macht und der ewige Konflikt von Gut undBoumlse ndash die er besonders eindrucksvoll in Tristan und Isolde Die Meistersingerund Parsifal in Szene setzte hatten einen nachhaltigen einfluss auf Bruno heyd-richs erste Oper Amen Bei der Premiere am 22 September 1895 in Koumlln fand siebegeisterte Zustimmung bei den Kritikern14

ebenso wie Wagners helden Siegfried und Tristan ist Reinhard der Protago-nist in Amen eine tragische Figur die am ende von dem eifersuumlchtigen und ausaumlrmlichen Verhaumlltnissen stammenden Bauernfuumlhrer Thomas dem antiheldenmeuchlings durch einen dolchstoszlig in den Ruumlcken ermordet wird im Gegensatzzu dem verkruumlppelten Schurken der den bedrohlichen aufstieg der Sozialdemo-kratie im wilhelminischen deutschland verkoumlrpert ist Reinhard gleich seinem

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musikalischen Vorbild Siegfried mit moralischen geistigen und physischen Ga-ben reich gesegnet nach diesem strahlenden helden hat Bruno heydrich spaumlterseinen erstgeborenen benannt

als Komponist sollte heydrich nie wieder an den erfolg von Amen anknuumlp-fen koumlnnen Bereits die zweite Oper Frieden erwies sich als Fehlschlag Amenhatte dem Komponisten aber soviel materielle Sicherheit verschafft dass er imdezember 1897 die Tochter seines Mentors Professor eugen Krantz heiratenkonnte15

elisabeth anna amalia Krantz war bei der hochzeit 26 Jahre alt und in vielerhinsicht das genaue Gegenteil ihres ehemanns Waumlhrend Bruno eine imposanteerscheinung war ndash groszlig uumlbergewichtig mit wildem schwarz gelocktem haarstets jovial und unterhaltsam ndash wirkte seine in gutsituierten Verhaumlltnissen aufge-wachsene Frau zierlich und reserviert stets auf haltung bedacht und unter-kuumlhlt16 elisabeths Mutter Maria antonie entstammte einer wohlhabenden Ge-schaumlftsfamilie in Bautzen und war durchdrungen von dem Bewusstsein einemgehobenen sozialen Stand anzugehoumlren Beide Soumlhne wurden nach London ge-schickt wo sie eine kaufmaumlnnische ausbildung erhalten und eine Fremdspracheerlernen sollten waumlhrend elisabeth ihre Jugend in einem katholischen Maumldchen-internat in Lugano verbracht und anschlieszligend im Konservatorium ihres Vaters

Der Vater Bruno Heydrich (1865 ndash 1938)Opernsaumlnger und Komponist

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eine ausbildung als Pianistin absolviert hatte eine derartige ausbildung war fuumlrToumlchter aus dem gehobenen Buumlrgertum durchaus uumlblich Man erwartete vonihnen dass sie vielseitig gebildet waren nach Moumlglichkeit uumlber musische Faumlhig-keiten verfuumlgten und somit in der Lage waren ihre ehemaumlnner bei den gesell-schaftlichen Repraumlsentationspflichten zu unterstuumltzen17

Bruno und elisabeth heydrich verband eine tiefe Leidenschaft fuumlr die Musikund ihre gegenseitige Zuneigung war stark genug um die betraumlchtlichen Unter-schiede im hinblick auf ihren sozialen Familienhintergrund zu uumlberwindennach der hochzeit zogen die eheleute nach halle an der Saale wo Bruno heyd-rich mit dem stattlichen erbe das elisabeth und ihren Bruumldern nach dem Toddes Vaters 1898 zufiel eine kleine Gesangsschule eroumlffnen konnte18

die Wahl halles als Standort fuumlr das neue Familienunternehmen war wohl-uumlberlegt im Zuge der industrialisierung und Urbanisierung des 19 Jahrhundertshatte sich die einstmals verschlafene kleine Universitaumltsstadt an der Saale binnenkurzer Zeit zu einer der am kraumlftigsten expandierenden Staumldte in deutschlandentwickelt die wirtschaftliche Bluumlte verdankte sich einer schnell wachsendenBergbau- und chemieindustrie sowie einer zunehmenden Zahl von Regional-banken Um 1900 war halle mit 156 000 einwohnern zur sechstgroumlszligten Stadtdeutschlands aufgestiegen als die heydrichs 1899 nach halle zogen und mitdem aufbau ihrer Gesangsschule begannen hatte die Stadt also gerade einenradikalen Transformations- und Wachstumsprozess durchlaufen19

Mit dem zunehmenden Wohlstand des hallenser Buumlrgertums stieg die Zahlderer die es sich leisten konnten einem buumlrgerlichen Bildungsideal zu froumlnen indem Literatur die schoumlnen Kuumlnste und vor allem die Musik eine wesentliche Rollespielten20 als Bruno heydrich sein Konservatorium in halle der GeburtsstadtGeorg Friedrich haumlndels eroumlffnete war die Musikerziehung ein wesentlicher Be-standteil des buumlrgerlichen Bildungskanons und gehoumlrte bereits ebenso zur all-tagskultur21 Schon im Jahr 1886 hatte man in halle ein durch private Spenden fi-nanziertes modernes Stadttheater einweihen koumlnnen22 in den ersten Jahren desTheaterbetriebs war jede Vorfuumlhrung ausverkauft was zeigt wie sehr die Buumlrgernach Kultur und den damit einhergehenden Repraumlsentationsmoumlglichkeiten ver-langten23 die heydrichs fanden also eine Stadt vor deren Buumlrger dem Theaterund der Musik aumluszligerst zugetan waren und einen groszligen Bedarf an entsprechen-den darbietungen erkennen lieszligen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungenfuumlr einen Musikschulbetrieb in halle waren also uumlberaus guumlnstig24

der erfolg der kommenden Jahre sollte das bestaumltigen Bereits 1901 wurdeBruno heydrichs kleine Gesangsschule zu einem Konservatorium ausgebaut derersten einrichtung dieser art in halle die sich auf Klavier- und Gesangsunter-

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richt spezialisierte in den folgenden Jahren entwickelte sich das Unternehmenaumluszligerst vielversprechend denn die Buumlrger der aufstrebenden Stadt konnten essich durchaus leisten ihre Kinder auf das Konservatorium zu schicken Mehrmalsim Jahr zeigten die Schuumller ihr Koumlnnen bei oumlffentlichen Konzerten die oft inKooperation mit der halleschen Liedertafel veranstaltet wurden einem 1834 ge-gruumlndeten Maumlnnergesangsverein deren ehrenvorsitzender Bruno heydrich warSchon bald galten die von heydrich organisierten Konzerte als feste Groumlszlige imKulturleben der Stadt25

die nachfrage nach Musikstunden fuumlr die heranwachsende buumlrgerliche Ju-gend war so groszlig dass die Kapzitaumlten des Konservatoriums kontinuierlich erwei-tert werden mussten die Zahl der Schuumller stieg zwischen 1902 und 1904 vonzwanzig auf 190 elf Lehrer vier hilfskraumlfte und eine Sekretaumlrin wurden ange-stellt die Familie konnte sich zwei dienstmaumldchen und einen Butler leisten eli-sabeth kuumlmmerte sich um die finanziellen und organisatorischen Belange desFamiliengeschaumlfts und hielt zusammen was andernfalls sehr bald zerronnenwaumlre wenn man es dem musisch begabten aber in oumlkonomischen dingen unbe-darften ehemann uumlberlassen haumltte der erfolg oumlffnete den heydrichs sehr schnelldie Tuumlren zu den gehobenen Kreisen der Stadt Sie pflegten persoumlnliche Bezie-hungen zum Buumlrgermeister ebenso wie zum herausgeber der lokalen Saale-Zei-tung26 Bruno organisierte wiederholt Konzerte in einem der gesellschaftlichexklusivsten Vereine der Stadt der Freimaurerloge raquodrei degenlaquo27 und enga-gierte sich in der hallenser dependence der raquoSchlaraffialaquo einem in ganz Mittel-europa operierendem Maumlnnerverein der 1859 in Prag mit dem Ziel gegruumlndetworden war Kunst humor und Freundschaft uumlber nationale Grenzen hinweg zufoumlrdern28

Reinhard heydrich wurde somit in eine Familie mit betraumlchtlichen finan-ziellen Mitteln und hohem sozialem ansehen hineingeboren die sich den auf-stieg selbst erarbeitet hatte einen Sinn fuumlr die Ordnung der dinge besaszlig unddanach strebte ein geregeltes finanziell abgesichertes Leben zu fuumlhren Reinhardwar das zweite Kind der heydrichs Zwei Jahre vor ihm war die Tochter Mariazur Welt gekommen ein Jahr nach ihm folgte ein zweiter Sohn heinz SiegfriedWaumlhrend heydrichs Mutter sich entsprechend der damals uumlblichen familiaumlrenRollenverteilung der haushaltsfuumlhrung und der erziehung der wachsenden Kin-derschar widmete sorgte das Familienoberhaupt Vater Bruno fuumlr den Lebens-unterhalt und lieszlig seinen Kindern uumlberdies seine paumldagogischen und musikali-schen Faumlhigkeiten angedeihen29

Vier Monate nach Reinhards Geburt im Sommer 1904 bezog das ehepaarheydrich mit den zwei kleinen Kindern eine wesentlich groumlszligere Wohnung die

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rapide Zunahme der Schuumllerzahl und die sich daraus ergebende Raumnot hattenBruno heydrich veranlasst sich nach einem neuen Gebaumlude fuumlr das Konserva-torium umzusehen das er schlieszliglich in der Poststraszlige in einem der bevorzugtenWohnviertel im Zentrum halles fand in dem Gebaumlude das vollkommen demRepraumlsentationsbeduumlrfnis und dem Geschmack der buumlrgerlichen Klientel ent-sprach befanden sich eine geraumlumige Wohnung fuumlr die Familie des neuen eigen-tuumlmers sowie zahlreiche Unterrichts- und Uumlbungsraumlume und sogar eine kleineProbebuumlhne30

als aumlltester Sohn wuumlrde der junge Reinhard eines Tages das florierende Kon-servatorium uumlbernehmen eine berufliche Bestimmung die eine fruumlhzeitige undstrenge musikalische ausbildung erforderte noch bevor er 1910 in die erste Klasseder Volksschule eintrat lernte der Junge noten lesen er konnte czernys Klavier-etuumlden fehlerlos spielen und erhielt taumlglich Geigenunterricht der Vater foumlrdertedas musikalische Talent des Sohnes wo er nur konnte So durfte der knapp Sechs-jaumlhrige ihn in das hallesche Stadttheater begleiten wo der Ring des Nibelungenvom Bayreuther ensemble aufgefuumlhrt wurde dieses ganz besondere musikalischeereignis in halle duumlrfte auf das Kind groszligen eindruck gemacht haben Reinhardheydrich sollte sich sein Leben lang die Leidenschaft fuumlr die Musik der Romantikund insbesondere die Mythenwelt der Wagneropern bewahren31

der alltag der Familie heydrich verlief nach festgelegten und konsequenteingehaltenen Regeln die Mutter pruumlfte die schulischen Leistungen der Kindergenau Reinhard gehoumlrte stets zu den besten Schuumllern seiner Klasse elisabethheydrich kuumlmmerte sich auch um die religioumlse erziehung des nachwuchses undlegte groszligen Wert auf die Teilnahme am kirchlichen Leben die Familie war muumlt-terlicherseits katholisch Bei der eheschlieszligung mit Maria antonie Mautsch warReinhards Groszligvater muumltterlicherseits eugen Krantz zum Katholizismus kon-vertiert und in der naumlchsten Generation hatte sich der Protestant Bruno heyd-rich dem Willen seiner Frau gefuumlgt und war ebenfalls zum katholischen Glaubenuumlbergetreten durch diese entscheidung wurde er Teil einer kleinen ndash und geradeseit dem Kulturkampf der 1870er Jahre oft angefeindeten ndash Minderheit im uumlber-wiegend protestantischen Preuszligen32

die katholische erziehung war ein wesentlicher Bestandteil von heydrichsKindheit und Jugend und steht in scharfem Kontrast zu seinen dezidiert anti-kirchlichen Positionen in den dreiszligiger Jahren Waumlhrend die Teilnahme am pro-testantischen Gottesdienst zu Beginn des 20 Jahrhunderts erheblich zuruumlckgingmachte sich der Saumlkularisierungsprozess bei der katholischen Kirche wenigerstark bemerkbar33 die Familie heydrich gehoumlrte zu einer winzigen Minderheitin der uumlberwiegend protestantischen Stadt halle nach dem Zensus von 1905

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waren 94 Prozent der 170 000 einwohner Protestanten die katholische Ge-meinde zaumlhlte dagegen kaum mehr als 7000 Mitglieder34 elisabeth betete denKindern taumlglich das abendgebet vor sonntags ging die ganze Familie gemeinsamin die Kirche wo Reinhard eine Zeitlang als Ministrant diente35

Reinhard war in der Kindheit besonders anfaumlllig fuumlr Krankheiten Seine elternsuchten die schwache Konstitution des Jungen zu staumlrken indem sie ihn ermun-terten viel Sport zu treiben So uumlbte er sich schon fruumlh im Laufen SchwimmenFuszligballspielen Segeln Reiten und Fechten heydrichs Passion fuumlr den Sport nahmhier ihren anfang36 Uumlberdies verbrachte die Familie die ausgedehnten Sommer-ferien Reinhards Gesundheit wegen an der Ostsee in dem mondaumlnen SeebadSwinemuumlnde Fuumlr die Kinder war dies zweifellos die schoumlnste Zeit des Jahres diesie mit Wanderungen Bootsfahrten und Baden im Meer verbrachten37

die ausgedehnten Ostseeurlaube konnte man sich leisten weil es mit demKonservatorium bestaumlndig aufwaumlrts ging 1907 besuchten 250 zahlende Schuumllerdie institution in der inzwischen neunzehn Lehrer und weitere Mitarbeiter an-gestellt waren ein Jahr spaumlter unterrichtete man 300 Schuumller so dass die heyd-richs erneut einen Umzug erwogen38 im april 1908 ndash Reinhard war gerade vierJahre alt geworden ndash bezog die Familie ein noch groumlszligeres und imposanteresGebaumlude in der Guumltchenstraszlige dessen Bau sie selbst in auftrag gegeben hattehier verlebte Reinhard den groumlszligten Teil seiner Kindheit und Jugend das drei-stoumlckige haus in exklusiver Lage nahe dem Stadttheater kuumlndete vom zunehmen-den Wohlstand der Familie und vom erfolg des Konservatoriums im Jahr 1911besuchten es bereits 400 Schuumller die von 27 ganztaumlgig beschaumlftigten Lehrern un-terrichtet wurden39

das neue haus so erinnerte sich nach dem Krieg ein Schulfreund Rein-hards habe durch seine erlesene ausstattung den eindruck groszligen Wohlstandsverbreitet40 ein architekturkritiker hat das innere damals naumlher beschriebenraquoin dem praumlchtigen neubau von Jentzsch amp Reichardt in der Guumltchenstraszlige istdas Konservatorium mitten im Gruumlnen in dem geraumlumigen dreistoumlckigen Sei-tengebaumlude untergebracht eine anzahl lichter freundlicher Lehrklassen fastalle mit dem ausblick auf die gruumlnen Gaumlrten ringsum Wartezimmer Sekretariatund alles was zu einem modernen Schulbau heute gehoumlrt birgt das Gebaumludeder clou des Konservatoriums aber ist im erdgeschoss der praumlchtige Saal deran 300 Personen Sitzgelegenheit bietet hoch und licht und luftig einen aumluszligerstangenehmen aufenthalt im Sommer und in der Saison den vielen Freunden undGoumlnnern gewaumlhrleistet die seit Jahren zu den auffuumlhrungen des Konservatori-ums kommen um die Fortschritte der Schuumller heydrichs mit interesse zu ver-folgen Man glaubt in dem mit geschmackvoller elektrischer Lichtanlage verse-

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henen und gediegen und genial ausgemalten Saale in einem jener netten kleinenfuumlrstlichen Privattheater zu sein wie sie hier und da in den alten Schloumlssern denBesucher entzuumlckenlaquo41

angesichts des wirtschaftlichen erfolgs und der gesellschaftlichen Stellungder heydrichs stand fest dass der aumllteste Sohn auf eine houmlhere Schule wechselnwuumlrde der Besuch eines Gymnasiums oder einer Oberrealschule war damalseiner kleinen privilegierten und uumlberwiegend maumlnnlichen elite vorbehalten inden anfangsjahren des 20 Jahrhunderts musste fuumlr uumlber neunzig Prozent derdeutschen Schuumller der Volksschulabschluss genuumlgen Von den gluumlcklichen zehnProzent die eine houmlhere Jungenschule besuchen durften gingen etwa zwei drit-tel auf ein humanistisches Gymnasium das sie mit der hochschulreife abschlos-sen das verbleibende drittel ging auf die Oberrealschule deren abschlusszeugnisnicht zu einem hochschulstudium berechtigte42

als fuumlr Reinhard die Zeit gekommen war eine weiterfuumlhrende Schule zubesuchen beschlossen seine eltern ihn auf das Reformgymnasium der Stadt zuschicken eine relativ junge institution die den naturwissenschaftlichen Optimis-mus des dynamischen auf die Zukunft gerichteten Kaiserreichs verkoumlrperte dasReformgymnasium sollte die Staumlrken des klassischen Gymnasiums ndash mit seinerBetonung auf einer abgerundeten humanistischen Bildung und ausbildung inLatein und altgriechisch ndash mit den modernen Bildungserfordernissen des fruumlhen20 Jahrhunderts verbinden Wie die Gruumlndung der meisten Polytechnischenhochschulen im deutschen Reich entsprang die idee des Reformgymnasiumsder technischen Begeisterung des ausgehenden 19 Jahrhunderts Bruno heyd-richs entscheidung seinen aumlltesten Sohn auf ein Reformgymnasium zu schickenwar nicht nur den guten noten des Sohnes geschuldet sondern entsprach auchdem technisch-naturwissenschaftlichen Zukunftsoptimismus der Zeit als heyd-rich auf das Reformgymnasium wechselte war deutschland international fuumlh-rend auf den Gebieten chemie Physik und ingenieurwesen

das Reformgymnasium war aber auch in einer anderen hinsicht raquomodernlaquoWaumlhrend die uumlberwaumlltigende Mehrheit der deutschen Schulen noch Konfessions-schulen waren handelte es sich bei den Reformgymnasien um konfessionellgemischte Schulen 1906 wurden in deutschland noch 95 Prozent der protestan-tischen und 91 Prozent der katholischen Kinder in Konfessionsschulen unterrich-tet Reinhard heydrichs Bildungserfahrung war somit auch in dieser hinsichtuumlberaus modern und zukunftsorientiert43

neben den naturwissenschaftlichen Faumlchern die an houmlheren deutschenSchulen unterrichtet wurden ndash chemie Physik und Mathematik ndash legte man inheydrichs Schule groszligen Wert auf deutsche Literatur und Kultur sowie auf mo-

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43krieg und nachkrieg

derne Fremdsprachen Franzoumlsisch wurde von der ersten Klasse (Sexta) an un-terrichtet englisch von der sechsten Klasse (Untersekunda) an auch hier lagenReinhards Leistungen deutlich uumlber dem durchschnitt in den naturwissen-schaftlichen Faumlchern waren seine noten besonders hervorragend was zu demWunsch des Schuumllers beigetragen haben duumlrfte spaumlter einmal chemiker zu wer-den Uumlberdies zeigte er einen unersaumlttlichen Lesehunger auf Kriminal- und Spio-nageromane die oftmals als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Vorallem die Krimis aus england und den Vereinigten Staaten ndash von Sherlock hol-mes uumlber nick carter bis zu nat Pinkerton ndash waren damals in deutschland eingroszliger erfolg und fesselten die Fantasie des Jungen Sein lebhaftes und anhalten-des interesse an diesem Genre sollte sich viele Jahre spaumlter als nuumltzlich erweisenals er sich 1931 bei himmler in Waldtrudering vorstellte hatte keiner der beidenMaumlnner eine Vorstellung davon wie man einen Spionagedienst aufbaute dochheydrichs aus Kriminal- und Spionageromanen gewonnenes raquoFachwissenlaquoreichte aus himmler so sehr zu beeindrucken dass dieser ihn mit dem aufbaueines Sicherheitsdienstes der SS beauftragte dem kuumlnftigen Sd44

Krieg und Nachkrieg

im Sommer 1914 ndash die heydrichs weilten wie jedes Jahr fuumlr einige Wochen an derOstseekuumlste ndash erschuumltterte ein folgenschweres ereignis die Welt bis in die Grund-festen am 28 Juni wurde der oumlsterreichische Thronfolger Franz Ferdinand inSarajevo erschossen was eine internationale Krise ausloumlste die bald darauf in denersten Weltkrieg muumlndete

das volle ausmaszlig der dramatischen ereignisse vom Sommer 1914 duumlrfte fuumlrden kleinen Reinhard kaum zu uumlberschauen gewesen sein der Zehnjaumlhrige ge-houmlrte zu der sogenannten Kriegsjugendgeneration zu jung um als Soldat an dieFront geschickt zu werden doch alt genug um den Krieg bewusst als ein ein-schneidendes ereignis zu erleben auch wenn kein naher Familienangehoumlrigereinruumlcken musste war der Krieg doch allgegenwaumlrtig Zeitungen deckten die hei-matfront mit glorifizierenden Berichten uumlber den Fortschritt der militaumlrischenOperationen ein Plakate kriegerischen inhalts beherrschten den oumlffentlichenRaum Fotografien prominenter Generaumlle sowie dekorierter ehemaliger Schuumllerschmuumlckten die Waumlnde der Klassenzimmer und die Lehrer verkuumlndeten vor denversammelten Schuumllern die juumlngsten Siege nach und nach verlieszligen die aumllterenSchuumller die Klassen und gingen an die Front im Juni 1915 meldeten sich rundachtzig Prozent der Oberstufenschuumller freiwillig zur armee und viele der juumlnge-

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