Redaktion Unfallchirurgiemiteinge...

8
[Orthopedic Surgery with Limited Resources After Mass Disasters and During Armed Conflicts : First International Guidelines for the Management of Limb Injuries and the Experience of Doctors Without Borders] MSF Field Research Authors Osmers, I Citation [Orthopedic Surgery with Limited Resources After Mass Disasters and During Armed Conflicts : First International Guidelines for the Management of Limb Injuries and the Experience of Doctors Without Borders]. 2017 Unfallchirurg DOI 10.1007/s00113-017-0399-x Publisher SpringerLink Journal Der Unfallchirurg Rights Archived with thanks to Der Unfallchirurg Downloaded 18-Sep-2018 06:44:07 Link to item http://hdl.handle.net/10144/618993

Transcript of Redaktion Unfallchirurgiemiteinge...

[Orthopedic Surgery with Limited Resources After MassDisasters and During Armed Conflicts : First InternationalGuidelines for the Management of Limb Injuries and the

Experience of Doctors Without Borders]

MSF FieldResearch

Authors Osmers, I

Citation [Orthopedic Surgery with Limited Resources After MassDisasters and During Armed Conflicts : First InternationalGuidelines for the Management of Limb Injuries and theExperience of Doctors Without Borders]. 2017Unfallchirurg

DOI 10.1007/s00113-017-0399-x

Publisher SpringerLink

Journal Der Unfallchirurg

Rights Archived with thanks to Der Unfallchirurg

Downloaded 18-Sep-2018 06:44:07

Link to item http://hdl.handle.net/10144/618993

Leitthema

UnfallchirurgDOI 10.1007/s00113-017-0399-x

© Springer Medizin Verlag GmbH 2017

RedaktionW. Mutschler, München

Inga Osmers1,2

1 Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières e.V., Berlin, Deutschland2Unfallkrankenhaus Berlin, Berlin, Deutschland

Unfallchirurgie mit einge-schränkten Ressourcen nachKatastrophen und währendbewaffneter KonflikteErste internationale Leitlinien zurVersorgung von Extremitätenverletzungenund die Erfahrung von „Ärzte ohne Grenzen“

Hintergrund

Das Erdbeben in Haiti im Januar 2010ist eines der letzten großen Beispiele fürNaturkatastrophen und seine verheeren-den Folgen für die Bevölkerung. Dankder modernen Kommunikationsmög-lichkeiten ist es möglich, die Nachrichtsolcher Katastrophen sofort und auf derganzen Welt zu verbreiten, was – wieim Falle von Haiti – eine Welle derHilfsbereitschaft erzeugt. Retrospektivmuss man jedoch feststellen, dass diesegut gemeinte Hilfe, die unkoordiniertmit oft unerfahren Helfern über solcheKrisengebiete hereinbricht, die Situationin vielen Fällen eher verschlechtert alsverbessert [1, 2]. Die WHO hat dahermit einer Standardisierung und Regis-trierung internationaler medizinischerNothilfeteams begonnen [3, 4], derenfachliche Basis die neuen Leitlinien sind[5].

Krieg und Katastrophe

Die Erstellung solcher Leitlinien(. Infobox1) ist schwierig und bedarf derkontinuierlichen Überarbeitung, da eswenige Daten zur chirurgischen Versor-gung unter solch prekären Umständengibt. Im allgemeinen Chaos von Kriegund Katastrophe und unter Berück-

sichtigung der hohen Arbeitslast derChirurgen ist es eine enorme Heraus-forderung, Daten zu sammeln, die nichtnur eine epidemiologische Auflistungvon Verletzungen sind, sondern auchAufschluss über Behandlungsstrategieund -erfolg ermöglichen. Médecins SansFrontières (MSF) hat seine Systeme zurDatenerfassung in den letzten Jahrenmehrfach umgestellt und angepasst. DasZiel ist eine korrekte Datenerfassung,deren Aufwand nicht mit der Zeit desChirurgen in der Patientenversorgungkonkurriert, aber dennoch ein Schritt inRichtung evidenzbasierte Medizin ist.

Nach Naturkatastrophen unterschei-det sich das Verletzungsmuster entspre-chend der Katastrophe. So sind nacheinem Tsunami beispielsweise sehr vielmehr Tote als Verletzte zu beklagen.Dieses Verhältnis dreht sich nach einemErdbeben um, es resultiert in signifikantmehr Verletzten als Toten. Bei bis zu90% der Verletzungen handelt es sichum Extremitätenverletzungen [6].

Daten des Internationalen Komiteesvom Roten Kreuz (IKRK) und des Mi-litärs zeigen, dass in den vergangenenKriegen zwei Drittel aller VerletzungenExtremitätenverletzungen waren [7].Abhängig von der Kriegsführung kannes zu Variationen der Verteilungsmus-ter kommen. So gab es aufgrund der

Infobox 1 Einige zusammenge-fasste Kernaussagen der Leitlinien:„Do no harm“

4 WundenjAlle katastrophen- oder konfliktbeding-ten Wunden sind kontaminiert undkönnen ein Gasgangrän entwickelnoder Tetanus verursachen

jKein primärer Wundverschluss,Sekundärnaht nach 2 bis 5 Tagen beisauberenWundverhältnissen

4 Geschlossene FrakturenjSollten konservativ therapiert werdenjInterne Fixierung braucht und ver-braucht viele Ressourcen, hat ein hohesInfektionsrisiko und sollte die lokalenKapazitäten im Management auch dermöglichen Langzeitkomplikationennicht überschreiten

jInsbesondere Patienten in Extensionbrauchen regelmäßig physiotherapeu-tische Beübung, um das Einsteifen vonGelenken (v. a. Spitzfußstellung) zuverhindern

4 Offene FrakturenjEntscheidend für den Behandlungs-erfolg einer offenen Fraktur ist dasWeichteilmanagement

jStabilisierung einer offenen Frakturkann durch Gips oder Fixateur externegeschehen

jKeine primär interne Fixierung offenerFrakturen in Konflikt oder Katastrophe

Der Unfallchirurg

Leitthema

Abb. 19 Schema-tische Darstellungder Patientenzahlenin Abhängigkeit vonder Zeit währenda einer KatastropheundbbewaffnetemKonflikt

über Jahre andauernden Grabenkämpfedes 1. Weltkriegs überdurchschnittlichviele Kopf- und Gesichtsverletzungen(„gueule cassée“).

Technisch-chirurgischeVersorgung

Die technisch-chirurgische Versorgungähnelt sich über weite Strecken in Kriegund Katastrophe. Arbeitet man mit sehrbeschränkten Ressourcen ohne Verle-gungsmöglichkeit in ein besser ausgerüs-tetes Zentrum, kann man sich auf vielegelernte Algorithmen nicht verlassen, daschon die dazu erforderliche Diagnostiknicht vorhanden ist. Nach einem Erdbe-ben muss man davon ausgehen, in denersten Tagen und evtl. Wochen keineradiologische Diagnostik zur Verfügungzu haben. Die Labordiagnostik kann aufBlutgruppe undHämoglobinwerte sowieeinen Schnelltest für Malaria reduziertsein, und die verfügbare Anästhesie isteine Spinalanästhesie oder Allgemein-narkose mit Ketamin. Bei letzterer ist zubedenken, dass man keine Muskelrela-xation bekommt und im Gegenteil miteinem erhöhten Muskeltonus rechnenmuss.

Soweit ähneln sich Krieg und Kata-strophe. Doch sie unterscheiden sich in

ihrer Dynamik. Einige daraus resultie-rende Aspekte gilt es in der Planung undDurchführung chirurgischer Hilfspro-jekte zu bedenken.

Unterschiedliche Dynamik

Der Beginn einer Naturkatastrophe, bei-spielsweise eines Erdbebens, ist plötz-lich und zeitlich nicht voraussagbar(. Abb. 1). Innerhalb weniger Stundennach dem Beben gibt es eine Anzahlvon Patienten, die alle vorhandenenGesundheitsstrukturen weit überfor-dern. Nachdem die Spitzenzahl einmalerreicht wurde (meist innerhalb derersten Woche), nimmt die Zahl neuerPatienten kontinuierlich ab. Unglück-licherweise fällt die Zerstörung dervorhandenen Infrastruktur in die Zeitdes größten Patientenaufkommens. DerWiederaufbau setzt ein, und abhängigvom Ausmaß der Katastrophe und ih-rer Lokalisation ist nach einigen Tagenoder Wochen eine Situation erreicht, inder die Versorgungsmöglichkeiten denPatientenzahlen gerecht werden. NachWochen und Monaten ist schließlich die„normale“ Situation vor der Katastrophewieder erreicht.

Ein bewaffneterKonflikt zeichnet sichmeist schon über längere Zeit ab und hat

gelegentlich einen fast schleichendenBe-ginn. Es gibt keinen Patientenansturm,der sich auf einen einzigen Zeitpunktreduzieren ließe. Vielmehr ist es ein Aufund Ab unterschiedlich dramatischerVersorgungssituationen. Waren die Ver-sorgungsmöglichkeiten zu Beginn desKonflikts noch nahezu uneingeschränkt(und die Zahl der Verletzten häufignoch reduziert), wird die Gesundheits-versorgung mit zunehmender Dauerder Kämpfe immer weiter arrodiert. DieVerknappung der Ressourcen (medizini-sches Personal, Finanzen, Infrastruktur,Transportkapazitätenetc.)nimmtebensozu wie die Zahl der Patienten (. Abb. 1).Gleichzeitig nimmt der Allgemeinzu-stand der Patienten und der allgemeinenBevölkerung ab. Diese traurige Gesetz-mäßigkeit lässt sich seit einigen Jahrenan den Bildern verfolgen, die uns ausSyrien erreichen.

Chirurgie unter einem Baum

Mit der Formulierung „Chirurgie untereinemBaum“werden innerhalb vonMSFinoffiziell gerne die einfachsten chirurgi-schen Projekte beschrieben. Auch wenndiese Formulierung heute eher als Me-tapher gemeint ist, gibt es doch extremeAusnahmesituationen, in denen sie fastwörtlich zu verstehen ist. Innerhalb derersten 10 Tage nach dem Erdbeben inHaiti wurde die chirurgische Erstversor-gung der Verletzten beispielsweise un-ter freiem Himmel durchgeführt. Wasdiese Formulierung aber v. a. verdeut-licht, abgesehen von der anekdotischenMetapher aus einemKatastrophengebiet,ist die Tatsache, dass Chirurgie unter soeingeschränkten Bedingungen ein hohesRisiko birgt. Wenn der Anästhesiewagenauf nicht viel mehr als ein Pulsoxyme-ter zusammen schrumpft und die Blut-bank nurwenige Beutel Vollblut beinhal-tet, bedeutet jeder chirurgische Eingriffzunächst einmal eine große Gefahr fürLeib und Leben. In diesem Bewusstseinist jeder Chirurg gefragt, eine Operati-onsindikation kritisch zu stellen bzw. zuhinterfragen. Als Faustregel kann gelten:je einfacher die Bedingungen, umso re-striktiversolltenOperationsindikationengestellt werden.

Der Unfallchirurg

Zusammenfassung · Abstract

Unfallchirurg DOI 10.1007/s00113-017-0399-x© Springer Medizin Verlag GmbH 2017

I. Osmers

Unfallchirurgie mit eingeschränkten Ressourcen nach Katastrophen und während bewaffneterKonflikte. Erste internationale Leitlinien zur Versorgung von Extremitätenverletzungen und dieErfahrung von „Ärzte ohne Grenzen“

ZusammenfassungKatastrophen und bewaffnete Konfliktesind häufig der traurige Hintergrund derHilfsprogramme der Organisation Ärzteohne Grenzen/Médecins Sans Frontières(MSF). Es liegt in der Natur von Krieg undKatastrophe, dass Chirurgie ein wesentlicherAspekt dieser medizinischen Nothilfe ist. InKriegssituationen oder nach Erdbeben sinddie Mittel, die der chirurgischen Versorgungzur Verfügung stehen, oft sehr beschränkt. DieArbeit unterscheidet sich ganz wesentlich vonder täglichen Arbeit eines Chirurgen in denIndustrienationen. Zwar ändern sich nicht diegrundsätzlichen Gesetze der Chirurgie, aberals Chirurg ist man gefragt, sein taktischesVorgehen bei der Versorgung den veränderten

Verhältnissen anzupassen. Man läuft sonstGefahr, die Gesundheit der Patienten nichtnur nicht zu verbessern, sondern häufig auchdramatisch zu verschlechtern. Jeder erfahreneKriegschirurg hat diese oft sehr leidvolleErfahrung machenmüssen. Um die Lernkurvealler neuen Chirurgen auf dem Gebiet derKatastrophen- und Kriegschirurgie zu opti-mieren und den Patienten Leid zu ersparen,sind die ersten internationalen Leitlinien zurVersorgung von Extremitätenverletzungenin Krisensituationen herausgegebenworden (https://icrc.aoeducation.org).Unter Federführung des InternationalenKomitees vom Roten Kreuz (IKRK) und derWeltgesundheitsorganisation (WHO) sowie

finanziert durch die AO-Stiftung habenExperten unterschiedlicher Organisationen(u. a. MSF) ihre Erfahrungen in diesenLeitlinien zusammengefasst und darausBehandlungsempfehlungen formuliert. Derfolgende Beitrag gibt eine kurze Übersichtder speziellen Herausforderungen derChirurgie mit eingeschränkten Ressourcenund geht auf einige Besonderheiten der sog.Kriegschirurgie ein.

SchlüsselwörterKriegschirurgie · Beschränkte Ressourcen ·Katastrophe · Leitlinien · Behandlungsempfeh-lungen

Orthopedic surgery with limited resources after mass disasters and during armed conflicts. Firstinternational guidelines for the management of limb injuries and the experience of DoctorsWithoutBorders

AbstractDisasters and armed conflicts are often theunfortunate basis for aid projects run byDoctors Without Borders/Médecins SansFrontières (MSF). The nature of war anddisasters means that surgery is an integralpart of this medical emergency aid. In thesesituations, resources are usually limited.As a result, surgical work in these contextsdiffers significantly from the daily routineof a surgeon working in a highly resourcedhospital. The principles of surgery do notchange but surgeons must adapt their tacticalapproach to the changed context otherwise

there is a high risk of failing to improve thehealth of patients and potentially jeopardizingtheir prospects for recovery. Every experiencedwar surgeon has learned new skills the hardway. The Field Guide to Manage Limb Injury inDisaster and Conflict has been written to helpnew surgeons who may face the challengesof disaster and war surgery and to avoidunnecessary suffering for patients (https://icrc.aoeducation.org). Under the guidance ofthe International Committee of the Red Cross(ICRC), with participation of the World HealthOrganization (WHO), financed by the AO

Foundation, and featuring the experiences ofexperts from different organizations (amongstthem MSF), the book details techniquesand guidelines for surgery in low resourcesettings. The following article provides a shortsummary of some of the surgical challengeswhen working with limited resources andreflects on a few specific recommendations forso-called war surgery.

KeywordsWar surgery · Limited resources · Disasters ·Guidelines · Treatment recommendations

Behandlungskonzepte beieingeschränkten Ressourcen

Mit dem Überwiegen von Extremitä-tenverletzungen nach Katastrophen undwährend bewaffneter Konflikte ist diechirurgische Arbeit sehr unfallchirur-gisch geprägt. Neben der Frakturversor-gung entfällt ein Großteil der Arbeit aufdas Débridieren z. T. sehr ausgedehnterWunden. Für die Frakturversorgung gilt:so konservativ wie möglich. Dies ergibtsich aus mehreren Aspekten: es hältdas Operationsrisiko niedrig (s. oben),

verkleinert die Arbeitslast der chirurgi-schen Teams, aber v. a. minimiert es dasmögliche Ausmaß operationsassoziier-ter Infektionen. Unter den schwierigenBedingungen solcher Krisensituationenwächst sich beispielsweise ein Implan-tatinfekt schnell zu einem Problem aus,das sich mit den verfügbaren Mittelnnur noch durch radikale Maßnahmenbeherrschen lässt. Immer wieder gibtes tragische Verläufe zu beobachten, indenen die geschlossene Schaftfrakturnach interner Fixierung, langem Krank-heitsverlauf und einer Vielzahl ganz

unterschiedlicher „Antibiotikacocktails“in einer Amputation endete. Grund-sätzlich gilt es zu bedenken, dass dieinterne Fixierung nicht nur ein hohesMaß an verfügbaren Ressourcen braucht(Infrastruktur, Personal, Hygiene etc.),sondern auch verbraucht (Wasser, Mate-rial, Finanzen). Sie wird daher von MSFund dem IKRK in der Akutphase nachKatastrophen nicht durchgeführt undvon den Leitlinien nicht empfohlen.

Für Unfallchirurgen, die ihre Ausbil-dung in den westlichen Industrienatio-nen erhalten haben, ist es eine durchaus

Der Unfallchirurg

Leitthema

Abb. 28 Kleine Ein- undAustrittswunden dürfen nicht über das tatsächliche Verletzungsausmaßhinwegtäuschen. Die klinisch sichtbareWeichtelkontusion unddas Röntgenbild gebenHinweis aufdie ausgedehnteWundhöhle, die gelegentlich Kleidung, Erde etc. enthalten kann

bereicherndeErfahrungzusehen,wiegutman viele Frakturen mit konservativenMitteln erfolgreich behandeln kann. Al-lerdings setzt auch die erfolgreiche kon-servative Therapie ein gutes Verständnisder Frakturheilung voraus, erfordert dieFähigkeit, gut modellierte Gipse anzu-legen, evtl. zum richtigen Zeitpunkt dieTherapie auf funktionelle Gipse („Sar-miento braces“) umzustellen und einelückenlose Nachbetreuung des Patientenzu gewährleisten. Konservative Therapiebedeutet nicht Neglect.

Für einen sinnvollen Therapieplanlohnt es sich, klare Therapieziele vorAugen zu haben. Diese Ziele sind auchin Krisensituationen keine anderen alsin der Komfortzone, aus der wir kom-men. Ganz allgemein sind die Ziele derBehandlung:4 ein gutes Repositionsergebnis,4 Infektfreiheit,4 knöcherne Konsolidierung,4 gutes funktionelles Ergebnis.

» Das funktionelle Ergebnis istam Ende der Gradmesser desErfolgs

Mit den hohen Ressourcen, die in denIndustrienationen zur Verfügung stehen,ist der Anspruch der Behandlung, alle 4Ziele zu erreichen. Bei eingeschränktenRessourcen ist dies nicht immer mög-lich. Daher ist man als Chirurg gezwun-gen, Prioritäten zu setzen. Am Ende istdas funktionelle Ergebnis der Gradmes-ser des Erfolgs. Abhängig von der Loka-lisation kann das aber unterschiedliche

Prioritäten bedingen. So ist eine gute Sta-bilität für die untere Extremität aus funk-tionellen Gesichtspunkten wichtiger alsfürdie obereExtremität.Mit einemstabi-len, wenn auch steifen Standbein lässt essich sehr viel besser laufen als mit eineminstabilen Bein bei vollem Bewegungs-ausmaß („range of motion“, ROM). An-ders verhält es sich bei der oberen Extre-mität. UmdieHand an denMund führenzu können, ist Beweglichkeitwichtig. DieInstabilitäteinerPseudarthrosekanndie-se Beweglichkeit begünstigen. Sehr vielschlechter lässt sich im Alltag eine gutkonsolidierteEllenbogenfrakturbei starkeingeschränkter ROM kompensieren.

Wenn man zu Kompromissen ge-zwungen ist, kann daher als Grundsatzfür die obere Extremität gelten:Mobilitätüber Stabilität; für die untere Extremität:Stabilität über Mobilität.

Besonderheiten der Kriegs-chirurgie

Wundverschluss

Kriegsverletzungen im Sinne penetrie-render Verletzungen sind immer kon-taminiert [7]. Sie erfordern ein genau-es und radikales Débridement, was sichdurch keine konservative Therapie erset-zen lässt. Die vielen frustranen VerläufenachKriegsverletzungen finden oft ihrenAnfang im ersten Débridement, das dieWunde zwar oberflächlich gesäubert hat,aber in der Tiefe Kontamination und ne-krotisches Gewebe (v. a. Muskelgewebe)zurückließ. Häufig liegt dies an der in-itialen Unterschätzung der Kriegsverlet-zung (. Abb. 2). Das unterschätzte Aus-

maß der Wunde erklärt sich durch dieWundballistik. Dabei ist die ZerstörungdesGewebes von der Energie des Projek-tils abhängig, die an das Gewebe abgege-benwird. Diese Energie wird vonmehre-ren Faktoren bestimmt, u. a. von der Artder Schusswaffe („high“ oder „low velo-city“) und der Art des Projektils (Voll-oder Teilmantelgeschoss). Eine Sonder-stellungsindExplosionsverletzungen,dienebenderabgegebenenEnergiederFrag-mente einemeist enormeKontaminationbedingen (z. B. Landminen, sog. „impro-visedexplosivedevices“etc. [8]).AusdemGesagten ergibt sich, dass Kriegsverlet-zungen nie primär verschlossen werdendürfen.Auchwenn es redundant erschei-nen mag, darauf noch einmal aufmerk-samzumachen,zeigtdieErfahrungdoch,dass in den meisten Krisen egal welcherRegion (Mittlerer Osten, Afrika, Europa)Schuss- und auch Explosionsverletzun-gen immer wieder primär verschlossenwerden (. Abb. 3).

» Kriegsverletzungen sindimmer kontaminiert underfordern ein genaues undradikales Débridement

Der sekundäre Wundverschluss sollte 2bis 5 Tage nach dem initialen Débri-dement erfolgen. Eine gut débridierteund verbundene Wunde kann problem-los 5 Tage bis zum erstenVerbandswech-selwarten.EineschnelleAbfolgevonVer-bandswechseln und evtl. wiederholtemNachdébridieren dient nicht derWunde,erhöht die Arbeitslast und steigert dasOperationsrisiko.

Osteosynthesen

Osteosynthesen von Kriegsverletzungensind bei MSF und dem IKRK verboten.Die Leitlinien raten dringend ab. Die Er-fahrung zeigt, dass der implantatassozi-ierte Infekt eine meist unbeherrschba-re Komplikation in diesem Kontext ist.Selbst in einem Umfeld mit hohen Res-sourcen sind Infektraten von 40% be-schrieben [9].

Ohne die Möglichkeit der Osteosyn-these bei häufig sehr komplexen Fraktu-

Der Unfallchirurg

Abb. 38 a Primär verschlossene Explosionsverletzung,b nach initialemDébridement, c 5. postoperativer Tagbei erstemVerbandswechsel imOP. Definitive Versorgung nach erneutemDébridementmit Spalthaut

Abb. 49 aMSF-Feldkran-kenhaus südlich vonMos-sulmitbOPund c Erstver-sorgung. (Copyright: Ärzteohne Grenzen e. V., Berlin,mit freundl.Genehmigung)

Abb. 59 Resteder Ambulanz nachdemAngriff auf dasMSF-Traumazen-trum in Kundus,Afghanistan. (Co-pyright: Ärzte ohneGrenzen e. V., Ber-lin,mit freundl.Genehmigung)

ren ist die erfolgreiche Frakturbehand-lung eine große Herausforderung. Siekann nur gelingen, wenn dem Weich-teilmanagement eine mindestens eben-solche Aufmerksamkeit zuteil wird wieder Frakturversorgung. Kriegsverletzun-gen bedingen häufig ausgedehnteWeich-teildefekte und erneut muss das radika-le, aber genaue Débridement angespro-chen werden. Sowohl zu radikale Débri-dements vergrößern unnötig die Defek-te als auch nicht ausreichende Débride-ments, da häufiges Nachdébridieren amEnde in größerem Weichteilverlust en-det. Je ausgedehnter der Weichteildefektist, umso schwieriger wird die anschlie-ßende plastische Deckung werden. Diewiederum ist in aller Regel für den Un-fallchirurgen eine größere Herausforde-

Der Unfallchirurg

Leitthema

Infobox 2 Anforderungen fürUnfallchirurgen bei Ärzte ohneGrenzen

4 AllgemeinjFacharzt mit mindestens 2 JahrenBerufserfahrung

j3-monatige Verfügbarkeit für denersten Einsatz (danach auch kürzermöglich)

jTropentauglichkeit4 Technische Fähigkeiten

jSichere Versorgung offener Frakturenmit Fixateur externe

jErfahrung in der konservativenFrakturversorgung (insbesondereVersorgung kindlicher Frakturen)

jErfahrung im Polytraumamanagement(Advanced Trauma Life Support, ATLS)

jGute klinische Einschätzung vonOsteomyelitis und Osteitis

jÜbung in der Spalthautdeckung,Erfahrung mit lokalen Lappenplastikenist von Vorteil

4 Sprachliche FähigkeitenjSichere Kommunikation auf EnglischjAktuell großer Bedarf an französischsprechenden Bewerbern

4 „Soft skills“jHohes Maß an Flexibilität und einausgeprägter Teamgeist

jStarke persönliche und körperlicheBelastbarkeit v. a. unter schwierigenBedingungen

jFähigkeit, Tagesabläufe sinnvoll zustrukturieren und zu organisieren

jOffenheit gegenüber fremden Kulturenund Freude an der Zusammenarbeitund dem Erfahrungsaustausch mitnationalen und internationalenKollegen

rung als die Frakturversorgung. Der Fi-xateur externe ist insbesondere für dasWeichteilmanagement bei offenen Frak-turen eine enorme Hilfe, sollte im Hin-blick auf die Frakturversorgung aber mitBedacht gewählt werden, da unkritischeund zu langeTherapien inunnötig hohenPseudarthroseraten enden (unveröffent-lichte Daten).

Der Zugang zu Chirurgie

Welche weiteren chirurgischen Aktivi-täten über die Frakturversorgung unddas Wunddébridement hinaus gefordertsind, hängt wesentlich vom Zugang derPatienten zur chirurgischen Versorgungab. Nach einerNaturkatastrophe sind dieErsthelfer immer Nachbarn und Familie.

Bis die ersten Hilfsteams eintreffen, ver-gingen in der Vergangenheit in der Regel72 h [10]. Wenn man als Chirurg 3 Ta-ge nach dem Erdbeben eintrifft, ist dieZeit der Damage-control-Chirurgie lan-ge vorbei. Dies ist auch die Erklärung fürdas Überwiegen der Extremitätenverlet-zungen. Patienten mit Thorax- und Ab-domenverletzungen, die „damage con-trol“ erfordern würden, sind bereits ver-storben. MSF hat verschiedeneKonzepteentwickelt, ummöglichst schnell auf eineKatastrophe reagieren zu können. DieseKonzepte tragen der erforderlichen Chi-rurgie im zeitlichenAblaufRechnung. Sowirddaserste chirurgischeTeammitdemnötigsten Versorgungsmaterial in trag-baren Boxen auf den Weg geschickt. Pa-rallel dazu kann innerhalb von 3 Tagenein aufblasbares Operationszelt mit Auf-wachraum, Erstversorgung und Triage-zone losgeschickt und aufgebaut werden(. Abb. 4).

Eine Woche braucht es, ein richtigesZeltkrankenhaus mit zusätzlicher Rönt-gendiagnostik,Laboretc. funktionsbereitzu haben. Die meisten Nothilfeteamsfokussieren sich auf die chirurgischeVersorgung der katastrophenbedingtenTraumapatienten. Dabei wird oft überse-hen, dass auch ganz „normale“ Notfälleweiter passieren und diese Patienten ver-sorgt werden müssen. Nicht selten ist dieNotfallsektio unter diesen Bedingungendie größte Herausforderung, da weni-ge Traumaopfer auf eine vergleichbarzeitnahe Versorgung angewiesen sind.In einigen Regionen ist die Prävalenzvon Eklampsie deutlich höher als inEuropa. So z. B. in Haiti, wo MSF nachdemErdbeben neben der Traumaversor-gung auch gleichzeitig eine Geburtshilfeaufgebaut hat. Während des bewaff-neten Konflikts in der Elfenbeinküste2011 machten Notfallkaiserschnitte inder Metropole Abidjan etwa ein Viertelder chirurgischen Interventionen aus(persönliche Aufzeichnungen).

Im Krieg wird die Versorgungsmög-lichkeit durch die Nähe zu den Kampf-handlungen bestimmt. So kann es sein,dass die Verletzten in einer urbanenUm-gebung schnell das Krankenhaus errei-chen, in ländlichen Gebieten die Wegeallerdingszu langsind.Verkomplizierendkommt hinzu, dass sich viele bewaffnete

Konflikteheutenichtmehrdurchklarde-finierte Frontverläufe auszeichnen, son-dern eher einem Guerillakrieg ähneln.Damitwird es schwer,Versorgungspunk-te in räumlicherNähe zu etablieren, ohnesie gleichzeitig ungeschützt den Kampf-handlungen auszusetzen.

Medical care under fire

Es lässt sich kaum über die Schwierigkei-tenbeiderVersorgungvonKriegsverletz-ten berichten, ohne auf gezielte Angriffeauf Gesundheitseinrichtungen einzuge-hen. Die Genfer Konventionen waren inden Kriegen des vergangenen Jahrhun-derts eine mehr oder weniger bindendeVerpflichtung für die meisten Kriegspar-teien. Ratifiziert von fast allen Staaten,garantieren sie den Schutz von Gesund-heitseinrichtungen und deren Personalsowie die notwendige medizinische Ver-sorgungderverletztenSoldaten, egalwel-cher Kriegspartei sie angehören. DieseVerpflichtung, obwohl von keinem Staataufgekündigt, wird heute von zahlrei-chen bewaffneten Gruppen und mehre-ren staatlichen Armeen in den aktuel-lenKrisenregionen ignoriert.Mehrnoch,die systematische Zerstörung von Ge-sundheitseinrichtungen ist eine gängigeKriegsstrategie geworden, deren trauri-ge Eskalation das sog. „double-tap bom-bing“ ist. Hierbei wird zunächst ein be-lebter Platz (z. B.Marktplatz, Schule etc.)bombardiert. Nach einiger Zeit, wennHelfer und Angehörige am Ort des An-griffs Erste Hilfe leisten, wird ein zwei-ter Angriff ausgeführt – oder es wirddas nächstgelegene Krankenhaus ange-griffen. In diesem Moment ist das Kran-kenhaus ein Ort mit überdurchschnitt-lich vielenVerletzten, in dem sich außer-dem viele professionelle und freiwilligeHelfer sowie Angehörige aufhalten. Da-mit werden nicht nur Opferzahlen maxi-miert, sondern die Versorgung der Ver-letzten wird sabotiert.

Orte, die eigentlich den unbedingtenSchutz aller Parteien erfordern, werdenzur Zielscheibe von Kampfhandlungengemacht (. Abb. 5). Im vergangenen Jahrwurden in Syrien mehr als 50 Angriffeauf vonMSFunterstützteKrankenhäusergemeldet. Diese Zahl ist nur die Spitzedes Eisbergs. Die Präsidenten des IKRK

Der Unfallchirurg

und von MSF haben im Mai und Sep-tember 2016 vor dem UN-Sicherheitsratihren dringenden Appell zur Respektie-rung der Genfer Konventionen wieder-holt und eindringlich eingefordert. ImMai 2016 wurde Resolution 2286, welchedie Sicherheit von Gesundheitseinrich-tung und Zivilbevölkerung garantierensoll, einstimmig verabschiedet. Die An-griffe wurden jedoch mit unveränderterHärte fortgesetzt, obwohl 4der insgesamt5ständigenMitgliederdesSicherheitsratsdirekt oder indirekt durch Koalitionenan diesen Konflikten beteiligt sind. Dasgezielte Angreifen von Gesundheitsein-richtungen, des Personals und der Pa-tienten zeugt von einer zunehmendenVerrohung in einem ohnehin brutalenGeschäft und schließt westliche ArmeenebensomiteinwiedasMilitärvonStaatendesMittleren Ostens und Russlands. Hu-manitären Organisationen bleibt nichtsanderes übrig, als durch Kampagnen wie„medical care under fire“ auf diese Atta-cken aufmerksam zu machen, die nachinternationalem Völkerrecht ein Kriegs-verbrechensind,wennsieabsichtlichaus-geführt werden.

. Infobox 2 informiert über Anforde-rungenanUnfallchirurgenbei„Ärzteoh-ne Grenzen“.

Fazit für die Praxis

4 Effektive chirurgische Hilfe in Kriegs-und Katastrophensituationen setzteine gute Vorbereitung voraus.

4 Sowohl das taktische als auch daschirurgisch-technische Vorgehenerfordern eine klare Vorstellung vonder Situation, dem Bedarf und demzu erwartenden Patientenkollektiv.

4 Die gute Absicht helfen zu wol-len, reicht nicht aus, um Chirurgieerfolgreich mit einfachen Mittelndurchzuführen.

4 EineHilfe bei derVorbereitungaufdieArbeit in Krisensituationen sind dieinternationalen Leitlinien zur Versor-gung von Extremitätenverletzungenin Kriegen und Katastrophen.

Korrespondenzadresse

© H. Bredehorst

Dr. I. Osmers, MAÄrzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières e.V.Am Köllnischen Park 1,10179 Berlin, [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. I. Osmers gibt an, dass keinInteressenkonflikt besteht.

Dieser Beitragbeinhaltet keine vomAutor durchge-führten Studien anMenschenoder Tieren.

Literatur

1. Gerdin M, Wladis A, von Schreeb J (2013) Foreignfieldhospitalsafterthe2010Haitiearthquake:howgoodwerewe?EmergMedJ30:8

2. Redmond AD et al (2011) A qualitative andquantitativestudyofthesurgicalandrehabilitationresponse to the earthquake inHaiti, January 2010.PrehospDisasterMed26:449–456

3. World Health Organization EMT Initiative (2016)Emergency Medical Teams, https://extranet.who.int/emt/23.08.2017

4. Norton I, von Schreeb J, Aitken P, Herard P, Lajolo C(2013) Classification and minimum standards forforeign medical teams in sudden onset disasters.WHOpress,Geneva,Switzerland

5. ICRC (2016) Management of limb injuries duringdisasters and conflicts. https://icrc.aoeducation.org,23.08.2017

6. Ishigaki A, Higashi H, Sakamoto T, ShibaharaS (2013) The Great East-Japan Earthquake anddevastating tsunami: an update and lessons fromthe past Great Earthquakes in Japan since 1923.JExpMed229:287–299

7. GiannouC, BaldanM (2010)War Surgery:workingwith limited resources in armed conflict andothersituations of violence 1:213–216. InternationalCommitteeof theRedCross,Geneva,Switzerland

8. RamasamyA,HillAM,ClasperJC(2009) Improvisedexplosivedevices: Pathophysiology, injuryprofilesand currentmedical management. J R Army MedCorps155:265–272

9. Mody RM et al (2009) Infectious complicationsof damage control orthopedics in war trauma.JTrauma67:758–761

10. Owens PJ, Forgione A, Briggs S (2005) Challengesof international disaster relief: use of a deployablerapid assembly shelter and surgical hospital.DisasterManagResponse3:11–16

Der Unfallchirurg