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Hans Adler, Sonja E. Klocke (Hg.)

Protest und VerweigerungNeue Tendenzen in der deutschen Literatur

seit 1989

Protest and RefusalNew Trends in German Literature since 1989

Wilhelm Fink

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Halls-Bascom Funds und des Anonymous Funds der University of Wisconsin-Madison

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Internet: www.fijink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenHerstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

ISBN 978-3-7705-6390-6

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Inhalt

Engagement als Thema und als Form. Anmerkungen zur gesellschaftlichen Funktion von Literatur und ihrer Tradition ....................... 1Hans Adler und Sonja Klocke

Einbruch der Wirklichkeit (Incursion of Reality): Navid Kermani’s Engaged Realism ............................................................................................................ 23Claudia Breger

Political Engagement in Ilija Trojanow’s EisTau (2011) and Der überflüssige Mensch (2013) ................................................................................ 45Katharina Gerstenberger

Macht und Widerstand im post-sozialistischen Europa: Nomenklatura und Staatssicherheit nach 1989 in der Gegenwartsliteratur ........................... 63Sonja E. Klocke

Korrektur durch epische Beschreibung – ‚Konservatives Engagement‘ zwischen autorschaftlichem Selbstverständnis und literaturkritischer Rezeption am Beispiel Uwe Tellkamps .................................................................. 93Sabrina Wagner

Du bist Teil des Problems! Zur Dialektik von Politisches und Privates in Ulrich Peltzers Teil der Lösung ................................................................................. 111Christian Jäger

Juli Zeh: Literatur und Engagement unter Leuten ........................................... 129Lars Richter

Feminine Paradigms and Fairy-tale Transformations in the Works of Kerstin Hensel: The Political Implications of Telling a Tale .......................... 157Melissa Sheedy

Temporal and Corporeal Re-Imaginings in Antje Rávic Strubel’s Kältere Schichten der Luft (2007) ............................................................................ 179Simone Pfleger

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vi Inhalt

Mediterranean Travels and Travails: Optimism and Crisis in Boat Refugee Narratives at the Boundaries of Europe ................................... 205Faye Stewart

Ökologische Ideologie und kriminelle Energie: das Genre „Öko-Krimi“ .................................................................................................................. 225Sabine Gross

Bibliografijie ..................................................................................................................... 251

Dank ................................................................................................................................. 271

Die Autor*innen .......................................................................................................... 273

Namenregister ............................................................................................................. 279

Sachregister .................................................................................................................. 287

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© WILHELM FINK VERLAG, 2019 | doi:10.30965/9783770563906_002

Engagement als Thema und als Form. Anmerkungen zur gesellschaftlichen Funktion von Literatur und ihrer Tradition

Hans Adler und Sonja Klocke

I Engagierte Literatur als Genre

Man liegt, wie die Beiträge in diesem Band klar und diffferenziert aufzeigen, nicht falsch, engagierte Literatur als ein Genre zu begreifen, dessen Flucht-punkt außerhalb seiner selbst liegt. Engagierte Literatur lebt vom Anlass, den es in Motivationspotenzial transformiert. Nicht zufällig wurde sie seit je beglei-tet von Polemiken, die ‚die Literatur‘ zu schützen vorgeben: ‚Tendenzliteratur‘, ‚gereimter Leitartikel‘, ‚Propagandamachwerk‘, „Gesinnungsästhetik“,1  „Ah, dogmatisch überladen. Thesenroman und so weiter!“2 Dieser Umgang mit en-gagierter Literatur als einem der Schmuddelkinder der (,hohen‘) Literatur ist keineswegs neu und der Kontaminationsvorwurf indiziert seit alters her ein problematisches Verhältnis zwischen Literatur und der Gesellschaft, von der sie Teil ist.

Engagierte Literatur ist Social Fiction, die sich über das parteiliche Einkla-gen axiomatischer Werte, selektive Fokussierung und u-/dystopische Perspek-tivierung begreifen lässt. Sie defijiniert sich in Relation zum außerliterarischen Status Quo. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge haben ihren Schwerpunkt in der kritischen Distanz zum Status Quo.3

Engagierte Literatur ist ein Mittel, mit dem in nicht-literarische Kontexte eingegrifffen wird. Sie ist ein Werkzeug – das Nützliche und nicht das Schöne von Kunst und Literatur war schon Platos primäres Wertungskriterium – und hat damit Teil an dem, was Literatur im Ensemble menschlicher Kultur

1 Ulrich Greiner. „Die deutsche Gesinnungsästhetik.“ In: Es geht nicht um Christa Wolf. Der Li-

teraturstreit im vereinten Deutschland, hg. von Thomas Anz. Frankfurt am Main: Fischer, 1991: S. 208–16.

2 Von Ilija Trojanow polemisch zitiert in „Gegen die herrschende Klasse. Ein Gespräch mit den Schriftstellern Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow über politische Literatur.“ In: Zeit Literatur Nr. 41, Oktober 2015, S. 6–9, hier: S. 6.

3 Es gibt natürlich auch afffijirmative engagierte Literatur, die auf den Erhalt, die Verherrlichung oder die solidarische konservative Kritik des Status Quo zielt. Wir sehen in diesem Band weitgehend von einer Diskussion dieser Dimension engagierter Literatur ab. Sabrina Wagner widmet sich allerdings mit ihrem Beitrag zu Uwe Tellkamp dem Phänomen des „konservati-ven Engagements“.

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insgesamt ausmacht, nämlich bestehende Ordnungen zu kritisieren oder zu afffijirmieren, neue zu imaginieren oder alte zu reaktivieren und so Orientie-rung und Neubesinnung auf das Wünschenswerte zu ermöglichen. Engagierte Literatur ist ein organischer (von griechisch: organon, Werkzeug) Bestandteil menschlicher Kultur.

Engagierte Literatur will immer Ärgernis sein. Werte einklagen in einer de-fijizienten („schlechten“) Gegenwart provoziert den Status Quo und stellt damit die herrschenden Machtverhältnisse in Frage. Das wird gern als David-Goli-ath-Verhältnis dargestellt, welches seinen Witz aus der chiastischen Anord-nung in einer Verhältnisgleichung vom Typ a : b = c : d bezieht: Engagierte Lite-

ratur : Machtstruktur des Status Quo = David : Goliath.Es ist bemerkenswert, welche ‚Macht‘ Literatur in der Auseinandersetzung

mit der Brachialgewalt manifester Politik, Ökonomie und Kommunikations-technologie hat entwickeln können. Bemerkenswert ist aber auch, dass Lite-ratur, die Diktaturen, Kleptokratien und Terrorregimen zu Diensten war, mit dem Untergang dieser Herrschaftsformen geräuschlos verschwand. Zu unter-scheiden ist dabei zwischen Literatur der willigen Afffijirmation einerseits und Literatur der Verteidigung von Ordnungen andererseits, die teilhat an der pro-gressiven Werteaxiomatik der Moderne – mit den Kernen Freiheit, Frieden, Gleichheit, Menschenwürde, Sicherheit, Inter-, Transnationalität. ‚Engage-ment‘ ist immer parteilich, gerichtete Energie im Kampf um kulturelle, soziale, politische, und kommunikative Macht.

Die vielfach als Kippfijigur verstandene Horazische Funktionsbestimmung von Literatur – „aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucun-da et idonea dicere vitae“ (die Dichter wollen entweder nützen oder erfreuen / oder gleichzeitig sagen, was erfreulich und für das Leben nützlich ist) – ist nicht exklusiv, wie die weniger zitierte zweite Zeile des Zitats deutlich macht, und schließt ein, dass das Vergnügen an Literatur zum Handeln bewegen kann. Engagierte Literatur ist das Scharnier zwischen Aufklärung, emotionaler Teil-nahme am Dargestellten und dem Antrieb zum Handeln. Diese emotionale Teilnahme war schon immer zentrales Axiom der Rhetorik, und sie war für die Philosophie der Aufklärung das Element, welches das ‚Begehren‘, das Tun- und Haben-Wollen, als Willen und Trieb in Gang setzte. Fluchtpunkt engagierter Literatur ist ihre extratextuelle Wirkung, deshalb ist engagierte Literatur prag-matische Literatur.

Literatur kann sich engagieren, sie muss aber – wenn der Funke der Leb-haftigkeit den Text als Energie, als bloßes Motivationspotenzial überspringen soll – auch ‚engagiert‘ gelesen werden. Denn engagierte Literatur ist nicht zuletzt dadurch als solche begreifbar und rezipierbar, dass ihre Brisanz als prononcierte Facette der Gegenwärtigkeit von Literatur maßgeblich ihre Re-zipienten und deren Umfeld bewegt. Das Potenzial des engagierten Texts

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3Engagement als Thema und als Form

entfaltet sich erst in der Rezeption und durch Rezipienten. Die Rezeption ist die Nagelprobe auf das intendierte Engagement. Wie ein General ohne Truppen mit seinem „Vorwärts!“ lächerlich ist, wird engagierte Literatur ohne engagierte Leser*innen vom eigenen Pathos stranguliert. Das ist freilich ein recht weites Feld, denn littérature engagée – Claudia Breger erinnert uns in ihrem Beitrag im vorliegenden Band daran – erschöpft sich nicht in schlichter Thematisierung einer politischen, sozialen oder sonstigen Kontext-Referenz. Nicht nur sind Texte sprachlich ‚vermittelt‘, stellen also nicht Dinge, sondern ‚verzeichnete‘ (semiotisierte) Vorstellungen von Dingen vor. Texte schafffen auch imaginäre Räume und Zeiten, die ihren eigenen Logiken und Intenti-onen folgen, und zwar auch dann, wenn sie ‚nur‘ berichten. Fiktion, als ein Spezialfall des literarischen Diskurses ist ein Labor, in dem Imagination und Erfahrung experimentell, kritisch oder ‚interventionistisch‘ (Ulrich Peltzer) amalgamiert werden können. Es war Samuel Beckett, der das Kafkaeske dieses Modells der Imagination als Repräsentationsvermögen bis an seine Grenzen ausreizte mit seinem Imagination Dead Imagine von 1965.4

Es ist nicht nur das Thema oder der Stofff, der engagierte Literatur als solche ausweist, es ist auch die gewählte Gattung, die sie in ihren Möglichkeiten be-stimmt. Literarische Gattungen und Genres sind „Organisationsformen von Wissen“5, die mit ihren Spezifijika ihre Grenzen festlegen: Eine Dorfgeschichte und ein Reisebericht haben sowohl spezifijische Stärken in ihren Darstellungs-möglichkeiten, gleichzeitig weisen sie aber auch als Gattungen/Genres Kapazi-tätsgrenzen auf, die sie als Wissens- und Darstellungsformen in ihrem Einsatz beschränken. Wer diese Formen wählt, muss sich auf eine oder die andere Weise auf ihre Spezifijika einlassen und die damit verbundenen Bedingungen anneh-men oder sie ironisieren. Das Risiko der Kollision von Erfahrungsdruck und Darstellungsform ist ein ständiger Begleiter der engagierten Literatur gewesen. Der topische Vorwurf an engagierte Literatur, ‚Tendenz‘- oder ‚Thesenliteratur‘ zu sein, also Literatur, die politische oder andere Thesen bloß transportiert und illustriert, wird häufijig dann vorgebracht, wenn die Gattung das anstehende Pro-blem nicht mit eigenen Bordmitteln bewältigen kann oder die Diffferenz zwi-schen Literatur und kritischer Abhandlung bewusst ignoriert wird.

Das Gattungs- oder Formproblem engagierter Literatur ist indes erheblich schwieriger zu lösen, als die Themen- oder Stofffwahl zu trefffen. Unter den im

4 Samuel Beckett. Imagination Dead Imagine. Translated from the French by the Author. Lon-don: Calder and Boyers, 1965. Der französische Titel lautete: Imagination morte imaginez.

5 Vgl. Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen. Hg. von Gunhild Berg. (Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. 17) Frankfurt am Main: Peter Lang, 2014.

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vorliegenden Band thematisierten Texten dominiert die Darstellung der aktuel-len Themen in traditionellen Formen narrativer Literatur. Engagierte Literatur als ein wieder verstärktes Sich-Einlassen der Literatur auf das, ohne welches es sie gar nicht gäbe: Extratextuelle Realität, Kon-Text, der ohne Diskursivierung schieres Chaos („... die unheimliche, obszöne, kontingente, katastrophische Realität ...“6) wäre: amorph, bloßes Nebeneinander, Material, das erst ‚Realität‘ wird durch bewusste oder unbewusste Regulierung der Perzeption und Anord-nung der Perzepte. Nahezu nostalgisch konstatiert Ulrich Peltzer den Verlust des Konnex’ zwischen Geschichte und Philosophie, aus dem die Leitsterne der ‚grand récits‘ hervorgehen konnten.7 Alle Literatur kommt aus einem Kontext, wird in einen Kontext hinein verfasst und wirkt in einen Kontext, dessen Teil sie wird. Selbst Texte, die sich durch Kommunikationsverweigerung der Re-duktion auf den gerade herrschenden common sense programmatisch zu ent-ziehen suchen, sind, bleiben dem Verweigerten qua Ablehnung verbunden. So gesehen, ist Literatur ohne Ausnahme auf die unendliche Vielfalt des Extratex-tuellen bezogen, greift ein, annotiert, thematisiert, schaffft – auch in der Ver-weigerung – neue Perspektiven, entwirft in der Kritik neue Ordnungen oder verwirft das Konzept Ordnung (Kosmos) als solches, ohne jedoch für diesen Angrifff auf ein Orientierungsangebot verzichten zu können. Dieser Konnex zwischen Text und Kontext ist der kleinste gemeinsame Nenner aller enga-gierten Literatur: Literatur als „Zeitkunst“ (Thomas Hettche). „Lesen bedeutet, etwas zu begreifen und dabei stets mitzubegreifen, dass dieses Verstehen die Zeit nicht anhält, sondern dass die Geschichte, gerade begrifffen, einem schon wieder entgleitet.“8

Dieses Hegelsche Verständnis vom „Jetzt“ in Hettches Idee von Literatur als „Zeitkunst“ hebt nochmals hervor, was implizit beim Genre ‚engagierte Litera-tur‘ meist stillschweigend vorausgesetzt wird, gleichwohl einen näheren Blick wert ist: Engagierte Literatur ist immer Literatur einer Gegenwart, die immer eine Distanz forciert, die das Engagement erst ermöglicht. Damit ist engagierte Literatur genau wie Gegenwartsliteratur keiner spezifijischen Epoche zugehö-rig, sondern signifijiziert vielmehr einen Autor*innen und Rezipient*innen verbindenden Zeitrahmen und verweist auf die größte vorstellbare zeitliche Nähe von Text-Schafffen und Rezipieren. Autor*innen und Rezipient*innen von engagierter Literatur sind somit zwar Zeitgenoss*innen, aufgrund des

6 Thomas Hettche. „Wir Barbaren. Muss die Literatur heute vor der Wirklichkeit kapitulieren? Der Schriftsteller Thomas Hettche verteidigt einen literarischen Realismus, der die Welt er-kennbar macht.“ In: Die Zeit Nr. 46 vom 9. November 2017, S. 46.

7 Peltzer in „Gegen die herrschende Klasse“ (wie Anm. 2), S. 7.8 Thomas Hettche. „Wir Barbaren“ (wie Anm. 6).

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5Engagement als Thema und als Form

relationalen Charakters von Gegenwart – Aleida Assmann spricht beispiels-weise von der Pluralisierung von Gegenwart(en), mit Michel Foucault könnte man an „Heterochronien“ denken – kann jedoch nicht von einer homogenen Wahrnehmung ausgegangen werden.9 Vielmehr führt gerade die disjunkte Rezeption einer diffferenziert zu denkenden Gegenwart, in der immer unter-schiedliche Dimensionen wirksam werden (z. B. subjektive Zeitwahrnehmung, objektiv messbare Zeit, kulturell geformte Zeit) zu einer kritisch-distanzierten, oppositären und für die engagierte Literatur charakteristischen Zeitgenossen-schaft. Mit anderen Worten, gerade in der auseinanderbrechenden Wahrneh-mung von Gegenwart(en) entsteht die für die kritische Reflexion notwendige und die engagierte Literatur maßgebliche Distanz.

II Historische Konturen engagierter Literatur

Im Fokus des vorliegenden Bandes liegt die engagierte deutschsprachige Li-teratur nach 1989. Die Profijilierung der post-1989er Literatur im Kontext, mit Einschluss der theoretischen Reflexion auf dieses Genre, ist Gegenstand der Beiträge in unserem Band. Kurz sei die historische Dimension dieses Genres angedeutet, um daran zu erinnern, dass engagierte Literatur keine Erfijindung der Moderne ist und um gleichzeitig aufzuzeigen, dass die Charakteristika die-ser Texte und der Reflexionen über deren Beschafffenheit und Funktion das Genre als eine spezifijische Form in ihren Möglichkeiten und Grenzen sichtbar werden lässt.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war – über die damaligen Parteiungen innerhalb der Aufklärung hinweg – auf ein Ziel ausgerichtet, das damals mit dem Terminus „Glückseligkeit“ bezeichnet wurde, und das wir heute wohl eher als ‚Genuss des Rechts auf menschenwürdiges Leben in Freiheit und Sicherheit‘ formulieren würden. In der deutschsprachigen Kultur des 18. Jahrhunderts ist der Grenzgang der Literatur als Motivationspotenzial für außerliterarisches Handeln immer ein nicht unheikler Streitpunkt gewesen: Soll oder kann Li-teratur „autonom“ sein und ihr Potenzial in ihrem eigenen Feld kultivieren, oder soll sie sich einmischen in den Kontext, aus dem sie kommt und in den sie eingeht?

9 Michel Foucault. „Andere Räume“ (1967). In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven

einer anderen Ästhetik. Essais, hg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter. Leipzig: Reclam, 1992: S. 34–46, hier S. 43. Vgl. auch Aleida Assmann. Ist die Zeit aus

den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München: Hanser, 2013.

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Gotthold Ephraim Lessings wirkungspoetisch orientierte Bestimmung des Theaters formuliert konzise die soziale Qualität von Literatur, in der Absicht, zur Verbesserung der Welt beizutragen: An Friedrich Nicolai schrieb er 1756:

Sie [die Tragödie] soll uns nicht blos lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. [...] Der mitleidigste

Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen

Arten der Großmuth der aufgelegteste.10

Lessings Ästhetik des Mitleidens als Motivationspotenzial ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung engagierter Literatur gewesen. Seine Dramen Die

Juden, Emilia Galotti, Minna von Barnhelm sowie sein Nathan der Weise zeigen das ebenso wie seine Theaterkonzeption insgesamt.

Es sei an wohlbekannte loci classici engagierter Literatur des 18. Jahrhunderts erinnert, die ‚Kammerdienerszene‘ aus Kabale und Liebe (1784) oder die von Rousseau11 inspirierten Sätze, „Werden Sie / von Millionen Königen ein König!/ [...] Geben Sie / Gedankenfreiheit“ aus Don Carlos (1787), oder Jakob Michael Reinhold Lenzens Hofmeister (1774) und seine Soldaten (1776), Gedichte Chris-tan Friedrich Daniel Schubarts, der dafür zehn Jahre Festungshaft ertragen musste. Kurz: Das hybride Genre ‚engagierte Literatur‘ kommt von weither und tief aus der Geschichte, Ihre Spuren lassen sich anhand der Geschichte der Zensur und der Geheimdienste verfolgen, beides Institutionen, die traditionell Literatur als eine Art Verschwörung begrifffen und dieser irrigen Annahme ent-sprechend klandestin reagiert haben.

Von entscheidender Bedeutung in dieser jahrhundertealten Auseinander-setzung war und ist die „Realismus“-Frage: Nicht ob, sondern wie sich Literatur auf die außerliterarische Realität beziehen kann, soll und darf. Schiller entlässt mit Goethes Zustimmung im Streit über den Grad des zulässigen Realismus Herder aus der Mitarbeit an den Horen. Gleichwohl stimmt gerade Schiller in seinem ästhetischen Programm für eine strategische Form des Engagements, die ihresgleichen sucht. Er und andere seiner Zeit sind sich einig darin, dass

10 G.E. Lessing an F. Nicolai, November 1756 (Hervorh. von den Verf.). Zit. nach Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai. Briefwechsel über das Trauer-

spiel [1756/57]. Hg. u. kommentiert von Jochen Schulte-Sasse, München: Winkler, 1972, S. 55.

11 Vgl. J.J. Rousseau. Der Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechtes [1762]. In der verbesserten Übersetzung von H. Denhardt. Hg. und eingeleitet von Heinrich Weinstock. Stuttgart: Reclam, 1966, III, 13, insbesondere S. 136.

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7Engagement als Thema und als Form

Kunst keine selbstgenügsamen Spiele spielt und ihre Erfüllung bloß in voll-endeten Formen der Kunst und Literatur fijinde. Als Versuch einer Antwort auf die terreur-Phase der Französischen Revolution, macht Schiller mit seiner Äs-thetik den Vorschlag einer Gesellschaftsreform mit den Mitteln der Kunst.12 Demnach ist eine Kunstform erst dann vollendet, wenn ihre Realisierung zur Vervollkommnung menschlicher „Glückseligkeit“ beiträgt. Mit anderen seiner Zeit stimmt Schiller überein in der Annahme, dass das höchste aller Kunstwer-ke der Staat sei. Es sei, so Schiller, an der Zeit, „sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freyheit zu beschäf-tigen.“13 Das ist auch im 18. Jahrhundert nicht neu, aber es erinnert gerade in dieser hoch elaborierten Form daran, dass Kunst und Literatur – unabhängig von dem Grad ihrer ‚Autonomie‘ – nie in dem Sinne ‚autonom‘ sind und waren, dass sie ihre Kontextbindungen vollständig gekappt hätten, was nicht heißen soll, dass alle Literatur auch ‚engagierte‘ Literatur sei.

Die deutsche, französische und englische Literatur des 19. Jahrhunderts lie-fern aufschlussreiches Anschauungsmaterial für den Kampf um die Legitima-tion und die Diskussion um die Konstitution von engagierter Literatur. Die Zeit der sogenannten ‚Befreiungskriege‘ von 1813 bis 1815 treibt einerseits mit den Bemühungen um die Einführung einer Verfassung im Deutschen Bund und an-dererseits mit dem Widerstand gegen die Napoleonische Besetzung Bewegun-gen hervor, die nicht unerheblich von Literatur und Kunst unterstützt wurden. Agressive literarische Texte gegen die französische Besatzung, nicht nur Kleists wuchtiges „Schlagt ihn [Napoleon] tot! Das Weltgericht / Fragt euch nach den Gründen nicht!“ („Germania an ihre Kinder“ 1809/1813) oder seine Herrmanns-

schlacht (1808/1821), die unverhohlen zur Aktion aufrufen und als Agenten des agressiven Nationalismus auftreten; Nikolaus Beckers Gedicht von 1845, „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein“ kommt sprachlich zwar nicht entfernt an Kleists Texte heran, war aber außerordentlich erfolgreich bei der Herausbildung von Frankophobie und Nationalismus.

Die Zeit des Jungen Deutschland und des Vormärz hat Formen von bis dahin nicht gekannter massenwirksamer engagierter Literatur entwickelt. Autoren wie Heinrich Heine, Georg Weerth, Georg Herwegh, Ferdinand Frei-ligrath, Ernst Dronke, Louise Otto, Luise Aston und andere traten in ihren Texten für politische und soziale Belange der Zeit ein und bezogen deutlich

12 Vgl. hierzu auch Katharina Gerstenberger im vorliegenden Band, S. 45.13 Friedrich Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen,

2. Brief. Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Unter Mitwirkung von Helmut Koop-mann hg. von Benno von Wiese. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1962, S. 309–412, hier: S. 311.

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Stellung, wobei die Entdeckung der ‚sozialen Frage‘ um 1844, dem Jahr des schlesischen Weberaufstandes, eine entscheidende Rolle spielte: die Industri-alisierung, in England und Belgien bereits fortgeschritten, warf ihre Schatten auf den Deutschen Bund, und es entwickelte sich eine Ahnung von den Folge-lasten für Staat, Gesellschaft und Kultur. Ein neues Genre entstand um diese Zeit, der soziale Roman.14 In England15 und Frankreich16 bereits mit Autoren wie Charles Dickens und Eugène Sue populär, fand dieses Genre engagierter Literatur 1843 Eingang in die deutschsprachige Literatur mit Ernst Willkomms Roman Eisen, Gold und Geist. Andere Prosa des sozialkritisch engagierten Gen-res folgte, und es setzte sogleich eine Diskussion um Grenzen und Reichweite dieser Art literarischen Engagements ein – eine Diskussion, die als Vorläuferin heutiger Kontroversen über die Funktion engagierter Literatur gelesen werden kann, und die sich einreiht in die lange geschichtliche Reihe der Profijilierung des Verhältnisses von Literatur und außerliterarischer Realität.

Werner Krauss hatte 1972 geschrieben: „Wo die bloße Tendenz schon ein Werk in Verruf bringt, da bildet eine tendenzlose, von aller Stellungnahme entpflichtete Literatur die Norm“17 und damit die Auffforderung vieler marxis-tischer und kritischer Literaturwissenschaftler zur unpolemischen Verortung engagierter Literatur aufgegrifffen. Der Kern der Aussage liegt in der Befreiung des Literaturbegrifffs vom Ideologem der Autonomie von Kunst und Literatur. Das ist im Vormärz, also zur Zeit der Entstehung des deutschsprachigen sozi-alen Romans, Gegenstand kontroverser Debatten gewesen, die um die Legiti-mation engagierter Literatur kreisten. Ernst Dronke, selbst Autor sozialkriti-scher Texte, schrieb im Vorwort zu seiner Novellensammmlung Aus dem Volk:

Diese Blätter [d.h. seine Novellensammlung Aus dem Volk] haben eine Tendenz zu Grunde: es ist die der Wahrheit. Ich habe diese Novellen nicht geschrieben, um Novellen zu schreiben; ich geize nicht nach der Ehre, „Belletrist“ zu sein. Ich habe vielmehr die „Tendenz“, die ohne Zweifel ebensowohl in einer Broschüre, einer Kritik oder Geschichte der heutigen Gesellschaft und dergl. vor das Publikum zu bringen war, nur

14 Vgl. Hans Adler (Hg.). Der deutsche soziale Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990. (Wege der Forschung. 630.) – Hans Adler. Sozia-

le Romane im Vormärz. Literatursemiotische Studie. München: Fink, 1980.15 Vgl. Konrad Gross (Hg.). Der englische soziale Roman im 19. Jahrhundert. Darmstadt: Wis-

senschaftliche Buchgesellschaft, 1977. (Wege der Forschung. 346.)16 Vgl. Friedrich Wolfzettel (Hg.). Der französische Sozialroman des 19. Jahrhunderts.

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981. (Wege der Forschung. 344.)17 Werner Krauss, „Was ist Literatur?“ in: W.K. Werk und Wort. Aufsätze zur Literaturwissen-

schaft und Wortgeschichte. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag, 1972, S. 38–60, hier: S. 56.

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9Engagement als Thema und als Form

deshalb in das Gewand einer Novelle gekleidet, weil in dieser Form der Nachzeichnung des wirklichen Lebens die Wahrheit jener Verhältnisse am deutlichsten und sprechendsten vor die Augen tritt.18

Es ist das Engagement im Gegenwärtigen, das als Abbildung („Nachzeichnung des wirklichen Lebens“) im Medium der Literatur seine kritische Energie auf die Leser*innen übertragen soll. Deutlich wird an Ernst Dronkes grundsätzlicher Indiffferenz gegenüber dem Unterschied zwischen ‚Belletristik‘ auf der einen Seite und „Broschüre [...] Kritik oder Geschichte der heutigen Gesellschaft“ auf der anderen, dass Literatur als eine Form der Kunst um der Kunst willen nicht seinen Intentionen entspricht. Engagement geht vor Ästhetik, wie man abkürzend sagen könnte. Das ist eine Einstellung gegenüber dem literarischen Diskurs, die nicht auf dessen Spezifijisches und Eigentümliches ausgerichtet ist – „Formalismus“ wird im 20. Jahrhundert das Schlagwort dafür –, sondern Literatur wird als attraktive Verpackung genutzt, um die Leser*innen in Rich-tung Aktion zu bewegen. Michel Houellebecq hat das kürzlich wieder sehr of-fensiv als seine Leitlinie proklamiert und reiht sich damit ein in die Tradition der polemischen Verteidigung einer Literatur, die auf möglichst direkte Weise auf eine Änderung des Status Quo aus ist:

Als Schriftststeller bin ich auch Soziologe und Ökonom. Das ist gut so. Der Roman ist heute das bevorzugte Instrument der Gesellschaftskritik. [...] Wenn man mich einen Gesellschaftskritiker oder einen Soziologen nennt, meint man es als Kritik an meiner Erzählkunst, an meinem an-geblich literarisch ungenügenden Stil. Aber ich fasse das als Kompliment auf. Literatur ohne Ideen, Stil als reine Kunst ist nicht meine Sache. Die Verfechter einer puristischen, schönen, reinen Literatur sind Gaukler, die keine Wahrheit zu sagen haben. Dem französischen Roman geht es ge-genwärtig gut, weil er den Kontakt zur Realität der Gesellschaft und zum konkreten Leben hält.19

Versuche, diese Funktionsbestimmung engagierter Literatur in eine neue oder zumindest variierte, existierende Gattung zu überführen, gab es im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts in Hülle und Fülle. Anlässlich einer Rezension von Ernst Willkomms Roman Weiße Sclaven oder die Leiden des Volkes (1845) schrieb ein Rezensent:

18 Ernst Dronke. Aus dem Volk. Frankfurt am Main: Rütten, 1846, S. V.19 „‚Autor der totalen Schlafffheit‘“. Spiegel-Gespräch Michel Houellebecqs mit Romain

Leick. In: Der Spiegel Nr. 43 vom 21. Oktober 2017, S. 120–127, hier: S. 125.

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So entstehen geschichtliche Romane, aber ein Genre desselben, welches früher weit seltener geübt und geliebt war, nämlich tagesgeschichtliche, ja, fast möchte man sie zukunftsgeschichtliche nennen.20

Das Engagement wird hier im Durchgang vom historischen über den Gegenwarts- zum (sozial-)utopischen Roman identifijiziert, Dimensionen, die Willkomms umfangreicher Roman Weisse Sclaven in der Tat abdeckt, wobei der letzte Schritt, die zukunftsorientierte Lösung des Konflikts der proble-matische Punkt ist. Während im ersten Part des Romans die Abschafffung des Adels in der Lausitz in der Folge der Französischen Revolution thematisiert ist und im zweiten Part mit der Umwandlung eines Adelssitzes in eine mecha-nisierte Textilfabrik der Übergang vom Erbadel zu Kapitalisten erfolgt, bietet der Roman nach einer juristischen Prozedur (nicht aber einer sozialen Revo-lution) eine Lösung der ‚sozialen Frage‘, die allein dem Wohlwollen des neuen Besitzers der Textilfabrik (der sich als Erbberechtigter der adligen Besitzerfa-milie entpuppt) zu verdanken ist. Es zeigt sich hier, wie auch in vielen anderen engagierten Texten des Vormärz und danach, dass die traditionellen Genres und deren Plot-Arsenale das Spezifijische der Konfrontation mit der neuen Re-alität, die durch Kapitalismus und Industrialisierung gekennzeichnet ist, nicht zu verarbeiten vermögen. Es gibt zu jener Zeit noch keine Form engagierter Literatur, die über die notwendige literarische ‚Verarbeitungskapazität‘ der neuen Realität verfügt. Mittel narrativer Verarbeitung der neuen Erfahrung wie Liebesgeschichten mit Heirat über die Klassenschranken hinweg,21 Lösung so-zialer Konflikte durch individuelle, quasi-karitative Akte, oder durch unmoti-vierte Deus-ex-machina-Lösungen, wie Lotteriegewinn, unverhofffte Erbschaft und dergleichen sind in ihrer Unvermitteltheit präzise Dokumentationen ei-ner Bindung an obsolet gewordene Gattungs- und Genre-Konventionen, die das Engagement in der Sackgasse literarischer Gattungs- und Genrekonven-tionen verenden lassen. Engagierte Literatur, so das Fazit, muss permanent nach neuen Formen, Genres und Konfliktlösungs- oder - Darstellungsmustern suchen. Deshalb ist engagierte Literatur einer der Generatoren moderner Literatur überhaupt.

Es fällt auf, dass die um 1853 einsetzende Diskussion um den Realismus mit einer schrofffen Zurückweisung der sozialen Literatur und Kunst des Vor-märz und der politischen Literatur des Jungen Deutschland einsetzt. Theodor

20 Kölnische Zeitung Nr. 277, vom 4. Oktober 1845.21 Dies ist eine Variante des Modells der mésalliance, der Heirat über die Standesschranken

hinweg, die bis heute in Heftchenliteratur ubiquitär Anwendung fijindet.

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11Engagement als Thema und als Form

Fontane schreibt in seinem programmatischen Aufsatz von 1853, „Unsere ly-rische und epische Poesie seit 1848“: „Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, ist ihr Realismus.“22 Fontane macht geradezu aggressiv deut-lich, dass ‚Realismus‘ nicht mechanische Widerspiegelung der Wirklichkeit in Kunst und Literatur ist: „Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter [sc. Realismus] das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten.“ Fontane fordert für ‚realistische‘ Kunst und Literatur „Verklärung“23 und „Läuterung“24, d.h. Reinigung des kruden Materi-als der Erfahrung, so wie Erz durch Entschlackung zum Metall ‚geläutert‘ wer-de. Er betont, dass „die Hand, die diesen Grifff [d.h. der Läuterung] tut, [...] eine künstlerische sein [muss]“, denn die wahre Realität ist „nur dem Auge des Ge-weihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken.“25 Es scheint in der Natur solcher programmatischen Bestimmungen zu liegen, dass sie zu einem Form-Totalitarismus neigen, in dem Realismus nicht eine, sondern die einzig

mögliche Form von Literatur sei, wie Fontane formuliert: „Der Realismus ist so alt als die Kunst selbst, ja, noch mehr: Er ist die Kunst.26 Fontane läutet mit seinem Aufsatz nicht nur die Phase des bürgerlichen Realismus in der deutsch-sprachigen Literatur ein, er weist auch klar die Vorstellung von einer direkten Wirkung von Literatur und Kunst durch eine ‚direkte‘ Darstellung in Literatur und Kunst zurück.

Bemerkenswert ist eine Konvergenz in den Versuchen, zu bestimmen, was sozial relevante Literatur sei. Viele Versuche, Literatur als ‚wirklichkeitsbe-zogen‘ oder ‚engagiert‘ zu bestimmen, neigen zu einer Defijinition von ‚enga-gierter oder realistischer Literatur‘, indem sie ihre jeweilige Perspektive zum allgemeinen Prinzip erheben. In dieser Tradition steht auch die generalisie-rende Behauptung Ilija Trojanows: „Wenn die Literatur von keiner Machtins-tanz misstrauisch beäugt wird, ist sie automatisch apolitisch.“27 Die Frage ist, ab welchem Grad von Verallgemeinerung solche Aussagen leer oder insgesamt falsch werden. Toni Morrisons „all good art has been political” oder Charles Baudelaires Behauptung, dass alle wahre Kunst realistische Kunst sei, ist

22 Zitiert nach Theodor Fontane, „Realismus“. Fontane Nymphenburger Taschenbuch- Ausgabe in 15 Bänden. Bd. 14. München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1969, S. 109–116, hier: S. 109.

23 Ebd., S. 110.24 Ebd., S. 114.25 Ebd.26 Ebd., S. 111. Fontane geht sogar soweit, alle nicht-realistischen Formen als krank und

den entstehenden Realismus als „die Wiedergenesung eines Kranken“ (ebd.) zu charakterisieren.

27 „Gegen die herrschende Klasse“ (wie Anm. 2), S. 8.

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ebenso selektiv vereinnahmend wie Peter Handkes, fast fontaneske Einsicht: „Immer wieder: das Idealisieren, kraft (auf den Fundamenten) der Realien, ist eine Weise des Realisierens, vielleicht die rechte, die königliche (‚el camino real‘).“28

III Engagierte Literatur seit 1989

In der Folge des Mauerfalls, der „Wende“ und der deutschen Einheit von 1990 kam es, bekanntermaßen und ausgiebig erforscht und belegt, zum sogenann-ten „deutsch-deutschen Literaturstreit“ zu Beginn der 1990er Jahre.29 Dieser entzündete sich zwar an Christa Wolfs Novelle Was bleibt – zweifelsohne auch mit dem Ziel, die aus der DDR stammende Autorin und möglichst die gesam-te, angeblich einhellig das Regime stabilisierende DDR-Literatur langfristig zu diskreditieren –, erstreckte sich jedoch bald auf alles, was als politisch enga-gierte Literatur verstanden werden konnte. Indem dieser Literatur jeglicher ästhetische Wert abgesprochen wurde, verurteilten sie insbesondere Frank Schirrmacher (Frankfurter Allgemeine Zeitung) und Ulrich Greiner (Die Zeit) als „Gesinnungsästhetik“.30 Schuldig hatten sich diesen Journalisten zufolge nicht nur DDR-Literaten, sondern auch ihre Kolleg*innen aus dem westlichen Teil Deutschlands seit den 1950er Jahren gemacht, weswegen Greiner sich be-müßigt fühlte, nach dem Ende der deutschen Teilung auch das seiner Meinung nach glückliche Ende der durch den Eisernen Vorhang geteilten Literaturen zu feiern: „Die Gesinnungsästhetik […] ist das gemeinsame Dritte der glücklicher-weise zu Ende gegangenen Literaturen von BRD und DDR. Glücklicherweise:

28 Peter Handke. Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Ausflüge von der Peripherie

2007–2015. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2016, S. 318.29 Der Literaturstreit der 1990er Jahre ist ausgiebig dokumentiert. Siehe insbesondere Tho-

mas Anz (Hg.): Es geht nicht um Christa Wolf (wie Anm. 1); Karl Deiritz und Hannes Krauss (Hg.): Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder „Freunde, es spricht sich schlecht mit ge-

bundener Zunge“. Hamburg: Luchterhand, 1991. Zum Gender-Aspekt der Kampagne siehe Anna K. Kuhn, „‚Eine Königin köpfen ist efffektiver als einen König köpfen‘: The Gender Politics of the Christa Wolf Controversy.“ In: Women and the Wende: Social Efffects and Cul-

tural Reflections of the German Unifijication Process, hg. Von Elizabeth Boa und Janet Whar-ton. Amsterdam: Rodopi, 1994, S. 200–215; Lennart Koch. Ästhetik der Moral bei Christa

Wolf und Monika Maron: Der Literaturstreit von der Wende bis zum Ende der neunziger

Jahre. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2000.30 Frank Schirrmacher. „‚Dem Druck des härteren, strengeren Lebens standhalten‘. Auch

eine Studie über den autoritären Charakter: Christa Wolfs Aufsätze, Reden und ihre jüngste Erzählung ‚Was bleibt‘“. In: Es geht nicht um Christa Wolf (wie Anm. 1), S. 77–89; Ulrich Greiner. „Die deutsche Gesinnungsästhetik“ (wie Anm. 1).

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13Engagement als Thema und als Form

Denn allzu sehr waren die Schriftsteller*innen in beiden deutschen Hälften mit außerliterarischen Themen beauftragt, mit dem Kampf gegen Restauration, Faschismus, Klerikalismus, Stalinismus etcetera. […] In der Bundesrepublik verwendete man dafür den Begrifff der engagierten Literatur“.31 Unter der Phra-se „Gesinnungsästhetik“ subsumierte der Zeit-Kritiker somit sein eigentliches Ziel, nämlich das Ende jeglicher politisch engagierter, kritischer Literatur für das frisch vereinigte Deutschland. In dem Bewusstsein, dass diese Beerdigung die „Deutung der literarischen Vergangenheit“ und damit die „Durchsetzung einer Lesart“ bedeutet, die „bestimmt […], was sein wird“, war sein journalis-tisches Engagement eindeutig darauf ausgerichtet, politisch engagierte Lite-ratur für tot und zugleich für ein Phänomen zu erklären, das nur durch die deutsche Teilung und den Kalten Krieg zu erklären gewesen sei.32

Wie der oben vorgelegte historische Abriss zur engagierten Literatur bereits verdeutlicht hat, kann engagierte Literatur jedoch mitnichten als neues Phä-nomen des 20. Jahrhunderts verstanden werden. Eben so wenig ist es der kon-zertierten Presseaktion der 1990er Jahre gelungen, die littérature engagée nach dem vermeintlichen Sieg des Kapitalismus und dem angenommenen Ende der Geschichte totzusagen.33 Dies dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass, wie Jenny Erpenbeck hervorhebt, spätestens seit dem Spätsommer 2015 und den damals kulminierenden Flüchtlingsströmen nach Europa deutlich wird, dass „das Ende der Geschichte“ mitnichten erreicht sei, da „man jetzt sieht, was sich da für Völkermassen in Bewegung setzen“, die „offfenbar [machen], dass das Ende der Geschichte nicht erreicht ist.“34 Aber bereits zuvor hatte sich selbst die angeblich so unpolitische, insbesondere in den 1990er Jahren popu-läre Pop-Literatur als nicht ganz so unpolitisch erwiesen;35 und auch die so-genannten Literaturdebatten in den deutschen Feuilletons schwingen sich zu immer neuen Höhen auf. Dies zeigt nicht zuletzt die große „Debatte“ von 2014, initiiert durch Florian Kesslers Behauptung, die deutsche Gegenwartsliteratur

31 Ulrich Greiner. „Die deutsche Gesinnungsästhetik“ (wie Anm. 1), hier: S. 213–14.32 Ebd., S. 208.33 Zur westlichen Vorstellung, dass der Mauerfall nicht nur das Ende des Sozialismus, son-

dern auch der Geschichte markierte, siehe Francis Fukuyama. „The end of history?“ In: The National Interest 16 (Sommer 1989): S. 3–18; Robert Heilbroner. „The Triumph of Capi-talism.“ In: The New Yorker, January 23, 1989, S. 98.

34 „Gegen die herrschende Klasse“ (wie Anm. 2), S. 7.35 Verwiesen sei hier beispielsweise auf Joachim Bessing, Benjamin von Stuckrad- Barre,

Christian Kracht, Eckhart Nickel und Alexander von Schönburg, Tristesse Royal. Das

popkulturelle Quintett. Berlin: Ullstein, 1999. Wenngleich sie sich gegen Diedrich Diederichsens Aufruf zur Repolitisierung der Popkultur wenden, zeigt sich gerade in ihrer zeitkritischen, polemischen Rede durchaus eine Form von popkulturspezifijischem politi-schen Engagement.

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sei aufgrund des homogenen Hintergrunds ihrer Autor*innen – allesamt seien sie Absolvent*innen der Leipziger und Hildesheimer Schreibschulen und aka-demischen Elternhäusern entsprungen – konformistisch, brav und vor allem unpolitisch.36 Maxim Biller lokalisierte den Grund für die angebliche Lange-weile der deutschen Gegenwartsliteratur daraufhin darin, dass diese von den Nazi-Enkeln verwaltet würde, die nicht nur bestimmen, was gelesen wird, son-dern auch die Stimmen von Migrant*innen unterdrückten, wenn diese sich nicht anpassten um „Wohlfühlpreise“ zu kassieren.37 Von Kessler und Biller provoziert, schalteten sich daraufhin u. a. Ijoma Mangold, der Biller vorwarf, sich selbst nicht an seine eigene Norm zu halten, Dietmar Dath, der Biller mit der Äußerung entgegentrat, das „allerbeste an der Literaturdebatte [sei], dass sie sich als Literaturdebatte allein gar nicht führen [ließe]“ und Christoph Schröder in die Debatte ein.38 Letzterer hebt hervor, dass die von Kessler auf-gestellte Behauptung, die deutsche Gegenwartsliteratur sei unpolitisch, durch nichts belegt sei – und in den vergangenen Jahren durch die Schreibpraxis von Autor*innen wie Kathrin Röggla, Reiner Merkel, Ernst-Wilhelm Händler, Rainald Goetz, Thomas von Steinaecker oder Philipp Schönthaler mehrfach widerlegt worden sei.39

Übereinstimmend halten auch Corina Cadufff und Ulrike Vedder fest, dass sich gerade die jüngere deutschsprachige Literatur „durch ihr reflektiertes Be-obachtungsvermögen [und] durch engagierte Intervention“ auszeichnet.40 Dies wird im um die Jahrtausendwende proklamierten und nach wie vor aktuellen Ethical Turn reflektiert, dem zufolge gesellschaftspolitische und

36 Florian Kessler, „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!“ In: Die Zeit, 23.1.2014. http://www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwartsliteratur-brav-konformistisch (letzter Zugrifff 5.2.2018).

37 Maxim Biller, „Letzte Ausfahrt Uckermark“. In: Die Zeit, 20. 2.2014. http://www.zeit.de/2014/09/deutsche-gegenwartsliteratur-maxim-biller (letzter Zugrifff 5.2.2018).

38 Ijoma Mangold, „Fremdling erlöse uns!“ In: Die Zeit, http://www.zeit.de/2014/10/erwiderung -maxim-biller-deutsche-gegenwartsliteratur/komplettansicht (letzter Zugrifff 5.2.2018); Diemar Dath, „Wenn Weißbrote wie wir erzählen. Dietmar Dath antwortet auf Maxim Biller“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.2.2014. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/dietmar-dath-antwortet-auf-maxim-biller-wenn-weissbrote-wie-wir-erzaehlen-12812701.html (letzter Zugrifff 5.2.2018); Christoph Schröder, „Klingt gut, sagt nix. Macht nix. Debatte zur Gegenwartsliteratur“. In: Die Zeit, 3.2.2014. http://www .zeit.de/kultur/literatur/2014-01/gegenwartsliteratur-debatte-replik/komplettansicht (letzter Zugrifff 5.2.2018).

39 Ebd.40 Corina Cadufff und Ulrike Vedder (Hg.), „Gegenwart schreiben. Zur Einleitung“. In:

Deutschsprachige Gegenwartsliteratur 2000–2015. Hg. v. Corina Cadufff und Ulrike Vedder. Paderborn: Fink, 2017, S. 9–12, hier S. 9.

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15Engagement als Thema und als Form

moralische Fragen zum Sujet der Literatur werden.41 Ähnliches spiegelt sich auch in dem unter dem Titel „Gegen die herrschende Klasse“ veröfffentlichten Gespräch von Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow mit Ijoma Mangold.42 Erpenbeck spricht der Literatur hier eine „Weltanschauungskom-petenz“ (S. 6) zu, während Trojanow noch einen Schritt weitergeht und „eine der Urfunktionen von Literatur [betont], Gegenentwürfe zu präsentieren. Eine Realität zu imaginieren, die sich unterscheidet von der vermeintlichen Evidenz der herrschenden Verhältnisse“ (S. 7). Hier klingt zweifelsohne nicht nur Kritik an der von Bundeskanzlerin Angela Merkel proklamierten „Alterna-tivlosigkeit“ ihrer Entscheidungen und der Lebensrealitäten in einer globali-sierten Welt an, sondern auch Martha C. Nussbaums These, dass ausschließlich fijiktionale Literatur über die Möglichkeit verfügt ihre Leser*innen einzuladen, über sich nachzudenken, indem sie sich in die Situation verschiedener anderer Akteure versetzen und sich deren Erfahrungen zu eigen zu machen kann.43 Im Gespräch verdeutlicht Peltzer, dass diese in Literatur imaginierten Situa-tionen, die einen Kontrapunkt zu scheinbaren Zwangsläufijigkeiten setzen, „ein Moment des Utopischen haben [müssen]“. Dies sei nötig, da wir „uns nur noch mit der Empirie der Probleme konfrontiert [sehen] und versuchen, sie praktisch zu lösen, aber wir haben keinen Entwurf von Zukunft mehr, der die Erfahrungen der Vergangenheit aufnehmen und verwandeln würde, um zu ei-nem anderen Begrifff der Zukunft zu kommen“.44 Die drei Autor*innen sind sich einig, dass es zweifelsohne Aufgabe der politischen Gegenwartsliteratur sein müsse, utopische Zukunftsentwürfe anzubieten, die „antagonistische Wi-dersprüche […], also Widersprüche, die nicht diskursiv aufgelöst werden kön-nen“ (Peltzer) aufzeigt, möglicherweise mit dem Ziel zu verdeutlichen, dass diese „nur durch die Aufhebung des Systems selbst“ (Trojanow) angegangen werden können.45 Während eine Autorin wie Juli Zeh eher Bedrohungen des

41 Julia Schöll. „Die Rückkehr des Autors als moralische Instanz. Auktoriale Inszenierung im 21. Jahrhundert“. In: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur 2000–2015, (wie Anm. 40), S. 211–222, hier S. 214. Schöll nennt als Beispiele für in dieser Weise engagierte Autor*innen Karen Duve, Lukas Bärfuss, Kathrin Röggla, Marlene Streeruwitz, Sibylle Berg, Ilija Troja-now und Juli Zeh.

42 „Gegen die herrschende Klasse,“ (wie Anm. 2).43 Martha C. Nussbaum, Poetic Justice. The Literary Imagination and Public Life. Boston: Bea-

con Press, 1995, S. 2–3, hier S. 5. Auf Aristoteles aufbauend hält Nussbaum fest: „[…] histo-ry simply records what in fact occurred, whether or not it represents a general possibility for human lives. Literature focuses on the possible, inviting its readers to wonder about themselves […] Unlike most historical works, literary works typically invite their readers to put themselves in the place of people of many diffferent kinds and to take on their experiences.“

44 „Gegen die herrschende Klasse,“ (wie Anm. 2) S. 7.45 Ebd.

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bestehenden und ihrer Meinung nach unbedingt zu schützenden politischen Systems durch die aktuelle Politik aufzeigt, betont jedoch auch sie die Signi-fijikanz engagierter Literatur. Bereits in ihrem Essay „Auf den Barrikaden oder hinterm Berg?“ (2005) betont Zeh, dass für sie nicht politische Farbenspiele zählen, sondern „der feste Glaube, dass der Literatur per se eine soziale und im weitesten Sinne politische Rolle zukommt.“46 Indem sie sowohl der Literatur als auch deren Verfasser*innen politische und soziale Bedeutung zuschreibt, positioniert sie sich – ganz ähnlich wie insbesondere auch Ulrich Peltzer im bereits erwähnten Gespräch – in zwei Traditionen: der engagierten Literatur der Klassischen Moderne47 und der in der Bonner Republik aktiven Intellek-tuellen, die sich geradezu selbstverständlich in Debatten zu aktuellen politi-schen Fragen äußerten.48

IV Die Beiträge zu diesem Band

Es sind also Autor*innen wie die bereits genannten, von denen gleich mehre-re im vorliegenden Band näher beleuchtet werden, aber auch die hier ebenso diskutierten Navid Kermani, Antje Rávic Strubel, Kerstin Hensel, Merle Kröger, Reinhard Kleist, Uwe Tellkamp sowie politisch engagierte Krimiautor*innen, deren Werke in öfffentliche Diskurse eingreifen und in Fragen des Politischen intervenieren. Diese fijiktionalen Texte teilen, um mit Martha C. Nussbaum zu sprechen, „the potential to make a distinctive contribution to our public life.“ Es handelt sich dabei um Texte, deren literarische Imagination auch als öf-fentliche Imagination fungiert, „an imagination that will steer judges in their judging, legislators in their legislating, policy makers in measuring the qua-lity of life of people near and far.“49 Eine solche Kraft kann sicherlich Navid Kermanis Schreiben zugesprochen werden, dem sich Claudia Bregers Beitrag zu diesem Band widmet. Breger erschließt die „Rückkehr programmatisch en-gagierten Schreibens“ aus der Perspektive der Beziehung zwischen Literatur und ihrem Referenten mit dem Fluchtpunkt eines neuen Realismus-Konzepts.

46 Juli Zeh. „Auf den Barrikaden oder hinterm Berg?“ In: Alles auf dem Rasen. Kein Roman. 2006. München: btb, 2008, S. 214–219, hier: S. 219.

47 Siehe die Beiträge in Stefan Neuhaus, Rolf Selbmann und Thorsten Unger (Hg.): Engagier-

te Literatur zwischen den Weltkriegen. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2002.48 Patricia Herminghouse. „The Young Author as Public Intellectual. The Case of Juli Zeh“.

In: German Literature in a New Century. Trends, Traditions, Transitions, Transformations. Hg. v. Katharina Gerstenberger und Patricia Herminghouse. New York/Oxford: Berghahn, 2008, S. 268–284, hier: S. 270.

49 Nussbaum, Poetic Justice, (wie Anm. 43), S. 2–3.

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17Engagement als Thema und als Form

Sie versucht mit Bruno Latour die Mimesis/Konstruktivismus-Dichotomie zu umgehen und stellt mit Navid Kermani als Beispiel die Idee einer écriture vor, die Ästhetik und Engagement amalgamiert. Dokumentation erweist sich aus dieser Perspektive als komplexe Vermittlung zwischen Teilnahme/Empathie und Bericht/Beschreibung, mit dem Resultat einer Poetik des afffektiven Netz-werks. Unterstützt wird diese Poetik durch eine Einflechtung von Fotografijie als einer Form von „poetischer Dokumentation“.

Im Folgenden widmet Katharina Gerstenberger sich dem politischen En-gagement eines Schriftstellers, der selbst über die Möglichkeiten und Limitati-onen engagierter Literatur und sein Selbstverständnis als politischer Mensch reflektiert: Ilija Trojanow. Fokussierend auf EisTau (2011) und Der überflüssi-

ge Mensch (2013) arbeitet Gerstenberger die Ästhetik heraus, die Trojanows engagiertem Schreiben zugrunde liegt. Dabei sieht sie den Roman EisTau als einen Trendsetter, der gerade durch seine hybride Form deutlich macht, dass ästhetische Qualität und politisches Engagement keinen (fast zwanghaften) unüberwindbaren Gegensatz darstellen müssen. Vielmehr zeigt gerade Tro-janow, wie dieser Dualismus überwunden werden kann. Diesem fijiktionalen Werk stellt Gerstenberger die leicht lesbare Essaysammlung Der überflüssige

Mensch gegenüber, welche Trojanows Kapitalismuskritik genau wie seine Überzeugung, dass Veränderungen möglich sind, wenn eine kritische Masse sich entsprechend engagiert, noch stärker konturiert. Wie sich in diesem Bei-trag zeigt, liegt die Stärke eines Autors wie Trojanow darin, dass er sich sicher zwischen Genres – ebenso wie zwischen Kontinenten – bewegen kann und so neue, hybride Formen des politischen Engagements auch in die fijiktionale Literatur einzubringen vermag.

Auch Sonja Klocke setzt sich mit Trojanows Schreiben auseinander und vergleicht seine Darstellungen von Nomenklatura und Staatssicherheit in Die

fijingierte Revolution und im Roman Macht und Widerstand mit der von Antje Rávic Strubel in Sturz der Tage in die Nacht. Im Werk beider Schriftsteller*innen zeigt sich auf erschreckende Weise, so die Analyse Klockes, die Kontinuität der unter Sowjetherrschaft in Osteuropa konstituierten Machtstrukturen. Dies er-streckt sich nicht nur, aber insbesondere auf die Felder der Observierung und Konspiration. Deutlich wird in beiden hier untersuchten Romanen, dass die real-sozialistische Vergangenheit – und dies gilt bei allen Diffferenzen sowohl für Bulgarien als auch für die in der Bundesrepublik aufgegangene DDR – nicht annähernd so vergangen ist wie weithin angenommen, dass die damals etablierten „Wahrheitsregime“ und „Technologien der Macht“ im Sinne Michel Foucaults weiterhin aktiv sind. Aus diesem Grund betont Klocke nicht nur die Notwendigkeit, sich mit dieser in die Gegenwart hineinreichenden Geschichte auseinanderzusetzen, sondern auch die Rolle, die dabei der Fiktion zukommt.

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Gerade fijiktionale Literatur verfügt demnach über das Potential, politische Inhalte efffektiv zu kommunizieren. Ob Schriftsteller*innen sich dabei – wie Strubel – auf ihre herausragende Erzählkunst verlassen oder – wie Trojanow – auf drastische und stellenweise geradezu schmerzhafte Weise fijiktionale und nicht-fijiktionale Elemente collagenhaft verbinden: beide hier untersuchten Romane vermitteln spezifijische ostdeutsche bzw. osteuropäische Erfahrungen, und die so eröfffneten Einblicke sind nicht zuletzt auch für jene Leser*innen lohnend, denen diese Sphäre bisher verborgen geblieben ist.

Sabrina Wagner wendet sich in ihrem Beitrag einer Form des politischen Engagements zu, die gemeinhin eher ins Hintertrefffen gerät. In ihrem bereits vor dem Streitgespräch zwischen Uwe Tellkamp und Durs Grünbein am 8. März 2018 in Dresden verfassten Essay untersucht sie am Beispiel Tellkamps das Phänomen des „konservativen Engagements“.50 Dieses steht der Tradition des linksliberalen Engagements à la Gruppe 47 diametral entgegen, wie Wag-ner verdeutlicht, schon weil das autorschaftliche Selbstverständnis ein ganz anderes ist: Die unter diesem Label versammelten bürgerlich-konservativen Autor*innen betonen die Autonomie ihres literarischen Textes und wollen sich explizit eher nicht politisch äußern. Der Überzeugung folgend, dass eine politi-sche Autorschaft nur durch das gleichzeitige Wechselspiel von Autor und Text sowie Autor und öfffentlicher Rezeption wirksam werden kann, bringt Wagner das Selbstverständnis des Schriftstellers als Vertreter einer deutschen „Kultur-nation“ mit seiner Aufnahme in der Literaturkritik zusammen, um die Autor-schaft Tellkamps als eine politische sichtbar zu machen. So wird deutlich, dass Tellkamp zwar nicht als politischer Schriftsteller im Sartreschen Sinne gelten kann. Er wird jedoch dahingehend politisch wirksam, als er neo-konservative Tendenzen ebenso bedient wie den Ruf nach einem deutschen Nationaldich-ter, der im Stil Thomas Manns im traditionellen Gesellschaftsroman die Ge-schehnisse in einer als immer komplizierter empfundenen Welt vermittelt und Orientierung in Zeiten von Verunsicherung verspricht.

50 Das hier erwähnte Streitgespräch und die nachfolgenden Debatten – nicht zuletzt auch im Kontext der Leipziger Buchmesse 2018 – haben sicherlich das Zeug, im Rück-blick als der bisher letzte Literaturstreit in Deutschland betrachtet zu werden. Inter-essanterweise spielen auch hier wieder Fragen, die uns seit Jahren beschäftigen und sich somit als virulent erweisen, eine Rolle: wieder geht es um Migration (bereits in der obenerwähnten Debatte von 2014 unterschwellig vorhanden), deutsch-deutsches Verhältnis und Qualität der angeblich gelungenen Einheit sowie Legitimität von en-gagierter Literatur (bereits aus dem sogenannten deutsch-deutschen Literaturstreit bekannt, der 1990 begann). Und wie beispielsweise Alexander Kissler im Cicero vom 16. März 2018 titelgebend festhält, „Das fängt alles erst an“. https://www.cicero.de/uwe-tellkamp-durs-gruenbein-islam-debatte-suhrkamp-erklaerung-2018.

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19Engagement als Thema und als Form

Ausgehend von der undialektischen Radikalisierung der Dichotomie aus den späten 1960er, frühen 1970er Jahre – „du bist teil des problems oder du bist teil der lösung“ – in ihrer Anwendung auf die frühen 2000er Jahre, erschließt Christian Jäger die Filiationen zwischen Ulrich Peltzers Roman Teil der Lösung und dessen synchronischen und diachronischen Kontexten, Filiationen, die als Textgeneratoren fungieren. Peltzers Roman wird auf diese Weise von Jäger als Entwicklung einer neuen Dialektik von Privatem und Politischen begrifffen, die vom Verlust politischer Öfffentlichkeit ausgeht und Handlungsräume, -po-tenziale und -substrate aufzuweisen sucht. Jäger fijindet Ansätze dazu in Pelt-zers Teil der Lösung in einer Neubestimmung des Subjekts, das aus Einsicht abgeleitete Verantwortung vor den Opfern der Globalisierung und mit der Fä-higkeit zu bedingungsloser Liebe das kompromisslose Freund-Feind-Schema Carl Schmittscher Provenienz zu überwinden vermag.

Lars Richter setzt sich am Beispiel des Romans Unterleuten mit Juli Zehs Verständnis von engagierter Literatur auseinander, was einem Gang durch ein Spiegelkabinett gleicht, da ihr professionell ironisches Spiel mit Literatur, Lite-raturmarkt und Öfffentlichkeit keineswegs transparent ist und auch nicht sein soll. Leser und Kritiker aufs Glatteis ihres eigenen Terrains zu locken, ist Zehs Spiel im und mit dem Roman und seiner projizierten Rezeption. Mit Unter-

leuten ist Juli Zeh auf einer Gratwanderung, die Literatur in die Richtung der referentiellen Illustration zu drängen und gleichzeitig die Fiktion derartig rea-listisch der Einbildungskraft der Leser*innen vorzulegen, dass sie als Fiktion in Unterleuten als gesellschaftspraktische[s] Paralleluniversum selbst eine große extensive Klarheit bekommt.

Melissa Sheedy widmet sich in ihrer Analyse von Kerstin Hensels Hallimasch (1989), Gipshut (1999) und Lärchenau (2008) der politischen Dimension des Geschichtenerzählens. Die Analyse verdeutlicht, wie Hensel das Märchengen-re transformiert und instrumentalisiert, um hegemoniale soziale Strukturen infrage zu stellen. Indem das Fantastische mit dem Politischen augenschein-lich kollidiert und so Machtfragen in den Vordergrund schiebt, werden pa-triarchalische, nationalistische und faschistische Vorstellungen von „Gender“, „Race“, Natur und Identität ausgehebelt. Wie Sheedy verdeutlicht, spielt pa-triarchalische, oftmals sexualisierte Gewalt – sei es in den Märchenvorlagen, Hensels Versionen oder der Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts – dabei eine maßgebliche Rolle. Gerade der vermeintlich sichere Ort von Ehe und Familie wird daher von Hensel als besonders prekär entlarvt. Während dies nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart gilt, zeigt sich bei Hensel, so Sheedy, doch auch Hofffnung: da sich die Märchenform als offfen für Transformationen und Neubelebungen erweist, Geschichten also im jeweiligen Kontext neu erzählt werden können, suggeriert Hensel, dass sich

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hier Räume für ideologische und gesellschaftliche Subversion öfffnen, die nur genutzt werden müssen.

Simone Pfleger liest in ihrem Beitrag Antje Rávic Strubel’s Kältere Schichten

der Luft (2007) als Roman, der das Dilemma der zunehmend durch den neolibe-ralen Arbeitsmarkt bestimmten und bedrohten „Habenichtse“ beleuchtet. Da-bei konzentriert sie sich auf die Ebene von Körpern, die erfahren haben, einem System zugehörig zu sein, sich jedoch mit der Situation konfrontiert sehen, dass ihre Körper in den dominanten Hierarchien und Strukturen bedeutungslos ge-worden ist. Entgegen gängigen, auf die räumliche Dimension fokussierenden Interpretationen von Strubels Roman wendet sich Pfleger bewusst den nicht linearen zeitlichen Strukturen zu, die Kältere Schichten der Luft bestimmen. Dieser zusätzliche Blickwinkel, so zeigt Pfleger, erlaubt uns zu erkennen, dass Strubel in ihrem Roman den Ausbruch aus einschränkenden Sozialstrukturen als möglich imaginiert – auch wenn dies nur für flüchtige Momente realistisch erscheint und von individuellen performativen Gesten abhängt. Was zurück-bleibt ist nicht zuletzt der Eindruck, dass Strubels Protagonist*innen die so-ziale Ordnung zwar zurücklassen wollen, jedoch gleichzeitig in ihr verfangen sind und Flucht daher nur für kurze Phasen möglich wird. Im Bewusstsein des Zusammenhangs zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verdeutli-chen diese fijiktiven Lebensläufe und Körper gleichzeitig die Notwendigkeit, auf die Zukunft zu fokussieren und für diese alternative Formen der Gestaltung unserer Welt zu imaginieren.

Anhand von Merle Krögers Havarie und Reinhard Kleists Der Traum von

Olympia erschließt Faye Stewart ein neues Genre der auch von Navid Kermani umdefijinierten Reiseliteratur: die „boat refugee narratives“ als kritische Kon-kretisationen des eher neutralen Konzepts der „migrant literature“. Kern dieser Literatur ist nicht die Ankunft an einem ‚Reiseziel‘, sondern der ungewisse Weg selbst – „transience and liminality“ – als permanente Präsenz der Flücht-lingskrise. Krögers und Kleists Geschichten sind Fallgeschichten des homo sa-

cer Agambens als Opfer der Dichotomie des „grausamen Optimismus“ auf der einen Seite und auf der anderen der Narrative des schlechten Lebens, die die Realität hinter dem Optimismus liefern. Es geht um eine Korrektur dominan-ter eurozentrischer Narrative der Flüchtlingskrise.

Unter der Überschrift „Ökologische Ideologie und kriminelle Energie: das Genre ‚Öko-Krimi‘“ analysiert Sabine Gross schließlich – nach einleitenden Gedanken zum Protestpotential von Krimis im allgemeinen und Ökokrimis im besonderen – eine Auswahl von Krimis zur Öko-Thematik. Dabei betont sie die kulturelle Spezifijizität von diesen Werken aus deutschsprachigen Ländern, die nicht nur auf eine bis 1900 zurückreichende Tradition zurückzuführen ist, sondern auch die Popularität des Öko-Themas und damit auch des Öko-Krimis

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21Engagement als Thema und als Form

im deutschsprachigen Raum bis heute begründet. Das Überwinden von Gen-regrenzen reflektierend erläutert Gross, wie das Genre – trotz gelegentlich auch heftiger Protesthaltung – letztlich moderat bleibt und dazu neigt, die ge-sellschaftliche Ordnung zu bestätigen, d.h. die Afffijirmation gesellschaftlicher Strukturen nicht zu lamentieren, sondern als gegeben zu akzeptieren. Eine Be-sonderheit des Öko-Krimis macht Gross darin aus, dass dieser „die Dyade von Verbrecher und unschuldigem Opfer genrespezifijisch um[funktioniert] und [...] sich damit oft in einer eindeutigen Matrix von Gut und Schlecht [situiert].“ In dieser Konstellation, so arbeitet Gross heraus, korrespondieren strafbare Handlung und Strafe nicht mit dem herrschenden Modell, der Mord erscheint vielmehr als ausgleichende Gerechtigkeit. Diese alternative Gerechtigkeit passt zur alternativen ökologischen Lebensart und reflektiert sie geradezu.

Wie sämtliche in diesem Band versammelten Beiträge verdeutlichen, ist gerade Literatur – und insbesondere der moderne, politisch engagierte Ge-sellschaftsroman – dazu geeignet, die wesentlichen sozialen Fragen der Ge-genwart zu verhandeln. Die Texte der hier besprochenen deutschsprachigen Autor*innen zeichnen sich dadurch aus, das sie „als ein Medium der Wahr-nehmung, Reflexion und Kritik gegenwärtiger Verhältnisse“ fungieren und die so verhandelten Verhältnisse im öfffentlichen kulturellen Diskurs verankern.51 Diese Autor*innen heben die Überlegenheit von Literatur gegenüber anderen Medien hervor, gerade wenn es um das Politische geht.

51 Cadufff und Vedder, Hg. (wie Anm. 40), S. 9.

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© WILHELM FINK VERLAG, 2019 | doi:10.30965/9783770563906_003

Einbruch der Wirklichkeit (Incursion of Reality): Navid Kermani’s Engaged Realism

Claudia Breger

This article explores how the contemporary return of programmatically en-gaged writing at stake in this anthology intersects with the re-emergence of realism, or rather: the ensemble of new realisms that have been proclaimed since the beginning of the twenty-fijirst century across media and contexts. Most of these new realisms share a programmatic orientation beyond postmodern epistemologies and aesthetics: their proponents variously aim to overcome ‘mere’ deconstructive play or social constructivism in turning towards a social real. At the same time, the theoretical and political afffijiliations of these new realisms vary greatly, ranging from forceful gestures of ontological afffijirmation to techniques of cautious phenomenological exploration, and from seemingly apolitical philosophy to radical Marxist critique.1 In other words, the notion of realism continues to function as an “‘endlessly stretchable sack,’”2 and the fijield of contemporary realisms can thus perhaps only be mapped in the plural. But precisely this plurality, I believe, makes it worthwhile to return to the question how which realism serves (which form of ) social engagement.

On the following pages, I begin by tracing some of the ways in which this question surfaced in the twentieth-century debates around littérature engagée,

1 See, e.g., Markus Gabriel, Hg. Der Neue Realismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2014, for a range of explicitly philosophical contributions. On the political end of the spectrum, Bernd Stege-mann‘s Lob des Realismus has been discussed widely and controversially, especially with reference to postdramatic practices of documentary theatre (Berlin: Theater der Zeit, 2015). Notably, Stegemann draws on Gabriel (pp. 55fff.). A new aesthetics of phenomenological exploration has been developed, for example, in fijilms associated with the Berlin School (see my earlier discussion in An Aesthetics of Narrative Performance: Transnational Theater, Litera-

ture and Film in Contemporary Germany. Columbus: Ohio State University Press, 2012, espe-cially chapter 6).

2 “‘unendlich dehnbare[r] Sack’”: these are Roman Jakobson’s words (critically describing the ways some scholars used the notion of “realism” in his time). German translation of Jakob-son’s early article in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und

zur Theorie der Prosa. Hg. und eingeleitet von Jurij Striedter. (UTB 40) München: Fink, 1971, pp. 374–391, here p. 389. So the phenomenon and diagnosis are not new. Quoted from Rolf Parr, “Realismus – Marianne Wünschs Bestimmung einer Epoche.” In: kultuRRevolution 54 (2008): pp. 27–29, here p. 27.

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and then relate the mid-twentieth-century positions on literary engagement, realism and formalism developed by Jean Paul Sartre and Theodor W. Ador-no to the indicated twenty-fijirst-century realist returns.3 As I argue, we can overcome the fault lines in these debates and make the case for a particular kind of contemporary realism―that is epistemologically credible and force-fully egalitarian―by abandoning the traditional dichotomies of realism-vs.- construction and realism-vs.-formalism, to instead ground engagement with the social real in an aesthetics of careful, multi-perspectival mediation. My primary reference point for this endeavor is Navid Kermani’s poetic repor-tage from the main fall 2015 European refugee route, Einbruch der Wirklichkeit ( Incursion of Reality), with accompanying photographs by Moises Saman.4 On the theory side, I recruit help from Bruno Latour’s onto-epistemology and aes-thetics of “a more ‘realistic’ realism”5 to spell out the ways in which Kermani and Salman’s intermedial―and inter-genre―poetic insistence on Wirklichkeit provides an answer to the tensions haunting both realism and formalism advo-cates in the twentieth-century debates on littérature engagée, as well as some twenty-fijirst century returns to realist ontology, epistemology and aesthetics.6

The fraught status of realism in the debates around literary engagement is indicated when Sartre references the specter of “the old socialist realism” right at the beginning of his 1948 What Is Literature, which was to become a major reference point of the littérature engagée debates throughout the following dec ades.7 Thus indirectly referencing the (realism vs.) expressionism and for-malism debates of the 1930s, Sartre sets out to distinguish his own intervention from the charge of wanting “to murder literature” Soviet-style (s. note 7, p.  xviii). Emphatically, he develops his existentialist concept of a literature committed to ‘revealing the world’ in the sign of “the reader’s freedom,” even as he simultaneously subscribes to an explicitly rhetorical concept of authorial

3 A more elaborate treatment of the topic might include further positions, such as Albert Camus’s revisions to a poetics of engagement or the later Georg Lukács, but in the limited frame of this chapter, I focus on these two prominent contributions to the debate.

4 Navid Kermani. Einbruch der Wirklichkeit: Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa. München: Beck, 2016.

5 Bruno Latour. Pandora’s Hope: Essays on the Reality of Science Studies. Cambridge, MA: Har-vard University Press, 1999, p. 15.

6 This contribution is a companion piece to my earlier “Umsichtig und ‘objektvoll’ konstruiert: Komplexe Welt(ab)bildung in Navid Kermanis Dein Name.” In: Neue Realismen in der Geg-

enwartsliteratur. Eds. Soren R. Fauth and Rolf Parr. Paderborn: Fink Verlag, 2016, pp. 85–97. Drawing on a more recent text by Kermani, I expand the theoretical conceptualization fijirst developed there by relating it to the question of littérature engagée.

7 Jean-Paul Sartre. What Is Literature? Trans. Bernard Frechtman. London: Methuen & Co, 1967, p. xviii.

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language use as “persuasion”: in contrast to the poet, the writer of commit-ted “prose” develops his “quest for truth… in and by language conceived as as certain kind of instrument” (pp. 32, 15, 5). In terms of aesthetics, Sartre at one point claims neutrality by suggesting that “[i]t matters little whether the aes-thetic object is the product of ‘realist’ art (or supposedly such) or ‘formal’ art” (p. 40). However, his realist afffijiliations are betrayed not only by his empha-sis on prose, but also by his insistence on stylistic transparency as a means of subtle persuasion: “the style makes the value of the prose. But it should pass unnoticed.” Claiming that “words are transparent” and that “the gaze looks through them,” Sartre even declares it “absurd to slip in among them some panes of rough glass” (p. 15).

Adorno, of course, begs to difffer. His critique of Sartre’s and subsequent left-ist notions of engaged literature―or, as he puts it, “offfijicial works of committed art”―attains its form as a critique of aesthetic realism, which, he insists, can-not be deduced from philosophical materialism.8 While Adorno, too, claims that the “dichotomization” of “formalism and socialist realism” is wrong in that it presents a simple alternative instead of dialectical tension, he strongly comes down on the side of formalism, although not “l’art pour l’art.”9 Charg-ing engaged literature with crossing out its diffference from reality, he also as-sociates it with “children’s games” and argues that “[l]iterary realism of any provenance” is more compatible with authoritarian dispositions than art that terminates its “social contract with reality.”10 Praising the “frightening power” of formalist art, Adorno works himself up to his signature paradoxes: “All com-mitment to the world has to be canceled if the idea of the committed work of art is to be fulfijilled;” “politics has migrated into the autonomous work of art, and it has penetrated most deeply into works that present themselves as politi-cally dead.”11

8 Theodor W. Adorno. Notes to Literature. Vol. 2., ed. Rolf Tiedemann. Trans. Shierry Weber Nicholsen. New York: Columbia University Press, 1992, p. 90; “offfijiziell engagierten Dich-tungen” (Noten zur Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981, p. 426); Aesthetic Theory. Ed. Gretel Adorno and Rolf Tiedemann. Trans. Robert Hullot-Kentor. London: Continuum, 2002, p. 258/Ästhetische Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973, p. 383.

9 Aesthetic Theory, p. 256; “Dichotomie;” “Formalismus und sozialistischer Realismus” (Äs-

thetische Theorie, p. 380), Notes, 77/Noten, p. 410.10 Notes, (s. note 8) pp. 90, 78–79; “Kinderspiel;” “literarischer Realismus jeglicher Prove-

nienz;” “[w]o dagegen der Gesellschaftsvertrag mit der Realität gekündigt wird…” (Noten, pp. 426, 412).

11 Notes, (s. note 8) pp. 88, 90, 93–94; “schreckhafte Kraft;” “Jedes Engagement für die Welt muss gekündigt sein, damit der Idee eines engagierten Kunstwerks genügt werden kann;” “in die autonomen [Kunstwerke] ist die Politik eingewandert, und dort am weitesten, wo sie politisch sich totstellen” (Noten, pp. 423, 425–26, 430).

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In particular in his late Ästhetische Theorie, Adorno’s invectives against political realism resonate with the aesthetic postmodernism that was to facili-tate the reign of antirealism for the remainder of the century: art’s “opposition to empirical reality as such” attains its social force from “the extent to which its constructions and montages are simultaneously de-montages, destroying while receiving the elements of reality and shaping them freely as something other.”12 But as indicated in these wordings, the horizon of, and normative

reference to, an extraartistic real is still present here (as it was in many post-modern approaches).13 Thus, it is perhaps not surprising―but also not entire-ly revolutionary―that “reality started to report back with force/a vengeance” in the new century, as Bernd Stegemann puts it at the outset of his Lob des

Realismus, a radical Marxist manifesto that sparked a lively debate in German theater circles.14 In Stegemann’s version of the turn beyond postmodernism, more and more people started to doubt the “dogmas of contingency” and to remember that art used to work not only “on mystifying the world…, but at least to the same degree also on making it visible and understandable,” deploy-ing not merely “formal ambivalence” but “contradictions… that are concrete/tangible and simultaneously complex.”15

In Stegemann’s own programmatic endeavor, the emphasis on complexity is ultimately crushed by the weight of his old-fashioned Marxism: the “class standpoint” returns to circumscribe realism (with Brecht) as that which

12 Aesthetic Theory, (s. note 8) pp. 255–256; “Opposition gegen die empirische Realität;” “Konstruktionen und Montagen zugleich Demontagen sind, zerstörend die Elemente der Realität in sich empfangen, die sie aus Freiheit zu einem Anderen zusammenfügen” (Äs-

thetische Theorie, p. 379).13 In other words, much of postmodernism was never as antimaterialist as its opponents

claim. The now prominent charge that postmodernism―or more generally post-Kantian ‘correlationist’ epistemology―confused the notion that we don’t have unmediated ac-

cess to the world with the idea that a “mind-independent reality cannot exist” arguably indicates less about the targeted philosophies than the reverse slippage performed by new realists today, when they assert not only that “the real… exists without us” but also aim “‘to grasp the in-itself ’” by getting “‘out of ourselves’” (Steven Shaviro. The Universe of

Things: On Speculative Realism. Minneapolis: The University of Minnesota Press, 2014, pp. 6, 68 (quoting Meillasoux; emphasis in Shaviro’s text)). The actual diffference between late twentieth-century trends and the twenty-fijirst returns to realism, as I would put it, is that scholarly emphasis was on questions of access, or epistemology, in the postmodern moment, whereas it has now shifted to ontology, or being.

14 Bernd Stegemann. Lob des Realismus, (s. note 1) p. 7: “Die Realität meldet sich seit einigen Jahren mit Gewalt zurück.”

15 Ibid. “Dogmen der Kontingenz” (p. 7); “an der Verrätselung der Welt …, sondern mindes-tens in gleichem Maße auch an ihrer Sichtbarkeit und Verstehbarkeit” (pp. 7–8), “formale […] Ambivalenz” vs. “Widersprüche[…], die konkret und komplex zugleich sind” (p. 11).

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uncovers “‘the causal complex of society’” (as it is designated in the singular form here).16 Overall however, the twenty-fijirst-century return to realist forms and programmatics is not exhausted by such conceptual conservatism, and in some of my recent work, I have started to explore how it might be possible, and promising, to take seriously the widespread desires to move beyond practices of de(con)struction and paradoxical artistic acts of feigning political death to-wards more explicit, if not therefore immediate forms of social engagement. Can the new interests, in particular, in tangibility, specifijicity, and complexity be made productive in a way that moves us beyond the old pro-anti-realism frontlines à la Sartre vs. Adorno?

In Kermani’s poetic reportage, the title notion of Einbruch der Wirklichkeit (Incursion of Reality) is introduced precisely against the background of such complexity and specifijicity, namely in the context of observations on the difffer-ences between individual groups of refugees. Shortly after commenting on the presence of the “poorest among them, … almost all Afghanis” in the center of Belgrade, with no money left even to pay for the next bus north, he describes his impressions of a group of “Syrians or Iraqui” walking by the Lesbos hotel terrace on which he is writing:

many young people this time, men and without exception unveiled wom-en, whom you could not outwardly tell apart from the volunteers if they just put on a signal-yellow life vest. Their hairstyles, brand name jeans and tennis shoes, their sun glasses and ear plugs for listening to music mark them as members of the global middle class.17

This group will probably be able to affford a hotel the next night, the observer muses, and will make it through Europe more quickly than others because they speak English and have smartphones. “But nonetheless,” Kermani continues,

they also, each of them, would have a story to tell so dramatic, so full of sorrow and violence as no West European life is any longer, barrel bombs falling on their cities, crucifijied people on display for days, torture

16 Ibid. “Klassenstandpunkt” (Lob, p. 9); “Realistisch heißt: den gesellschaftlichen Kausalkom-plex aufdeckend” (Brecht; quoted from Stegemann, Lob, p. 43).

17 “Es sind die Ärmsten und damit fast alles Afghanen” (Kermani, Einbruch, [s. note 4] p. 39). “... jetzt gerade Syrer oder Iraker, viele junge Leute diesmal, Männer und durchweg un-verschleierte Frauen, die äußerlich nicht von den Helfern zu unterscheiden wären, wenn sie sich eine signalgelbe Weste überzögen. Die Frisuren, Markenjeans und Markenturn-schuhe, die Sonnenbrillen und Ohrstöpsel zum Musikhören weisen sie als Angehörige der globalen Mittelschicht aus” (p. 41).

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because of a critical theatre play. There is a war going on at the Eastern and Southern borders of our wealth ghetto, and every single refugee is its messenger: they are the incursion of reality into our awareness/ consciousness.18

Sorrow, violence, and war beyond the enclave of wealth: Kermani’s text un-abashedly embraces a politically and ethically charged notion of reality as its horizon. Intertwining this emphatic insistence with a more mundane notion of political ‘down-to-earth,’ empirically based pragmatism, he makes his case for a more “realist” politics of asylum and immigration:

Unrealistic, yes, really irrational―because it has been repeatedly refut-ed by empirical experience―is the idea of solving the refugee crisis by building walls and fortifying borders. […] Then we will soon be startled again by the news of those drowned, two hundred on one occasion, six hundred on another, every year several thousand dead at our borders, children of course among them, whose images we will see. This reality we cannot erase from our awareness/consciousness any longer.19

With no intention of feigning political death in Adorno’s sense, Kermani’s re-alism rather resonates with Sartre’s call for a communication that operates as “action by disclosure” through words charged with “anger” and “anguish,” oriented at provoking moral “indignation” (Sartre, What Is Literature?, [s. note 7] pp. 13, 2–3). In response, Adorno underlined his mistrust against commit-ted art works “all too readily” claiming “all the noble values” and “bragging

18 “Und doch hätten auch sie, jeder einzelne von ihnen, eine Geschichte zu erzählen, die an Dramatik, an Leid, an Gewalt kein westeuropäisches Leben mehr bereithält, Faßbomben, die auf ihre Städte niedergingen, Gekreuzigte, die tagelang zur Schau gestellt wurden, Folter wegen eines kritischen Theaterstücks. Es herrscht Krieg an den südlichen und östli-chen Grenzen unseres Wohlstandsghettos, und jeder einzelne Flüchtling ist dessen Bote: Sie sind der Einbruch der Wirklichkeit in unser Bewußtsein” (ibid. p. 44).

19 “Unrealistisch, ja geradezu irrational, weil von der empirischen Erfahrung bereits mehr-fach widerlegt, ist … die Vorstellung, die Flüchtlingskrise durch Abschottung zu lösen. […] Dann werden uns alsbald wieder die Nachrichten von den Ertrunkenen aufschre-cken, mal zweihundert, mal sechshundert, jedes Jahr mehrere Tausend Tote vor unseren Grenzen, Kinder natürlich auch dabei, deren Bilder wir sehen werden. Diese Wirklichkeit kriegen wir nicht mehr aus unserem Bewusstsein heraus” (ibid. p. 51). Kermani’s own practical suggestions include to fijinally separate asylum (including new protections for example for those who flee environmental catastrophes) from possibilities for legal immi-gration. While based on the needs of receiving countries, the latter would be designed to encourage prospective immigrants to invest in qualifijications rather than irregular border crossing (ibid. p. 50).

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29Navid Kermani’s Engaged Realism

about their ethics and their humanity” with the side blow that there “was no foul deed committed even under fascism that did not clothe itself in a moral justifijication.”20 After further decades of widespread critique of discourses of humanist morality all to easily tilting into legitimations for neo-imperialist ‘just war,’ Kermani now reafffijirms these ethical values, to be sure, in a politi-cal moment in which the offfijicial Western self-image of humanist moral con-sensus seems suspended. Not only has anti-immigrant populism returned to flagrant expressions of political hatred, but arguably, inequality is (in Wendy Brown’s diagnosis) once more becoming “normative” by way of neoliberalism’s assault on “humanism itself.”21 In return, Kermani’s rhetoric of moral realism redeploys the hegemonic articulation of these values as the legacy of the Eu-ropean Enlightenment: “Building walls and fortifying borders” (Abschottung), he warns, would “harden one’s own heart and stunt the openness, which con-stitutes Europe as a project and consequence of the Enlightenment. [...] Do we want Europe, or do we not?”22

In epistemological terms, the challenge of Kermani’s ethical realism is ar-ticulated as one of ‘proper’ perception, or seeing, facing, and recognizing the reality beyond European borders. Especially for those of us trained in the 1980s and 1990s, it may be easy, and perhaps still tempting to get into deconstruction mode and dissect the tensions, and naïve assertions, that such realism seems to entangle itself in. Sartre himself indicates some of them when he describes the task of committed literature in terms of “revelation” and “world disclos[ure]” while also admitting that this “disclosure” foregrounds a specifijic “aspect of the world” in order to bring about “change”: “The ‘committed’ writer … has given up the impossible dream of giving an impartial picture of Society” (Sartre, What Is Literature?, [s. note 7] pp. 32, 43, 13). Even if we agree with Kermani’s insistence on foregrounding the war and sufffering at the borders of our ‘wealth ghetto’ in describing the contemporary world, we might ask what exactly―other than this agreement―the claim to capturing Wirklichkeit is based on in the absence of impartiality. What safeguards the engaged project against slip-ping into (well-intentioned) “propaganda,” which lurks behind engagement

20 Notes, (s. note 8) p. 92; “Allzu leicht rechnete dieses [das engagierte Werk] sich selbst alle edlen Werte zu … Auch unterm Faschismus wurde keine Untat verübt, die nicht mo-ralisch sich herausgeputzt hätte. Die heute noch auf ihr Ethos und ihre Menschlichkeit pochen…” (Noten, p. 429).

21 Wendy Brown. Undoing the Demos: Neoliberalism’s Stealth Revolution. New York: Zone Books, 2015.

22 “Das eigene Herz würde verhärten und die Offfenheit verkümmern, die Europa als Projekt und Folge der Aufklärung ausmacht. [...] Wollen wir Europa, oder wollen wir es nicht?” ([“Einbruch,” s. note 4] pp. 26–27).