Prof. Dr. Sascha Neumann Assoziierte Professur für Bildungsforschung

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Einführung in die Erziehungswissenschaften III: Wege in die Kindheit 0 – 10 Vorlesung Montag, 13.15-15.00 Uhr PER 21, E120 Prof. Dr. Sascha Neumann Assoziierte Professur für Bildungsforschung Departement Erziehungswissenschaften

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Einführung in die Erziehungswissenschaften III: Wege in die Kindheit 0 – 10 Vorlesung Montag, 13.15-15.00 Uhr PER 21, E120. Prof. Dr. Sascha Neumann Assoziierte Professur für Bildungsforschung Departement Erziehungswissenschaften. I. Einführung (17.02.2014). Vorstellung meiner Person - PowerPoint PPT Presentation

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Einführung in die Erziehungswissenschaften III: Wege in die Kindheit 0 – 10

Vorlesung Montag, 13.15-15.00 Uhr

PER 21, E120

Prof. Dr. Sascha Neumann

Assoziierte Professur für Bildungsforschung

Departement Erziehungswissenschaften

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I. Einführung (17.02.2014)

Vorstellung meiner Person Organisation und Konzeption Offene Fragen

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II. Zur Person

Biographisches

Forschungsinteressen und Arbeitsgebiete

Aufgaben und Arbeitsschwerpunkte an der UNIFR

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III. Organisation und Konzeption

Termine Thema Literatur aus Bühler-Niederberger (2011)

Montag, 17.02.2014

Einführung  

Montag,24.02.2014

Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

S. 7-68

Montag,03.03.2014

Geschichte der Kindheit S. 69-111

Montag,10.03.2014

Fällt aus  

Montag,17.03.2014

Theorien der Kindheit S. 115-198

Montag,24.03.2014

Perspektiven und Erträge der Kindheitsforschung

S. 115-198

Montag,26.05.2014

2-stündige Klausur (gemeinsam mit Vorlesung zur „Jugend“, J. Kost)

 

Dienstag,13.05.2014

Vortrag von Doris Bühler-Niederberger, 19 Uhr, Pérolles II, C230 

 

Literaturgrundlage: Bühler-Niederberger, Doris (2011): Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume. Juventa, Weinheim und München

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Sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung

- (social) studies of childhood: junges internationales und

interdisziplinäres Forschungsfeld (seit etwa 1990)

- Interesse richtet sich auf die Eigenständigkeit von Kindheit als

Gegenstand der Forschung

- Abgrenzung gegenüber Entwicklungspsychologie,

Sozialisationstheorie, Kulturanthropologie, Pädagogik die

Kinder vorwiegend als Novizen und Kindheit als ein Status des

Noch-Nicht-Erwachsenseins thematisieren»

- Kritik richtet sich insbesondere an bisheriger Beschäftigung

der Soziologie mit dem Thema aus: bislang kaum Interesse an

Kindheit und falls doch, dann vorwiegend auf Sozialisation

verengt bzw. v.a. im Kontext von Schule und Familie betrachtet

- Ähnliches galt für Statistik und Sozialberichterstattung: Kinder

nur selten Untersuchungs- und Beobachtungseinheiten

quantitativer Studien (Qvortrup)

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SozialwissenschaftlicheKindheitsforschung

- Forderung: Kinder als soziale Gruppe betrachten wie andere

soziale Gruppen auch

- Dem wissenschaftlichen Emanzipationsinteresse entspricht

eine politische Emanzipation: Betonung von Rechten und

Perspektiven der Kinder («People in their own right»)

- Kindheit wird als soziokultureller Kontext des Kinderlebens

«entdeckt» (Kinderkultur): Unterscheidung zw. Kinder/Kindheit

- Im Mittelpunkt: Alltagsleben sowie Lebenslage und

Lebensqualität von Kindern

- Neben der sozialstrukturellen Position der Kinder rückt hier

Akteursstatus ins Zentrum

- Methodologisches Primat ethnographischer Methoden, da

sie nicht nur Daten liefern, sondern auch einen methodisch

reflektierten Zugang zur Erfahrungswirklichkeit der Kinder

eröffnen

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IV. Erwartungen

Anwesenheit Vorbereitung der Seminarsitzungen durch

Lektüre Aktive Mitgestaltung durch

Diskussionsbeiträge/Rückfragen

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Vorbereitende Lektüre 24.02.

Bühler-Niederberger, Doris (2011): Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume. Juventa, Weinheim und München, S. 7-68

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1. Teil: Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

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Ein verborgener Leitsatz der Kindheitsforschung…

«If men define situations as real they are real in their consequences»

Thomas/Thomas (1928): The Child in America

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

Kinder und ihre Kindheiten sind ein bevorzugter Gegenstand sogenannter «moral panics»«Doppelte Hermeneutik» (Giddens) der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion über Kindheit: Wissenschaft greift alltagsweltliche Diskurse genauso auf, wie öffentliche Diskurse wissenschaftliche Befunde aufnehmen und interpretieren

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

Die Verknüpfung beider Diskursebenen läuft über ein bestimmtes «normatives Muster» von Kindheit: Die «lange» und «behütete» Kindheit stellt dabei den idealen Massstab dar Dieses normative Muster orientiert sich am Lebensstandard sowie der Organisation der Generationenverhältnisse in den westlichen Industrienationen und begründet nahezu weltweit die Erwartungen an eine «gute» KindheitGleichzeitig ist dieses Muster sowohl historisch wie kulturell kontingentDennoch bestimmt es die Schlüsselthemen, die im Kontext des Redens über zeitgenössische Kindheiten immer wieder auftauchen

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

«Gute» Kindheit schliesst demnach scheinbar Folgendes ein:

- Das Aufwachsen in einer «vollständigen» Familie

- Eine erfolgreiche Bildungskarriere

- Eine hohe Lebensqualität («well-being»), insbesondere Gesundheit, Abwesenheit von Kinderarmut und geringe Kindersterblichkeit

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

Entsprechend sind sowohl die öffentlichen wie auch die wissenschaftlichen Debatten über KIndheit in den letzten Jahren durch folgende Themen geprägt: Wandel der Familienstrukturen/Wandel der ErziehungsvorstellungenBildungsungleichheitLebensqualität, KinderarmutInternational: Kinderrechte, Kindersterblichkeit, Kinderarbeit und Bildungsbeteiligung

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

Thema: Wandel der FamilienstrukturenNegativfolie: Aufwachsen in einer unvollständigen FamilieAlleinerziehende, instabile Familienarrangements und Rückgang der Kinderzahlen stehen im MittelpunktAber: Nach wie vor wächst die Mehrzahl der Kinder in einer «vollständigen» Familie aufSchweiz: 4/5 der Kinder und Jugendlichen erleben während ihres Aufwachsens das «Normalmodell» mit einem PaarhaushaltZugleich: Pluralisierung von Familienformen und – mit zunehmendem Alter Anstieg des Risikos, in einem Ein- Elternhaushalt aufzuwachsen

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher DiskurseThema: BildungsungleichheitHier stehen nicht eigentlich die Kinder im Mittelpunkt der Forschung, sondern die Bildungskarrieren, die sie als Schülerinnen und Schüler zurücklegenBildungsforschung ist also nicht gleich Kindheitsforschung, dennoch aber liefert sie Erkenntnisse über das Aufwachsen von KindernBildungsforschung erlebt seit den internationalen Schulleistungsvergleichen (PISA u.a.) eine Hochkonjunktur in allen OECD-LändernIm Mittelpunkt steht weniger die Bildungsbeteiligung; diese hat sich für das Schulkindalter auf breiter Linie durchgesetztVor allem geht es um die ungleichen Chancen unterschiedlicher Gruppen von Kindern

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

Thema: BildungsungleichheitIm öffentlichen, durch wissenschaftliche Ergebnisse informierten Diskurs hat sich dabei das Bild von den «Bildungsverliererern» grundlegend gewandelt: An die Stelle des «katholischen Mädchens vom Lande» trat der «Migrantenjunge»Es wird zwischen «primären Herkunftseffekten» und leistungsabhängigen «sozialen Filtern» (Zugangsbarrieren) unterschiedenDie Folgen dieser öffentlichen Aufmerksamkeit ragen tief bis in die frühe Kindheit hinein: Faktisch kann man in vielen Ländern eine Vorverlagerung der Schulpflicht beobachten, möglichst frühe Betreuung und Bildung sind zu einem gesellschaftlichen Schlüsselthema geworden; grösster Einschnitt in die Lebensphase der allg. SchulpflichtGleichzeitig geraten Eltern und Familien unter stärkere staatliche Kontrolle (Kinderschutz)

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

Thema: Lebensqualität und ungleiche KindheitenInternationaler Schlüsselbegriff: «well-being» of children (Kindeswohl)Familiensituation und Bildungschancen spielen auch hier eine Rolle; internationale Vergleichsstudien setzen jedoch grundlegender und breiter an und berücksichtigen auch die Perspektiven der Kinder selbstBasales Kriterium: Kindersterblichkeit; europäischer Durchschnitt 5,7/1000 Geburten; in ärmeren Ländern über 100 pro 1000 GeburtenWohlbefinden von Kindern: Materielle Ressourcen, Beziehungen zu Eltern, Verwandten und Gleichaltrigen, Lebensrisiken, Freizeitmöglichkeiten, subjektives Wohlbefinden (Studien der UNICEF und WHO, Kinder- und Jugendberichte, DJI-Kinderpanel)Studien eröffnen Einblicke in die Pluralität von Lebensbedingungen und die Ungleichheiten unter Kindern (z.B. Freizeitmöglichkeiten korrelieren mit dem sozioökonomischen Status der Eltern bzw. Familien)

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

Thema: KinderarmutProminentes Thema in öffentlichen Debatten: Hier mischen sich Ängste um die Zukunft einer Gesellschaft mit der Betroffenheit über die bereits vom Lebensanfang an ungleich verteilten Chancen und materiellen RessourcenKriterien und Diagnosen sind höchst umstrittenSicher ist jedoch: Kinder sind selbst in höherem Masse von Armut betroffen, so wie sie auch selbst ein Armutsrisiko darstellen; besonders im Fokus: Kinder alleinerziehender Eltern 1/3 aller Schweizer Kinder lebt in einkommensschwachen Haushalten (Bezieher von sozialstaatlichen Ergänzungsleistungen)

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse

Thema: Kinderarmut

Kinderarmut ist ein Indikator generationaler Ungleichheit

Vielfältige Folgen des Aufwachsens in Armut, wenn die Situation länger als 1 Jahr andauert: Beeinträchtigung der kognitiven und sozialen Entwicklung, erhöhte Gesundheitsrisiken, geringere Chancen auf eine erfolgreiche Bildungskarriere usw.

Die sozialen Folgen sind drastischer (Isolation) als die materielle Not an sich

Risikofaktoren: niedrige Löhne, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, geringes Ausbildungsniveau

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse: die globale Perspektive

Kindheit ist ein «global social concern» (Miriam Tag, 2009)Auch die globale Beschäftigung mit der Kindheit folgt weitgehend dem normativen Kindheitsmuster westlicher IndustrienationenIm Mittelpunkt der supranationalen Bemühungen um die Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern steht neben der indikatorenbasierten Berichterstattung über die Lebensqualität von Kindern auch die Kodifizierung und Durchsetzung von Kinderrechten (vgl. UN-Kinderrechts-konvention)Vor diesem Hintergrund wurden Kindersterblichkeit, Kinderarmut, Kinderarmut und Bildungsbeteiligung zu mitunter kontrovers verhandelten Schlüsselthemen

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse: die globale Perspektive

Beispiel: Kinderarbeit

Die Beschäftigung mit diesem Thema macht nochmal auf drastische Weise deutlich, wie ungleich die Lebens-bedingungen von Kindern im globalen Massstab sind

Kinderarbeit ist in ärmeren Ländern für die Kinder häufig ein Garant dafür, sich von ihrer Herkunftsfamilie unabhängig zu machen

Ferner ist sie haushaltsökonomisch von Bedeutung, um das Überleben der Familie zu sichern

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse: Fazit

Kinderarbeit ist für Kinder eine Möglichkeit der sozialen Integration, sie sichern ihnen einen sozialen Status innerhalb der Ordnung der Generationen und Geschlechter

Programme, die auf den Abbau von Kinderarmut mittels einer Steigerung der Verschulungsrate zu sichern, haben häufig ambivalente Effekte, weil die Schule nicht unbedingt ein besserer Ort für Kinder ist und für sie auch eine Doppelbelastung bedeuten kann

Die Bildungskindheit wird dabei häufig zu einem fragwürdigen Privileg, was wiederum den kulturellen Bias des westlichen Kindheitsmodells bestätigt

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse: Fazit

Das öffentliche und wissenschaftliche Interesse an der Kindheit ist nicht immer schon gleichzusetzen mit einem Interesse an den Kindern selbst

Dies zeigt sich daran, dass viele Themen weniger aus der Sorge um die Kinder als aus der Sorge um die zukünftige Reproduktion der Gesellschaft hervorgehen

Die öffentliche und wissenschaftliche Beschäftigung mit der Kindheit beruht auf normativen Vorstellungen über eine gute Kindheit und normiert Kindheiten damit fortlaufend selbst

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Kindheit als Thema öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Diskurse: Fazit

Diese normativen Muster verstecken sich hinter vermeintlichen Annahmen über die «Natur des Kindes» als eines zugleich verletzlichen wie entwicklungsfähigen und erziehungsbedürftigen Wesens

Dies erklärt auch, warum bestimmte Kindergruppen viel seltener Thema von Forschung werden (Waisenkinder, chronisch kranke Kinder etc.)

Die öff. und wiss. Thematisierung ist Bestandteil eines sich ständig neu etablierenden Macht-Wissens-Komplexes, der das Leben der Kinder genauso prägt wie er die «Herrschaft» der Erwachsenen über die Kinder verstetigt

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Literatur 03.03.2014:

Bühler-Niederberger, Doris (2011): Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume. Juventa, Weinheim und München, S. 69-111

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2. Teil: Geschichte der Kindheit

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Geschichte der Kindheit: Wozu eigentlich?

Letzte Vorlesung: Normatives Muster der langen und behüteten Kindheit als Leitmotiv öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten

Warum sollte man sich mit der Geschichte der Kindheit beschäftigen: Um zu erfahren, wie es kam, dass die Dinge heute so sind, wie sie sind und scheinbar sein müssen…

Das heisst: Der Blick in die Geschichte sensibilisiert für das nicht-notwendige Gewordensein der Dinge und damit auch für das Andersseinkönnen dessen, was vermeintlich unverrückbar so ist, wie es ist (Kontingenz)

Die Geschichte der Kindheit informiert entsprechend über die Weichenstellungen und Entwicklungsschritte, die dazu geführt haben, dass das normative Muster der «langen und behüteten Kindheit» eine nahezu universelle Geltung hat erlangen können

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Geschichte der Kindheit: Dimensionen der Entwicklung

Bühler-Niederberger (2010) beschreibt insgesamt vier Dimensionen der modernen Entwicklung von Kindheit

Erstens: Separation der Kinder in Institutionen der Erziehung (Pädagogisierung der Kindheit) Zweitens: Emotionale Höherbewertung und Glorifizierung der Kinder (Privatisierung der Kindheit) Drittens: Freisetzung des Kindes aus der Familie und stärkere Beanspruchung der Kinder durch die

Gesamtgesellschaft (Defamilialisierung und Vergesellschaftung der Kindheit) Viertens: Stärkerer Fokus auf die Gesellschaftsfähigkeit des Nachwuchses und seine

selbstgesteuerte Unterodnung unter die imperative gesellschaftlichen Nutzens und des sozialen Lebens (Disziplinierung und Verselbständigung der Kindheit)

Warum sollte man sich mit der Geschichte der Kindheit beschäftigen: Um zu erfahren, wie es kam, dass die Dinge heute so sind, wie sie sind und scheinbar sein müssen…

Das heisst: Der Blick in die Geschichte sensibilisiert für das nicht-notwendige Gewordensein der Dinge und damit auch für das Andersseinkönnen dessen, was vermeintlich unverrückbar so ist, wie es ist (Kontingenz)

Die Geschichte der Kindheit informiert entsprechend über die Weichenstellungen und Entwicklungsschritte, die dazu geführt haben, dass das normative Muster der «langen und behüteten Kindheit» eine nahezu universelle Geltung hat erlangen können

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Geschichte der Kindheit: Klassische Positionen

Diese Dimensionen der Entwicklung und Veränderung von Kindheit in der Moderne spiegeln sich bereits in den klassischen Werken zur Geschichte der Kindheit von Philippe Ariès und Lloyd de Mause, werden dort aber unterschiedlich bewertet

Philippe Ariès (1960): «L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime»; dt. (1978): «Geschichte der Kindheit»)

Ariès beschreibt die Geschichte der Kindheit als eine Geschichte ihrer «Entdeckung», die wiederum hinsichtlich ihrer Folgen als negativ beurteilt wird

Die Geschichte der Kindheit von Ariès ist eine Geschichte des Wandels von Einstellungen, Gefühlen und Mentalitäten gegenüber Kindern: Er beobachtet im Mittelalter eine nur schwach ausgeprägte Vorstellung von der Besonderheit des Kindes und belegt dies mit dem fehlen von Kinderkleidern, speziellen Spielen für Kinder oder der amorphen Darstellung von Kindern in der Malerei

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Geschichte der Kindheit: Klassische Positionen

Dies ändert sich mit der Verschulung der Kindheit und der Privatisierung der Familie: Die Familie schottet das Kind zunehmend vor dem öffentlichen Raum ab, die Schule übernimmt immer mehr eine disziplinierende und altersnormierende Funktion

Kinder treten dabei in ihrer Besonderheit hervor, verlieren aber auch ihre Freiheit

Geschichte der Kindheit erweist sich darin eine «Verlustgeschichte»: Verlust an Freiheit und öffentlicher Präsenz

Parallelen zu Norbert Elias «Prozess der Zivilisation» (1994): Die stärkere Affektregulierung führt in der Moderne auch zu einer Distanzierung gegenüber den Kindern, die sich die Fähigkeit zur Affektkontrolle erst in einem (regulierten) Zivilisationsprozess erwerben müssen

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Geschichte der Kindheit: Klassische Positionen

Die Leistung von Ariès besteht vor allem darin, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass uns das, was wir heute unter Kindheit verstehen, nicht «natürlich», also gleichsam voraussetzungslos gegeben ist

Zweiter Protagonist: Lloyd de Mause (1974): The History of Childhood»; dt. (1979) «Hört ihr die Kinder weinen»

Geschichte der Kindheit als Psychohistorie: Historischer Wandel ist durch den Wandel der Persönlichkeits- und Charakterstrukturen von Menschen bestimmt

Demnach unterscheidet er für die Geschichte der Kindheit unterschiedliche psychogenetische Modi der Eltern-Kind-Beziehung

Historisch gesehen ist die Geschichte der Kindheit eine Geschichte der Grausamkeiten gegenüber Kindern: «Kindesmord», «Weggabe», «Ambivalenz», «Intrusion» (psychische Kontrolle), «Sozialisation», «Unterstützung» (20. Jahrhundert)

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Geschichte der Kindheit: Klassische Positionen

Mit dem Wandel der psychogenetischen Formen des Umgangs mit dem Kind wird die Geschichte der Kindheit zu einer Geschichte des humanen Fortschritts, die im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht

Beide Autoren lassen sich dazu hinreissen, die Geschichte der Kindheit nicht nur nachzuerzählen, sondern sie auch vor dem Hintergrund gegenwärtiger Kindheiten zu bewerten

Die Gegenüberstellung beider Werke sagt vor allem etwas über die Schwäche eines bestimmten geschichts-philosophischen Ansatzes, der die Gegenwart und die Kriterien Erwachsener als Massstab für die Beurteilung der Vergangenheit nimmt

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Geschichte der Kindheit als Institutionen-geschichte

Geschichte der Kindheit ist immer eingespannt in einen doppelten Wandlungsprozess: Den Wandel der Familie auf der einen und den Wandel des Bildungssystems auf der anderen Seite

Familie und Bildungssystem sind die Schauplätze, auf denen die moderne Ordnung der Kindheit hergestellt wird

Insofern ist die Geschichte der Kindheit zum Grossteil eine Geschichte dieser beiden Institutionen

Die Wandlungsprozesse der Kindheit sind grundsätzlich als ambivalent zu betrachten, also weder als nur positiv oder nur negativ

Die Geschichte der sich wandelnden Institutionalisierung von Kindheit verläuft als Etablierung einer gesellschaftlichen Ordnung, die ganz auf das selbstdisziplinierte Individuum abstellt

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Geschichte der Kindheit: Separation

Beispiel: Separation Seit dem frühen 16. Jahrhundert sind Tendenzen der

Verbesonderung von Kindern In dieser Hinsicht geht es vor allem um die Einbindung der Kinder

in ein ausserhäusliches System der Erziehung, das möglichst alle Kinder möglichst umfassend erfassen soll

Im Bürgertum geht es aber auch darum, die Familie und vor allem die Mütter stärker in die Verantwortung zu nehmen

Ab dem 19. Jahrhundert nehmen zunehmend Experten auf die Erziehung in der Familie Einfluss; Kindheit wird sozusagen Re-privatisiert

Für Kinder aus niedrigen sozialen Schichten vollzieht sich die Verbesonderung vor allem über das Verbot von Erwerbstätigkeit und die Verdrängung aus dem öffentlichen Raum

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Geschichte der Kindheit: Bilanz Das normative Muster lässt sich historisch als Konstruktion einer

bestimmten sozialen Ordnung entschlüsseln: Kindheit ist ausgerichtet auf die Herstellung eines produktiven Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft

Die Normierung «guter Kindheit» impliziert die Stigmatisierung «ungenügender Kindheiten» als Kehrseite der Medaille

Bei der guten Kindheit gehe es nicht allein um das Wohl der Kinder, sondern um den Erhalt oder die Verwirklichung einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung: Kinder versprechen vor allem einen Vorteil für das Gemeinwohl

Im historischen Prozess entfaltet sich die Kindheit auch im Kampf zwischen Statt und Familie

Die jüngsten Prozesse der Neubewertung des Themas Kindheit auf der supranationalen Ebene reihen sich in das historische Muster ein: Radikalisierte Vorstellung einer individualistischen Gesellschaft

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Diskussionsfrage für Flüstergruppen

Wie würden Sie die Geschichte der Kindheit beurteilen – als Verlustgeschichte oder Erfolgsgeschichte? Diskutieren Sie unterschiedliche Deutungen mit Ihrer Nachbarin/Ihrem Nachbarn?

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Literatur 17.03.2014:

Bühler-Niederberger, Doris (2011): Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume. Juventa, Weinheim und München, S. 115-198

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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!