Polizei und Moscheevereine

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Polizei und Moscheevereine EIN LEITFADEN zur Förderung der Zusammenarbeit

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Polizei und MoscheevereineEIN LEITFADEN zur Förderung der Zusammenarbeit

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Gute Polizeiarbeit zeichnet sich auch da-durch aus, dass sie interkulturelle Zusammen-hänge erkennt sowie beurteilen kann unddaran ihre Maßnahmen im Rahmen der gesetz-lichen Bestimmungen ausrichtet. Dazu muss diePolizei vor allem mit dem Lebensumfeld von Ein-wanderern und mit seinen Strukturen, Spiel-regeln und Kommunikationsformen vertraut sein.

Gerade in der Präventionsarbeit mit musli-mischen Gemeinden sind neue Potenziale derZusammenarbeit auszuschöpfen. Die An-schläge von London unterstreichen dabei dieBedeutung solcher Kooperationen. Durch dieEinbindung von Moscheevereinen in die poli-zeiliche Präventionsarbeit können muslimi-sche Gemeinden einen unmittelbaren Beitragzur Kriminalitätsvorbeugung leisten. Dies för-dert die vertrauensvolle Zusammenarbeitzwischen Muslimen und den staatlichenInstitutionen und damit die Integration mus-limischer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Füreine solche Zusammenarbeit gibt es inDeutschland bereits erfolgreiche Beispiele.

Der vorliegende Leitfaden der Polizei-lichen Kriminalprävention der Länder unddes Bundes – entstanden aus einem Modell-projekt der Bundeszentrale für politischeBildung in Zusammenarbeit mit den Polizei-präsidien Berlin, Essen und Stuttgart – bieteteine Orientierung für polizeiliche Führungs-

kräfte bei der Präventionsarbeit mit muslimi-schen Gemeinden. Der Leitfaden konkreti-siert, was unter der allseits geforderten„interkulturellen Kompetenz“ zu verstehenist, jenseits abstrakter Begriffsdefinitionenund rein moralischer Forderungen. Er beruhtauf der praktischen polizeilichen Arbeit vorOrt und berücksichtigt die Grenzen der poli-zeilichen Kooperationsfähigkeit.

Ziel des Leitfadens ist es, neben derDarstellung von Vorschlägen zur Zusammen-arbeit mit Muslimen und Moscheevereineninsbesondere durch die Vermittlung vonKenntnissen über die Kultur und Werte desislamischen Glaubens die interkulturelleKompetenz der Polizei zu fördern. Er kannzur polizeilichen Aus- und Fortbildung, aberauch zur persönlichen Orientierung oderWeiterbildung genutzt werden.

Die Zusammenarbeit zwischen derBundeszentrale für politische Bildung und derpolizeilichen Kriminalprävention der Länderund des Bundes ist ein wichtiger Schritt aufdem Weg, die politische Bildung mit denAnforderungen professioneller Fortbildung inder Polizeiarbeit zu verknüpfen. Hier handeltes sich um eine langfristige Aufgabe, damit diePolizei auf dem Gebiet interkulturellerHerausforderungen einer effizienten undnachhaltigen Polizeiarbeit gerecht wird.

VORWORT

Erwin Hetger

Landespolizeipräsident und Vorsitzender der polizeili-chen Kriminalprävention der Länder und des Bundes

Thomas Krüger

Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung

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1. EINLEITUNG 5

2. HANDLUNGSBEDARF 7

3. ZIELE DES LEITFADENS 11

4. INFORMATIONEN ZU KULTURUND RELIGION 13

4.1 Interkulturelle Kompetenz 13

4.2 Was man über den Islam wissensollte – in Stichworten 14

4.2.1 Einheit und Vielfalt 144.2.2 Grundzüge im islamischen

Selbstverständnis 154.2.3 Die fünf Säulen des Islam 164.2.4 Islam und modernes Leben 184.2.5 Der Islam in Deutschland – so

vielfältig wie der Weltislam 204.2.6 Muslimische Vereine

und Dachverbände 22

4.3 Hinweise für dieBegegnung mit Muslimen 24

4.3.1 Vielfalt, Vielfalt, Vielfalt –auch in der Kommunikation 24

4.3.2 Religiöse Feste sollteman kennen! 24

4.3.3 Frauenwelt – Männerwelt 254.3.4 Traditionelle Familienorien-

tierung: Anknüpfungspunkt und Konfliktpotenzial 25

5. PRAXISERFAHRUNGEN 27

5.1 Grundsätzliches zuKooperationen 27

5.1.1 Voraussetzungenseitens der Dienststelle 28Kooperationsprojektesind Chefsache 28Kooperationenerfordern Projektarbeit 28Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fürKooperationsprojekte gewinnen 30Kooperationenerfordern Kontinuität 30Geeignete Kooperationspartner 31Informationsquellen 33

5.1.2 Praktische Hinweisezum Kontaktaufbau 34Erstkontakt 34Polizeilicher Ansprechpartner 35Ansprechpartner seitensdes Moscheevereins 36Zeit 36Örtlichkeit 36Vorstellung 36Polizei als „Freund und Helfer“ 37Einladungen zubesonderen Anlässen 37Kontaktpflege 37GemeinsamesInteresse an Prävention 37Einbeziehungmuslimischer Frauen 38Einbindung in lokale Strukturen 38

5.1.3 Stolpersteine undLösungsmöglichkeiten 39Unangekündigter Besuch 39Jüngere oder weiblicheDienstkräfte 39Zeitansatz 39Versuche der Instrumentalisierung 39Projektarbeit mit den Kooperationspartnern 40Knappe Geldmittel 40

5.1.4 Ansätze zur Einbindungder Moschee 41Unterstützung des Vereins 42Unterstützung einzelnerVereinsmitglieder 42Aufbau vonVermittlungspersonen 42Unterstützung der Polizei 42

5.2 Thematische Anknüpfungs-punkte gegenüber muslimischen Gemeinden 43Überblick überZuständigkeiten der Polizei 43Gewaltprävention, auchGewalt im sozialen Nahraum 43Suchtprävention 44 Gesetzesänderungen 45

6. RESÜMEE 46

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INHALT INHALT

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EINLEITUN

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UNGEINLEITUNG

Professionelle und zukunfts-orientierte Polizeiarbeit wirdkünftig mehr interkulturelleKompetenz erfordern. Gerade imUmgang mit islamischen Gemein-den können die Chancen der

gesamtgesellschaftlichen Prävention nochbesser genutzt und Muslime über dieMoscheevereine stärker in die gemeinschaft-liche Bewältigung der anstehenden Sicher-heitsaufgaben vor Ort einbezogen werden.

Unser Leitfaden bietet dazu kein„Patentrezept“, sondern eine Orientie-rungshilfe zum Umgang mit den Erwar-tungen der islamischen Bevölkerunggegenüber der deutschen Polizei. Ihm lie-gen die Erfahrungen eines 18-monatigenModellprojekts „Kooperation von Polizei-dienststellen mit Moscheevereinen“ inBerlin, Essen und Stuttgart im Auftragder Bundeszentrale für politische Bildung(bpb) zugrunde.

Das Modellprojekt vermittelte einzelnenPolizeibeamtinnen und -beamten sowie gan-zen Dienststellen der Polizei die Kompetenz inpolizeilicher Prävention gegenüber islamischenGemeinden; es basierte auf einer im Projekt„Transfer interkultureller Kompetenz“ (TiK)1

entwickelten, bundesweit schon in Jugend-und Gesundheitsämtern bewährten Strategie:Durch gezielte Projektarbeit machen sichInstitutionen mit dem Lebensumfeld von Ein-wanderern mit seinen Strukturen, Spielregelnund Kommunikationsformen vertraut.

Voraussetzung für das Modellprojekt war,dass im Polizeibereich die örtliche Polizeifüh-rung die Entwicklung interkultureller Kompe-tenz als Aufgabe ihres strategischen Manage-

ments begriff und bereit war, sie in die täglicheArbeit zu integrieren.

Die Dienststellen im Modellprojekt bautenüber einen längeren Zeitraum Kooperationenmit Moscheevereinen auf und erwarbendadurch praxisnahe Kenntnisse über den Islamsowie seine Organisationen im Stadtteil.Hierbei entstanden auch Handlungsstrategienzur vertrauensvollen Einbindung von Musli-men in die gemeinsame Verantwortung für diePrävention von Kriminalität muslimischerJugendlicher, was für den Erfolg weiterer poli-zeilicher Aktivitäten wichtig sein dürfte.

Die unterschiedlichen Erfahrungen ausBerlin, Essen und Stuttgart zeigen deutlich,dass es für die Kooperationen mit Moscheenkein generell gültiges „Rezept“ gibt: Was in dereinen Stadt funktioniert, muss in einer anderenkeineswegs ebenso funktionieren. Moscheenhaben – wie Polizeidienststellen – verschiedeneVoraussetzungen hinsichtlich ihrer Ausrichtungund Ansichten, eben auch im Hinblick auf Offen-heit und Engagement für Kooperationen.

Grundsätzlich ist die Einbindung derMoscheevereine in lokale Netzwerke ausJugendamt, Schule und freien Trägern förder-lich, wenngleich es auch hier Unterschiedegibt. In manchen Sozialräumen arbeiten solcheNetzwerke gut zusammen, in anderen nicht.Die Erfahrungen aus dem Modellprojekt sollenhelfen, Stolpersteine aus dem Weg zu räumen:Durch die ständige Auswertung der Erfah-rungen und die Anpassung der Strategie anetwa auftretende Hindernisse lassen sich auchin der sozialen Integration neue Wege finden,um etwa Honoratioren aus der islamischenGemeinde in die Verantwortung für diePrävention mit einzubeziehen.

1Tatiana Lima Curvello, Margret Pelkofer-Stamm: Interkulturelles Wissen und Handeln. Neue Ansätze zur Öffnung sozialer Dienste.Dokumentation des Modellprojekts „Transfer interkultureller Kompetenz“ (TiK), Berlin 2003

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HANDLUN

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HANDLUNGSBEDARF

2. HANDLUNGSBEDARF

Die Polizei steht – wie andereInstitutionen auch – vor der Aufgabe,sich auf das Lebensumfeld vonEinwanderern einzustellen. In Deutsch-land, wo über sieben MillionenAusländer leben, gibt es Städte mitStadtteilen, in denen Deutsche eineMinderheit bilden. Wie Bevölkerungs-wissenschaftler schätzen, wird in zehnJahren über die Hälfte der unter 20-jähri-gen Einwohner einiger deutscher Groß-städte nichtdeutscher Herkunft sein.Hinzu kommt die große Zahl eingebür-gerter Migranten sowie Aussiedler, dievon der Statistik als Deutsche erfasstwerden.

Wenn Integration nicht gelingt undsich in manchen Stadtvierteln schonjetzt so genannte Parallelgesellschaftenentwickeln, wenn jugendliche Migran-tinnen und Migranten keine hinreichen-den schulischen Qualifikationen erlangenund ihre Arbeitslosenquote überdurch-schnittlich hoch ist, dann betrifft dasletztlich auch die Polizei. Wo sich sozialeProbleme mit ethnischer und/oder kultu-reller Abschottung überlagern, greifenherkömmliche Methoden und Routineder Polizeiarbeit oft nicht mehr.

Gute Polizeiarbeit wird künftig die polizei-lichen Interventionsmöglichkeiten in inter-kulturellen Zusammenhängen besser erken-nen, sachkundiger beurteilen und vermehrtberücksichtigen müssen. Nur so kann diePolizei ihre Aufgaben auch unter demEindruck einer verstärkten Zuwanderungerfüllen. Die Antwort auf diese Herausforde-rung ist die Entwicklung von adäquatenKompetenzen.

Die Anforderungen, auf die sich diePolizei professionell einstellen muss, ergebensich auf verschiedenen Handlungsfeldern2, sobeispielsweise

• bei Kontakten von Polizeibeamtinnen und -beamten mit einzelnen Bürge-rinnen und Bürgern nichtdeutscher Her-kunft, etwa bei Kontrollen, Ermittlun-gen, Vernehmungen oder Durchsu-chungen,

• im Verhältnis der Polizeibehörde zuMinderheitengruppen insgesamt, vorallem zu ethnischen und religiösenMinderheiten,

• in der internen Zusammenarbeit vonPolizeibeamtinnen und -beamten mit eigener unterschiedlicher ethnischer oder religiöser Herkunft,

• im Erscheinungsbild der Polizei in der politischen Öffentlichkeit und bei den verschiedenen ethnischen und religiö-sen „Gemeinden” sowie

• in der Präventionsarbeit, in der diePolizei ebenfalls die besonderen Lebens-umstände der Einwanderer berück-sichtigen muss.NGSBEDARF

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2Rainer Leenen et al.: Interkulturelle Kompetenz bei der Polizei, Qualifizierungsstrategien, in: Gruppendynamik und Organisations-beratung, Jahrgang 33, Heft 1, 2002, S. 97–120

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Diese einzelnen Aspekte polizeilicherTätigkeit sind miteinander verwoben: Sokann ein Ermittlungserfolg ganz wesentlichvom generellen Verhältnis zwischen derPolizei und den Menschen einer jeweiligenethnischen Gruppe, aber auch von speziel-len polizeilichen Einzelkenntnissen überdas betreffende Lebensumfeld abhängen.

In polizeilichen Einsatzsituationen immuslimischen Umfeld ergeben sich prakti-sche Probleme vielfach schon aus derAbweichung von den in Mitteleuropa übli-chen Erwartungen. So kann es zu unvorher-gesehenen und ungewollten Konfliktenkommen, die sich mit einem Mindestmaßan Sachkenntnis und Sensibilität hättenvermeiden lassen.

Viele in Deutschland ungewohnteVerhaltensmuster im islamischen Umfeldstehen im Zusammenhang mit dortigenreligiösen oder kulturellen Traditionen.Meist braucht man aber keine tiefer gehen-de Kenntnis dieser traditionellen Hinter-gründe, um bei polizeilichem HandelnKonflikte zu vermeiden; vielmehr reicht esvöllig aus, bestimmte Verhaltensweiseneinfach nur zu kennen, zu verstehen undsich ganz pragmatisch darauf einzustellen.

So steht die Gleichberechtigung der Frauin Europa außer Frage; in vielen arabischenoder auch türkischstämmigen Familien istes Frauen hingegen nicht erlaubt, aufBesuche, auf Fragen oder auf das Auftretender Polizei in der uns gewohnten Weise zureagieren. Hier gilt allein der Ehemannoder ein sonstiges erwachsenes männlichesFamilienmitglied als kompetenter An-sprechpartner: Er würde es als Missachtungseiner Autorität empfinden, wenn manzuerst – wie bei uns üblich – die Fraubegrüßt oder eine Frage an sie richtet. Daszu berücksichtigen, kann bei normalenKontakten die Arbeit der Polizei erleich-tern. Im Einsatzfall oder bei derDurchführung von Ermittlungen kann esallerdings zur Erfüllung des polizeilichenAuftrags durchaus erforderlich sein, daraufkeine Rücksicht zu nehmen.

Ebenso gibt es erhebliche Unterschiedeim Verhalten von Erwachsenen gegenüberKindern, die polizeiliches Handeln ungüns-

HANDLUNGSBEDARF

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tig beeinflussen können, wenn man dieGewohnheiten des fremden Kulturkreisesnicht kennt oder nicht beachtet. Kindersind im muslimischen Kulturkreis hochangesehen und oft noch mit einem (proble-matischen) Begriff von „Ehre“ verbunden;daher ist es schon vom Grundsatz her pro-blematisch, Eltern mit einem Fehlverhaltenihrer Kinder konfrontieren zu müssen.Andererseits würde es auch als ungehörigempfunden, ein Kind in Gegenwart seinesVaters direkt anzusprechen oder gar zubefragen, ohne das Vorgehen zuvor mitihm als Familienoberhaupt besprochen undabgestimmt zu haben. Auch in diesenFällen ist der Ermessensspielraum zwischenpolizeilichen Notwendigkeiten und ver-nünftigem Rücksichtnehmen zu beachten.

Auch körperliche Berührungen einer Frauoder eines Mädchens – selbst wo sie, wieetwa bei der ersten Hilfe nach einem Unfall,unvermeidlich sind – können wegen derunterschiedlichen Verhaltensmuster zuMissverständnissen führen. Eine solcheMaßnahme sollte auf das Notwendigstebeschränkt, nach Möglichkeit weiblichenDienstkräften vorbehalten und jedenfalls –soweit einsatztaktisch möglich – von erklä-renden Worten begleitet werden.

Ein gewisses Konfliktpotenzial birgt auchdas Tragen von Schuhen in Wohnungen undinsbesondere in Moscheen – selbst dann,wenn es allein um polizeiliches Einschreitengeht und das sonst gebotene Ausziehen der

Schuhe den Einsatzerfolg aus polizeilicherSicht gefährden würde.

Dennoch ist grundsätzlich auf dieEinhaltung westlicher Normen und Wertestan-dards zu bestehen. Im Rahmen dieser Ordnungsollte sich jedoch die Polizei als Repräsentantdes Staates auf kulturelle Besonderheiten ein-lassen.

Selbstverständlich gibt es viele Beispieleproblemloser Zusammenarbeit mit muslimi-schen Persönlichkeiten und Vereinen; dennnicht alle Muslime pflegen Verhaltenswei-sen, die so deutlich von unseren Gepflogen-heiten abweichen.

Wie bei Christen und Juden werden auchbei Muslimen die traditionellen oder religiö-sen Verhaltensmuster ganz unterschiedlichstark beachtet.

Nur eine Minderheit der hiesigen Muslimeist in Moscheevereinen organisiert; gleich-wohl haben gerade diese Moscheevereine inden sozial und wirtschaftlich schwachenStadtvierteln unserer Großstädte einen wich-tigen Einfluss auf viele der dort lebendenmuslimischen Familien und Jugendlichen. FürPolizeibeamtinnen und -beamte in solchenStadtvierteln wird es daher immer wichtiger,mehr über die sozialen und kulturellenBesonderheiten muslimischer Vereine zuerfahren, damit sie ihren Dienst auch unterdiesen Bedingungen möglichst konfliktfreiausüben können.

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ZIELE DES LEITF

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Vermittlung der Erfahrungenaus den Modellprojekten desTIK3-Projektes

Der Leser erhält in kurzer,anschaulicher Weise einen Überblicküber die Vorgehensweise und die Er-fahrungen der Polizeidienststellen inBerlin, Essen und Stuttgart in der Zu-sammenarbeit mit Moscheevereinen.

Kompetenzaufbau für polizeiliche Inter-ventionsmöglichkeiten im interkulturel-len Kontext

Der Leitfaden soll dem Leser Grundkenntnis über

interkulturelle Kompetenz und derenBedeutung für die polizeiliche Arbeit,

den Islam, die Normen und Werte der in derdeutschen Gesellschaft lebenden Muslime sowie

deren Sitten, Gebräuche und Formen derKommunikation vermitteln und für diesich daraus ergebenden Besonderheitender polizeilichen Arbeit sensibilisieren.

Die im Zusammenhang mit der Umsetzungder im Leitfaden dargestellten Kooperations-möglichkeiten mit Moscheevereinen dienendazu, anhand praktischer Arbeit („Learningby Doing“) interkulturelle Kompetenz beiden eingesetzten Polizeibeamtinnen und -beamten zu entwickeln bzw. diese in ihrerHandlungssicherheit zu stärken.

Schaffung von einsatzunabhängigenKontakten mit Muslimen

Der Leitfaden zeigt auf, dass es für diepolizeiliche Arbeit wichtig und lohnenswertist, neben den sich in der Regel aus repressi-ven Anlässen ergebenden Kontakten zuMuslimen bzw. zu Moscheevereinen auchandere, insbesondere einsatzunabhängigeKontakte zu schaffen.

Schaffung von Netzwerken

Die Erfahrungen des Modellprojekteszeigen, dass dort, wo es gelingt, dieMoscheevereine in bestehende Netzwerke(z. B. Kommunale Kriminalprävention) zuintegrieren, die Synergieeffekte und derNutzwert für alle am Netzwerk Beteiligtensehr groß sind.

Einbinden der Moscheen in die siebetreffende Präventionsarbeit

Präventive Konzepte greifen nur, wennsie auf die Zielgruppe abgestimmt sind.Dabei zeigen die Erfahrungen aus derKommunalen Kriminalprävention, dass esunerlässlich ist, die Bürgerinnen und Bürgerin die präventive Arbeit einzubinden. Diesgilt im Besonderen für die Zusammenarbeitmit Muslimen. Hier kann die Akzeptanz derpolizeilichen Arbeit nachhaltig verbessertwerden.

3. ZIELE DES LEITFADENS

TFADENS11

3Transfer interkultureller Kompetenz

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INFORMATIONEN ZKULTUR UND RELI

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4.1 Interkulturelle Kompetenz

Teilweise begegnen Polizeibeamtin-nen und -beamte dem Begriff „interkul-turelle Kompetenz“ mit Skepsis. Damitverbinden sie nämlich zunächst denlatenten Vorwurf der Diskriminierungethnischer Minderheiten und sodann alsReaktion der Polizeiführung denPflichtbesuch interkultureller Trainings-programme.

Interkulturelle Kompetenz istdie Fähigkeit, in „interkulturellenÜberschneidungssituationen“ an-gemessen zu handeln. SolcheÜberschneidungssituationen tre-ten auf, wenn wir mit Menscheneiner anderen Kultur umgehenmüssen, welche die Situationanders wahrnehmen und sich inbestimmten Lagen anders verhal-ten als wir.

Wir leben in einer modernen Gesellschaftmit einer kulturellen Vielfalt in den unter-schiedlichen Lebensbereichen. So kommenwir täglich in Situationen oder auchInstitutionen, in denen andere als die imeigenen Bezugsfeld gewohnten Sitten gelten,die auf uns befremdlich wirken. DasBesondere an den Lebensumständen einigerEinwanderer – und das begründet dieNotwendigkeit, eine spezielle interkulturelleKompetenz zu entwickeln – ist ihre kulturelleFremdheit. Diese Fremdheit kann verunsi-chern, weil der Unterschied zur eigenenWahrnehmung der Wirklichkeit und zu eige-nen Verhaltensmustern zu groß ist. DieVermittlung interkultureller Kompetenz hilft,diese Verunsicherung zu überwinden und derPolizei Handlungssicherheit zu geben.

Wenn Polizeibeamte beispielsweise an derTür einer arabischen Familie klingeln, müs-sen sie damit rechnen, dass die in derWohnung allein anwesende Hausfrau nichtöffnet, weil es ihr Ehemann verboten hat. Bissie doch öffnet, kann es eine Weile dauern,weil sie vielleicht erst überredet werdenmusste und dann noch Zeit brauchte, sich zuverhüllen. Selbst die endlich geöffneteWohnungstür bedeutet noch nicht, dass dieFrau, falls sie überhaupt Sprachkenntnissehat, auch tatsächlich Fragen beantwortet;denn üblicherweise ist es Frauen verboten,mit Fremden – jedenfalls aber mit fremdenMännern – zu sprechen. Gelingt es doch, dieFrau zum Reden zu bringen, so dürfte siezuerst das Versprechen verlangen, ihremMann nichts von dem Gespräch zu erzählen ...

Allerdings sind die Lebensumstände derEinwanderer in sich vielfältig: So kann einPolizeibeamter nicht davon ausgehen, jedesMal, wenn er bei einer arabischen Familieklingelt, ähnliche Verhaltensformen vorzufin-den; er kann ebenso gut eine Frau antreffen,die ihm die Tür aufmacht und selbstbewusstmit ihm verhandelt.

Interkulturelle Kompetenz bedeutet alsonicht, bestimmten Einwanderergruppenbestimmte Verhaltensmuster zuzuordnen!Vielmehr sollen Polizeibeamtinnen und -beamte die Bandbreite möglicher Verhal-tensmuster kennen und ein Gespür dafür ent-wickeln, wie sie sich innerhalb dieserBandbreite von Möglichkeiten verhalten kön-nen. Ein solches Gespür entwickelt man imVerlauf eines längeren Zeitraumes. DiePolizei hat mit ihren Mitarbeitern bereitsbesonders positive Voraussetzungen, inter-

4. INFORMATIONEN ZU KULTUR UND RELIGION

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ZULIGION

Aus der Praxis

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kulturell kompetent zu handeln: Unter ihrenbesonderen Arbeitsbedingungen haben dieMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der PolizeiEigenschaften entwickelt, die als Grundvor-aussetzung für den Erwerb interkulturellerKompetenz gelten – Belastbarkeit, Ertragenvon Situationen der Unsicherheit, Frustrati-onstoleranz und die ausgeprägte Fähigkeitzu lageangepasstem Handeln. Solche Eigen-schaften werden in der Polizeiarbeit täglicheingeübt; kaum ein anderer Beruf erforderteinerseits so formal korrektes, andererseits inheiklen, sensiblen Situationen spontanes, dabeiangemessenes und lösungsorientiertes Handeln.

Zum polizeilichen Alltag gehören auchsoziale Kompetenzen wie die Fähigkeit zumRollen- und Perspektivenwechsel – also sich indie Lage des Anderen hineinversetzen undmögliche Handlungen vorausschauend er-schließen zu können – sowie die Fähigkeitzum Aufbau von Beziehungen. Bei derEntwicklung interkultureller Kompetenz hatdie Polizei die Aufgabe, mit diesen bereits vor-handenen Eigenschaften zu lernen, auch in derInteraktion mit Einwanderer- oder Migran-tengruppen stets situationsadäquat zu handeln.

Wie das Modellprojekt gezeigt hat, ist derAufbau einer Kooperation mit Moscheever-einen eine ausgezeichnete Möglichkeit, sichdiese Kompetenz zu erschließen, gleichzeitigdie islamischen Gemeinden in die Verant-wortung für die Kriminalprävention einzu-binden und damit eine zusätzliche Möglich-keit der Kriminalitätsbekämpfung zu nutzen.

4.2 Was man über den Islam wissen sollte – in Stichworten

4.2.1 Einheit und Vielfalt

Mit über einer Milliarde Anhängern ist derIslam eine der größten und ältesten Weltreligio-nen neben dem Christentum, Judentum, demHinduismus und dem Buddhismus. Wie alleWeltreligionen ist auch der Islam im Laufe seinerüber 1400-jährigen Geschichte immer vielfälti-ger geworden; die Vorstellung von einer reinarabisch geprägten Religion ist falsch.

Die muslimische Weltbevölkerung erstreckt sichheute über 56 Staaten, zu denen die Türkei,Malaysia, Indien, Pakistan ebenso zählen wie derIran, nordafrikanische Staaten und schließlich dieklassischen islamischen Staaten auf der arabischenHalbinsel. Etwa 80 Prozent der Muslime sprechenArabisch nicht mehr als Muttersprache. So hat„der Islam“ vielfältige, national und ethnisch ge-prägte Gesichter. Dies zeigt sich auch an starkensprachlichen Unterschieden: Das Arabische istzwar Sprache des Korans und dient als einheitlicheSchriftsprache, es zerfällt im Gesprochenen aberin vielfältige Dialekte, die sich insbesondere zwi-schen den Ländern des Maghreb (Marokko,Tunesien, Algerien) und jenen des NahenOstens voneinander unterscheiden.

Große Unterschiede gibt es auch zwischensunnitischen und schiitischen Muslimen: Im Irakund Iran leben bekanntlich mehrheitlichSchiiten, während die meisten anderen islami-schen Staaten sunnitisch geprägt sind.

Hinzu kommen weitere, von den klassischenIslamvorstellungen abweichende Strömungenwie die islamischen Mystiker mit ihren zahlrei-chen Orden und lokalen Vereinigungen und

INFORMATIONEN ZU .

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..KULTUR UND

RELIGION

die Aleviten4, die immerhin 15 bis 20 Prozentder türkischen Bevölkerung ausmachen.

Viele Muslime sehen Religion ähnlich wiein Europa primär als Privatsache und lehnenVorstellungen einer islamisch geprägtenPolitik vehement ab. Dies trifft insbesonderefür die modernen Städte der Türkei oderTunesiens zu. Weite Teile der islamischenWelt haben die Trennung von Religion undPolitik jedoch noch nicht vollzogen. Islamisti-sche Strömungen, für die „der Islam“ – odereine strikte Ausrichtung der Gesellschaft anislamischen Vorgaben – die Lösung sozialerund wirtschaftlicher Probleme bedeutet, sindnicht zu unterschätzen. Allen diesen hier nurkurz erwähnten Strömungen begegnet manauch in der muslimisch geprägten Bevöl-kerung in Deutschland.

Fazit: In der polizeilichen Arbeit mitMuslimen in Deutschland muss man sichauf eine große Vielfalt einstellen. „DenMuslim“ gibt es ebenso wenig wie „denChristen“; auch Muslime entwickelnregelmäßig ihren eigenen, ganz persön-lichen Stil im Umgang mit ihrer Religion.

4.2.2 Grundzüge im islamischenSelbstverständnis

Trotz der angesprochenen Vielfalt gibt esGrundzüge im Selbstverständnis des Islam,die auch für die polizeiliche Arbeit mitMuslimen oder Moscheevereinen wichtigsind. Wer diese „Selbstverständlichkeiten“im Kopf hat, wird schneller und leichter vonden Kontaktpartnern akzeptiert und kannmöglichen Konflikten begegnen.

Der Islam sieht sich als Schluss- und Höhe-punkt der Religions- und Prophetengeschich-te: Mohammed (auch Muhammad, 570 – 632n. Chr.) gilt als der letzte Prophet, der nachMoses und Jesus Offenbarungen und Weisun-gen von Gott erhalten hat. Im Zentrum allerOffenbarungen und prophetischen Botschaf-ten steht der Glaube an einen einzigen Gott(Monotheismus) – ein Glaube, den der Islamalso mit dem Christentum und dem Judentumteilt. Mit diesen Religionen beruft sich derIslam auf die biblische Urgestalt Abraham, denVater aller Gläubigen und Gottergebenen,daher werden diese drei großen monotheisti-schen Religionen auch „abrahamitisch“ genannt.

Der Islam stützt sich auf den Koran, dasheilige Offenbarungsbuch der Muslime. Dasin 114 Kapitel (Suren) unterteilte Buch enthältOffenbarungen, die Mohammed zwischen610 und 632 in Mekka und Medina im heu-tigen Saudi-Arabien in „klarer arabischerSprache“ erhalten hat. Der Koran gilt als dieBestätigung und Weiterführung von Thoraund Bibel und enthält nach orthodoxer Auf-fassung die endgültige Festlegung der gesetz-lichen Bestimmungen, die der islamischenLebensführung zugrunde liegen. Die Bedeu-tung dieses Buches kann nicht überschätztwerden: Der Islam ist die Buchreligion an sich. ImUmgang mit dem Koran ist daher äußersteSensibilität geboten.

Als „Wort Gottes“ sollte er von Nicht-muslimen nur auf Nachfrage berührt werden.Zudem darf man aus Gründen des Respektsnichts essen und nichts anderes lesen, währendim Koran gelesen wird. Als Buch ist der Koranmeist an seinem grünen Ledereinband – Grünist die Farbe des Islam – und seiner aufwändi-gen kalligraphischen Verzierung zu erkennen.

4Bei den Aleviten handelt es sich ursprünglich um eine schiitische Untergruppe, die vor allem in Zentralanatolien angesiedelt ist. Im Laufe derGeschichte haben sich die Aleviten durch eine starke Besinnung auf mystische und vorislamische Elemente zu einer eigenständigen Glaubens-gruppe entwickelt. Beispielsweise sind weder die Wallfahrt noch das Fasten fester Bestandteil der religiösen Praxis und der Koran darf einernichtwortwörtlichen Auslegung unterzogen werden. Aufgrund solcher Unterschiede werden die Aleviten sowohl von den Sunniten als auchvon den Schiiten kritisch betrachtet. Obwohl die Aleviten in der Türkei eine Minderheit bilden, stellen sie aufgrund der relativ starkenAuswanderung aus Zentralanatolien mit ca. 410.000 Personen nach den Sunniten (ca. 2,5 Mio.) die zweitstärkste muslimischeBevölkerungsgruppe in Deutschland. [vgl. hierzu: Aleviten, in: Kleines Islam-Lexikon, bpb 2002 und Müller, Christiane: Zum Umgang mitPersonen aus dem islamisch geprägten Kulturkreis in der Polizeiarbeit, Freistaat Sachsen 2004, S. 13 ff.]

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4.2.3 Die fünf Säulen des Islam

Im Zentrum des islamischen Glaubens stehendie fünf Säulen des Islam, die trotz derUnterschiede für alle Muslime verbindlichsind. Bekleidungsvorschriften (wie dasKopftuch) gehören ausdrücklich nicht zu denfünf Säulen.

1. Das Glaubensbekenntnis (Schahada):„Ich bezeuge, es gibt keinen Gott nebenAllah und Mohammed ist sein Prophet.“Damit unterstreicht die Schahada denMonotheismus als Glaubensgrundsatz desIslam. Wird sie in der Absicht, Muslim zu wer-den, vor Zeugen gesprochen, begründet diesden Übertritt zum Islam.

Neben dieser Art der Konversion kenntder Islam auch die Annahme der Religiondurch die Geburt, wobei der Islam vom Vaterauf die Kinder übergeht.

2. Das Gebet (Salat) in Form einer rituel-len Niederwerfung: Das Pflichtgebet wirdfünf Mal täglich verrichtet, in der Morgen-dämmerung, am Mittag, am Nachmittag,nach Sonnenuntergang sowie am Abend. DieGläubigen müssen sich hierzu in einemZustand ritueller Reinheit (rituelle Waschung)befinden.

Es wird in der Regel auf einem Gebetstep-pich und nach Mekka ausgerichtet durchgeführt.

Freitags wird das Gebet in der Regelgemeinsam in der Moschee verrichtet.Generell ist darauf zu achten: Im Gebets-bereich ist rituelle Reinheit vorgeschrieben,damit das Gebet gültig ist. Deshalb müssenvor dem Betreten des Gebetsbereichs (auchvon Nichtmuslimen) die Schuhe ausgezogenwerden. Ebenso dürfen keine Tiere, insbeson-dere unreine Tiere wie Hunde, die Moscheebetreten. Diese Regeln sollten auch beimBetreten privater Wohnbereiche beachtetwerden.

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INFORMATIONEN ZU .

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3. Das Almosen (Zakat oder Zakah, ara-bisch für Reinigung): Es ist einmal jährlich vonallen erwachsenen Muslimen als obligatori-sche Wohlfahrtsspende zu zahlen und auf 2,5Prozent des Kapitalvermögens festgesetzt,das ein definiertes Minimum übersteigt.Neben der verpflichtenden Form desAlmosens gibt es auch die Form freiwilligerGeschenke.

4. Das Fasten (Siam oder Saum) wäh-rend des Ramadan: Der Beginn des Fasten-monats Ramadan wird durch die Beobach-tung des Mondes festgesetzt; er wechselt alsojährlich. Das Fastengebot gilt während dieserZeit für alle erwachsenen und gesundenMuslime solange es hell ist und bezieht sichauf das Essen, Trinken, Rauchen und denGeschlechtsverkehr. Abends erfolgt alltäglichdas Fastenbrechen (iftar), am Ende desRamadan findet das Fest des Fastenbrechens(id al-fitr) statt.

Die Moscheen sind während des Ramadanin der Regel stärker besucht als üblich. ImKontakt mit Moscheevereinen empfiehlt essich, frühzeitig die Termine dieser zentralenreligiösen Feste zu erfragen.

5. Die Pilgerfahrt (Haj oder Hadsch):Jeder Muslim – ob Mann oder Frau – sollteeinmal im Leben die „große Pilgerfahrt“ nachMekka unternehmen. Die jährlichePilgerfahrt findet während des 12. Monatsstatt. Einer der Höhepunkte ist das Opferfest,an dem in Erinnerung an das Opfer AbrahamsSchlachtopfer dargebracht und unterBedürftigen verteilt werden. Das Opferfestwird auch in Deutschland gefeiert und vonden Moscheevereinen organisiert.

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RELIGION

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4.2.4 Islam und modernes Leben

Ansprüche auf Absolutheit und Endgültig-keit prägen die orthodoxen Auslegungen desKorans. Diese verbinden sich mit dem politi-schen Anspruch des Islam, auch die staatlichenAngelegenheiten umfassend zu ordnen; dennMohammed sah sich als Prophet und Staats-mann. Der Islam (wörtlich = Hingabe an Gott)fordert vom gläubigen Muslim einen vorbe-haltlosen Gehorsam gegenüber den Bestim-

mungen des Korans. Der Koran wird alsVerfügung Gottes mit absoluter Autoritätangesehen. Neben dem Koran bildet die Sunna(= Tradition) die Hauptquelle für die Glaubens-und Pflichtenlehre des Islam: Mit Sunna sinddie von Mohammed überlieferten Aussprüche,Entscheidungen und Verhaltensweisengemeint, die im Islam als Richtschnur desHandelns für Einzelpersonen, Gesellschaftenund Staaten gelten. Koran und Sunna schließ-lich bilden die Quellen der Scharia, die sich alsPflichtenlehre und religiöses Gesetz des Islambezeichnen lässt. Hierzu gehören die kulti-schen Pflichten und die ethischen Normen,aber auch Rechtsgrundsätze für alle Lebens-bereiche, unter anderem für Ehe, Erbschaft,Vermögen oder für Strafen.

Das Problem: Die Scharia ist inzwischenüber tausend Jahre alt und spiegelt dieRechtsverhältnisse, Sitten und Normen derdamaligen Zeit wider. Von orthodoxenMuslimen wird die Scharia weiterhin alsGottesrecht angesehen, das nicht verändertwerden darf. Eine praktische Umsetzung dieserVorstellungen ist mit dem deutschen Grund-gesetz und mit allgemeinen Grundsätzen einerrechtsstaatlichen Demokratie europäischen

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Zuschnitts allerdings nicht vereinbar. Gelehrtewie der Großmufti von Marseille, SoheibBencheikh, verlangen daher einen neuenUmgang mit dem Koran und der Scharia: „ImIslam ist der Gläubige frei in seinerInterpretation. (...) Der Islam besitzt nur einenKoran, er kennt dagegen eine Vielzahl vonInterpretationen, die sich je nach Ort,Lebensumständen, Klasse und zivilisatorischemEntwicklungsstand voneinander unterschei-den.“ Und weiter: „Das aus patriarchalischenGesellschaften stammende muslimische Rechtzu einer Art allzeit geltendem Universalrechtzu erheben, bezeichne ich als ,Beduinisierung’

des Islam, als Selbstbeschränkung der Entwick-lung der muslimischen Gesellschaften. Was indem einen Jahrhundert Recht ist, wird zuUnrecht in einem anderen.“ (Interview mit LeMonde, 20. November 2001).

Wir beobachten eine heftige internationa-le Diskussion um die Auslegung des Korans,die noch nicht entschieden ist. Der Islam hat –anders als das Christentum – keine Kirche(geschweige denn einen mit göttlicher Auto-rität ausgestatteten Papst). Auch in Deutsch-land gibt es erste Ansätze für eine Moderni-sierung und Reform des Islam.

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4.2.5 Der Islam in Deutschland – sovielfältig wie der Weltislam

Die wirtschaftliche Schwäche in vielenarabischen Staaten und auch in der Türkeiführte vor allem nach dem Zweiten Welt-krieg zu einer zunehmenden islamischenEinwanderung nach Europa, wo teilweisegroßer Arbeitskräftemangel herrschte.Hinzu kamen – wie in Frankreich – engekoloniale Verbindungen mit den islami-schen Staaten Nordafrikas. Da Deutschlandnicht nur mit südeuropäischen Staaten, son-dern auch mit der Türkei, Marokko,Tunesien und dem damaligen Jugoslawien

Anwerbevereinbarungen schloss, entstan-den ab den 1960er-Jahren auch bei uns isla-mische Diasporagemeinden.

Als sich in den 1970er-Jahren für viele tür-kische „Gastarbeiter“ eine Rückkehr in dieTürkei wegen der dortigen wirtschaftlichenSituation als schwierig erwies und derAnwerbestopp eine spätere Rückkehr nachDeutschland ausschloss, begann die Phaseder Familienzusammenführung. Dadurchnahm die türkische Wohnbevölkerung inDeutschland zu, sie setzte sich nun nichtmehr primär aus männlichen Arbeitskräften,sondern vermehrt auch aus Frauen undKindern zusammen. Daher sind heute zweiDrittel der schätzungsweise drei MillionenMuslime in Deutschland türkischer Herkunft.

80 Prozent der Muslime in Deutschlandsind Sunniten. Daneben finden sich dieGruppen der Aleviten (vor allem aus derTürkei) und der Ahmadiyya5, die allerdingsvon vielen Muslimen nicht als muslimischakzeptiert werden. Als Minderheit unter denMuslimen leben in Deutschland auch Schiiten(vor allem aus dem Iran) und Angehörige desmystischen Islam. Die Zahl der deutschenMuslime – sei es durch die Annahme derdeutschen Staatsbürgerschaft durch Muslimeausländischer Herkunft, sei es durch die Kon-

INFORMATIONEN ZU .

5Die Ahmadiyya wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Pakistan von Mirza G. Ahmad ins Leben gerufen, der sich selbst als christliche undislamische Reinkarnation des Messias begriff. Die Ahmadis werden von der Mehrheit der Muslime nicht als solche anerkannt und erhal-ten als verfolgte Minderheit in Deutschland Asylanspruch. [Vgl. hierzu auch Müller, Christiane: Zum Umgang mit Personen aus dem islamisch geprägten Kulturkreis in der Polizeiarbeit, Freistaat Sachsen 2004, S. 14]

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version deutscher Staatsbürger zum Islam –bildet eine im Wachsen begriffene Minder-heit.

Die ersten islamischen „Gastarbeiter“ rich-teten in Wohnheimen und an ihrenArbeitsstätten Gebetsräume ein, um ihre reli-giösen Pflichten erfüllen zu können.Moscheen entstanden erst im Zuge derFamilienzusammenführung und waren damitauch Ausdruck für die Entscheidung, denLebensmittelpunkt nach Deutschland zu ver-legen. Derzeit gibt es in Deutschland etwazweitausend islamische Gebetsstätten, derenGestaltung von Räumen in Hinterhöfen bishin zu repräsentativen Moscheebautenreicht.

Rund drei Millionen Menschen muslimi-schen Glaubens leben gegenwärtig inDeutschland. Da – wie oben erwähnt – derIslam etwas Vergleichbares wie Konfessionenoder Kirchen nicht kennt, ist nur ein Teil derhier lebenden Muslime organisiert. Es gibteine Vielzahl von Verbänden undGruppierungen, die sich um das religiöseLeben in den Moscheen, aber auch um kultu-relle und soziale Fragen kümmern. DieVielfalt in diesen Vereinen dürfte hinsichtlichkultureller, nationaler, ethnischer und religiö-ser Besonderheiten ebenso breit gefächertsein, wie wir es aus den über 50 islamischgeprägten Staaten weltweit kennen.

Allerdings sind nach Expertenschätzungennur etwa 10 bis 20 Prozent der hiesigenMuslime diesen Vereinen angeschlossen.Über die nicht organisierte „schweigendeMehrheit“ der Muslime wissen wir nach wievor sehr wenig.

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Eine Moschee, auch wenn sie häufig inFabriketagen oder Hinterhäusern ange-siedelt ist, ist immer eine wichtige sozialeAnlaufstelle und mehr als ein Gebets-haus. Hier gibt es Aufenthaltsräume fürJugend- und Frauengruppen, es werdenKorankurse angeboten. Oft finden wirauch Restaurants und Läden, die islami-sche Lebensmittel und Publikationenanbieten. Es ist wichtig, auch diese sozia-len Funktionen der Moscheen für diePräventionsarbeit nutzbar zu machen.

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4.2.6 Muslimische Vereine undDachverbände

DITIB (Türkisch-Islamische Union derAnstalt für Religion)

Die DITIB mit Sitz in Köln ist der größteDachverband mit 776 Mitgliedsvereinen: Erist ein Ableger der staatlichen Religions-behörde in Ankara (Diyanet = Präsidium fürReligionsangelegenheiten), die in der Türkeifür die staatliche Überwachung aller religiö-sen Angelegenheiten zuständig ist.

DITIB ist für die religiöse Betreuung dertürkischen Muslime in Deutschland zuständigund vertritt die Interessen des türkischenStaates. Die dort tätigen Imame werden ausAnkara entsandt und zurzeit nach drei Jahrenwieder ausgetauscht. Entsprechend schwachsind in der Regel (noch) die Deutschkennt-nisse; seit kurzer Zeit gibt es für sie jedoch ein Programm zum Deutschlernen.

Es empfiehlt sich daher, mit denVorständen der Mitgliedsvereine (Moschee-vereine) Kontakt aufzunehmen, die schonlänger in Deutschland sesshaft gewordensind. Von den DITIB-Moscheen ist in der Regeleine große Kooperationsbereitschaft zuerwarten.

Islamrat und Milli Görüs

Der Islamrat als zweitgrößter Dachver-band besteht im Wesentlichen aus der türki-schen Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs(IGMG) und zahlreichen zugeordnetenVereinen, die oft weder im Namen noch inder Satzung als Teil der IGMG erkennbar sind.Mit etwa 26.500 Mitgliedern ist sie gleichzei-tig die mitgliederstärkste islamistischeOrganisation in Deutschland. Die IGMG istpolitisch und ideologisch mit der vonNecmettin Erbakan beeinflussten türkisch-islamistischen Partei verbunden und wirdvom Verfassungsschutz zu den ausländerex-tremistischen Organisationen gezählt (Ver-fassungsschutzbericht der BRD 2004; S. 186).Sie verhalten sich prinzipiell legal, wollenjedoch politisch bei ihren Mitgliedern inDeutschland ein „schariakonformes“ Leben –etwa in Bezug auf das Kopftuchtragen imöffentlichen Dienst, das Schächten, aufSonderregelungen für muslimische Kinder inden Schulen und so weiter – durchsetzen.Dennoch ist auch hier von einer großenVielfalt der Erscheinungsformen und Verhal-tensweisen auszugehen, die es möglichmachen, auch polizeiliche Kontakte nach kla-ren Vorgaben – ergänzt durch Informationendes zuständigen Amts für Verfassungsschutz –aufzunehmen.

INFORMATIONEN ZU .

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Zentralrat der Muslime (ZMD)

Der Zentralrat der Muslime (ZMD) ist einstark arabisch geprägter Verband, der nureinen türkischen Verein (ATIB) in seinenReihen hat. Hinzu kommen unterschiedlicheso genannte „Islamische Zentren“ in Münchenund Aachen, die den „Muslimbrüdern“ nahestehen; ferner so unterschiedliche Organi-sationen wie die Deutsche Muslimliga Bonn,die Muslimische Studentenvereinigung, dasSchiitische Islamische Zentrum Hamburgsowie die „Islamische Gemeinschaft Deutsch-land“, die ebenfalls vom Verfassungsschutzbeobachtet wird. Auch hier gilt ebenso wiefür den Islamrat die große Vielfalt der loka-len, an den Zentralrat angeschlossenenMoscheevereine, die oft mit der Verbands-politik nichts zu tun haben. Anders als derName vermuten lässt, ist der Zentralratjedoch nicht die größte Organisation unterden Dachverbänden, sondern repräsentiertnur ca. 20.000 Mitglieder. Sitz des Zentralratsist Eschwege bei Aachen.

Verband der Islamischen Kulturzentren(VIKZ)

Der VIKZ ist ein Verband der so genanntenSüleymancis, die der Lehre des türkischenSüleyman Efendi folgen, einer eher mystisch-sufistischen Richtung des Islam. Der VIKZ ver-tritt etwa 304 Moscheegemeinden mit 21.000Mitgliedern. Die Moscheen sind in der Regelklar dem VIKZ zugeordnet und an öffentli-chen sowie sozialen Kontakten mit der deut-schen Verwaltung interessiert.

Einige der genannten Gruppen bekennensich inzwischen zu einer stärkeren Integrati-on der Muslime in die deutsche Gesellschaft;einige bemühen sich auf unterschiedlicheWeise um eine staatliche Anerkennung alsKooperations- sowie Ansprechpartner undsuchen eine Beteiligung am bekenntnisorien-tierten Religionsunterricht in den Schulen.Wegen der Zersplitterung der Verbände, dernoch nicht abgeschlossenen Debatte über ihrVerhältnis zum Grundgesetz, der oft nichtdurchsichtigen Verbindungen ins Auslandund der prinzipiell anderen organisatori-schen Aufstellung islamischer Religions-gemeinschaften wird dieses Bemühen jedochimmer wieder kritisch kommentiert.

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4.3 Hinweise für die Begegnung mitMuslimen

Die beschriebene „Vielfalt in der Einheit“macht es schwer, Verhaltensregeln in derBegegnung mit Muslimen aufzustellen.Schon die Bezeichnung aller aus dem türki-schen oder arabischen Raum stammendenund in Deutschland lebenden Menschen als„Muslime“ bringt Probleme, da nicht jedertürkischstämmige Mensch als gläubiger undpraktizierender Muslim anzusehen ist undauch nicht als solcher bezeichnet werdenmöchte. Für sie trifft eher die Bezeichnung„Kulturmuslime“ oder „nominelle Muslime“ zu.

Dagegen ist im Umfeld der Moscheever-eine natürlich von einer hohen Bedeutungder Religion sowie einzelner Vorschriften,Regeln und Feiertage auszugehen. Auf Grundder Projekterfahrungen konnten einige Leit-linien „herausgefiltert“ werden – sie bietenerste Orientierungen, sind aber keine fertigen„Gebrauchsanweisungen“.

4.3.1 Vielfalt, Vielfalt, Vielfalt – auch inder Kommunikation

Herkunftsland, soziale Schicht, familiäreErfahrungen, Bildungsstand etc. sind mindes-tens ebenso wichtig wie die Religion. Ent-sprechend muss sich auch der Kommunikati-onsstil flexibel gestalten: Insbesondere zuBeginn eines Kontaktes mit Moscheevereinenempfiehlt es sich, auch Gespräche überUnwesentliches (etwa Fußball!) zu führenund sich an den indirekten und sehr perso-nenbezogenen Kommunikationsstil anzupas-sen. Direkte Fragen sollten eher vermiedenwerden; ein nur knappes „Ja“ oder „Nein“gilt als unhöflich. Mangelnder Blickkontaktsollte nicht als Ausdruck der Verlegenheitoder eines schlechten Gewissens interpretiert

werden, sondern signalisiert Achtung undRespekt. Vertrauen bildet sich auf der Basisregelmäßiger, persönlicher Kontakte undnicht allein durch die Anerkennung desAmtes, das jemand bekleidet. Kooperations-gespräche durch die Polizei sollten möglichstüber einen längeren Zeitraum durch ein unddieselbe/denselben Beamtin/Beamten ge-führt werden.

4.3.2 Religiöse Feste sollte man kennen!

Feiertage sind eine gute Ausgangsbasis.Bedenken Sie, wie stark sich etwa der Fasten-monat Ramadan oder das Zuckerfest auf dasLeben des Einzelnen und der Gemeinde auswirktund wie wichtig die zentralen religiösen Feste inden Moscheegemeinden (vergleichbar mit christ-lichen Gemeinden) sind. Eine Aufmerksamkeit voroder während dieser Festtage, vielleicht auch nurein Anruf mit guten Wünschen, ist zu empfehlen.

INFORMATIONEN ZU .

Islamische Feiertage(Richten sich nach dem islamischen Mondkalender

und verschieben sich jährlich um etwa 11 Tage)

• Das Opferfest• Das Fastenbrechen- bzw. Zuckerfest

(Ende der Fastenzeit)Diese beiden Feste sind unumstritten für alle islamischen Völker verbindlich und gelten als dieeigentlichen Feste im Islam.

Weitere wichtige Tage im islamischen Kalender:• Das islamische Neujahr • Ashura

(Fasten- und Rettungstag des Propheten Mose)

• Mevlid (Geburtstag des Propheten Mohammed)

• 1. Ramadan (Anfang des Fastenmonats)

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4.3.3 Frauenwelt – Männerwelt

In den meisten Moscheegemeinden habenüberwiegend ältere Männer das Sagen. Nachwie vor bleibt die Welt der Frauen undMänner getrennt – weibliche Moscheevor-stände sind nicht bekannt. Stellen Sie sichdarauf ein, dass der Händedruck in der Regelnur von Mann zu Mann gepflegt wird; beimErstkontakt werden es Polizistinnen schwererhaben, mit traditionell orientierten Imamenoder Moscheevorständen zu verhandeln alsihre männlichen Kollegen. Umgekehrt findenBeamtinnen mit Sicherheit einen besserenZugang zu den Müttern der Gemeinden, dieunbedingt in die Präventionsarbeit einbezo-gen werden sollten.

4.3.4 Traditionelle Familienorientierung:Anknüpfungspunkt und Konflikt-potenzial

Familie und Ehe gelten als zentrale undwertvolle Bestandteile im Leben allerMuslime, das Wohlergehen der Kinder(Schutz vor Kriminalität oder Verkehrsunfäl-len) bildet also für alle Kontakte einen sehr

guten Anknüpfungs-punkt. Viele Familien imUmkreis der Moschee-vereine stammen auseinem ländlichen undbildungsfernen Lebens-umfeld: Absoluter Ge-horsam der Kinder,Unterordnung derFrauen und Töchter,Ehrbegriffe aus einer

ländlichen Umgebung spielen hier oft nocheine zentrale Rolle. Das alles wird problema-tisch, sobald diese Werte auf eine moderneKultur in Deutschland treffen. So kann es für

einen Vater schlimmer sein, wenn seineTochter öffentlich mit einem jungen Mannflirtet, als wenn sein Sohn einen Diebstahlbegeht. Aus arrangierten Ehen und Zwangs-heiraten ergeben sich oft massive Familien-probleme, falls sich die Töchter dem Zugriffihrer Familien entziehen wollen.

Männliche Jugendliche werden in ihrenFamilien oft privilegiert behandelt, sindjedoch häufig nicht in der Lage, schulischeoder berufliche Anforderungen zu erfüllen.Die daraus resultierende Unzufriedenheitkann mit zur Ursache von Kriminalität wer-den durch Suche nach Anerkennung undKonsumsymbolen auf „schnellem Weg“. Hierhandelt es sich um ein zentrales und nochunbewältigtes Problem. Schnelle Lösungensind nicht in Sicht. Die präventive Polizei-arbeit sollte sich auch auf diese Konfliktlagenvorbereiten; Aufklärungsveranstaltungen,Gespräche mit den Imamen, Zusammenarbeitmit Schulen und Eltern können zur Präven-tion beitragen.

Weiterführende Literatur

Müller, Christiane: Zum Umgang mit Perso-nen aus dem islamisch geprägten Kulturkreisin der Polizeiarbeit, Freistaat Sachsen, 2004

Khoury, Adel Theodor et. al.: HandbuchRecht und Kultur des Islams in derDeutschen Gesellschaft, GütersloherVerlagshaus, 2000

Metzger, Albrecht: Islam und Politik, Infor-mationen zur politischen Bildung, bpb 2002

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PRAXISERF

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5.1 Grundsätzliches zuKooperationen

Beim Aufbau einer Koopera-tion muss jede Dienststelle anihre individuellen Vorausset-zungen anknüpfen, also an ihreKenntnisse über den islami-schen Kulturkreis und an etwabestehende Kontakte zu musli-mischen Gemeinden ihres Sozial-

raums. Daran müssen sich auch die Ziel-setzungen für ein Kooperationsprojektorientieren. Eine Kooperation darf nichtals bloße „Goodwillveranstaltung“ ohnefest umrissene Aufgaben und Ziele miss-verstanden werden. Sie muss sich aufaktuelle Konflikte beziehungsweise kon-krete Probleme aus der täglichen Polizei-arbeit beziehen. Beispiele für so konkreteKooperationsanlässe sind Gespräche mitEltern auffälliger Jugendlicher, eine Ver-mittlung bei Streitigkeiten innerhalb vonHausgemeinschaften oder auch die Ver-mittlung von Tipps, wie sich die Kinder imStraßenverkehr verhalten sollen.

Eine Kooperation sollte als ein langfristigerProzess gesehen werden. Dabei sollen dieBeteiligten ihr Wissen und ihre Handlungs-kompetenz durch den Aufbau und dieKonsolidierung der Kooperation schrittweiseerweitern. Das heißt: Es ist nicht unbedingtmit schnellen Erfolgen zu rechnen, auchRückschläge und Enttäuschungen sind einzu-planen!

Dabei soll die Kooperation von vornhereinauf Nachhaltigkeit ausgelegt sein, damit sieauf Dauer fortbestehen kann und nicht nachein paar Einzelaktionen wieder versandet.Am besten ist es, ein Kooperationsprojektlangfristig in ein Netzwerk mit Schulen sowiekommunalen und freien Trägern derJugendarbeit einzubetten.

5. PRAXISERFAHRUNGEN

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RFAHRUNGEN

PRAXISERFAHRUNGEN

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Der Aufbau einer Kooperation verläuft inmehreren Phasen:

Kontakt aufnehmenDer erste Schritt ist oft der schwerste –

aber es gibt viele Gelegenheiten, einenAnfang zu machen.

Vertrauen bildenInformationsveranstaltungen bei der

Moschee über Themen wie Verkehrssicher-heit oder Schutz vor Kriminalität sowieKontaktvermittlung zu anderen Behördenoder Polizeidienststellen können geeigneteMaßnahmen der Vertrauensbildung sein.

Gemeinsame Interessen feststellenEin zusammen von der Polizei und den

islamischen Gemeinden (Eltern, Moscheever-eine, andere Vereine) erarbeiteter Katalogzur Kriminalitätsprävention (z. B. bei Jugend-lichen) hilft, gemeinsame Probleme zu erken-nen und gemeinsame Interessen festzustellen.

Konkrete Probleme kooperativ lösenZu gemeinsam definierten Problemberei-

chen wie beispielsweise dem Umgang mitjugendlichen Mehrfachtätern oder Täter-Opfer-Ausgleich können kooperative Lösungs-ansätze entwickelt werden.

Im Folgenden werden als grobe Orientie-rung beispielhafte Wege zum Aufbau einersolchen Kooperation aufgezeigt.

5.1.1 Voraussetzungen seitens derDienststelle

Kooperationsprojekte sind ChefsacheKooperationen mit muslimischen Gemein-

den oder Vereinen werden nur gelingen,wenn sie von der Behördenleitung uneinge-schränkt mitgetragen und gefördert werden.Kooperationsprojekte sind Chefsache! Leite-rinnen oder Leiter der damit betrautenDienststellen müssen ihre Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter umfassend über Sinn undZweck einer Kooperation informieren und siedurch ihr persönliches Engagement von derNotwendigkeit und vom Nutzen der ange-strebten Kooperation überzeugen. Hier müs-sen alle Vorgesetzten eindeutig Stellungbeziehen und darüber hinaus die notwendi-gen Freiräume für die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter gewähren. Dabei gehören geradeDienstkräfte der örtlichen „Basisdienststel-len“, also Kommissariate oder Dienstgruppen,in solche Projekte.

Kooperationen erfordern ProjektarbeitEs bietet sich an, die Kooperation als

„Projekt“ anzulegen. Folgende Punkte soll-ten beachtet werden:

1) Festlegen des Projektzieles (z. B.: Wasgenau wollen wir mit der Kooperationerreichen? Wo wollen wir hin? Was soll ineinem Jahr, was in zwei Jahren anders seinals heute?).

PRAXISERFAHRUNGE

PRA

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2) Im Projektablauf folgt nun die Samm-lung und Bewertung von Maßnahmen,mit denen die Kooperation konkretisiertund entwickelt werden kann. Hierbei sindinsbesondere auch die eigenen Ressourcenzu beachten (Anzahl der mit dem Projektbetrauten Beamtinnen/Beamten sowiederen Kenntnisstand über den Islam etc.).

3) Auf der Basis der Bewertungen sindnun die tatsächlich zu treffendenMaßnahmen auszuwählen und in einenAblaufplan mit einer realistischenZeitschiene umzusetzen.

In regelmäßigen Abständen sollte dannreflektiert werden, ob die Ziele mit dendurchgeführten Maßnahmen erreicht wur-den, oder ob gegebenenfalls andere Maß-nahmen ergriffen werden sollten.

Detaillierte Tipps und Anregungen zurDurchführung eines Projektes können der„Arbeitshilfe für die Evaluation“ der Polizei-lichen Kriminalprävention der Länder und desBundes entnommen werden. Die Broschüreist auf jeder Dienststelle erhältlich oder über

Extrapol (HYPERLINK "http://www.propk.extrapol.de" www.propk.extrapol.de)

wie auch über das Internet (HYPERLINK "http://www.polizei-beratung.de/mediathek/kommunikationsmittel/sonstige_medien" www.polizei-beratung.de/mediathek/kommunikationsmittel/sonstige_medien)downloadbar.

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RAXISERFAHRUNGEN

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Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Kooperationsprojekte gewinnen

Es ist wichtig, für den Aufbau einerKooperation Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter auszuwählen, die ihre Aufgabe nicht nurselbst engagiert annehmen, sondern auchandere Kolleginnen und Kollegen für dasVorhaben begeistern und zum Mitmachenmotivieren können.

Beim Aufbau einer Kooperation benötigendie Polizeibeamtinnen oder -beamten jeden-falls ein gewisses Maß an Wissen undKenntnissen über die Religion und die kultu-rellen Hintergründe ihrer Partner, weil diesihre Akzeptanz und Wertschätzung fördert.Das erfordert allerdings Geduld und Zeit: DieAngehörigen der für das Projekt zuständigenDienststelle sind auf einem gemeinsamenWissensstand zu halten. Dazu müssen sie sichinnerhalb der Dienststelle ständig über dasProjekt austauschen. Als gemeinsame Basissollten gewonnene Erkenntnisse und aktuelleEntwicklungen allen Dienststellenangehöri-gen bekannt gegeben werden. Die Instituti-onalisierung der Kommunikation in der Dienst-stelle bildet die Grundlage für eine Wissens-struktur, die von Einzelpersonen unabhängig ist.

Beispiel: Anlegen eines Ordners (auch elek-tronisch!) zum Projekt, der ständig aktuali-siert wird. Darin könnten z. B. Listen überErreichbarkeiten der Ansprechpartner derKooperationspartner vorgehalten werden.

Kooperationen erfordern KontinuitätDie Aufgabe der Kooperation mit den reli-

giösen Gemeinden oder Vereinen sollbestimmten Dienstkräften fest und dauerhaftzugeordnet werden. Dabei ist eine Teambil-dung sinnvoll, um eine kontinuierlicheZusammenarbeit zu sichern. Diese zwingendnotwendige Kontinuität schafft einerseitseine Vertrauensbasis zu den Vereinsvertreternund gewährleistet andererseits den Aufbauvon Kompetenz in der Dienststelle. Mittel-fristig ist die Zusammenarbeit in der Projekt-organisation in die Alltagsorganisation zuintegrieren. Wie die langjährigen Erfahrun-gen aus Kontakten mit muslimischen Ver-einen in Berlin und Essen zeigen, öffnen sichdiese Vereine gegenüber der Polizei oder Behör-den insgesamt nur auf der Basis eines überJahre aufgebauten Vertrauensverhältnisses;sie treten dann auch von sich aus an die Dienst-stellen heran, so etwa bei Familienstreitigkeiten.

PRAXISERFAHRUNGE

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Aus der Praxis

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RAXISERFAHRUNGEN

Geeignete KooperationspartnerIm Rahmen des Modellprojekts wurden

vor allem Kooperationen zu DITIB-Moscheenaufgebaut. Wie bereits in Ziffer 4 „Informa-tionen zu Kultur und Religion“ dargestellt,sind diese Moscheen unter verfassungsrecht-lichen Aspekten unbedenklich.

Problematisch können Kontakte mitMoscheevereinen einzustufen sein, die demIslamismus nahe stehen (wie beispielsweisedie Islamische Gemeinde Milli Görüs e. V. inNordrhein-Westfalen). Hier ist in jedemEinzelfall sorgfältig – ggf. in Abstimmung mitden Staatsschutz- und OK-Dienststellen – zuprüfen, ob eine Zusammenarbeit vertretbarist; sie sollte jedoch nicht generell abgelehntwerden. Wenn es um die Bekämpfung der(Jugend-)Kriminalität geht, sollte möglichstjede Chance genutzt werden. In diesem Fall

ist eine Zusammenarbeit auf Sachbearbeiter-ebene an konkreten Problemfällen unbe-denklicher als es Kontakte auf höheren Füh-rungsebenen wären.

Die Kontaktsuche zu muslimischenVereinen sollte sich nicht ausschließlich oderunbedingt auf Moscheevereine beschränken.Viele Muslime sind in Vereinen organisiert,die zwar keiner religiösen Arbeit gewidmet,aber gleichwohl – wie etwa Sport-, Wohltätig-keits- oder Kulturvereine – sozial engagiert sind.

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PRAXISERFAHRUNGE

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Nach den jahrelangen Erfahrungen ausBerlin erweisen sich kleinere Vereine inder Umsetzung möglicher Kooperations-projekte oftmals flexibler, manchmalauch kompetenter als der gelegentlichetwas schwerfällige Apparat einesMoscheevereins, der in der Regel aneinen Dachverband gebunden ist. Sie ver-fügen über äußerst engagierte Mitarbei-ter, denen eine solche Aufgabe ohneZweifel zuzutrauen ist, und haben zu-meist einen intensiveren Einfluss auf diemuslimische Jugend und deren Familien.

Für eine punktuelle Kooperation könnenselbst einzelne Familienmitglieder in Betrachtkommen. Gerade in libanesischen Familiengibt es ausgeprägte hierarchische Strukturen,die sich teilweise über mehrere Bundesländererstrecken. Auch wenn einflussreiche Fami-lienmitglieder schon strafrechtlich in Erschei-nung getreten sind und womöglich sogarBezüge zu kriminellen Gruppierungen beste-hen, kann es in herausragenden Einzelfällen –z. B. bei gewalttätigen Auseinandersetzun-gen zwischen Familien – notwendig sein, sogarzu diesen Personen Kontakt zu suchen. Aller-dings ist diese Zusammenarbeit auf das unum-gängliche Maß zu beschränken. Die zuständi-gen Ermittlungsdienststellen sind davon inKenntnis zu setzen.

Aus der Praxis

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RAXISERFAHRUNGEN

Informationsquellen

Die Sachbearbeiter in den Kommissariatenund Dienstgruppen benötigen für dieBewältigung von Problemen aus aktuellemAnlass konkrete Handreichungen, denn siesind bei Einsätzen die Ansprechpartner dersozialen Einrichtungen und Moscheevereine.Ebenso brauchen sie Erkenntnisse zuFamilienstrukturen und Gefahrenprognosenbei Auseinandersetzungen zwischen denFamilien. Es ist sinnvoll, erworbene eigeneKenntnisse mit anderen Dienststellen undBehörden abzugleichen. Denkbare weitereInformationsquellen sind:

• örtlich zuständige Polizeidienststellen,

• Informationssysteme,

• der polizeiliche Lagedienst,

• der polizeiliche Staatsschutz (vor Pro-jektbeginn sollte der lokal zuständigepolizeiliche Staatsschutz und/oder die entsprechende Verfassungsschutzbehör-de befragt werden, ob Gründe vorlie-gen, die gegen die Kontaktaufnahme inpräventiver Absicht sprechen),

• das Landesamt für Verfassungsschutz,

• Vereinsregister,

• Jugend-, Sozial- und Bürgerämter,

• Ausländerbeauftragte oder -beiräte.

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5.1.2 Praktische Hinweise zumKontaktaufbau

ErstkontaktBei der ersten Kontaktaufnahme mit dem

Ziel einer künftigen Kooperation spielt diebesondere Situation der Stadt oder derDienststelle eine wesentliche Rolle:

In Berlin gab es bereits langjährigeKontakte zu islamischen Gemeinden. DiePolizei konnte daher den Vorstand von DITIBoffiziell aufsuchen und ihm einenKooperationsvorschlag vorstellen.

In Essen bot der Neubau einer türkischenMoschee die Möglichkeit, über das Thema„Technische Prävention in Gebäuden“Kontakt aufzunehmen. Da die alte Moscheebei einem vermutlich vorsätzlich gelegtenBrand zerstört wurde, ging die Polizei voneinem entsprechenden Interesse bei denVerantwortlichen des Moscheevereins aus.Der Erfolg stellte sich aber erst ein, als siezusätzlich Schulungen zur Verkehrssicherheitvon Kindern anbot und durchführte.

Die Kontakte zu einer libanesischenMoschee kamen über eine Konfliktsituationmit Anwohnern zustande. Dort hatte derWachleiter, für die Polizei sicher atypisch,aber sehr erfolgreich, die Moderation vonKonflikt- bzw. Schlichtungsgesprächen durch-geführt. Daraus entwickelte sich eine sehrintensive und mittlerweile auch sehr vertrau-ensvolle Zusammenarbeit. So unterstützt derImam die Polizei, die Familienbetreuung unddas Jugendamt bei Interventionen in denFamilien, wenn es um Straftaten von Kinderngeht, wenn Gewalt gegen Kinder ausgeübtwurde oder wenn gewalttätige Konflikte zwi-schen libanesischen Familien zu schlichten sind.

PRAXISERFAHRUNGE

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RAXISERFAHRUNGEN

In Stuttgart gab es im Stadtteil Feuerbach in der Vergangenheit wenig Anlass für einekonkrete Zusammenarbeit zwischen derMoschee und dem örtlichen Polizeirevier. Vonder Moschee selbst, dem Moscheeverein unddem unmittelbaren Umfeld gingen keine poli-zeilichen Erkenntnisse aus, die auf eine konkre-te Handlungsnotwendigkeit schließen ließen.Die Kooperation mit der Moschee aufRevierebene wurde daher von Grund auf neuentwickelt. Das mit dem Aufbau derKooperation betraute Team bereitete sichsorgfältig darauf vor und wurde dabei vonaußen unterstützt. Der Kontakt wurde schritt-weise aufgebaut. Nach persönlicher Kontakt-aufnahme, einem ausführlichen Informations-austausch und gegenseitigen Einladungen ent-wickelte sich im Laufe der Zeit (ca. 1 Jahr) dieangestrebte Kooperation mit mehrerengemeinsamen Informationsveranstaltungen zukriminalpräventiven Themen bis hin zurEinbindung der Moscheevertreter in das örtli-che Stadtteilgremium. Dabei wurde derKontakt durch das „Elternseminar“ – eineEinrichtung des Jugendamtes – unterstützt;eine dortige Mitarbeiterin türkischer Herkunftbegleitete die Polizei nicht nur bei einem derersten Besuche in der Moschee, sondern auchanlassbezogen in der Folgezeit.

Polizeilicher AnsprechpartnerBei der Kooperation oder auf dem Weg dort-

hin ist es entscheidend, Vertrauen aufzubauen.Deshalb sollte die Polizei einen persönlich verant-wortlichen und stets ansprechbaren Partner an-bieten – am besten einen Beamten mit Leitungs-funktion, der Probleme, die von der Moscheevielleicht schon beim Erstkontakt vorgebrachtwerden, zeitnah und kompetent angehen kann.

Hierzu ein Beispiel aus Stuttgart: Kurz vorBeginn des Freitagsgebetes haben zahlreicheMitarbeiter der umliegenden Firmen Feier-abend. Vom Moscheevorstand wurde vorge-bracht, dass die Abfahrt von den Betrieben zueiner Zeit stattfindet, zu der die Gläubigenzum Gebet kommen. Hierbei werde häufig zuschnell gefahren. Dies sei für die Moschee-besucher, die oft in Begleitung von Kindernsind, gefährlich. Eine Überprüfung durch denVideo-Messdienst und ein Vor-Ort-Termin mitder Straßenverkehrsbehörde ergab keinenAnlass für Änderungen. Dies wurde mit demMoscheevorstand besprochen und von ihm soauch akzeptiert. Das zweite vom Moschee-verein vorgebrachte Problem, massiv auftre-tende Bettlerinnen vor dem Freitagsgebet,konnte durch polizeiliche Überprüfungsmaß-nahmen stark reduziert werden.

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Ansprechpartner seitens desMoscheevereins

Bei der Auswahl der Ansprechpartner istauf die hierarchische Stellung der (künftigen)Kooperationspartner zu achten. Kontaktesollten grundsätzlich zu den Vorständen auf-genommen werden, denn die Vorbeter(Hodschas und Imame) sprechen in den seltens-ten Fällen Deutsch. Im weiteren Verlauf stel-len sich dann bald die Verantwortlichkeitenund Funktionen einzelner (weiterer) Vor-standsmitglieder heraus. Wenn nach einergewissen Zeit ein Vertrauensverhältnis aufge-baut ist, lassen sich unter Umständen zusätz-liche Ansprechpartner innerhalb der Vereinegewinnen, so etwa gut ausgebildete jungeMitglieder, die üblicherweise nicht in denVorständen vertreten sind.

Schon nach den ersten Kontaktgesprächenkann man sich oft ein Bild über die religiöse undpolitische Ausrichtung der Vereine machen,sofern die mit der Kontaktaufnahme betrautenpolizeilichen Mitarbeiterinnen oder Mitar-beiter über die erforderlichen Hintergrund-kenntnisse verfügen. Andernfalls müssen dienötigen Informationen eingeholt werden.

ZeitDer erste Besuch sollte nur nach Ankündi-

gung erfolgen, bei der natürlich auch seinAnlass oder sein Zweck kurz umrissen werdensoll. Ein unangekündigter Besuch zur erstenKontaktaufnahme beim Verein kann zu Miss-verständnissen und vermeidbaren Schwierig-keiten führen. Dem künftigen Kooperations-partner sollte – wie ja auch den Polizei-dienstkräften – eine angemessene Zeit zurVorbereitung zugebilligt werden.

ÖrtlichkeitTreffen müssen nicht unbedingt nur in Räum-

lichkeiten der Moscheevereine oder sonstigenVereinen stattfinden. Wenn die Behörde eineigenes Anliegen hat oder beim Verein derentsprechende Wunsch besteht, ist einTreffen in Diensträumen sogar zu begrüßen:Oft wird eine Einladung in die Räumlichkei-ten der Polizei als besonderer Vertrauens-beweis oder sogar als Ehre empfunden.

VorstellungMöglicherweise stößt man beim ersten per-

sönlichen Gespräch mit Vereinsverantwortli-chen in der Moschee auf Verwunderung undUnsicherheit. Dann ist sehr wichtig, nach derBegrüßung die Aufgaben der eigenenDienststelle und die Gründe der Kontaktauf-nahme darzulegen. Das können eventuell ak-tuelle Anlässe sein, die Begründung kann aberauch die Absicht des bloßen nachbarschaft-lichen Bekanntwerdens sein oder bei Verän-derungen im gesellschaftlichen Umfeld liegen.

Es fördert eine freundliche Gesprächsatmo-sphäre, angebotene Getränke und Gebäcknicht abzulehnen. Solche Angebote sind einAusdruck der Gastfreundschaft, die auszuschla-gen als sehr unhöflich angesehen würde.

Die Gesprächsatmosphäre sollte durchAlltagsthemen und die Erwähnung persönli-cher Interessen (Familie, Kinder, Hobbys) auf-gelockert werden, um unter den Beteiligtenetwas Verbindendes zu finden. Erst dann solltedas konkrete Anliegen des Besuchs vorge-bracht werden. Zeitdruck ist prinzipiell zu ver-meiden.

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Polizei als „Freund und Helfer“Die vielseitigen Möglichkeiten der Polizei

und der Behörden auf den unterschiedlichs-ten Gebieten sollten in diesem Sinneanschaulich verdeutlicht werden, wobeidenkbare Hilfestellungen in einzelnen Pro-blemfällen aufzuzeigen und ein konkretes,an die Möglichkeiten des Vereins angepasstesKooperationsangebot zu erarbeiten und zuunterbreiten sind.

Einladungen zu besonderen Anlässen

Sofern Vereine von sich aus zuVeranstaltungen oder Festen einladen, soll-ten solche Anlässe mit gewisser Regelmäßig-keit wahrgenommen werden. Die Gesprächs-atmosphäre, die hier üblicherweise herrscht,kann in vielerlei Hinsicht von Vorteil sein.

KontaktpflegeUnabhängig von vereinbarten Treffen eig-

net sich – besonders im Umgang mitMoscheevereinen – der Freitag hervorragendzur Kontaktpflege mit Vereinen und ihrenMitgliedern, weil sie bei dieser Gelegenheitin der Regel auch ohne vorherige Verab-redung dort anzutreffen sind, was spontaneKontakte – außerhalb der ersten formalenKontaktaufnahme – erleichtert. Das Freitags-gebet sollte dabei jedoch nicht gestört werden.

Daneben sind auch Feiern und Veranstal-tungen, das abendliche Fastenbrechen imRamadan oder das Zuckerfest äußerst will-kommene Gelegenheiten, nach einer ent-sprechenden Einladung Kontakte zu pflegenund zu intensivieren.

Gemeinsames Interesse an PräventionDem Kooperationspartner ist der hohe

Stellenwert präventiver Arbeit möglichstanschaulich zu verdeutlichen. Dazu solltendie Ansätze und Arbeitsweisen der Polizeidargestellt und die des Vereins erfragt wer-den. Nach den Erfahrungen aus demModellprojekt stößt das Thema „Kinder undJugendliche“ bei Gemeindemitgliedernunter präventiven Aspekten auf größtesInteresse. Damit findet man Zugang zu denGemeinden und kann ihr Vertrauen gewin-nen. Wichtig ist die Betonung des gemein-samen Interesses, Kinder und Jugendlicheauf einen Weg zu führen, der sie nicht inKonflikt mit dem Gesetz bringt.

In Stuttgart fand z. B. ein Vortrag vor ca.25 türkischen Müttern zum Thema „Wieschütze ich mein Kind davor, Opfer einerStraftat zu werden oder Straftaten zu bege-hen“ äußerst positive Resonanz. Es wurdedaraufhin der Wunsch geäußert, diesenVortrag zu wiederholen und dieses Mal fürMütter und Väter gemeinsam anzubieten.Zu dieser Veranstaltung kamen dann ca. 160Zuhörer und das große Interesse spiegeltesich auch deutlich in den zahlreichenNachfragen wider.

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Aber auch Vorträge zu aktuellen Themenwie „Neues Waffenrecht“, „PolizeilicheMaßnahmen bei häuslicher Gewalt“,„Gewalt unter Kindern und Jugendlichen“,„Erziehung ohne Gewalt“ oder „Wie schüt-ze ich mich vor Betrug“ sowie die Verkehrs-sicherheitsarbeit treffen regelmäßig aufstarkes Interesse.

So war in Essen das Angebot vonSchulungen zur Verkehrssicherheit vonKindern der „Türöffner“ für eine erfolgreicheKooperation mit der türkischen Moschee.

Einbeziehung muslimischer FrauenMuslimische Frauen sind in sozial ausge-

richteten Projekten häufig engagierter undkommunikativer als Männer; die Polizei solltedaher ihre Einbindung in solche Projekte ein-fordern. Die Umsetzung dieser Forderungerweist sich in vielen Vereinen zwar bedauer-licherweise als äußerst schwierig, aber alslangfristiges Ziel ist die Beteiligung vonFrauen jedenfalls beharrlich anzustreben.

Einbindung in lokale StrukturenEin solches Kooperationsmodell muss –

daran ist immer wieder zu erinnern – in loka-le Strukturen wie kriminalpräventiveGremien, Präventionsbeiräte, Stadtteilaus-schüsse, Mieterbeiräte, Jugendamtsrundenund vergleichbare Gremien eingebundensein. Für das Selbstverständnis der Moschee-vereine ist es offenbar wichtig, in Netzwerkegleichberechtigt integriert zu werden. Einespezielle Behandlung, die sie eher stigmati-sieren und von üblichen Formen derZusammenarbeit ausgrenzen würde, ist uner-wünscht.

In Essen wurde ein Moscheeverein bei-spielsweise sehr früh in die Sozialraumkonfe-renz des Stadtteils Katernberg einbezogen.Ein ähnliches Gremium wurde auch imStadtteil Altendorf gebildet. Bei Stadtteil-festen wirken die Moschee- und Kulturver-eine hier inzwischen regelmäßig mit.

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5.1.3 Stolpersteine und Lösungsmöglichkeiten

Unangekündigter BesuchEin unangekündigter Besuch zur ersten

Kontaktaufnahme beim Verein kann, wiebereits erwähnt, zu Missverständnissen undvermeidbaren Schwierigkeiten führen.

Jüngere oder weibliche DienstkräfteAlter und Geschlecht der eingesetzten

Polizeibeamtinnen oder -beamten könnensich auf den Verlauf des Kontakts und aufeine mögliche Kooperation negativ oderauch positiv auswirken.

Aus kultureller Tradition wird eine weibli-che Dienstkraft als kompetenter Gesprächs-partner in den meisten Fällen weniger akzep-tiert. Darauf sollte allerdings nur bedingtRücksicht genommen werden, indem etwabei der Teambildung darauf geachtet wird,mindestens für Kontaktgespräche auch einemännliche Dienstkraft einzusetzen. In diesemKulturkreis wird Alter im Allgemeinen mitErfahrung gleichgesetzt und einem lebensäl-teren Beamten daher meist mit mehr Respektbegegnet.

ZeitansatzDer Zeitfaktor kann in kurz- wie langfristi-

ger Hinsicht ein Problem darstellen. Deshalbist in der Projektarbeit der Zeitansatz ausrei-chend zu bemessen.

Versuche der Instrumentalisierung Im Rahmen der Projekte sollte sich die

Polizei nicht instrumentalisieren lassen, dahierdurch eine sachdienliche Arbeit behin-dert wird. Generell ist das Bestreben derVerantwortlichen der Moscheen festzustel-len, in der Polizei möglichst hochrangigeAnsprechpartner zu finden.

In Essen versuchte ein libanesischer Verein,bei den Libanesen in Katernberg Einfluss zugewinnen, indem der Vorsitzende behaupte-te, er würde „alles persönlich mit demPolizeipräsidenten“ regeln. So eine Entwick-lung ist nicht hinzunehmen; natürlich müssenauch Sachbearbeiter als Gesprächspartnerakzeptiert werden. In Katernberg wurde da-her die Zusammenarbeit über Sachbearbeiterund Bezirksdienstbeamte bewusst gefördert.Repräsentationsaufgaben werden von den je-weiligen Vorgesetzten wahrgenommen, die täg-liche Zusammenarbeit erfolgt aber auf der Ebeneder Kommissariate und des Bezirksdienstes.

Wenn sich die Vereinsverantwortlichenaus der Moschee an einzelne Mitarbeiteroder das Projektteam und nicht an die Behörde

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oder die Dienststelle wenden, muss man dafürVerständnis aufbringen: Die Vertrauensbasis zubestimmten Personen spielt für den Aufbaueiner Kooperation eine nicht zu unterschätzen-de Rolle; das starre Festhalten an polizeilichenStrukturen könnte sich sonst eher als Hinder-nis erweisen.

Projektarbeit mit den KooperationspartnernNatürlich wird es Moscheevereine geben,

die mit Projektarbeit keine Erfahrungenhaben und damit überfordert sind. Selbstwenn der Verein seine Kooperationsbereit-schaft glaubhaft signalisiert hat, sollte sichdie Polizei dann darauf einstellen, an dieVerwirklichung einzelner Ziele innerhalbeines zeitlich abgesteckten Rahmens immerwieder erinnern zu müssen.

Zur Förderung der projektbezogenenKommunikation empfiehlt sich die Heraus-gabe von Druckerzeugnissen, deren Finan-zierung und redaktionelle Gestaltung recht-zeitig zwischen den Kooperationspartnernabgestimmt und klar geregelt werden sollte.

Knappe GeldmittelDer Mangel an finanziellen Mitteln kann

ehrgeizige Projekte schon im Vorfeld schei-tern lassen; daher sind die beiderseitigenfinanziellen Möglichkeiten von vornhereinabzuwägen und in die Projektplanung ein-zubeziehen.

Ein spezielles Problem könnten dabei diefür „Gastfreundschaft“ anfallenden Kostendarstellen; denn die Polizei sollte die zu Beginn der Kooperation seitens derMoschee üblichen Einladungen zum Essennicht nur annehmen, sondern auch mitGegeneinladungen erwidern. Hier kann es zu Konflikten mit den Regelungen für dieAnnahme von Geschenken und Belohnungensowie des Haushaltsrechtes kommen. Deshalbist vor einer Gegeneinladung im Rahmen desHaushaltsrechtes zu prüfen, ob die Dienst-stelle die Kosten tragen kann. Auf keinen Falldürfen die mit dem Aufbau der Kooperationbeauftragten Dienstkräfte die Kosten selbsttragen. Im Übrigen ist darauf zu achten, dassdie Neutralität der Polizei nicht in Fragegestellt wird.

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5.1.4 Ansätze zur Einbindung der Moschee

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dieMoscheevereine in die Kooperation einzubin-den. Die Moschee kann beispielsweise

• bei gemeinsamen Veranstaltungen fürDolmetscher sorgen,

• polizeiliche Aktionen ideell unter-stützen und bekannt machen,

• vermehrte Öffentlichkeitsarbeit gegen-über der muslimischen Bevölkerung betreiben,

• aber auch bei Problemstellungen ande-rer öffentlicher Institutionen behilflich sein.

Über den libanesischen Imam in Essenwurde die Betreuung muslimischer Häftlingein der Justizvollzugsanstalt Gelsenkircheninitiiert. Die regelmäßigen Gesprächstermineführten zu einer merklichen Reduzierung derAggressivität und Gewaltbereitschaft dieserPersonen. Inzwischen gibt es ähnlicheGesprächstermine in den Justizvollzugsan-stalten Bochum und Dortmund.

Ebenfalls konnte in Essen beobachtet wer-den, dass sich Mädchen und junge Frauen zunehmend nicht mehr an die ihnen traditio-nell zugedachte Rolle halten. Nicht seltenreagierten manche männlichen Familienmit-glieder, insbesondere Väter und Brüder, hie-rauf mit Gewaltanwendungen. Das Jugend-amt und die Polizei in Essen sahen sichgezwungen, die Opfer in Heimen unterzu-bringen. Dies führte zu massiven Versuchen,auf die Heimleitung Einfluss zu nehmen, umdie Mädchen wieder zurückzubekommen.Der Imam hat hier Jugendamt und Heimlei-tung beraten, wodurch für die übrigenFamilienmitglieder die Unterbringung derjungen Frauen außerhalb der Familie akzep-tabel wurde.

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Unterstützung des VereinsVor allem die Unterstützung des Vereins in

Einzelfällen trägt zur Vertrauensbildung bei.

Dabei kommen zum Kooperationsaufbau z. B. folgende Maßnahmen in Betracht:

• (Kriminal-)polizeiliche und Verkehrssicherheitsberatung,

• Kontaktvermittlung zu anderenBehörden oder Polizeidienststellen,

• Hilfestellung beim Aufsetzenvon Schriftstücken,

• Moderation zwischen rivalisierendenMoscheevereinen oder

• Vermittlung zwischen den Polizeikräf-ten und den Moscheeverantwortlichen bei polizeilichen Einsätzen mit Bezugzur Moschee.

Unterstützung einzelnerVereinsmitglieder

Bei der individuellen Betreuung sind da-rüber hinaus folgende Bereiche relevant:

• Anzeigenaufnahme bei Straftatengegen einzelne Personen, die den Kontakt zur Polizei über den Verein gesucht haben,

• Beratung zum Umgang mit Behörden einschließlich der Kontaktvermittlung,

• Hilfestellung und Vermittlung bei inner-familiären Problemen sowie bei Streitig-keiten zwischen mehreren Familien.

Im Rahmen des Unterstützungsangebotesist jedoch zu beachten, dass dessen Art undUmfang durch die polizeilichen Zuständig-keitsregelungen begrenzt sind.

Aufbau von VermittlungspersonenAus den jeweiligen Gemeinden sind

Vermittlungspersonen zu gewinnen und auf-zubauen, die allseits akzeptiert werden undzwischen den Gemeinden und den öffentlichenInstitutionen vermitteln können. Solche Ver-mittlungspersonen müssen mit dem jeweiligenLebensbereich vereinbar sein; so kann beispiels-weise ein laizistischer Türke nicht in einer Mo-schee vermitteln, weil er dort keine Akzeptanzfände.

Unterstützung der PolizeiDie Polizei sollte auch ihrerseits Problem-

fälle an den Verein herantragen, wenn vonihm ein Beitrag zu einer Lösung zu erwartenist. Dabei ist hinsichtlich der eigenen Absichten

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und Möglichkeiten sowie die Akzeptanz desanderen Standpunkts Ehrlichkeit von Anfangan wichtig. In den Moscheen bestehen gegen-über der Polizei zunächst Vorbehalte; erst wennMuslime in Konfliktsituationen eine angemesseneBerücksichtigung ihrer Seite erleben, bildet sichVertrauen heraus. Sie sind dann auch bereit, anLösungen mitzuwirken – etwa bei Problemenmit Anwohnern von Moscheen, bei Parkproble-men im Umfeld von Moscheen oder auffälligem Ver-halten von Jugendlichen im öffentlichen Raum.

Eine der Aufgaben, die der Kooperations-partner innerhalb seiner Möglichkeiten undseines Einflussbereichs mit Leben erfüllen soll,kann im Rahmen präventiver Arbeit auch dieAufklärung über die Arbeitsweise der Polizei inDeutschland sein, die sich vom polizeilichenVorgehen in den jeweiligen Herkunftsländern,wo Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeitoft eher unbekannt sind, deutlich unterscheidet.

In ähnlicher Weise lässt sich auch dieVermittlung kultureller Werte der deutschenGesellschaft thematisieren, wobei Polizei-beamtinnen oder -beamte jedenfalls unterstüt-zend tätig werden könnten. Dadurch wäreeine größere Akzeptanz der deutschen Polizeizu erwarten, deren Maßnahmen Migranten imEinzelfall nicht immer verstehen, da sie ihnen –gerade im Rahmen der Strafverfolgung – ent-weder nicht nachvollziehbar sind oder nichtweit genug gehen.

5.2 Thematische Anknüpfungspunktegegenüber muslimischen Gemeinden

Hier bieten sich vielfältige Themen an.Welches Thema ausgewählt wird, richtet sichnach der Interessenlage der Moschee bzw.dem polizeilichen Lagebild bzw. der politi-schen Relevanz.

Überblick über Zuständigkeiten der Polizei

Nach der ersten Kontaktaufnahme war inder Regel auch seitens der Vereinsmitgliederein großes Interesse an der „Institution“Polizei (Organisation/Zuständigkeiten/Räum-lichkeiten) festzustellen. Sowohl Vorträge alsauch Einladungen in die Dienststelle tragendazu bei, das Verhältnis zwischen Polizei undMoscheeverein auszubauen und das gegen-seitige Verständnis zu fördern.

Gewaltprävention, auch Gewalt im sozialen Nahraum

Grundsätzlich hoch ist das Interesse anVorträgen wie z. B. zum Thema „Wie schützeich mein Kind davor, Opfer einer Straftat zuwerden oder Straftaten zu begehen“. Aberauch das zugegebenermaßen sensiblere Thema„Gewalt im sozialen Nahraum“ kann durch-aus thematisiert werden.

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Beispiel aus Essen: Hier haben die Erfah-rungen gezeigt, dass der Hodscha und der Imam bereit waren, die Polizei bei dieserThematik zu unterstützen, indem sie dieAussagen der Polizei zu einem gewaltfreienMiteinander innerhalb der Familie (sowohl inder Partnerschaft als auch in der Erziehung!)durch Passagen aus dem Koran untermauer-ten und somit oft hergebrachten Überzeu-gungen der Gemeindemitglieder widerspra-chen.

SuchtpräventionMitglieder eines arabischen Wohltätigkeits-

vereines, zu dem bereits seit vielen Jahrenintensive Kontakte bestehen, wandten sich ver-mehrt an den Vereinsvorstand und taten ihreSorgen bzgl. der Drogenproblematik kund, dasie von Drogenhandel im nahe gelegenen Park(Marihuana/Haschisch) sowie auf mehrerenBahnhöfen im Verlauf der U-Bahn (Heroin)gehört hätten. Des Weiteren habe man „mit-bekommen“, dass auch an oder vor Schulenmit Drogen gehandelt würde. Außerdem schil-derten einige Eltern auffällige Verhaltenswei-sen bei ihren Kindern. Andere hätten in derKleidung ihrer Kinder „merkwürdige“ Ampul-len entdeckt, von denen man nicht wisse, umwas es sich handelt.

Diese Vereinsmitglieder hatten also nichtden direkten Weg zur Polizei gefunden, son-dern wandten sich hilfesuchend an den Verein.

Der Vereinsvorsitzende bat dann, nachdem in-nerhalb eines kurzen Zeitraumes vermehrt El-tern mit derartigen Anliegen zu ihm gekommenwaren, die Polizeidienststelle um kurzfristigeHilfestellung.

Innerhalb einer Woche wurde einePodiumsdiskussion in den Vereinsräumlichkei-ten anberaumt, zu der neben zahlreichenbesorgten Eltern auch Vertreter der arabischenLokalpresse erschienen.

Vor einem Auditorium von etwa 200 Per-sonen schilderten zwei Polizeiangehörige kurzdie Situation und stellten die Arbeitsweise unddie rechtlichen Möglichkeiten der Polizei dar.So konnten den Eltern drogenbedingteVerhaltensauffälligkeiten dargestellt werden,

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was zu deren Sensibilisierung beigetragenhaben dürfte. Auch wurden die unterschiedli-chen Erscheinungsformen von Betäubungs-mitteln erläutert.

Im Anschluss wurden zahlreiche Fragenbeantwortet. Im Rahmen der Diskussion wurdeerwartungsgemäß aber auch deutlich, dassarabischstämmige Menschen das „lascheEinschreiten“ deutscher Polizisten und hiergefällte Gerichtsurteile nicht nachvollziehenkönnen, da sie die Verhältnisse in ihrenHeimatländern zum Vergleich heranziehen.

Die Veranstaltung wurde im Nachlaufsowohl von den Vereinsverantwortlichen alsauch von den teilnehmenden Polizeibeamtenals Erfolg gewertet.

GesetzesänderungenAuch aktuelle Gesetzesänderungen kön-

nen Anlass für eine Informationsveranstal-tung sein. So wurde in Essen nach derNovellierung des Waffengesetzes ein Vortragzu diesem Thema gehalten.

Die aufgeführten Beispiele lassen sich mitSicherheit auch auf die nachgenanntenThemen übertragen:

Betrug, insbesondere Waren- undWarenkreditbetrug

Eigentumsdelikte (Kraftfahrzeug,Fahrrad, Wohnung)

Nachbarschaftshilfe zur Förderung vonSicherheit im eigenen Wohngebiet

Medien- und Internetkompetenz

Jugendschutz

Verkehrssicherheitsarbeit

Aber auch Themen der Verkehrs-prävention sind von Interesse. So wurde dieDienststelle in Essen von Verantwortlicheneines großen türkischen Verbandes auf einenkurz zuvor eingerichteten Fußgängerüber-weg („Zebrastreifen“) hingewiesen, dessenNutzung den mehrheitlich türkischen Kinderndort große Probleme bereitete.

Es konnte ein im Bereich der Verkehrs-sicherheitsarbeit besonders geschulter underfahrener Beamter eingebunden werden,der den betroffenen Kindern die Gefahreneines „Zebrastreifens“ erläuterte. Er hattezudem die Gelegenheit, mit vielen ortsansäs-sigen Kindern das Überqueren diesesFußgängerüberweges zu üben.

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Durch die Zusammenarbeit mit den Moschee-vereinen kann die Polizei neue Potenziale beider Kriminalitätsvorbeugung und -bekämp-fung sowie der Verkehrssicherheitsarbeiterschließen und einen konkreten Beitrag zurIntegration von Muslimen leisten. DasModellprojekt der Bundeszentrale für politi-sche Bildung in Berlin, Essen und Stuttgarthat hierzu wichtige Impulse gegeben. Dieerzielten Erfolge ermutigen dazu, dieseZusammenarbeit auch bundesweit weiterzu-entwickeln und Muslime in die polizeilichePräventionsarbeit einzubinden. Dabei sollteFolgendes berücksichtigt werden:

- Die Zusammenarbeit mit Moscheevereinenbedarf einer Projektorganisation mit sorg-fältiger Vorplanung.

- Die Projekte sollten auf Dauer angelegtsein, um nachhaltig wirken zu können.

- Ein Grundwissen über die Kultur des Islam,insbesondere seine zentralen Glaubens-bestandteile (fünf Säulen des Islam), diereligiösen Feste sowie die Rolle der Frau istunverzichtbar.

- Kooperationsprojekte mit Moscheeverei-nen müssen Chefsache sein und sollten vonder Polizeiführung initiiert und unterstütztwerden.

- Innerhalb der Polizei muss der Informati-ons- und Erfahrungsaustausch über dieProjekte gewährleistet sein.

- Der Schutz von Kindern und Jugendlichenvor Kriminalität sowie vor den Gefahrendes Straßenverkehrs sind geeigneteThemen, um in die Zusammenarbeit einzu-steigen.

- Die Kooperationsprojekte sollten in lokaleGremienstrukturen oder Netzwerke einge-bunden werden.

Eine vertrauensvolle und gezielte Zusammen-arbeit zwischen Moscheevereinen und derPolizei ist für beide Partner eine Herausfor-derung. Dabei bietet die Prävention eine her-vorragende Chance, die Sicherheitsarbeit vorOrt mit Leben zu füllen. Diese Chance gilt esweiter zu nutzen.

6. RESÜMEE

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AutorenBundeszentrale für politische Bildung (bpb), BonnProjekt „Transfer interkultureller Kompetenz“, BerlinStrategisches Innovationszentrum der Polizei, MünchenPolizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes

RedaktionKD a.D. Winfried Roll, Berlin

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Herausgeber:

Zentrale Geschäftsstelle

Polizeiliche Kriminalprävention

der Länder und des Bundes

Taubenheimstraße 85

70372 Stuttgart

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