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Sonderheft 2 / 2002 53. Jahrgang • Juli 2002 • ISSN 0032-3462 POLITISCHE STUDIEN Atwerb-Verlag KG Antworten auf die demografische Herausforderung Mit Beiträgen von Günther Beckstein Lutz Bellmann Dieter Cassel Herbert Hofmann Andreas Kruse Ute Leber Heidrun Mollenkopf Veit Oberdieck Winfried Schmähl Josef Schmid Peter Stein Hans-Werner Wahl Martin Werding Max Wingen Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen Hanns Seidel Stiftung eV

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S o n d e r h e f t 2 / 2 0 0 2

53. Jahrgang • Juli 2002 • ISSN 0032-3462

POLITISCHES T U D I E N

Atwerb-Verlag KG

Antworten auf diedemografischeHerausforderungMit Beiträgen vonGünther BecksteinLutz BellmannDieter CasselHerbert HofmannAndreas KruseUte LeberHeidrun MollenkopfVeit OberdieckWinfried SchmählJosef SchmidPeter SteinHans-Werner WahlMartin WerdingMax Wingen

Z w e i m o n a t s z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k u n d Z e i t g e s c h e h e n

HannsSeidelStiftung eV

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Peter Stein Kurze Einführung in dieHerausforderung der langen Sicht ... 5

Günther Beckstein Demografische Herausforderung – Irrwege und Auswege .................... 10

Josef Schmid Bevölkerungsrückgang und demografische Alterung – Ein Problemaufriss mit Folgen-abschätzung ................................... 19

Max Wingen Geburtenförderung durchganzheitliche Familienpolitik – aber wie? ........................................ 44

Herbert Hofmann/ Demografischer Wandel, Martin Werding Produktivität und Weiterbildung –

Einige vorläufige Überlegungen .... 74

Lutz Bellmann/ Weiterbildung und ZuwanderungUte Leber als mögliche Strategien zur Über-

windung des Fachkräftebedarfs .... 87

Winfried Schmähl Alterssicherungspolitik in einer alternden Bevölkerung –Anmerkungen zur Situation in Deutschland ............................ 106

Dieter Cassel/ Alterungsrückstellungen gegenVeit Oberdieck demografisch bedingte Beitrags-

satzexplosion in der GesetzlichenKrankenversicherung .................. 128

Andreas Kruse Demografische Umgestaltung der Gesundheitsversorgung ........ 135

Inhalt

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Heidrun Mollenkopf/ Ältere Menschen in der mobilen Hans-Werner Wahl Freizeitgesellschaft – Konsequenzen

für die Verkehrspolitik ................ 155

Autorenverzeichnis ...................................................... 176

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Die Auswirkungen niedriger Geburten-raten bzw. des Bevölkerungsrückgangsund der hiermit verbundenen demo-grafischen Alterung sind vielschich-tig und tangieren eine Vielzahl unter-schiedlicher Bereiche des öffentlichenLebens. Für die kommenden Jahrzehn-te sind quantitative und strukturelleVeränderungen der Bevölkerung zu er-warten, die in der öffentlichen Dis-kussion nicht selten als dramatisch bewertet werden. In den Worten desBevölkerungswissenschaftlers JosefSchmid: „Die Weltgeschichte kenntwohl den Verfall und Untergang vonReichen und Kulturen, kennt jedochkeinen Fall wie die westliche, moderneoder ‚postindustrielle Gesellschaft’, dieihr Wohlstandsmaximum mit Aufzeh-rung ihrer Humansubstanz bezahlt.“Allerdings ist diese Situation keineswegsein unabwendbares Naturereignis, son-dern ein gesellschaftlicher Sachverhalt;die Bereitschaft, sich für die Familie zuentscheiden, basiert auf spezifischenEinstellungen und Werthaltungen so-wie auf der Erfüllung notwendigermaterieller Voraussetzungen. Die Gene-rationenstudie 20011 der Hanns-Seidel-Stiftung zeigt in ihrer breit angelegtenUmfrage, dass in Deutschland immer-hin 59% der 16 bis 34-Jährigen und 56% der 35 bis 59-Jährigen der Auffas-sung sind, dass in unserer GesellschaftFamilien mit Kindern „etwas bzw. stark

benachteiligt“ seien. Einstellungen oderauch konkrete Erfahrungen der Men-schen in Bezug auf das Thema „Fami-lie“ sind nicht zuletzt auch – im bestenSinne des Wortes – gesellschaftspoliti-sche „Tat-Bestände“; diese beinhaltendie Möglichkeit der Veränderung.

Wir leben in einer Zeit, in der gewolltoder ungewollt, bzw. sowohl durch Tunals auch durch Unterlassen wichtigeWeichenstellungen im Hinblick auf den mittel- und langfristigen Verlaufdes demografischen Wandels erfolgen.Gleichzeitig stehen wir auch vor Wei-chenstellungen in Fragen der Zuwande-rungspolitik. Es geht in beiden Fällenum Entscheidungen über die gesell-schaftliche Balance in Deutschland. Mitdiesen Entscheidungen stehen wir ge-genüber der heranwachsenden und dennachfolgenden Generationen in derVerantwortung. „Verantwortung“ –diese Begrifflichkeit muss man im vor-liegenden Zusammenhang wohl durch-aus sehr wörtlich nehmen: Verpasstman die heute noch bestehendenChancen, wird man irgendwann drän-gende und unangenehme Fragen zubeantworten haben. Wir dürfen inzwi-schen mit Stolz auf große und erfolg-reiche Projekte schauen, die die Völkermiteinander verbinden; wie ist es aberum die Aussöhnung mit den kom-menden Generationen bestellt?

Kurze Einführung in dieHerausforderung der langen Sicht

Peter Stein

Politische Studien, Sonderheft 2/2002, 53. Jahrgang, Juli 2002

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Peter Stein6

Der demografische Prozess, wie man ihnderzeit auf der Grundlage wissenschaft-licher Prognosen bis 2050 als möglichdarstellt, wird 2050 keineswegs abge-schlossen sein. Diese zeitliche Grenze,die fälschlich eine gewisse Begrenztheitdes Ereignisses suggeriert, ist lediglichdurch die Zeitspanne der zu Grundegelegten Prognosemodelle gezogen. Aufuns kommen daher nicht nur Über-gangsprobleme zu, sondern durchausauch Dauerprobleme mit im Zeitverlaufvariabler Intensität. Die für 2050 abseh-baren Bestandsgrößen werden – wieWingen in seinem Beitrag ausdrücklichbetont – lediglich „Durchgangsgrößen“sein, deren Niveaus nach seiner Auffas-sung ganz entscheidend von wirksamerGegensteuerung abhängen. Die Zeitnach 2050 ist zwar momentan nochhinter dem Horizont gängiger bevöl-kerungswissenschaftlicher Prognosenverborgen und damit „out of sight“, siedarf damit allerdings nicht auch „out ofmind“ sein. Veränderungen der Demo-grafie – erwünschte wie unerwünschte– verlaufen über den Generationenwech-sel hinweg; man spricht daher auch voneiner besonderen „Trägheit“ demogra-fischer Prozesse. Maßnahmen der Ein-flussnahme benötigen daher einen be-trächtlichen Vorlauf. Der demografischeWandel ist auch in dieser Hinsicht einEreignis von besonderer historischerTragweite. Im Gegensatz zu anderen his-torischen Ereignissen vollzieht sichdieses allerdings nicht in auffälliger Wei-se mit einem Paukenschlag, sondern istbesonders langfristig und – zunächstnoch – unauffällig angelegt. Dennochist die Problemlösungsdringlichkeitheute bereits sehr ausgeprägt. Alleinschon diese Gemengenlage ist durchauseine besondere Herausforderung dergesamten Thematik. Dieser Heraus-forderung müssen wir uns heute stellen.

Die Politik ist gefordert. Allerdingsbesteht jetzt die Gefahr, dass aus Prag-matismus nur Symptome statt Ur-sachen bekämpft werden, indem manunter Rückgriff auf die Zuwanderungs-option kurzfristig scheinbar bequemeWege ansteuert, deren weit reichendeKonsequenzen dann allerdings sehrlangfristig zu tragen sind. Der Gene-rationenvertrag darf kein Spielball derTagespolitik sein. Vielmehr ist es not-wendig, die alternativen Optionen

● einer kompensatorischen Zuwan-derungspolitik einerseits

● und andererseits einer demografischnachhaltigen, gesellschaftlichen Ent-wicklung

auf der Basis gesellschafts- und ord-nungspolitischer Überlegungen sys-tematisch und umfassend zu analy-sieren und in ihren Auswirkungen gegeneinander abzuwägen.

Im Hinblick auf die demografischeHerausforderung ist also eine konse-quente Bestandsaufnahme der mögli-chen „Irrwege und Auswege“ notwen-dig, wie sie Staatsminister GüntherBeckstein in diesem Band vorlegt. Diesich daran anschließenden Beiträgerenommierter Wirtschafts- und Sozial-wissenschaftler zeigen ausführlich, dasses in der Tat eine ganze Reihe politi-scher Handlungsspielräume in Rich-tung auf eine demografisch nachhaltigewirtschaftliche und gesellschaftlicheEntwicklung gibt.

Eine Besonderheit der Diskussion überdie Geburtenentwicklung liegt darin,dass ein hoher Problemdruck mit einerhohen Sensibilität des bevölkerungs-wissenschaftlichen Themas einher geht.Max Wingen, seit Jahrzehnten an der

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familienwissenschaftlichen Grundle-gung einer systematischen Familien-politik beteiligt, plädiert jenseits reiner„Anpassungsmaßnahmen“ für eine„bevölkerungsbewusste Familienpoli-tik“, die ihre möglichen und tatsäch-lichen demografischen Aus- und Ne-benwirkungen zu reflektieren hat undder nach seiner Auffassung eine ge-radezu strategische Bedeutung zu-kommt. Die formal freie Entscheidungfür Kinder muss wirklich „frei“ sein;momentan gibt es noch zu viele ma-terielle und organisatorische Restrik-tionen. Voraussetzung für eine im We-ber’schen Sinne sowohl wert- als auchzweckrationale Politik im Rahmen ei-ner bevölkerungsbewussten Familien-politik ist die ungehinderte Kommu-nikation über maßgebliche Werte undZiele. Wingen weist außerdem daraufhin, dass es im Umgang mit dem demo-grafischen Wandel keineswegs nur umQuantitäten geht; auch die Bedeutungder Qualität des verfügbaren Humanvermögens – d.h. wirksame Bildung,Ausbildung und berufliche Fortbildung– muss neu bewertet werden.

Hofmann und Werding zeigen in ih-rem Beitrag auf, welche Zukunftsrisikender demografische Prozess für die Leis-tungsfähigkeit der Wirtschaft hat undbestätigen aus diesem Zusammenhangheraus die Bedeutung von Weiterbil-dung und lebenslangem Lernen. Deut-lich wird auch, „...dass die Zeit füreventuell erforderliche Anpassungen anden demografischen Wandel mittler-weile begrenzt ist“. Oft wird in derZuwanderung ausländischer Arbeits-kräfte ein Ausweg gesehen. Die Ana-lyse von Bellmann und Leber belegtallerdings auf der Grundlage empi-rischer Untersuchungen, dass für dieUnternehmen Qualifizierungsstrategien

gegenüber der Zuwanderungsoptionüberlegen sind. Die Fokussierung derbeiden letztgenannten Beiträge auf denerwerbswirtschaftlichen Leistungser-stellungsprozess darf allerdings nichtverdecken, dass auch die Zukunft desnichtkommerziellen, öffentlichen undprivaten Leistungserstellungsprozessesund damit die Zukunft einer aktivenBürgergesellschaft betroffen ist, wennvon demografischem Wandel sowievon der Ausgestaltung breit angelegterBildung und Qualifizierung die Rede ist.Wie die PISA-Studie belegt, ist es aller-dings in Deutschland um die schu-lische Ausbildung nicht gerade zumBesten bestellt. Wenn an diesem Punktnicht gegengesteuert wird, verstärktdies die negativen Auswirkungen vonBevölkerungsrückgang und demogra-fischer Alterung sowohl im Hinblickauf die Produktivität der Unternehmenals auch hinsichtlich der Zukunfts-chancen einer entwickelten und akti-ven Bürgergesellschaft.

Der materiale Gehalt unserer Sozial-ordnung hängt primär von der Pro-duktivität der Unternehmen ab, weildort zunächst jenes Wertprodukt er-zeugt werden muss, aus dem heraus dieFinanzierung sozialpolitischer Maß-nahmen überhaupt erst möglich wird.Vor allem das System der sozialenSicherung ist darüber hinaus aber auchsehr unmittelbar von den Auswirkun-gen des demografischen Wandels be-troffen, da der Sachverhalt „Alter“ einTeil der Sicherungsstruktur ist; dieDiskussion über die langfristige Sicher-stellung der Altersversorgung ist ge-meinhin bekannt. Wie Schmähl inseinem Beitrag zeigt, ist der Einstieg indie kapitalgedeckte Rente, wie er mitder sog. „Riester-Rente“ erfolgt, aller-dings kein sicherer Weg, um den Aus-

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Peter Stein8

wirkungen der demografischen Ent-wicklung auf die Alterssicherung nach-haltig entgegen zu treten, da die Kapi-talrenditen, die auf den Märkten derZukunft zu erzielen sein werden, mitUnsicherheiten behaftet sind. Die Ren-dite der „Riester-Rente“, die in denkommenden Jahrzehnten erst noch er-wirtschaftet werden muss, ist offenbarein Wechsel, der auf eine unsichereZukunft gezogen ist. Wichtiger ist fürSchmähl die Ausweitung der Erwerbs-phase; höhere Lebenserwartung solledemzufolge zu gleichen Teilen der Er-werbs- und der Ruhestandsphase zu-geschlagen werden, bei einer gleich-zeitigen Intensivierung der Qualifizie-rung älterer Arbeitnehmer. Auch in demBeitrag von Schmähl taucht also derrote Faden „Qualifizierung“ wiederumauf: „Aus meiner Sicht besteht derzeiteine Schieflage hinsichtlich der fiskali-schen Förderung von Kapitalbildung,indem der Blick vor allem auf die Bil-dung von Finanzkapital gerichtet wird[...] . Hier dürfte ein Umdenken erfor-derlich werden in Richtung einer Stär-kung der Humankapitalentwicklung.“

Auch die Gesetzliche Krankenversi-cherung (GKV) ist von Kostenrisikendes demografischen Wandels betroffen.Cassel und Oberdieck befassen sich inihren Beiträgen mit den Möglichkeiteneiner Stabilisierung der Beitragssätze inder GKV durch den Aufbau eines Kapi-talstocks in Zeiten noch – relativ –geringer Belastungen. Diese Option ist zwar ebenfalls mit der Unsicher-heit zukünftiger Kapitalrenditen kon-frontiert. Die Modellrechnungen vonCassel und Oberdieck sind aber auf sehrzurückhaltende Renditeerwartungenaufgebaut und beinhalten insofern eineSicherheitsspanne im Hinblick aufSchwankungen bei den Kapitalrenditen

der kommenden Jahrzehnte. Das vonCassel und Oberdieck vorgelegte Finan-zierungsmodell lässt erkennen, dasssich die GKV gegen das demografischeRisiko absichern lässt, wenn man nurrechtzeitig genug hierfür die Initiativeergreift. Darüber hinaus zeigt der darananschließende Beitrag von Kruse, dassdurch die konsequente Nutzung vonMöglichkeiten der Prävention, Reha-bilitation und rehabilitierenden Pflegedas Risiko von Krankheitskosten deswachsenden Anteils älterer und hoch-betagter Menschen in einer Weise re-duziert werden kann, die nach seinerAuffassung gemeinhin unterschätztwird. Außerdem tritt er engagiert demMissverständnis entgegen „... dassPflege keine rehabilitative Funktion be-sitze.“ Der Nutzen einer Aktivierungbrachliegender Leistungspotenzialepräventiver und rehabilitierenderTherapeutik darf aber nicht nur von derfinanziellen Seite her gesehen werden;für die betroffenen Menschen geht esschließlich in existenzieller Weise umLebensqualität im Alter, bis hin zurletzten Lebensphase.

Mollenkopf und Wahl befassen sichmit einem weiteren Aspekt, der für dieLebensqualität älterer Menschen vonBedeutung ist: Mit dem Ausscheidenaus dem Erwerbsprozess rücken dieMöglichkeiten und Grenzen der Frei-zeitgestaltung stärker in den Mittel-punkt des Lebens. Mollenkopf undWahl zeigen, dass dabei die Frage derMobilität von zentraler Bedeutung ist.Die Verkehrspolitik muss den speziellenAnforderungen älterer Menschen stär-ker entgegenkommen, als dies in derVergangenheit der Fall gewesen ist.

Die nachfolgenden Beiträge lassen er-kennen, dass der demografische Wan-

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del in der Tat bereits eine hohe Problemlösungsdringlichkeit aufgebauthat. Deutlich wird auch, dass unbe-dingt konzeptionsgeleitetes Handelnnotwendig ist, statt kurzatmigem Prag-matismus oder gar der Untätigkeit einer „ruhigen Hand“. Das notwendi-ge Problemlösungspotenzial seitens derwissenschaftlichen Familienpolitik istinzwischen durchaus vorhanden, zu-mal die Familienpolitik als Bestandteilder Sozialpolitik auf wissenschaftlicherSeite fest verankert ist.2 Mit jedem Jahr,das ungenutzt verstreicht, sinken dieChancen bzw. steigen die Kosten einerPolitik, die sich der demografischenHerausforderung – also der Zukunft un-seres Gemeinwesens – verantwortlichannimmt.

Zur Bewältigung der demografischenHerausforderung ist eine Doppelstrate-gie nötig:

● Zum einen müssen bestehendeHandlungsspielräume genutzt wer-den, um zusätzliche Einschränkun-gen des heimischen Humanver-

mögens quantitativ und qualitativso weit als möglich zu verhindern.

● Gleichzeitig wird man nicht umhinkommen, sich in verschiedenenBereichen des öffentlichen Lebensauf die Auswirkungen heute bereitsunumkehrbarer demografischer Ver-änderungen einzustellen.

Im Rahmen der vorliegenden Publika-tion ist es bei weitem nicht möglich,das Thema „Antworten auf die demo-grafische Herausforderung“ vollständigund umfassend zu bearbeiten. Aller-dings kann der Versuch unternommenwerden, für die Thematik zu sensibi-lisieren, zentrale Probleme und be-sonders dringende Handlungsbedarfeaufzuzeigen und auf einige bereits vor-liegende implementationsfähige Lö-sungsansätze ebenso hinzuweisen, wievor möglichen Irrwegen zu warnen.Mit dem vorliegenden Sonderband derPolitischen Studien will die Akademiefür Politik und Zeitgeschehen derHanns-Seidel-Stiftung hierzu heraus-ragende und besonders erfahrene Ex-perten zu Wort kommen lassen.

Anmerkungen1 Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.): Generatio-

nenstudie 2001 – Zwischen Konsens undKonflikt: Was Junge und Alte vonei-nander denken und erwarten, München2002.

2 Vgl. Lampert, H.: Priorität für die Familie

– Plädoyer für eine rationale Familienpoli-tik, Berlin 1996 sowie Jans, B./Habisch,A./Stutzer, E.: Familienwissenschaftlicheund familienpolitische Signale, Festschriftzum 70. Geburtstag von Max Wingen,Grafschaft 2000.

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1. Demografische Entwicklungin Deutschland

„Kinder kriegen die Leute immer“, mitdiesem oft zitierten Satz – so wird überliefert – hat Bundeskanzler KonradAdenauer das auf dem Generationen-vertrag basierende Umlageverfahrenunseres Rentensystems begründet. Hin-ter dem Generationenvertrag steht aberdas Zahlungsversprechen von Men-schen, die erst noch geboren werdenmüssen; er ist also ein Wechsel auf dieZukunft.

Bereits seit Jahrzehnten zeigen jedochalle Berechnungen, dass der Wechselimmer weniger einlösbar sein dürfte.Ab 1964 setzte in der BundesrepublikDeutschland ein drastischer Geburten-rückgang von 1,1 Millionen auf 0,6Millionen ein. Der „Pillenknick“ hal-bierte die Zahl der Geburten in einemZeitraum von nur zehn Jahren. 1964lag die durchschnittliche Kinderzahlpro Frau in Deutschland noch bei 2,54.Bis 1975 sank diese Zahl auf durch-schnittlich 1,4 Kinder. Seither hat siesich auf diesem sehr niedrigen Niveaustabilisiert. Mit nur 1,4 Kindern je Fraubleibt aber der Nachwuchs ein ganzesDrittel unterhalb der Stärke der Eltern-generation.

Über 30 Jahre hinweg hat es nur nochgeburtenschwache Jahrgänge gegeben.Seit 1972 ist in Deutschland die Zahlder Geburten niedriger als die der Ster-befälle. Die geburtenschwachen Jahr-gänge kommen nun in das Alter, indem sie die Elternrolle übernehmensollten. Nichts deutet darauf hin, dasssie mehr Kinder haben werden. Damitmüssen wir bei gleicher Geburtenhäu-figkeit mit noch schwächeren Jahrgän-gen an Neugeborenen rechnen.

Da die Zahl potenzieller Eltern durchden Geburtenrückgang in den vergan-genen zweieinhalb Jahrzehnten kon-tinuierlich zurückgegangen ist, ist nun der Rückgang der Bevölkerung inDeutschland auch bei einer konstantenund sogar bei einer zunehmendenGeburtenrate von zwei Lebendgebore-nen pro Frau unvermeidlich.

Mit dieser Entwicklung steht Deutsch-land nicht allein, sie ist ein Phänomenaller hoch entwickelten Staaten: Jehöher der Entwicklungsstand einesLandes ist, desto niedriger liegt dieKinderzahl pro Frau.

Der führende deutsche Bevölkerungs-wissenschaftler Prof. Herwig Birg vonder Universität Bielefeld erklärt dies in

Demografische Herausforderung– Irrwege und Auswege

Günther Beckstein

Politische Studien, Sonderheft 2/2002, 53. Jahrgang, Juli 2002

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einem Gutachten für die BayerischeStaatsregierung vom Dezember 2001 so: „Die kollektive, immer lückenlosereAbsicherung der individuellen Lebens-risiken eröffnet den Menschen einerelativ freie Wahl ihres persönlichenLebensentwurfs aus einer wachsendenVielfalt von biografischen Optionen.Die Lebensentscheidungen zu Gunstenvon Biografien mit Kindern geratendabei vor allem in jenen Industrielän-dern ins Hintertreffen, in denen die aufGrund der hohen Einkommen beson-ders attraktiven ökonomischen Zieleüber die konkurrierenden Leitbilder derLebensplanung dominieren.“

Wir erleben es alle in unserem sozialenUmfeld: In einer Gesellschaft, in derdas Individuum im Mittelpunkt steht,wird der Kinderwunsch mehr undmehr Teil einer persönlichen Wohl-standsstrategie. Obwohl die Mehrzahlder Paare sich nach wie vor Kinderwünscht, ziehen dann doch viele dieberufliche Karriere oder die Erfüllungmaterieller Wünsche vor. Dabei spaltetsich unsere Gesellschaft von Jahrgangzu Jahrgang in zwei divergierende Teile– in einen Teil, der zeitlebens kinderlosbleibt und in Familien mit Kindern, aufdie im Durchschnitt zwei Kinder proFrau entfallen. Um das Ziel einer be-standserhaltenden Geburtenrate vonzwei Kindern pro Frau zu erreichen,müsste sich die Familienpolitik deshalbvor allem auf den Abbau lebenslangerKinderlosigkeit konzentrieren.

Die Folgen dieser Entwicklung sindbereits bemerkbar: Der Geburtenrück-gang und die immer weiter gestiege-ne Lebenserwartung haben dazu ge-führt, dass die Bevölkerungspyramidein Deutschland von der Basis her ge-schrumpft ist. Das Durchschnittsalter

ist in Westdeutschland von 1960 bis1999 von 36 auf 41 Jahre angestiegen,der Anteil der höheren Altergruppen ist immer größer geworden. Bis 2050wird das Durchschnittsalter auf 48Jahre steigen.

Legt man einen durchschnittlichenjährlichen Wanderungsgewinn von200.000 Personen, ein konstantes Ge-burtenniveau von 1,4 und eine um 4 Jahre zunehmende Lebenserwartungzu Grunde, würde die Bevölkerung inDeutschland bis zum Jahr 2050 umrund 12 Millionen auf 70 Millionen ab-nehmen. Der Anteil der Kinder undJugendlichen bis unter 20 Jahre, der1999 bei 21,4% lag, würde dann aufrund 16% absinken. Dies entsprächeeinem Rückgang um 43%.

Die Zahl der 20- bis unter 65-Jährigen,also der Personen im erwerbsfähigenAlter, wird deutlich abnehmen, bis2050 um rund 25%. Dann wird sichder Anteil dieser Altersgruppe von rund63% auf rund 55% verringert haben.Dagegen steigt die Zahl der älteren Per-sonen bis zum Jahr 2040 um fast 67%an, um im folgenden Jahrzehnt wiederleicht zurückzugehen. Der Anteil dieserAltersgruppe erhöht sich von 16% imJahr 1999 auf fast 30% im Jahr 2050.Zu diesem Zeitpunkt wird dann nahezujeder dritte Einwohner Deutschlands65 Jahre und älter sein. Auf 120 Per-sonen unter 65 Jahren kommen danngut 57 Personen mit 65 Jahren undmehr.

Nach diesen Berechnungen wirdDeutschland bis zum Jahr 2040 zu den ältesten Gesellschaften der Weltzählen, weil zum einen die Jugend-jahrgänge immer schwächer werden,andererseits unser im internationalen

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Vergleich außerordentlich leistungs-fähiges Gesundheitssystem die Lebens-erwartung immer weiter steigert.

2. Folgen

Unsere Kinder werden die Folgen derBevölkerungsentwicklung zu spürenbekommen:

● Unmittelbar wirkt sich die Bevöl-kerungsentwicklung auf die Syste-me der sozialen Sicherung aus, vorallem auf die Sozialversicherung. Dahier laufende Beitragseinnahmendirekt zur Finanzierung der Leistun-gen verwendet werden, hängt dasNiveau der sozialen Sicherung we-sentlich vom Verhältnis der Bei-tragszahler und Leistungsempfängerab.

● Der Anteil der zugewanderten Be-völkerung wird unabhängig vonweiterer Zuwanderung stark an-steigen, da die Geburtenrate derZugewanderten höher und dieSterblichkeit infolge der Selektions-wirkung der Wanderung niedrigerals bei der deutschen Bevölkerungist („healthy worker effect“). DieBerechnungen ergeben folgendesBild:

● Anteil der Zugewanderten nimmtvon 1998 bis 2030 von 9,0% auf19,6% und bis 2050 auf 27,9% zu.Ab 2020/2025 ist die Zahl der Zuge-wanderten größer als die Zahl derDeutschen in den neuen Ländern.Im Jahr 2030 beträgt z.B. die Zahlder Zugewanderten 15,2 Millionen,die Zahl der Einwohner in den neu-en Ländern 12,4 Millionen. Hinzukommt, dass in den jüngeren Alters-klassen der Anteil der Zugewan-derten und ihrer Nachkommen

schneller als in der Gesamtbevöl-kerung steigt, wobei sich erheblicheregionale Unterschiede ergeben wer-den. In vielen Großstädten wirdschon ab 2010 der Anteil der Zuge-wanderten bei den unter 40-Jäh-rigen die 50-Prozent-Schwelle er-reichen bzw. überschreiten.

● Eine schrumpfende Bevölkerunghat Auswirkungen auf die Wachs-tumsdynamik der Wirtschaft. Be-troffen sind z.B. das Investitions-klima, die inländische Nachfrageoder die Infrastruktur (sinkenderBedarf).

Entgegen vielfach zu hörenden Be-hauptungen wird sich der Bevölke-rungsrückgang auf den Arbeitsmarkt bis 2010/2015 nicht nennenswert aus-wirken. Das Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung in Nürnberg (IAB)hat sich in der Anhörung des Bun-destags zum Zuwanderungsgesetz wiefolgt geäußert:

● „Im Grunde überrascht die inten-sive Diskussion einer gesteuerten arbeitsmarktorientierten Zuwande-rung in Zeiten noch immer hoherArbeitslosigkeit.“ Arbeitsmarktori-entierte Zuwanderung sei in dennächsten 10 bis 15 Jahren eine vonvielen Optionen zur Erschließungvon Personalreserven. „Notwendigund vorrangig ist in der nahenZukunft eine Aktivierung der hie-sigen Potenziale, denn es gibt nocherhebliche Personalreserven aufdem hiesigen Arbeitsmarkt (Arbeits-lose, stille Reserve, andere Nichter-werbstätige).“

● Zuwanderung darf nicht Versäum-nisse in der Bildungspolitik odereine mangelnde Funktionsfähigkeitdes Arbeitsmarktes ausgleichen.

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● Problematisch ist die Beteiligungder hier lebenden Ausländer am Er-werbsleben (Arbeitslosenquote dop-pelt so hoch im Vergleich zur Ge-samtquote; nur noch weniger alsdie Hälfte aller türkischen Mitbür-ger im erwerbsfähigen Alter sind derzeit abhängig oder selbstständigerwerbstätig; Bildungsbeteiligungder ausländischen Jugendlichengeht zurück).

In diesem Zusammenhang muss auchdie EU-Osterweiterung berücksichtigtwerden, die für den Arbeitsmarkt einerhebliches zusätzliches Migrations-potenzial bringen wird. Schätzun-gen gehen von jährlich ca. 300.000 bis 400.000 Menschen allein nachDeutschland aus.

3. Politische Optionen

Der Bevölkerungsrückgang stelltDeutschland vor eine politischeGrundsatzentscheidung von histori-scher Dimension:

● Eine Option verfolgt das Ziel einerkompensatorischen Zuwanderungs-politik. Das wachsende Geburten-defizit soll durch immer höhereZuwanderungen ausgeglichen wer-den. Bei dieser Strategie nimmt derAnteil der Zugewanderten an derBevölkerung stark zu. Die damit ver-bundenen Änderungen der Sozial-und Gesellschaftsstruktur werden inKauf genommen oder als positiv be-wertet und angestrebt.

● Die entgegengesetzte Option hältan dem Ziel fest, zu einer demo-grafisch nachhaltigen gesellschaft-lichen Entwicklung zurückzukeh-ren: Die Geburtenrate soll durch ei-

ne wirksame Familienpolitik schritt-weise an das Niveau von zwei Kin-dern pro Frau angenähert, die Zu-wanderungen aus dem Auslandsollen begrenzt werden. Bei dieserKonzeption ist die Integration derbereits Zugewanderten vorrangigesZiel der Zuwanderungspolitik, umdie Stabilität der Sozial- und Gesell-schaftsstruktur und der kulturellenGrundlagen der Gesellschaft zu be-wahren.

3.1 KompensatorischeZuwanderungspolitik

Den Weg der Kompensation des de-mografisch bedingten Bevölkerungs-rückgangs durch Zuwanderung gehtdas Konzept der Süssmuth-Kommis-sion und – ihm folgend – das Zuwan-derungsgesetz der rot-grünen Koalition.Die einheimische Bevölkerung solldurch massive Ausweitung der Zuwan-derung auf dem Gebiet der Arbeits-migration, des Familiennachzugs, derhumanitären Zuwanderung und derZuwanderung im „Auswahlverfahren“(Zuwanderung nach Punktesystemohne arbeitsmarktpolitischen Bedarf)„ergänzt“ werden (so die unmiss-verständliche Zielsetzung in der Vor-fassung des Berichts der Süssmuth-Kommission).

Vorhandene und sich möglicherweiseverschärfende Integrationsproblemespielen daneben keine Rolle und sollendurch Aufklärung über den Wert vonZuwanderung und Bildung einer neuenMigrationsgesellschaft gelöst werden.Der Bericht der Süssmuth-Kommis-sion spricht von einer Gesellschaft, inder Aufnahme- wie Zuwanderungs-gesellschaft „nicht wegzudenkender

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Bestandteil eines Ganzen“ sind. Fol-gerichtig enthält das neue Integra-tionskonzept der LandeshauptstadtMünchen die Formulierung, es sollten„nicht mehr angebliche Defizite derausländischen Mitbürger behoben, son-dern die Vorteile der multikulturellenStruktur betont werden“1.

Eine derartige Strategie kann nicht nurin der Sache keinen Erfolg haben, siewürde unseren Staat und unsereGesellschaft völlig verändern. Wie un-realistisch dieser Weg ist, zeigen dieModellrechnungen der UNO zur Be-standserhaltungsmigration (die entge-gen dem Eindruck in der Öffentlichkeitkeine Politikempfehlungen darstellen,sondern nur die Problematik verdeut-lichen sollen): Deutschland müsste bis2050 netto zusätzlich 188 MillionenZuwanderer aufnehmen, wenn der un-vermeidliche Anstieg des zahlenmäßi-gen Verhältnisses zwischen den über65-Jährigen und den 15- bis 64-Jährigendurch die Zuwanderung Jüngerer ver-hindert werden sollte. Die Bevölke-rungszahl würde dann von 82 Millio-nen auf 299 Millionen um das Drei- bis Vierfache wachsen. Prof. Birg be-tont, dass sich die alterungsbedingtenProbleme des Rentensystems mit einerauf erhebliche Ausweitung der Zuwan-derung abzielenden Politik nicht lösen,vielleicht nicht einmal mildern lassen,denn die Zugewanderten müssten einegute Berufsausbildung mitbringen –eine Voraussetzung, die – wie die Er-fahrung der vergangenen Jahrzehntezeigt – meistens nicht erfüllt ist.

Da auch Zuwanderer altern, stellt Prof.Birg fest: „Die Bevölkerungsschrump-fung auch in Zukunft durch Einwan-derungen aufhalten zu wollen, würdebedeuten, dass immer neue und immer

größere Einwanderungsströme zu in-tegrieren wären – eine irrwitzige Vor-stellung. Es ist wie bei einem Schnee-ballsystem: Die Kredite können nurdurch die Aufnahme immer neuerKredite bedient werden. Weil das aufDauer nicht funktioniert, gibt es keinenDemografen, der eine Einwanderungs-politik zur Kompensation des Gebur-tendefizits empfiehlt.“2

Die Folgen weiterer Zuwanderung wer-den besonders in den Städten deutlich:Auch ohne Erhöhung der Zuwande-rung wird sich der Ausländeranteil inDeutschland auf Grund des ohnehinstattfindenden Zuzugs (Familiennach-zug, Asylbewerber, humanitäre Auf-nahmen) und auf Grund des Rück-gangs der einheimischen Bevölke-rung bis 2050 erheblich erhöhen. Prof.Rainer Münz von der Humboldt-Uni-versität Berlin hat hierzu folgende Un-tersuchungen angestellt:

● Geht man von der bisherigendurchschnittlichen jährlichen Net-tozuwanderung von 200.000 Per-sonen aus, würde der Ausländer-anteil in Deutschland 2050 17%betragen. Da Ausländer sich vorallem in den westdeutschen Groß-städten konzentrieren, dürfte dannder Ausländeranteil z.B. in Mün-chen, Frankfurt am Main und Stutt-gart auf über 45% steigen, in Ham-burg und Berlin wäre dann jedervierte Einwohner ein Ausländer.

● Bei einer jährlichen Nettozuwan-derung von mehr als 200.000 bis300.000 Personen (zu erwarten mitdem neuen Zuwanderungsgesetz)ergäbe sich 2050 ein bundesweiterAusländeranteil von 18% bis 20%.Damit würde der Ausländeranteil ineiner Reihe von Städten auf über

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50% steigen. Zu erwarten ist dies z.B. für Frankfurt am Main, Ham-burg und München.

Die Chancen für eine erfolgreiche In-tegration stehen aber gerade in großenStädten in der Regel keineswegs gut,denn wenn der Anteil der zugewan-derten Bevölkerung bestimmte Schwel-lenwerte überschreitet, verschlechternsich die demografischen Bedingungender Integration mit jeder weiteren Zu-wanderung. Ab einem bestimmtenPunkt schlägt der Integrationsprozessdann in eine sich selbst verstärkendeDesintegration um. Wie groß dieseGefahr ist, zeigen die bereits jetzt inwestdeutschen Großstädten spürbarenTendenzen zur Entwicklung von Paral-lelgesellschaften bei Zuwanderern ausfremden Kulturkreisen.

Die Auswirkungen einer derartigen Ent-wicklung auf den sozialen Frieden sindnicht mehr kalkulierbar, wie die Er-fahrungen in den französischen Vor-städten oder in den britischen Indus-triezentren zeigen, ganz abgesehendavon, dass eine Ausweitung der Zu-wanderung bei der überwiegendenMehrheit der Bürger – wie alle Um-fragen der letzten Zeit zeigen – keineAkzeptanz findet. Dies ergibt sich auchaus der vor kurzem veröffentlichtenGenerationenstudie 2001 der Hanns-Seidel-Stiftung im Auftrag der I. und W.Tausend-Stiftung. Danach sprechensich 64% der Befragten für eine Ver-ringerung der Zuwandererzahlen aus,24% meinen, dass die Zahl der Zuwan-derer so bleiben soll wie bisher, undnur 8% plädieren für eine Erhöhung.

Es sollte uns zu denken geben, dasskein Staat in Europa die Strategie einerkompensatorischen Zuwanderung nach

dem Muster der Süssmuth-Kommissionund des Zuwanderungsgesetzes ver-folgt, obwohl andere Staaten wie Ita-lien oder Spanien eine noch un-günstigere Geburtenrate aufweisen.

3.2 Nachhaltige gesellschaftlicheEntwicklung

Die mit dem Bevölkerungsrückgangverbundenen Probleme können nurmit einer Politik gelöst werden, die aufdie Bürger Rücksicht nimmt und diekulturellen Grundlagen von Staat undGesellschaft erhält. Dafür sind folgendeGesichtspunkte von Bedeutung:

● Auf Grund des hohen Bevölke-rungswachstums in den geografischbenachbarten Regionen Europas ist in Zukunft mit einem nochstärkeren Zuwanderungsdruck nachDeutschland zu rechnen. Das Qua-lifikationsgefälle zwischen Zuwan-derern und einheimischer Bevöl-kerung wird sich noch vergrößern.Angesichts der bereits bei uns vor-handenen Integrationsprobleme isteine wirksame Begrenzung der be-reits stattfindenden Zuwanderungerforderlich, keineswegs aber eineAusweitung.

● Eine nachhaltige Bevölkerungspoli-tik muss sich darum bemühen, dieProbleme aus eigener Kraft zu lösen.Dazu gehören in erster Linie eineErhöhung der Geburtenrate, die –wie das Beispiel Frankreichs zeigt –durchaus möglich ist, sowie Maß-nahmen zur Ausschöpfung des Ar-beitskräftepotenzials.

● Weitere Zuwanderung birgt gesell-schaftspolitisch und kulturell er-hebliche Risiken, vor allem dann,wenn die Integrationsfähigkeit ver-

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loren geht, weil die Mehrheits-bevölkerung in bestimmten Regio-nen und Altersgruppen in die Min-derheit gerät. Diese Risiken sindwesentlich höher und für Staat undGesellschaft von größerer Tragweiteals die mit der Schrumpfung derBevölkerung verbundenen Konse-quenzen.

Die von der rot-grünen Koalition, aberauch in Kreisen der Wirtschaft auf-gestellte Behauptung, Zuwanderung inerheblichem Umfang sei zur Sicherungunseres Wohlstandes notwendig, istnicht verifizierbar. Zum einen lässt siedie gesellschaftspolitischen und kul-turellen Folgen von Zuwanderung ausfremden Kulturkreisen außer Acht, mitder wir auf Grund der globalen de-mografischen Entwicklung in ersterLinie zu rechnen haben, zum anderenberücksichtigt sie nicht die Auswirkun-gen von Zuwanderung auf unsereWirtschafts- und Arbeitskultur.

Der Wirtschafts- und Sozialwissen-schaftler Prof. Meinhard Miegel, dersich mit dieser Frage besonders aus-einander gesetzt hat, sagt hierzu: „DieWirkungen, die von einer zahlenmäßigschrumpfenden, alternden und zuneh-mend von Zuwanderern durchsetztenBevölkerung auf den wirtschaftlichenWachstumstrend ausgehen, sind nichtgeklärt. Empirische Erfahrungen ... gibtes nicht. Als gesichert kann nur an-genommen werden, dass es kritischeUntergrenzen der Bevölkerungsdichteund -homogenität gibt, unterhalb de-rer wirtschaftliches Wachstum zumStillstand kommt... . Deutschlands in-ternationale Wettbewerbsfähigkeit be-ruht im Wesentlichen auf der hohenQualität seiner Güter und Dienste.Diese wiederum ist die Frucht einer

bestimmten Wirtschafts- und Arbeits-kultur, die sich in langen Zeiträu-men entwickelt hat. Unklar sind dieWirkungen, die von Zuwanderern aus-gehen. Möglicherweise übernehmendiese die wirtschafts- und arbeitskul-turellen Einstellungen, die im Laufevieler Generationen in Deutschlandentstanden sind. Möglicherweise hal-ten sie aber auch an den Einstellungenfest, die sich in ihren eigenen Kul-turkreisen entwickelt haben. Letzteresist umso wahrscheinlicher, je größerund geschlossener die Gruppen vonZuwanderern sind.“3

Die Erfahrungen haben gezeigt, dass es vor allem nicht oder wenig Quali-fizierte sind, die als Zuwanderer zu unskommen. Bilanziert man die fiskali-schen Auswirkungen der Zuwanderungnach Deutschland, ist nach den Unter-suchungen des ifo-Instituts eine deut-liche Umverteilung von den Einhei-mischen zu den Zugewanderten fest-zustellen. Dies bedeutet: Von Zuwan-derung profitiert in erster Linie derMigrant, nicht der Staat.

Es ist eine Illusion zu glauben, wirkönnten durch die generelle Öffnungdes Arbeitsmarkts, die das Zuwande-rungsgesetz vorsieht (Aufhebung desAnwerbestopps), diese Tendenz verän-dern und in großem Umfang auf demWeltmarkt hoch qualifizierte Zuwan-derer gewinnen. Zuwanderung folgtden Gesetzen der Migrationsgeografie.Dies bedeutet zum einen, dass sie vorallem aus weniger entwickelten Regio-nen stattfindet, in denen die Lebens-bedingungen für die Menschen soungünstig sind, dass sie sich durch Mi-gration eine Verbesserung erhoffen.Zum anderen streben Zuwanderer indie Länder, in denen sie bereits homo-

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gene Gruppen von Landsleuten als An-laufpunkte vorfinden.

Es wäre auch ein Trugschluss zu glau-ben, dass es gerade in den Regionen,aus denen potenzielle Zuwandererkommen, einen Überschuss an Quali-fizierten gäbe, der uns die Aufgabe ab-nehmen könnte, selbst für die Quali-fizierung von Fachkräften aus demPotenzial der einheimischen Arbeits-kräfte zu sorgen.

Es muss im Übrigen erstaunen, dassgerade in der Wirtschaft das Allheil-mittel in Zuwanderung gesehen wird,obwohl Unternehmer wissen müssten,welche Anpassungsmechanismen zurKompensation des Bevölkerungsrück-gangs zur Verfügung stehen.

Interessant ist in diesem Zusammen-hang ein Blick auf Japan, das hinsicht-lich der demografischen Entwicklungund seiner Arbeitskultur wohl amehesten mit Deutschland vergleichbarist. Japan setzt seit Jahrzehnten aufhöhere Kapitalintensität, Rationali-sierung und Automatisierung als Alter-native zur Anwerbung ausländischerArbeitnehmer. Dies war schon in den50er und 60er-Jahren so, als Deutsch-land noch Gastarbeiter angeworbenhat. Auch heute scheint es in Japaneinen breiten Konsens darüber zugeben, die ökonomischen Folgen einerschrumpfenden und alternden Erwerbs-bevölkerung primär über noch höherenKapitaleinsatz, d.h. beschleunigte Pro-duktivitätsfortschritte, zu bewältigen.

Bei aller Notwendigkeit, auf die Her-ausforderungen der demografischenEntwicklung zu reagieren, gibt es kei-nen Anlass zur Panik. Bis 2020 wird dasArbeitskräftepotenzial nur mäßig um

rund 8% abnehmen, sodass genügendzeitlicher Spielraum besteht, um einevon Zuwanderungen unabhängige, de-mografisch orientierte Familienpolitikzur Anhebung der Geburtenrate vor-zubereiten und umzusetzen. Prof. Birgist in seinem Gutachten zu dem Ergeb-nis gekommen, dass das Ziel, langfristigzu einer demografisch nachhaltigenBevölkerungsentwicklung zurückzukeh-ren, auch für Deutschland keineswegsunerreichbar ist.

Durch die Kombination familien- undarbeitsmarktpolitischer Maßnahmenlassen sich die demografisch bedingtenEngpässe auf dem Arbeitsmarkt in dennächsten ein bis zwei Jahrzehntenohne nennenswerte Zuwanderungenkompensieren.

Gelänge es, die Geburtenrate schritt-weise wenigstens auf z.B. 1,6 Kinder proFrau zu erhöhen, würde dies ausrei-chen, um den demografisch bedingtenRückgang des Arbeitskräftepotenzialszu dämpfen bzw. durch arbeitsmarkt-politische Maßnahmen weitgehendaufzufangen. Vor allem müssen diefamilienpolitischen Rahmenbedingun-gen verbessert werden, z.B. um Familieund Beruf besser in Einklang zu brin-gen und die Betreuungsangebote fürKinder zu erweitern. Mit derartigenMaßnahmen ist es Frankreich gelun-gen, nach einer langen Phase desGeburtenrückgangs, die Geburtenrateinzwischen auf 1,9 Kinder pro Frauanzuheben.

Daneben steht uns eine Fülle von ar-beitsmarktpolitischen Maßnahmen zurVerfügung:

● Abbau der Arbeitslosigkeit, auch derhier bereits lebenden Ausländer,

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● Mobilisierung der stillen Reserve, al-so der Menschen, die gerne arbeitenwürden, sich aber vom Arbeitsmarktzurückgezogen haben,

● Verlängerung der Lebensarbeitszeitdurch die Verkürzung der Ausbil-dungszeiten und die Anhebung desRuhestandsalters; dabei geht es inerster Linie um den Abbau der Früh-verrentungen (Deutschland nimmthier in Europa eine Spitzenstellungein),

● Höherqualifizierung, um den Fach-kräftebedarf aus dem erheblichenPotenzial einheimischer Arbeitskräf-te zu decken,

● Verringerung der Auswanderungenvon deutschen Erwerbspersonenmit guter Ausbildung,

● Verringerung der regionalen Ar-beitsmarktungleichgewichte durchdie Intensivierung der Arbeitsver-mittlung zwischen den Regionenund den Ländern in Deutschland.

4. Schlussfolgerungen

Der unvermeidliche Rückgang unse-rer Bevölkerung stellt uns vor großeHerausforderungen – das ist nicht zuleugnen. Das Interesse am Erhalt un-serer Kultur sollte uns aber auch gebie-ten, die Lösungen zu wählen, die denZusammenhalt unserer Gesellschaftund die Stabilität unseres Staates nichtgefährden. Niemand wird bezweifeln,dass Deutschland im globalen Wettbe-werb zur Sicherung seiner Stellung inWirtschaft und Wissenschaft offen sein

muss für hoch qualifizierte ausländi-sche Fachkräfte, Unternehmer undWissenschaftler.

Es wäre aber ein Irrweg und eine fal-sche Weichenstellung von historischerTragweite, den Rückgang der Bevöl-kerung durch Zuwanderer aus fremdenKulturkreisen ausgleichen zu wollen.Die Politik darf nicht vergessen, dass sieVerantwortung für die Bürger trägt, diein Deutschland zu Hause sind und die Identität ihrer Heimat bewahrenwollen.

Wir dürfen deshalb die Integrations-fähigkeit und -bereitschaft unsererGesellschaft nicht überfordern. Und wirmüssen die Familie ins Zentrum derPolitik stellen. Georg Paul Hefty hatdazu in der Frankfurter AllgemeinenZeitung treffend geschrieben: „EineGesellschaft mit 80 Millionen Mit-gliedern, die in eine mehr als 300 Mil-lionen Einwohner umfassende Gemein-schaft integriert ist und die zur Er-haltung ihrer sozialen wie ökono-mischen Funktionsfähigkeit dennoch auf Zuwanderung von Millionen vonMenschen aus anderen Weltgegendenangewiesen sein soll, leidet an einemschweren Systemfehler. Es ist die vor-nehmste Aufgabe des Staates, sicher-zustellen, dass es Familien auch in 100Jahren gibt. Verlangt ist die Familie alsregeneratives Element des Staatsvol-kes, von dem das Grundgesetz in der Präambel und in Artikel 2 spricht.“4

Genau dies ist es, was die Bürger vonder Politik erwarten.

Anmerkungen1 SZ vom 22. März 2002.2 Birg, Herwig: 188 Millionen Einwanderer

zum Ausgleich?, FAZ vom 12. April 2000.3 Miegel, Meinhard/Wahl, Stefanie: Das

Ende des Individualismus – Die Kultur desWestens zerstört sich selbst, München, 4. Auflage 1998.

4 FAZ vom 5. April 2001.

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1. Einleitung

Politische Vorhaben und Entschei-dungen, die für Staat und Gesellschaftfolgenreich sind, zeigen immer deut-licher einen Zusammenhang mit derBevölkerungsstruktur. Sie steht, inne-ren Gesetzmäßigkeiten folgend, in der gesamten modernen Welt unterzwei Tendenzen: einer Bevölkerungs-abnahme, die auf einem Abfall der Zahl der Geborenen unter die Zahl derSterbefälle zurückzuführen ist. Das be-deutet einmal weniger Menschen, aber langfristig auch eine Schmäle-rung der Elternbasis der nachfolgen-den Generation. Bei nur oberfläch-licher Betrachtung der jährlichen Be-völkerungsbilanz, in der Geburtende-fizite noch mit Zuwanderung aus-geglichen werden, kommt der Vorgangeines sich beschleunigenden Genera-tionenschwundes nicht zum Vorschein.Es ist Aufgabe der Demografie, so frühals möglich darauf aufmerksam zumachen.

Die zweite überragende Tendenz wirdmit Alterung der Bevölkerung oderakademisch exakter mit „demografi-

scher Alterung“ bezeichnet. Das Nach-wachsen von geburtenschwachen Jahr-gängen und die steigende Lebenser-wartung in den höheren Altersstufenbewirkt vorerst eine allmähliche Ge-wichtsverlagerung zu den Jahrgängenhin, die in der zweiten Lebenshälftestehen. Das fiktive Durchschnittsaltereiner Bevölkerung klettert nach oben.Es liegt an jener Altersstufe, wo sich diedarunter liegenden jüngeren Jahrgängeund die darüber liegenden älteren inzwei gleich große Teile teilen, bzw. sichzahlenmäßig die Waage halten. Dem-nach „altern“ angesichts sinkender Sterberaten alle Bevölkerungen auf der Erde. Doch in Deutschland liegt das Durchschnittsalter bei 40 Jahren,in Entwicklungsländern zwischen 20und 25.

Die eigentliche Bevölkerungsfragetaucht auf, wenn Staats- und Ge-sellschaftsziele immer enger mit dendemografischen Strömungen verknüpftsind und diese in gewisser Weise ei-genen Gesetzen unterliegen. Gewissformen sich Bevölkerungen in Wech-selwirkung mit den übrigen sozialenStrukturen und Gegebenheiten: Die

Bevölkerungsrückgang unddemografische Alterung

Ein Problemaufriss mitFolgenabschätzung

Josef Schmid

Politische Studien, Sonderheft 2/2002, 53. Jahrgang, Juli 2002

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Industrialisierung hat die bäuerlicheHausgemeinschaft beseitigt, hat dieBindungen der Menschen verringert,um sie für die neuen Produktionsver-hältnisse verfügbar zu halten. Daswiederum ermöglichte den dynami-schen modernen Arbeitsmärkten, aufeinen individualisierten flexiblen Men-schentypus zurückzugreifen. Inzwi-schen fragt man sich, welchen Preisdiese Anpassungen haben: Ob die stei-gende Kinderlosigkeit von Frauen imErwerbsprozess und die ständig hin-ausgeschobene Partnerbindung undFamiliengründung, die sich aus derAusbildungs- und Arbeitssituation her-leitet, nicht auch eine sozio-ökonomi-sche Abwärtsspirale einleiten?! – Ob die Übel, die geheilt werden sollen, wieder Not leidende Generationenver-trag und die mangelnde Bildung undKreativität, um im Innovationswettbe-werb zu bestehen, sich nicht in ver-hängnisvoller Weise verschlimmern?Die Weltgeschichte kennt wohl denVerfall und Untergang von Reichenund Kulturen, kennt jedoch keinen Fall wie die westliche, moderne oder„postindustrielle Gesellschaft“, die ihrWohlstandmaximum mit Aufzeh-rung ihrer Humansubstanz bezahlt. Der Paradigmenwechsel, der nun im öf-fentlichen Bewusstsein Platz greifenmuss, beginnt am besten damit, dassfolgende Fragen in den Mittelpunkt derÜberlegungen und „Diskurse“ gestelltwerden:

● Reicht der jährliche Nachwuchs aus,um daraus genügend viele Quali-fikationen heranzuziehen, welcheeine Hochtechnologie- und Dienst-leistungsgesellschaft zu ihrer Fort-existenz braucht?

● Sind genug Menschen im erwerbs-fähigen aktiven Alter auch in bei-

tragspflichtiger Erwerbsarbeit, umdie Steuern und Abgaben aufzu-bringen, welche die sozialen Siche-rungstöpfe füllen und funktions-fähig halten?

● Befinden sich – neben der Erwerbs-arbeit – ausreichend viele jungeMenschen auch noch in der Phaseder Familiengründung, um die drit-te Säule des Generationenvertragesund der Generationsablöse, näm-lich Kinder, in benötigter Anzahl indie Welt zu setzen?

● Zeigen sich in der Altersstrukturnicht längst stetige Verschiebungenvon Jung zu Alt, sodass das Bis-marck’sche Sozialsystem, wonachviele Jüngere für deutlich wenigerÄltere sorgen, und viele Gesunde für wenige Kranke, Not leidendwird?

● Wenn in den letzten dreißig Jahrennur noch „geburtenschwache“ Jahr-gänge gezählt werden und auf Ge-burtenwellen wie um 1900, nachder Weltwirtschaftskrise und dannwieder nach Ende des Zweiten Welt-kriegs nicht mehr zu hoffen ist,stellt sich dann nicht ein Men-schenmangel während der kom-menden Jahrzehnte ein? Soll einsolcher mit mehr Geburten odereinem jährlichen Kontingent Ein-wanderer behoben werden? Gibt es Erfahrungen auf diesem Gebiet,welche Grundlage für vernünftigeLösungen und regelnde Gesetzes-werke sein könnten?

Solche Fragen haben schon Mitte der70er-Jahre den Kreis interessierter Parlamentarier, Sozialpolitiker und Wissenschaftler beschäftigt. Die An-werbung von Gastarbeitern und diegleichzeitige Registrierung von Ge-burtenrückgängen haben bald deut-

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lich gemacht, dass Arbeitsmarkt undSoziale Sicherung, die Existenzgrund-lagen der Bürger also, von Bevölke-rungsbewegungen beeinflusst und ab-hängig werden. Sie gehen schleichend,aber stetig vor sich. So wie man sie von der Tagesordnung absetzt, so baldmelden sie sich zurück. Es brauchteinen langen Atem, um Bevölkerungs-bewegungen zu beeinflussen. Das lässtZweifel aufkommen, ob eine solcheAusdauer dann auch zum strukturpoli-tischen Erfolg führt. Denn in Zeitenumstürzender Dynamik scheint esklüger, sich von Flickwerk zu Flickwerkvoranzutasten, um im Vier-Jahrestaktunserer Politik wenigstens mit einemTeilerfolg aufwarten zu können. DieseEinstellung und Praxis haben in denAugen der Öffentlichkeit die Existenzeines Bevölkerungsproblems langeverschleiert. Erst in den 90er-Jahren hates sich im allgemeinen Bewusstseinderartig festgesetzt, dass von einem„Durchbruch“ gesprochen werdenkann. Die Bevölkerungsfrage ist inDeutschland nicht länger als Sum-me von Einzelproblemen mit unter-schiedlicher Ressort-Zuständigkeit zusehen.

Das heißt Folgendes:

● Der Bereich des Sozialen steht end-gültig unter dem Einfluss der Alters-struktur. Die Debatten um die Sta-bilität eines Alterssicherungssystemsdrehen sich nicht mehr oberfläch-lich um Finanztransfers, sondernum die Folgen der demografischenGewichtsverlagerung von Jung zuAlt.

● Die Abschätzung des Arbeitskräf-tepotenzials begnügt sich nichtmehr mit der Statistik der Aus-bildungs- und Studiengänge. Der

Blick richtet sich wie nie zuvor aufgeburtenschwache Jahrgänge alsdem künftigen Angebot auf demArbeitsmarkt, auf den Nachwuchsin den Familien und die Folgen ei-ner Alterung für Produktion, Kon-sum und Technologie.

● Einwanderung bzw. das Zuwan-derungsgeschehen charakterisiertdie moderne Staatenwelt und mussgesteuert werden. Sie zwingt zurKlarstellung gesellschaftlicher Ziele,mit denen sie in Einklang zu brin-gen ist, und rührt unweigerlich das nationale Selbstverständnis auf.Zuwanderung ist von gewissen Inte-grationsforderungen an die Zuzüg-ler nicht zu trennen. Sie müssen ineinem, wie auch immer geartetenAusländer- oder Zuwanderungsge-setz festgelegt werden.

Mit dem Durchbruch der demografi-schen Sicht auf zentrale Zukunftsauf-gaben ist auch der Blick auf den in-neren Zusammenhang einzelner Be-völkerungsvorgänge mit der indus-triellen Entwicklung freigeworden: einniedriges Geburtenniveau und einesteigende Lebenserwartung sind dieKennzeichen hoch technisierter undwohlfahrtsstaatlicher Systeme.

Bevölkerung und Gesellschaft ste-hen auch hier unter wechselseitigemAnpassungsdruck: wachsende Alten-jahrgänge erhöhen die Soziallasten der Aktiven und Heranwachsenden, arbeitsmarktgerechte Zuwanderer sindin gewünschter Zahl zu beschaffen undzu integrieren, wenn – vorerst bran-chenspezifisch – die Menschen im erwerbsfähigen Alter zurückgehen und wirtschaftliche Produktivitäts-standards eingehalten werden müs-sen.

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2. Bevölkerungsbilanz undGeburtenentwicklung

Seit der Vereinigung Deutschlandshaben die Zahlen für die deutsche undausländische Wohnbevölkerung ver-einzelte Ausschläge nach oben undunten vollführt, die „deutsche Bevöl-kerungsfrage“ aber in ihrem Kern nichtwesentlich verändert. Sie sind wie folgtzu charakterisieren:

● Deutliche Geburtenrückgänge abMitte der 60er-Jahre bis Anfang der70er-Jahre haben die Zahl der Ge-borenen unter die der Sterbefälle ge-drückt. Die ehemalige DDR such-te ab 1974 einem ähnlichen Trendfamilienpolitisch entgegenzuwir-ken, mit beachtlichem Anfangs-erfolg, der allerdings vor der Wendeverebbte. Das deutsche Geburten-niveau liegt trotzdem seit 1971 un-terhalb dessen, was zum Ersatz derElterngeneration nötig wäre.

● Steigende Zuwanderung, die als „Ar-beitsmigration“ begonnen hatte,hat zudem verschiedene Formenangenommen. Im Osten blieb sie esin geringerem Ausmaß, im Westenfächerte sie sich auf in Aufnahmevon deutschstämmigen Aussied-lern, Arbeitsmigration mit meist an-schließender Familienzusammen-führung, Asyl mit häufig aus-gesprochener Aufenthaltsduldungund sodann Flüchtlingsaufnahme,die – obwohl zeitlich begrenzt –einen gewissen Teil an Daueraufent-halten zur Folge hat.

● Geborenendefizite und eine darausfolgende degressive „natürliche Be-völkerungsbewegung“, das Zusam-menspiel und der Abgleich von Ge-burten und Sterbefällen, werdendurch einen stetigen Überhang der Zuzüge über die Fortzüge aufge-halten und überkompensiert.(Tabelle 1)

Jahr Geborenendefizit Zuwanderungs- Bevölkerungs-(Sterbefallüberschuss) überschuss bilanz

1989 – 22.982 + 593.962 + 570.980

1990 – 15.770 + 681.872 + 666.102

1991 – 81.226 + 602.523 + 521.297

1992 – 76.329 + 782.071 + 705.742

1993 – 98.823 + 462.096 + 363.273

1994 – 115.058 + 314.998 + 199.940

1995 – 119.367 + 397.935 + 278.568

1996 – 86.830 + 282.197 + 195.367

1997* – 48.216 + 93.664 + 45.448

1998* – 67.348 + 47.098 – 20.250

1999 – 75.586 + 222.975 + 147.389

2000 – 71.696 + 167.431 + 96.735

Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 1989 bis 2000

Salden der natürlichen Bevölkerungsbewegung und Wanderungen „Bevölkerungsbilanz“

*) Jahre starker Rückkehr von Bosnien-FlüchtlingenQuelle: Statistisches Bundesamt

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Bevölkerungsrückgang und demografische Alterung 23

2.1 Bevölkerungsbilanz alsKurzfristbetrachtung

Wir registrieren also seit 1973 ein jähr-lich auftretendes Geburtendefizit, dassich seitdem auf ungefähr 2 1/2 Millio-nen addiert hat. Das heißt, es ist seit-her eine Generation in die Welt gesetztworden, deren Zahl nicht ausreicht, umdie Elterngeneration zu ersetzen. EinBlick ins Statistische Jahrbuch Deutsch-lands zeigt uns eine Bevölkerungsbilanzmit einem ständigen Überschuss derSterbefälle über Geburten und die soentstehende negative Geburtenbilanzwird nur durch einen Überhang anZuzügen über die Fortzüge, einen sogenannten positiven Wanderungssaldo,ausgeglichen.

Das Verhältnis von Zuflüssen (Gebur-ten, Zuwanderung) zu Abgängen (To-desfälle, Fortzüge) wird jährlich errech-net. In den letzten Jahren, besondersseit Ergänzung des Asyl-Artikels 16 imGrundgesetz („Drittstaatenregelung“),hat sich diese Bevölkerungsbewegungverfestigt. Das zuletzt analysierte Jahr1999 zeigt folgendes Bild: Die deutscheWohnbevölkerung zählte am Ende des Jahres 82,26 Millionen, wovon 7,3Millionen legal anwesende Ausländerwaren. Im selben Jahr sind 846.330 Personen verstorben und 770.744Kinder wurden geboren, was als „Re-kordtief“ bezeichnet wurde. Den star-ken Geburtenrückgang in Westdeutsch-land hatte ein Minus von 2,7% ge-genüber dem Vorjahr bewirkt. Derlangsame Anstieg der ostdeutschenGeburtenzahlen aus der demografi-schen Talsohle um 3,8% gegenüber1998 konnte demgegenüber wenig aus-richten. Dieser Trend setzte sich auchim Jahre 2000 fort. 1999 wurden inWestdeutschland 664.018 Neugeborene

gezählt, in Ostdeutschland 106.726. ImJahr 2000 standen 838.667 Todesfälle766.971 Neugeborenen gegenüber, dieZahl der westdeutschen Neugeborenensank auf 655.701, diejenige der ost-deutschen stieg auf 111.270. Die aus-ländischen Mütter sind in den letztenJahren mit ca. 13 Prozent am Gebur-tenaufkommen beteiligt.

Ende der 90er-Jahre verzeichneteDeutschland einen geringen Wande-rungssaldo der ausländischen Bevöl-kerung, der auf die verstärkte Rückkehrvon Bosnien-Flüchtlingen zurückzufüh-ren ist. Die Zu- und Fortzüge schwank-ten um je 600.000 und erst 1999 zeigtesich wieder ein Überhang der Zuzüge:105.000 deutschstämmige Aussiedlerund ein Wanderungsüberschuss beiAusländern von 118.000 war so be-deutend, dass er das Geburtendefizitvon 75.600 wettmachen konnte.

Die Schwankungsbreite ist bei Wan-derungen also größer, weil innen- undaußenpolitische Verhältnisse beteiligtsind. Das Jahr 2000 erbrachte 840.771Zuzüge, 673.340 Fortzüge und einenWanderungsgewinn von 167.431.

2.2 Gesamtfruchtbarkeitsziffer als Instrument der Langfrist-betrachtung

Die absoluten Zahlen der Bevölkerungs-bilanz vermitteln ein exakt numeri-sches Bild der Bevölkerungsbewegung,zumindest für ein Jahrzehnt oder etwadie Dauer einer Generation von etwasüber 30 Jahren. Sie offenbaren nur fürSpezialisten die tieferliegenden Bewe-gungen, die über einen Zeitraum einerGeneration hinaus ihre Wirkung zei-gen. Das Messinstrument, welches an-

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zeigt, wie weit das Geburtenaufkom-men eines Zeitraums von der bloßenBestandserhaltung einer Bevölkerungabweicht, wurde in der „Gesamtfrucht-barkeit“ (der Gesamtfruchtbarkeitszif-fer) gefunden: sie gibt die Anzahl vonKindern an, die von tausend Frauenoder – auf eine Frau umgerechnet – imDurchschnitt geboren werden. Das Be-standsniveau oder der „Generatio-nenersatz“ benötigt ca. 2.230 Geboreneauf Tausend Frauen oder – in dergebräuchlicheren Darstellung – 2,2Kinder pro Frau durchschnittlich.Deutschland und einige europäischeLänder des Südens und Ostens ver-fehlen mit einer Gesamtfruchtbarkeitvon nur 1,3 den Generationenersatzum ein Drittel: das heißt, dass 100Elternteile nur 65 Kinder in die Weltsetzen und – was das eigentlichEntscheidende ist – dass der nächstenGeneration ein Drittel potenziellerMütter fehlen. Sollte die dann ver-ringerte Mütterbasis sich mit der glei-chen defizitären Kinderzahl begnü-gen, dann unterliegt die Gesamt-bevölkerung einem Schrumpfungs-prozess im Generationentakt. Er ist fürDemografen lange im Voraus berechen-bar und für Politik und Gesellschaft abdann spürbar, wenn die „geburten-schwache“ Generation ihrerseits insHeiratsalter eintritt und die niedrigeNachwuchszahl in den Familien bei-behält.

Dieser Vorgang vollzieht sich nun inDeutschland. Die kaum veränderteGesamtfruchtbarkeit zwischen 1,3 und1,4 dauert nun schon 30 Jahre an.Damals entstand die erste Generationaus geburtenschwachen Jahrgängen,deren jährliche Geburtenlücken nochZuwanderungsüberschüsse überdeckenkonnten. In den kommenden einein-

halb Jahrzehnten vollzieht sich eineDegression, die von jüngsten Voraus-berechnungen in Grafiken und Tabel-len veranschaulicht werden. In diesemJahrhundert kommen nun Mädchen-jahrgänge aus Geburtenrückgangspha-sen ins Mütteralter und werden dieschon existente Geburtenlücke derartvergrößern, dass auch mit deutlicherErhöhung der Zuwanderungsüber-schüsse der Bevölkerungsstand von 82 Millionen nicht mehr zu halten sein wird. In Anspielung auf die Ten-denz in den Entwicklungsländern, wosich mit 4 bis 6 Kindern pro Frau dieGenerationen verdoppeln und ver-dreifachen und wir von „Bevölkerungs-explosion“ sprechen, sprechen wir indiesem Fall von „Bevölkerungsimplo-sion“. Sie bedeutet das Einschwenkeneiner Bevölkerungszahl in eine Ab-wärtsspirale auf Grund dauerhaft un-zureichender biologischer Reproduk-tion. Das vollzieht sich mit einer un-ausweichlichen demografischen Gesetz-mäßigkeit. Diesen Vorgang konnteman in der ersten Phase der Kompensa-tion durch Zuwanderung noch unge-rührt zur Kenntnis nehmen, aber nichtmehr in der nun angebrochenen Im-plosionsphase, die auf schwindendeJugendjahrgänge zurückgeht.

2.3 Rückblick auf die Geburten-rückgänge während des Industrialisierungsprozesses

Der erste Geburtenrückgang ereignetesich mit der ersten Phase der Industri-alisierung und hat sich zwei Genera-tionen lang bis zur Weltwirtschaftskrise1929 hingezogen. Die bis dahin domi-nierende bäuerliche Kultur brauchtedringend überlebenden Nachwuchs,der das Überleben der Eltern sicher-

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stellte. Da auch eine hohe Kinder-sterblichkeit bedacht werden mussteund eine Präferenz für Söhne bestand,bedeutete das eine positive Bevölke-rungsbilanz mit mehr Geburten alsSterbefällen. In der modernen hoch-industriellen Gesellschaft sorgt je-doch für das Überleben der Menschen(scheinbar) ein anonymes Kollektiv,eine Sozialbürokratie, eine Solidarge-meinschaft, wo der eigene Beitrag hier-zu nicht mehr persönlich zugerechnetwird und schon gar nicht mehr inForm von Kindern Leistungen trotzdemabgerufen werden können. Der eigeneBeitrag verschwindet in Großbeträgenstaatlicher Finanzen. Die Sorge um dieausreichende und ausgleichende Kin-derzahl scheint seitdem und bis inunsere Tage zivilisationstechnisch über-holt, zumal die sozialbürokratischenLeistungen auch Kinderlosen in der-selben Höhe zustehen. Gewiss kann esnach bestimmten politischen Ereignis-sen noch zu Geburtenwellen kommen.Die letzte ereignete sich nach Ende desZweiten Weltkriegs, eben während desso genannten Wirtschaftswunders undhat den Namen „Baby-Boom“ bekom-men. In Deutschland war die Geburten-welle von einer Heiratswelle getragen.Junge Leute stürmten die Standesämter,und danach den Wohnungsmarkt. DerGenerationenersatz von zwei Kindernpro Frau im Durchschnitt wurde so-gar überschritten. Die „Baby-Boomers“sind die geburtenstarken Jahrgänge der50er bis Mitte der 60er-Jahre, und sieteilen in gewisser Weise das sozialeSchicksal ihrer Generation: sie tratensich in Schulen, Ausbildung, an Univer-sitäten, am Arbeits- und Wohnungs-markt gegenseitig auf die Füße undmüssen sich bis heute gegen Konkur-renz aus ihrer eigenen Altersgruppe be-haupten und durchschlagen.

Doch war 1964 mit über 1 Million Neu-geborenen der Höhepunkt des Gebur-tenberges erklommen. Diese gebur-tenstarken Jahrgänge sind bis heutemarkant hervorgehoben, weil unmit-telbar auf sie ein zweiter kurzfristigerGeburtenrückgang einsetzte: von 1,1Millionen sanken die Geborenen auf635.000 ab – beinahe eine Halbierungin den wenigen Jahren zwischen 1964und 1973 und mitten in Frieden undWohlstand. 1973 zählte die west-deutsche Bundesrepublik als erstesLand der Welt und im reichen Westengelegen mehr Sterbefälle als Gebur-ten; kein Wunder, dass sich bald die Vorstellung vom „Aussterben derDeutschen“ breit machte. Nur dieTatsache, dass dies noch sehr langedauern würde, keiner der derzeit Le-benden es erleben könne und manaußerdem ja nicht wissen könne, wasim nächsten Jahrhundert noch allespassiert, ermöglichte die Verdrängungdieses an sich logischen Tatbestandes.

Der moderne Mensch sucht nicht mehrin der ausreichenden Kinderzahl seineExistenzgrundlage, sondern in einerBalance zwischen Einkommen, sozialenAnsprüchen und dem persönlichenWohlstandsoptimum. Das kann in derSumme nur Geborenendefizit bedeu-ten. Die Verstärkung eines Trends zurindividuellen Lebensperspektive musszur raschen Abkehr vom Babyboomgeführt haben. Wir sprechen von ei-nem Schub der Individualisierung undAuflösung des Kleinfamilienmusters,das die Zeit des Wirtschaftswundersnoch dominiert hatte. Sie war die Kon-sumeinheit gewesen, heute ist es derEinzelne, der sich Partnerbindung undNachwuchs wohlweislich überlegt.Würde man diesen Trend umkehrenwollen, bräuchte es größere Verein-

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barkeit von Frauenarbeit und Familie.Dieser Geburtenrückgang ab 1964, denwir im Hinblick auf die Zeit um 1900den zweiten nennen, ereignete sichauch in der DDR. Dort startete 1974eine Familien- und Geburtenförderung,die Ende der 70er-Jahre für kurze Zeitfast zwei Kinder pro Frau erbrachte.Doch im Vereinigungsjahr war diehöhere Gesamtfruchtbarkeit der ehe-maligen DDR auf 1,5 gefallen. In derFolge fiel sie dann auf den internationalbestaunten niedrigen Wert von 0,7,von dem aus sie wieder langsam em-porkletterte und bei 1,0 steht. Dieneuen Lebensunsicherheiten für Müt-ter und der Wegfall der ausgedehntenEinrichtungen zur Kinderbetreuung zu DDR-Zeiten gelten gemeinhin alsUrsache hierfür und bewirken ein Ab-warten bzw. zeitliches Hinausschiebenvon Kinderwünschen. Auch wenn sichdie ostdeutsche Geborenenziffer jetztwieder nach oben begibt, wird sie amZustand eines quasi-definitiven gesamt-deutschen Geborenendefizits nichts än-dern.

3. Demografische Alterung

Es gibt kaum ein Wort, bei dem Politik,Wirtschaft und Kommunen so viel Un-behagen verspüren, wie bei dem Wortvon der alternden Gesellschaft, dieunaufhörlich fortschreitet und durchnichts wirksam kompensiert werdenkann. Die Alterung geht nun schon seitJahren schleichend vor sich und wirdin Zukunft Altenpläne, Gesundheits-politik und die jeweiligen Beitragssätzezur Rentenversicherung unter Drucksetzen. Da es ein Vorgang ist, der sichganz in der Alterspyramide abzeichnet,sprechen Fachleute vom „demografi-schen Altern“.

Es heißt nicht mehr und nicht weniger,als dass das Durchschnittsalter einerBevölkerung steigt. Das ist an sich einallgemeiner und neutraler Vorgang:wenn die Jahrgänge von den mittlerenan aufwärts anteilsmäßig zunehmen,weil etwa Jugend zurückgeht, stellt sichautomatisch Alterung ein. Wenn einEntwicklungsland, in dem die Jugend-jahrgänge die Hälfte der Bevölkerungausmachen, sich zu verstärkter Fami-lienplanung entschließt, dann wirdbald das Durchschnittsalter in diesemLand steigen, wenn auch von einemniedrigeren Niveau aus. In Indien oderBrasilien beispielsweise von 23 Jahrenauf 25 oder 26 Jahre. Die Volksrepub-lik China, die den Familien eine strengeEin-Kind-Politik vorschreibt, treibtdamit den Alterungsprozess unwill-kürlich voran. Für Entwicklungsländerist Alterung die Begleiterscheinungeines durch Entwicklungspolitik ver-ursachten Geburtenrückgangs. DieFamilien brauchen dort bald nichtmehr 5 bis 10 Kinder, um leichterdurchs Kleinbauerndasein zu kommen,sondern nur 2 bis 4 Kinder, aber besserausgebildete, damit sie einen Arbeits-platz finden. Doch was bedeutet Al-terung in der schon sprichwörtlichen„Alten Welt“?

Der erste Faktor der Alterung ist derdurch Geburtendefizit hervorgerufeneJugendschwund. Er löst die anteils-mäßige Gewichtsverlagerung zu denälteren Jahrgängen hin aus. In dermodernen Welt steigt jedoch außerdemdie Lebenserwartung der Altenjahr-gänge, sogar überproportional. Sie istder zweite Faktor demografischen Al-terns, denn er bedeutet neben der an-teilsmäßigen Zunahme nun ein ab-solutes Anwachsen der Menschenzah-len in den höheren Altersjahrgängen.

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Es fällt schon die ironische Bemerkung,dass die einzige Bevölkerungsexplosion,die sich die moderne Welt leistet, dasstetige Anwachsen der 80- bis 100-Jährigen sei. Noch 1950 lag in West-deutschland die Lebenserwartung derMänner bei 64,6 Jahren, die der Frauenbei 68,5; Mitte der 90er-Jahre wardiejenige der Männer um fast 9 Jahreauf 74 Jahre, und die der Frauen um 12Jahre, d.h. auf 80 Jahre, angestiegen. Ist die Lebenserwartung bei Geburt vonbesonderem Interesse für Familien-planung und Gesundheitsdienste, so istdie ferne Lebenserwartung 60-Jährigerdie wichtigste Zahl für die Trägersozialer Sicherung und Dienste. Sie liegtfür Männer bei 17 Jahren, für Frauenbei 26 Jahren. Die große Herausfor-derung im Sozialbereich ist die beimmännlichen Geschlecht früher einset-zende Gebrechlichkeit und die Zu-nahme der Zahl der älteren allein ste-henden Frauen.

Vom großen Einfluss auf die moderneLanglebigkeit war das medizinischmögliche Zurückdrängen der Kinder-sterblichkeit im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts. Als vor 100 Jahren nochrund 25 Prozent der Neugeborenenschon im ersten Lebensjahr starben,hat das die Lebenserwartung statistischniedrig gehalten. Inzwischen ist dieKindersterblichkeit kein demografisch-er Einbruch mehr, sondern nur nocheine kinderärztliche Angelegenheit. DieSäuglingssterblichkeit (Sterblichkeit im1. Lebensjahr) ist auf rund 5 Fälle auftausend Neugeborene zusammenge-schmolzen. Bis zum 20. Lebensjahr ster-ben nur noch rund 1%, um 1950 wa-ren es noch fast 10%. Die Investitionenin das Gesundheitswesen und denmedizinischen Fortschritt haben sichaußerordentlich positiv auf die Über-

lebenschance der Kinder ausgewirkt.Von ihnen erreichen jetzt fast alle dasErwachsenenalter. Das Sterberisiko hatsich für alle Altersstufen vermindert.Von einhundert 20-jährigen Männernerreichen heute in Westdeutschland 88und von 20-jährigen Frauen 94 das 60.Lebensjahr. Im Vergleich dazu gelangdies nach der Sterbetafel 1970/72 nur81 Männern und 90 Frauen.

Heute folgt allgemein nach dem 60.Lebensjahr noch ein eigenständigerLebensabschnitt, ein „drittes Alter“, das– anders als früher – ebenso langedauert wie Jugend- und Erwerbsalter.60-jährige Männer haben nach derSterbetafel 1996/98 für die alten Bun-desländer im Durchschnitt noch 18,9weitere Lebensjahre vor sich und dieFrauen sogar 23,2, sie werden also fastalle 80 und mehr Jahre alt. Verglichenmit den Verhältnissen 1970/72 beträgtder Gewinn an Lebensjahren rund 20Prozent. (Tabelle 2, S.28)

Extrapoliert man dieses Ergebnis in dieZukunft, so könnte die fernere Lebens-erwartung 60-jähriger Männer um dasJahr 2030 etwa 23 Jahre und diejenige60-jähriger Frauen fast 28 Jahre be-tragen. 20 weitere Lebensjahre werdenschon heute von den 60-jährigen Män-nern in Schweden und in der Schweizund 25 weitere Lebensjahre von den60-jährigen Französinnen erreicht.

Diese steigende Alterung am oberenEnde der Alterspyramide ist aber einzweischneidiges Schwert, wenn dieFortschritte der Medizin, der Geriatrie,nicht im selben Tempo zunehmen. DieGehirnforschung dürfte immer mehrgefordert sein, denn es gilt, das hoheAlter erlebnisfähig und lebenswert zugestalten.1

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4. Veränderung der Alterspyramide

Der Geburteneinbruch ab 1964 hat diedeutsche Bevölkerungspyramide, dieaußerdem von politischen Verwerfun-gen gezeichnet ist, vom Jugendsockelher markant verschlankt. Im Hinblickauf die Gestalt der Alterspyramidesprechen schon viele von einem „Ko-loss auf tönernen Füßen“. Der Jugend-sockel wird schmäler, während derAltenkopf schwillt. Hat eine Alters-pyramide eine Glockenform, wäre diesfür eine moderne Gesellschaft ein Idealzustand:

Die „Alte Welt“ – demografisch ge-sprochen – alterte erst im vergangenen

Jahrhundert. Hier hat sich seit den20er-Jahren die zu Kaisers Zeiten üb-liche „Dreieck“-Alterspyramide, die mitstarken Jugendjahrgängen auf starkesWachstum verweist, in eine Glocken-form verwandelt. Wären Weltkriegeund Weltwirtschaftskrise nicht gewe-sen, dann hätten wir jene großen Ein-buchtungen nicht. Die Schweiz undSchweden, neutral im letzten Jahr-hundert, zeigen bis in die Nachkriegs-zeit eine Alterspyramide in makelloserGlockenform.

Diese Altersstruktur der Glocke wäreeigentlich ideal für eine moderne Gesellschaft: sie zeigt ausreichendenNachwuchs im Rahmen der Stärke derElterngeneration; das wäre praktisch

Tabelle 2: Die Zurückdrängung der Sterblichkeit im ZeitvergleichGewonnene Lebenszeit von 1949/51, bis 1996/98

1949/51 1970/72 1996/98 1996/98früheres Bundesgebiet Deutschland

ein Alter von erreichen von 1.000 Neugeborenen... Jahren männliche Personen

20 915 957 989 98840 871 921 968 96660 729 777 865 85975 407 389 570 560

weibliche Personen

20 933 971 992 99240 902 953 983 98260 802 869 926 92775 496 600 756 751

mit ... Jahren fernere Lebenserwartung in Jahren nach Erreichen nebenstehenden Alters männliche Personen

bei Geburt 64,6 67,4 74,4 74,020 50,3 50,2 55,2 54,860 16,2 15,3 18,9 18,775 7,3 7,2 9,2 9,1

weibliche Personen

bei Geburt 68,5 73,8 80,5 80,320 53,2 56,0 61,0 60,960 17,5 19,1 23,2 23,1

Quelle: Statistisches Bundesamt; Karl Schwarz, (1997), a.a.O.

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Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland

Statistisches Bundesamt 2000 – 15 – 0346, Juli 2000

Alterspyramiden aus 9. koordinierter Bevölkerungsvorausberechnung im Jahr 2000

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die 2-Kinder-Familie, die Deutschlandnoch in den 20er-Jahren hatte; keineAltersklasse wäre überrepräsentiert, dasVerhältnis von Jung zu Alt wäre aus-geglichen und sozialpolitisch problem-los und die Bevölkerung im Erwerbs-alter zwischen 20 und 60 machte mehr als 50% der Bevölkerung aus. Siewürde – bei günstiger Beschäftigungs-lage – leicht mit der „Last“ der beidenabhängigen Jahrgangsgruppen derJugend und des Alters fertig. Wie eineGlockenform am oberen Ende zeigt,wäre auch in dieser Lage ein langesLeben verbürgt. Doch die „stationäreGlocke“ verwandelte sich in Deutsch-land weiter in eine zerzauste Tanne undschließlich in einen Pilz.

Es fällt den modernen Gesellschafts-systemen schwer, das demografischeGleichgewicht auf niedrigem Gebur-ten- und Sterblichkeitsniveau zu hal-ten. Das haben die Bewegungen seit1964 gezeigt und die Hartnäckigkeit,mit der sich dieser Zustand bis heutehält, ja sogar weitertreibt. Wir habeneinen Weg von der wachsenden zustationären und von da zur schrump-fenden Alterspyramide anschaulichabgebildet, der den Gedanken an eindemografisches und damit geschichtli-ches Ende der westlichen Zivilisationnährt. Nur wenn die Europäer die Kraftaufbringen, mit einem Pioniergeist eine„Alte Welt“ zu erneuern und zu ver-jüngen – wie paradox dies auch klin-gen mag – werden sie eine absurdeZivilisation, die Langlebigkeit mit Ge-burtenrückgängen erkauft, korrigierenund vom Abgrund zurückholen. Daswird sich entscheiden an den Problem-bereichen Generationenvertrag, Ar-beitsmarkt, Erwerbsbevölkerung undder Zuwanderung. Sie sind eng mit derAltersstruktur verknüpft und beherber-

gen die prekären Engpässe und Absturz-gefahren in diesem Jahrhundert.

5. Zuwanderung

Vom Kriegsende bis zum Bau der Mauer1961 hat Westdeutschland eine starkeZuwanderung von massenweise ausdem Osten geflohener Landsleute zuverkraften. Sie hatte mitgewirkt an ei-ner raschen wirtschaftlichen Erholungund Arbeitskräfteknappheit. Sie wurdegedeckt mit der „Gastarbeiterwelle“,mit Arbeitsmigranten aus dem gesam-ten Mittelmeer-Raum, wofür Anwerbe-büros durch die Regierung Brandt-Scheel errichtet wurden. Im Jahre 1973,dem Jahr des Konjunktureinbruchssamt Beschäftigungskrise, auch der„Ölkrise“, wurden sie wieder geschlos-sen. Es wurde das Jahr des „Anwerbe-stopps“. Während der gleichzeitig ein-tretenden technologischen Revolutionwurden Arbeitsvorgänge und Arbeits-plätze überflüssig, die noch dem ma-schinellen Zeitalter angehörten undworin die meisten der angelerntenGastarbeiter untergekommen waren.Die Schließung der Anwerbestellen war also eine industriepolitische Maß-nahme gewesen, eine Art Schließungdes Arbeitsmarktes für auslaufende Ar-beitsformen. Selbst Dienstleistungen,die lange Zeit ausländische Arbeitskraftangezogen hatte, unterlagen plötzlichder Technisierung und Rationalisierung:es hat einfach aufgehört, auf herkömm-liche Weise den Hof zu kehren. In derGastronomie und der nicht automa-tisierbaren händischen Arbeitswelt wer-den ausländische Arbeitskräfte nochregelmäßig gesucht; nicht zuletzt des-halb, weil sich ein gewisses Segmentvon Arbeitslosen ziert, derartige Arbeitaufzunehmen.

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Mitte der 80er-Jahre suchte man mitPrämien nicht mehr gebrauchte Ar-beitskräfte zur Heimreise zu bewegen.Doch viele hatten die Familie nach-ziehen lassen und dachten nicht mehran Rückkehr in das Herkunftsland. Waswir heute als Integrationsproblem imLande bezeichnen, hat damit seinenAnfang genommen. Deutschland (undWesteuropa) wurde nicht nur als Ar-beitsmarkt entdeckt, sondern auch alsWohlfahrts- und Sozialstaat, mit dessenLeistungen man rechnen konnte, auchwenn Wirtschaft und Arbeitsmarkt ihrealtgewohnte Aufnahmebereitschaft ver-loren zu haben schienen. So trat nebender (a) reinen Arbeitsmigration bald die (b) Familienzusammenführung alszweiter und florierender Zuwande-rungsweg hinzu. Nicht genug damit:das großzügige deutsche (c) Individual-recht auf Asyl (einmalig in der Welt,weil der Asylbewerber auf Kosten desAufnahmelandes einen Prozess um seinHierbleiben führen darf) wurde nun zueiner dritten Schiene der Zuwanderung;dazu kommen (d) Flüchtlinge im Sinneder Genfer Konvention und von De-klarationen der Menschenrechte, undschließlich (e) Aufnahme deutschstäm-miger Aussiedler aus Ost- und Südost-europa und Zentralasien, wohin vielevon ihnen im Zuge des Zweiten Welt-kriegs verschleppt wurden. Es steht fest,dass Deutschland immer mehr Fami-lienangehörige, Asyl- und Fluchtfälleaufnahm, die im deutschen Arbeits-markt nicht das erste Ziel ihrer Zuwan-derung sahen. Die Zuwanderung zeig-te ein steigendes Missverhältnis zwi-schen Arbeitsmigration und humani-tärer Menschenaufnahme. Dies hat imLauf der Jahre den Ausländeranteil aufderzeitige 7,4 Millionen Menschen –illegale Aufenthalte nicht mitgerechnet– anwachsen lassen. Jedoch nur 2 Mil-

lionen befinden sich offiziell in bei-tragspflichtigen Arbeitsverhältnissen.Das ist gemessen an der Gesamtzahl derAusländer ein geringer Anteil. In derZeit der eingeworbenen Gastarbeit warder Ausländeranteil um die Hälfteniedriger und der Anteil der offiziellErwerbstätigen aber so hoch wie heute.Das markiert den Umschwung vonreiner Arbeitsmigration zu einer Mi-gration auf Grund von Gesetzen, diemit der deutschen Wirtschafts- undArbeitsmarktlage in keinem Zusam-menhang stehen. Der jährliche Zugangan Arbeitsmigranten ist schwer zuschätzen, weil er nicht mehr allein ausdem Ausland selbst, sondern auch überArbeitsgenehmigungen für im Landebefindliche Asylbewerber, Flüchtlingeund Familienangehörige erfolgt. Eskönnen zwischen 30- bis 50.000 jähr-lich sein. Die Familienzusammenfüh-rung hält sich im jährlichen Rahmenvon 100.000, wovon ein Drittel schonim Inland beantragt wird, nachdemman mit dem Touristenvisum ein-gereist ist. Die Zahl der Asylbewerberhat sich seit der „Drittstaatenrege-lung“ von 1993 mehr als halbiert undbeträgt immer noch ca. 100.000 proJahr. Die geringe Anerkennungsquotevon ca. 5 Prozent besagt nicht viel, weil die Abschiebefälle ebenfalls geringsind, jedenfalls in keinem Verhältnis zuden Ablehnungsbescheiden stehen.Nach der erstinstanzlichen Ablehnungdurch das Bundesamt für die Aner-kennung ausländischer Flüchtlinge(BaFl) wandern die meisten Fälle an die Gerichte in verschiedenen Bundes-ländern und überladen – bei Aus-schöpfung der Rechtsmittel – die Ver-waltungsgerichtsbarkeit.

Bisher hat noch niemand gewagt, dieöffentlichen Kosten des deutschen

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Asylrechts zu beziffern. Doch würdeman diese den sozialen Kosten der ho-hen Arbeitslosenquote ausländischerArbeitnehmer (20%), und dem Anteilan Sozialhilfe, von dem 30% der aus-ländischen Bevölkerung leben, zufügen,dann ergäbe das einen Betrag, denKaufkraft und Arbeitsleistung des aus-ländischen Bevölkerungsteils kaumwettmachen dürften. Dass bei ihm dieKosten der Alterssicherung noch nichtdie Höhe der eingezahlten Sozialbei-träge erreichen, liegt allein an der jün-geren Altersstruktur der Ausländer undes ist eine Frage der Zeit, bis auch diedaraus erwachsenden Ansprüche involler Höhe fällig werden. Es wird gernevergessen, dass Zuwanderer sich baldden modernen Konsumnormen an-passen, die Kinderzahl beschränkenund auch einmal alt werden.

Nicht unbedeutend ist die Zuwande-rung deutschstämmiger Aussiedler.Aussiedler sind Deutsche im Sinne desGrundgesetzes mit allen Ansprüchen,Rechten und Förderungen. Ihre Zuwan-derung erreichte ihren Höhepunktnach dem Fall des Eisernen Vorhangsund ist seitdem von ca. 300.000 aufunter 100.000 Fälle gesunken. IhreRückkehrquote ist erstaunlich hoch:ausgestattet mit deutschen Papierenund Pensionsansprüchen geht ein Drit-tel von ihnen ins Herkunftsland zu-rück. In quantitativer Hinsicht bie-tet das Zuwanderungsgeschehen nachDeutschland ein stabileres Bild, als es die innere Zusammensetzung der Zuwanderer nach so differierenden administrativen Kriterien vermutenlässt.

Wir registrieren eine Abwanderung vonca. 600.000 Personen jährlich und da-gegen eine Zuwanderung zwischen

700- bis 800.000 Personen, die dannden keinesfalls überwältigenden Zu-wanderungssaldo zwischen 100- und200.000 ergeben. Doch hier ist anzu-merken, dass es sich bei den Fort-ziehenden häufiger um Integrierte han-delt als bei den Ankommenden, zumalsie meist aus Drittstaaten, also außer-halb der EU stammen. Die im Landebefindlichen zwei Millionen Ange-hörige von EU-Mitgliedsstaaten kön-nen als sozial und politisch integriertgelten. Selbst die Aussiedler schaffen in der zweiten Generation soziale Probleme aus Nichtangepasstheit undKriminalität. Man muss also Inte-grationskosten und Existenzhilfen fürdie gesamte Zuwandererpopulation in Rechnung stellen und nicht nur für den Zuwanderungssaldo. Auch die Fortzüge bedeuten hier keine an-teilsmäßige oder ausgleichende Lin-derung der Lasten, im Gegenteil: wennes sich um Rentner handelt, denendeutsche Altersbezüge überwiesen wer-den, dann geht auch noch deren Kon-sumkraft verloren.

Diese Gesichtspunkte wollen etwasWasser in den Wein ausschließlichpositiver Urteile über Zuwanderunggießen: konjunkturbelebend, arbeits-plätzeschaffend, rentenkassenfüllendusw. soll sie sein. Doch das sind sie nurfür Einwanderungsländer, die nicht mitgeregelter humanitärer Menschenauf-nahme und einer Sozialgesetzgebungvon deutschem Zuschnitt belastet sind.Das deutsche Zuwanderungsgeschehensteht im krassen Gegensatz zur Praxisangelsächsischer Einwanderungsländer,die außer einer gewissen Kontingent-flucht nur im eigenen Wirtschafts-interesse verfahren und die Zuwan-derungsgesetze und Aufenthaltsrechtenach diesem Zweck ausgerichtet haben.

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Die Parole „wir brauchen dringendZuwanderung“ ist nicht nur einewirtschaftspolitische Bedarfsmeldung.Sie ist auch ein Eingeständnis, dassDeutschland die umfangreichste Zu-wanderung der westlichen Welt zwarzu verkraften hat, dass sie aber aus Be-völkerungs- und Merkmalssegmentenbesteht, die zu wirtschaftlicher Pro-duktivität kaum beitragen, dem Ar-beitsmarkt in weiten Teilen gar nichtzur Verfügung stehen und stattdessenStaat und Steuerzahler belasten. Es istauch ein Eingeständnis, dass es sich beiden vier Millionen Arbeitslosen umStrandgut der Wissensgesellschaft undseiner sozialen Netze handelt, den zumobilisieren man wohl aufgegeben hat. Es dürfte eine stattliche Anzahlwohlfahrtsstaatlich basierter „Eigen-unternehmer“ darunter sein, die sichdem Zwang lebenslangen Lernens ei-genmächtig entziehen als „Virtuosender Freizeit“, wie man zu scherzen be-liebt.Trotz der OECD-Kritik an Deutsch-land, das Abstandsgebot zwischen Ar-beit und Nichtarbeit deutlicher zuwahren, bleibt der Bereich Soziales und Arbeitsmarkt hochgradig tabuge-schützt. Diese Zuwanderung nachDeutschland ist von einer Art, wie siedie klassischen Einwanderungslän-der USA, Kanada und Australien nie-mals zulassen würden. Es fehlen diesenLändern auch nationale Komplexe undein mystischer Drang, die Zuwan-derungs- und Ausländerpolitik unterdas Diktat geschichtsbedingter Re-habilitation zu stellen. Die deutscheAusländer-, Zuwanderungs- und In-tegrationsfrage ist im Zuge eines über-wältigenden und von der politischenLinken in Regie genommenen „Ver-gangenheitsdiskurses“ derart senti-mentalisiert, dass sie nüchternen Ent-scheidungsvorgängen weitgehend ent-

zogen ist, nach einer politischen Lö-sung aber dringend verlangt. DieserWiderspruch liegt dem Debakel um dieVerabschiedung eines Zuwanderungs-gesetzes zu Grunde.

Das Integrationsproblem, worin sichParteien befehden, hat auch seineWurzeln darin, dass sich jede Parteischeut, Integrationserfordernisse klarzu benennen. Niemand will so rechtwissen, wo hinein sich Zuwandererdenn integrieren sollen. Integration isterforderlich, weil Wirtschaft und Poli-tik auch in einer globalisierten Welt einMindestmaß an Verständigung undKonsens brauchen, um die Arbeits-teilung funktionstüchtig zu erhalten.Wir müssen eine Wissens- und Bil-dungsgemeinschaft bleiben. GlobaleWirtschaft braucht lokale Kompetenz,um bewältigt zu werden. Hochtech-nologiegesellschaften können sich kei-ne Desorganisation, keine Sonder- undSubkulturen, Parallelgesellschaften undAusländergettos leisten. Sie sind einschwelender Bürgerkrieg, der teuer zustehen kommt.

Integrationshemmend wirkt eine Zu-wanderung, die nicht nach Arbeits-marktkriterien und überhaupt ausnicht-wirtschaftlichen Gründen er-folgt, sondern weitgehend aus poli-tisch-humanitären Gründen. Da ist esgar nicht üblich, die Einpassung in einemoderne Leistungsgesellschaft nicht zu verlangen. Selbst für ausländischeArbeitnehmer sind Arbeitsplatz, Auf-enthaltsgenehmigung und Wohnraumdie einzigen behördlichen Erforder-nisse. So bleibt eigentlich nur als Inte-grationsweg in die deutsche Gesell-schaft die nicht in allen Fällen über-prüfbare Schulpflicht der Kinder. DasGrunderfordernis für gelungene Inte-

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gration ist die Annahme einer bei-tragspflichtigen Arbeit und der Wille,die eigenen Kinder in den Normen desAufnahmelandes, wie Sprache, Leis-tungsprinzip, Konsumverhalten erzie-hen zu lassen. Eine Untersuchung, wieviele der nahezu 8 Millionen Ausländerund „Deutsche mit Migrationshinter-grund“ diesem Erfordernis nachkom-men, würde ein niederschmetterndesErgebnis erbringen. Nur eine strengeIntegrationspolitik, unabhängig vomAufenthaltsstatus des Ausländers undbei vorläufigem Stopp weiterer Zuwan-derung könnte hier etwas ändern. Es istbezeichnend, dass in der umstrittenenVorlage eines Zuwanderungsgesetzesgerade jener Teil, der von Integrationhandelt, der dürftigste ist.

6. Prognose

Die im Jahr 2000 vom StatistischenBundesamt in Wiesbaden vorgestell-te „9. koordinierte Bevölkerungsvor-ausschätzung für Deutschland“ ist bis

zum Jahre 2050 ausgelegt und unter-stellt ● eine weitere Zunahme der Lebens-

erwartung um vier Jahre, ● eine gleich bleibende Geburten-

entwicklung im Durchschnitt derletzten Jahre (1,4 Kinder pro Frau),und schließlich

● verschiedene Varianten von Wande-rungsannahmen: ein jährlicher Zu-wanderungssaldo von 100.000 bzw.200.000 scheint seit Änderung derAsylgesetzgebung 1993 realistisch –so weit die Politik im Prognosezeit-raum nicht andere strikte Vorgabenmacht.

Sollte es bei einem geringen Zuwan-derungsüberhang von nur 100.000jährlich bleiben, dann würden sich die82 Millionen Einwohner des Jahres2000 bis 2030 auf 75 Millionen, bis2050 auf 65 Millionen verringern. Be-trägt der Wanderungssaldo das Dop-pelte, also 200.000, dann sinkt die Ein-wohnerzahl bis 2030 immerhin auf 78Millionen und bis 2050 auf 70,4 Mil-

Grafik 2: Entwicklung der Bevölkerung in Deutschland bis 2050

Quelle: Statistisches Bundesamt; (bearb. Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft, Bamberg)

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lionen. Die fortgesetzte Bevölkerungs-abnahme auf Grund fehlenden Nach-wuchses von einem Drittel unter Er-satzniveau entwickelt eine Sogwirkungabwärts, die auch mit einem nochhöheren Zuwanderungssaldo von etwa300.000 nicht aufzuhalten wäre.

Die Entwicklung der Jahrgänge unter20, ihr Rückgang nur um ein Drittel in50 Jahren und der Anstieg der Alten-jahrgänge über 65 um die Hälfte sindentscheidend. Der massive Einbruch er-folgt also auf Seiten der Jugend. Hierwirkt bereits die „Implosion“. Der Ab-nahme- und Schrumpfungstrend derdeutschen Bevölkerung wäre nur durcheine deutliche Verjüngung der Alters-struktur aufzuhalten bzw. umzukehren.Doch die Geborenendefizite sind kaummehr aufzuholen, schon gar nicht ineiner Müttergeneration. Es ist gewissfamilienpolitisch noch etwas Spiel-raum, aber nicht so viel, dass zu einemGenerationenersatz von zwei Kindernim Durchschnitt aller Frauen zurück-gekehrt werden könnte. Das erforderte

einen Rückgang der Kinderlosigkeit(von bald einem Drittel der Frauen imgebärfähigen Alter) und deutlich mehr2- und 3-Kinder-Familien als wir jetzthaben.

Die Bevölkerungslücke vom deutschenAusmaß ist auch von Einwanderernnicht vollständig zu füllen. Da Ein-wanderer nur mehr aus außereuropäi-schen Regionen in unbegrenzter Mengekommen könnten und alle Aufnah-mekapazitäten sprengen würden, ent-fällt auch dieses „Heilmittel“. Es sindnirgendwo Menschenmengen wegzu-holen, die in den Arbeitsmarkt und dassoziale und kulturelle Gefüge Deutsch-lands passen.

Die Zeit drängt: Denn wenn wir nichtwissen, wie man eine Abnahme vonheute 82 Millionen bei 70 oder 65 Mil-lionen stoppt, dann wissen wir auchnicht, wie man eine Bevölkerung von65 Millionen bei 40 Millionen oder garbei nur mehr 20 Millionen zum Stehenbringen soll.

Alter von ... bis 1.1. des Jahres (– in 1000 –)unter ... Jahren 2000 2010 2020 2030 2040 2050

Unter 20 17.487 15.474 14.103 13.430 12.388 11.462

20 – 30 9.640 9.711 9.070 7.932 7.639 7.224

30 – 50 25.968 24.195 20.596 20.159 18.339 16.911

50 – 65 15.554 15.756 19.343 16.443 14.716 14.591

20 – 65 zusammen 51.162 49.662 49.010 44.533 40.693 38.726

65 und mehr 13.336 16.352 17.226 20.014 21.464 20.193

Insgesamt 81.985 81.497 80.339 77.977 74.546 70.381

Tabelle 3: Bevölkerung in Deutschland nach Altersgruppen9. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung im Jahr 2000Variante 2: langfristiger Zuwanderungssaldo 200.000 Personen im Jahr

Quelle: Statistisches Bundesamt

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7. Generationenvertrag

Mit Beginn der 70er-Jahre hat der de-mografische Wandel in Richtung eineralternden Bevölkerung die deutschePolitik unvorbereitet getroffen, undseitdem ist das AlterssicherungssystemGegenstand jährlicher Flickschusterei;vornehm ausgedrückt: „Stückwerk-technik“. Steigende Kosten bei denAlterssicherungssystemen und Gesund-heitsdiensten drücken auf Lohnneben-kosten und Sozialversicherungsbeiträgeund erforderten bald – bei Beitragsaus-fällen wegen Arbeitslosigkeit – „Bundes-zuschüsse“, d.h. Steuermittel, um densozialstaatlichen Verpflichtungen ausdem Generationenvertrag nachzukom-men.

Was wir heute Generationenvertragnennen, ist ein finanzstaatlicher Typusvon Generationsbeziehungen, der aufFortschrittsglauben und Wirtschafts-wachstum beruht. Der Generationen-vertrag ist keine juristische Angelegen-heit, sondern ein staatlich-bürokrati-sches, kollektives Überlebensprogramm,

eine ökonomische und kulturelle Kon-sequenz: Man wird geboren, wächstunter dem Schutz von Eltern, Lehrernund einer Gemeinschaft heran, trägtbald zu den sozialen Kosten bei, die inseiner aktiven Lebensperiode anfallen,um sich schließlich selbst einmal aufsAltenteil setzen zu können; und das,ohne sich um Rente und Gesundheits-kosten sorgen zu müssen. Das Gebenund Nehmen verteilt sich – zeitver-schoben! – über den Lebensverlauf underfordert günstige Bedingungen: einVertrauen in gesellschaftliche Institu-tionen, Solidaritätsgefühle und eingewisses Maß an Selbstdisziplin undZurückhaltung, wenn die Großzü-gigkeit eines Wohlfahrtssystems nichtstrapaziert werden soll. In der bäuer-lichen Kultur vergangener Jahrhunderte wachte eine überschaubare Menschen-gruppe von Verwandten über die Exis-tenzgrundlagen. Nach Einführung derindustriellen Sozialbürokratie brauchtes dafür eine gesunde Wirtschaft, eineverlässliche Währung und hinlänglicheEinkommen, um Konflikte zwischenanonymen Menschenaggregaten oder

Jahr Gesamtdeutschland GesamtdeutschlandVariante 1 Variante 2 Variante 1 Variante 2

2000 82.000,0 82.000,0 82,0 82,0

2005 81.645,0 81.705,6 81,6 81,7

2010 81.085,9 81.497,3 81,1 81,5

2015 79.833,6 80.909,3 79,8 80,9

2020 78.791,8 80.339,1 78,8 80,3

2025 77.100,0 79.300,0 77,1 79,3

2030 75.186,6 77.976,9 75,2 78,0

2035 72.452,8 76.016,7 72,5 76,0

2040 70.457,2 74.545,6 70,5 74,5

2045 67.240,3 72.121,9 67,2 72,1

2050 64.973,3 70.381,4 65,0 70,4

9. Koordinierte Bevölkerungsvorausschätzung

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Jahrgängen mit Mentalitätsunterschie-den niederzuhalten. Aggressionen derheranwachsenden Jugend richten sichnoch nicht auf die Gestalt des Genera-tionenvertrages, doch er greift mit derAufforderung, für den Lebensabendeigene Sparpläne ins Auge zu fassen,schon in ihre Interessenssphäre ein. EinGenerationenkonflikt hat seinen Grundin den „Lastquotienten“, die aus demVerhältnis von inaktiven zu aktivenJahrgängen errechnet werden: 1998 ka-men auf 100 Menschen im erwerbs-fähigen Alter schon 40 Menschen über60; bis zum Jahre 2040 wird der „Altenquotient“ auf über 70 ansteigen.Doch auf Menschen im erwerbsfähigenAlter kommen zweierlei Belastungs-quotienten zu: die abhängigen Jahr-gänge der Kinder und Jugendlichenund diejenigen des Rentenalters. ImJahre 1990 kamen auf 100 Erwerbs-fähige zwischen 25 und 65 Jahrenschon 80 „Abhängige“, Jung und Alt.Im Jahre 2040 wird sich der Kinder-und Jugendanteil verringert und derAnteil der Älteren verdoppelt haben,sodass auf 100 Erwerbsfähige dann 102Abhängige kommen.

Das Ziel des Generationenvertrages er-schöpft sich nicht in der Existenzsiche-rung der abhängigen Jahrgänge. Seineübergeordnete Aufgabe ist die Aufrecht-erhaltung ökonomischer Standards und der kulturellen Identität. Doch dieKultur wird an eine jeweils schmalereNachwuchsbasis weitergegeben.

Schwindende Jugendjahrgänge rückenbald in die Erwerbsbevölkerung ein. Siehat nicht allein für die Alterssicherungaufzukommen – getreu dem Umlage-verfahren. Ihre Aufgabe ist auch die derFamilienbildung, die Erziehung dernachwachsenden Generation. Die jun-

ge Erwerbsbevölkerung ist also der Last-esel des Systems, sie hat für die dreiGenerationen gleichzeitig zu sor-gen. Zusätzlich wird sie jetzt gebeten,das Not leidende „Umlage-Verfahren“durch kapitaldeckende Eigeninitiativezu ergänzen. Der Staat muss hier mit-helfen, weil er sonst die Solidargemein-schaft spaltet und auflöst. Allen mussklar sein, dass es die „demografieresis-tente Alterssicherung“ nicht gibt, denngerade hinter einer solchen bräuchte esviel Jugend in Produktion, Innovationund Beschäftigung.

8. Gegensteuerungen

Für Deutschland tut sich ein demogra-fische Dilemma auf, das sich wie folgtdarstellen lässt: Die nahezu 30 aufeinan-der folgenden geburtenschwachen Jahr-gänge, die ihre Elterngeneration nur zueinem Drittel ersetzen, treten nun ihrer-seits ins Heiratsalter ein, und es deutetnichts darauf hin, wonach deren Nach-wuchszahlen nun höher ausfallen wür-den. Die mit dem Geburtenrückgangund Geburtendefiziten eingeleitete Be-völkerungsschrumpfung und -alterungkommt nun in eine weitere und ver-stärkte Abschwungphase. Dieser Vor-gang ist mit kompensatorischen Maß-nahmen abzubremsen, aber selbst mitverträglicher Einwanderung nicht dau-erhaft aufzuhalten.2

Alle bekannten kompensatorischen Maß-nahmen werden einige Zeit greifen,doch sie können die Folgen einer rea-len Bevölkerungsabnahme bei Jugend-schwund und steigenden Alterssiche-rungskosten nicht dauerhaft aufhalten.

Die Vorschläge zielen darauf ab, mehrMenschen längere Zeit in beitrags-

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pflichtige Arbeitsplätze zu bekommen,um die Beitragsausfälle durch gebur-tenschwache Jahrgänge und Arbeits-losigkeit auszugleichen. Verlängerungder Lebensarbeitszeit und Erhöhung derZahl weiblicher Arbeitskräfte werden in diesem Zusammenhang erwogen.

Würde man die Erwerbsbeteiligung derFrauen zwischen 25 und 54 auf dasNiveau männlicher Erwerbsbeteiligunganheben, die „Frauenreserve“ arbeits-marktpolitisch ausschöpfen, würde sichüber kurz oder lang der degressi-ve Trend in der Erwerbsbevölkerungwieder fortsetzen. Er würde es umsoschneller tun, je mehr die weibliche Er-werbsbeteiligung mit weiteren Ge-burtenrückgängen erkauft würde. Indiesem Jahrzehnt wird sich noch er-weisen, ob der Anteil kinderloserFrauen bald ein Drittel eines Frauen-jahrgangs ausmachen wird. Ohnegleichzeitige Politik, Mutterschaft undArbeitstätigkeit vereinbar zu machen,ist diese Maßnahme sinnlos.

Eine sinkende Zahl von Erwerbsperso-nen kann man eine gewisse Zeit mitsteigender Produktivität ausgleichen,und damit einen gleich bleibendenWirtschaftserfolg erzielen. Das deutscheErwerbspersonenpotenzial beginnt ab2010 jährlich um 1,2 Prozent zu sin-ken. Dieses Absinken kann nur kom-pensiert werden, wenn bei Vollbeschäf-tigung der Produktionsfortschritt jeErwerbstätigen diese Schrumpfungsrateüberragt. Es muss also ein gehörigerSpielraum für Wirtschaftswachstumund Investitionen vorhanden sein,wenn Erwerbstätigenschwund damitaufgefangen werden soll.

Einwanderung als Kompensation füreine alternde und schrumpfende Bevöl-

kerung spukt seit Jahrzehnten in denKöpfen, aber nur weil die Dimensionnicht klar ist, in der Einwanderer ein-geworben werden müssten, um einedemografische Implosion vom Ausmaßder deutschen Bevölkerung zu stoppen.Unter dem Titel „Replacement Migra-tion“ hat die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen eine Rechnungaufgemacht, wie viel Einwanderungnötig wäre, um Ländern wie Deutsch-land und der EU insgesamt aus der de-mografischen Patsche zu helfen. DieZahlen sind enorm:

● um den Bevölkerungsstand von 82 Millionen bis 2050 zu halten,bräuchte Deutschland 325.000 Zu-wanderungsüberschuss, also jähr-lich 1 Million Zuwanderer (bei ca.600.000 Fortzügen);

● um die Zahl der Erwerbsfähigen (15–64) von etwa 52 Millionen sta-bil zu halten, bräuchte es einen Mi-grationsüberschuss von 460.000Menschen. Bis 2050 müssten insge-samt 25 Millionen Ausländer insLand geholt werden;

● mit Zuwanderung ein demografi-sches Dilemma lösen und die vor-anschreitende Alterung damit ab-bremsen zu wollen, zeigt die Ab-surdität einer solchen Idee. Um denAlterungsquotienten, also das Ver-hältnis der über 65-Jährigen zurGruppe der 15- bis 64-jährigen stabil zu halten und das Durch-schnittsalter nicht weiter zu erhö-hen, bräuchte es 3,4 MillionenMenschen jährlich an Zuwande-rung. Das wären bis 2050 188 Mil-lionen einzuwerbende Ausländer.Die Gesamtbevölkerung würde sichbis dahin auf 300 Millionen vervier-fachen. Dabei ist eines zu beachten:derartige Zuwandererquanten müss-

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ten in Arbeits- und Lebensformenintegrierbar sein, die Arbeitsmärktemüssten für sie aufnahmebereit seinund sie müssten allesamt jung, gutausgebildet und mindestens zweiKinder haben. Dies ist weder für einJahr zu beschaffen, geschweigedenn jährlich!

Damit ist der Traum von Einwanderungals Problemlöser und als unbegrenzterindustrieller Reservearmee für klapper-storchlahme europäische Bevölkerun-gen ausgeträumt.

9. Die zentrale Rolle der Erwerbspersonen

Seit langem wird diskutiert, womit einalterndes und schrumpfendes Erwerbs-potenzial zu kompensieren sei. Es wirdalso auf diejenige Gruppe gesehen, vonderen Arbeit alle leben – die arbeitendeBevölkerung.

Ein langfristiges Ziel moderner Bevöl-kerungspolitik wäre die Stabilisierungder erwerbsfähigen Bevölkerung zwis-chen 20 und 60. Dies würde jedocheine jährliche Zuwanderung von ca.450.000 jüngeren, leistungsbereitenMenschen erfordern, die regelmäßigund weltweit angeworben werdenmüssten. Aus vertrauten Nachbarstaa-ten werden sie nicht mehr kommen,weil sie schon in einer ähnlichen de-mografischen Lage sind. Es ist also ge-boten, die tatsächlichen Erwerbstätigen(und 4 Millionen Arbeitssuchende ein-geschlossen) in ihrem Bestand zu erhal-ten: das „Erwerbspersonenpotenzial“.

An folgender Grafik über seine Ent-wicklung von derzeit 42 Millionen lässtsich zeigen, was es an Zuwanderungbraucht, um sie stabil zu halten oder zubestimmten Annahmen sinken zu las-sen. Eine realistische Zuwanderungs-annahme bedeutet in jedem Fall einenSchwund.

Grafik 3: „Erwerbspersonenpotenzial in Gesamtdeutschland 1995–2040“ in: Höhn/Grünheid

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In Grafik 3 (Seite 39) erscheinen sechsVarianten, die die Erwerbsbeteiligungmit einer höheren und niederen beinhalten, je nach Konjunkturver-lauf und Beschäftigungslage und so-dann vier Wanderungsannahmen,wovon die zu unterst stehenden dreiAnnahmen ohne Wanderungen le-diglich Vergleichsfunktion haben. Siezeigen, dass mit der Verhaltenskom-ponente alleine Erwerbsbeteiligung,ausgedrückt in einer Quote aller Er-werbsfähigen, keinen Einfluss auf denAbwärtssog einer demografischen Im-plosion hat. Die Zuwanderung vonjährlich 500.000 würde das Erwerbs-personenpotenzial stabilisieren, dochwegen Rekrutierungsschwierigkeitennicht gangbar sein. Realistische Saldenvon 100.000 oder 200.000 würden das Potenzial um 35 Millionen und et-was darunter stabilisieren. Wenn wirnun die tatsächlich in Arbeit befind-lichen Erwerbspersonen nehmen, alsoohne die Zahl gemeldeter Arbeitsloserergänzen zu wollen, dann würde die für 38 Millionen Erwerbstätige gelten.Möglicherweise wäre ein Rückgang in40 Jahren um nur 3 oder 4 Millionenmit den oben genannten kompensa-torischen Maßnahmen und mit ge-zielter, strenger Arbeitsmigration zuschaffen. Hier ist zu beachten, dass derwissenschaftlich-technische Fortschrittunaufhaltsam ist und sich dies in derZuwanderungspraxis niederschlagenmuss – hinsichtlich der qualitativenMerkmale der Zuwanderer. Sodann istnicht zu vergessen, dass eine höhereGeburtenrate die beste und preisgüns-tigste „Einwanderung“ darstellt. ImLande Geborene erfüllen mit großerVoraussicht die schulischen Qualifi-kationen in breiter Anzahl. Die Ein-werbung ausländischer Experten istdavon unbetroffen, ebenso das all-

fällige Schließen von Arbeitsmarkt-lücken.

Die Gewissenserforschung allerdings,wie man als bedeutendster Industrie-staat der Welt nicht im Stande war, soviel Qualifizierte hervorzubringen alsbenötigt werden und sie nun vonaußerhalb einwerben muss, kann mansich nicht ersparen. Nun erschallt derRuf nach einem Einwanderungsgesetz.

10. „Zuwanderungsgesetz“ –„Zuwanderungspolitik“

Diese demografische Entwicklung ge-hört nun konfrontiert mit Staatszielen:Das sind die Bestrebungen, die für dieExistenz einer Wohnbevölkerung von82 Millionen unerlässlich sind und ineiner sich rasch wandelnden Welt eineebenso rasch handelnde Politik er-fordern. Dazu braucht sie „Frühwarn-systeme“ mit Hilfe von Indikatoren; diedemografischen Indikatoren haben sichgewaltig in den Vordergrund geschobenund zwar weltweit. Wir sprechen voneinem „demografischen Jahrhundert“,weil alle Entwicklungsprobleme sowohlim Westen, wie in der Dritten Weltohne Demografie nicht mehr ver-standen werden, ja auf demografischeTrends zurückgeführt werden können.Für unseren Raum geht es um Folgen-des:

● Aufrechterhaltung einer Lebens-form, d.h. der sozialen Standardsund sozialen Dienste, die unsereLebenserwartung garantieren;

● Aufrechterhaltung der demokrati-schen Ordnung und das bedeutetBewahrung der kulturellen Grund-lagen (Rechtstradition, Volkssou-veränität, Volkswillen und seine

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Repräsentanz) und das heißt: dienationalstaatliche Deutung vonabendländischer Freiheit (und nichtuniversell-kosmopolitische, die einluftleerer Raum aus Prinzipien wärein dem nichts festzumachen und zugarantieren ist):

● Zwang zu wirtschaftlichem Erfolg,allein schon wegen der sozialenKosten, die laut demografischerTrends nur steigen können (Alte-rung); dazu gehören Bildungs-investitionen, die wegen Jugend-schwundes ebenfalls steigen müs-sen, weil sie einen Innovationswett-bewerb in globaler Ökonomie zubestehen haben.

Zu diesen Zielen bzw. unabdingbarenErfordernissen gibt es keine Alternati-ven. Nun steht in der deutschen Politikein „Gesetz zur Steuerung und Begren-zung der Zuwanderung ...“ im Raum.Es kann nur ein zentrales Ziel haben,die quantitative und qualitative Ergän-zung von Humanressourcen undHumankapital. Das muss ein solchesGesetz als erstes klarstellen und eineadministrative Trennung von außer-ökonomischen Formen der Menschen-aufnahme (Asyl, Flucht) vornehmenund Mechanismen nennen, wodurchsich beide nicht gegenseitig blockieren.Ein Einwanderungskonzept brauchtKlarheit, Rechtssicherheit und Iden-titätsgarantien für die aufnehmendeGesellschaft. Die Neigung Intellek-tueller, in Politik und Medien zu Ap-pellen an abstrakte Rechtsgrundsätze,Verfassung, Menschenrechte und To-leranz Zuflucht zu nehmen, wird nichtgenügen.

Eine Einwanderungspolitik hat zu klä-ren, wer von wo in welcher Zahl zuwelchem Zweck kommen kann, was

man von Einwanderern erwartet (Merk-male der Person) und was sie erwartenkönnen. Wichtig ist noch die öffent-liche Meinung, die Stimme des Vol-kes. Je nüchterner die Zielvorgaben ab-gefasst sind, umso verständlicher sindsie für den „Souverän“ und umso eherist Zustimmung zu erwarten. An eineZuwanderungspolitik wären folgendeForderungen zu richten:

● das Missverhältnis zwischen benö-tigter Arbeitseinwanderung und hu-manitärer Menschenaufnahme inein tragbares Lot bringen

● bei Einwanderung auf Integrations-merkmale achten: die kultureller,religiöser und beruflicher Natur seinmüssen.

● Kontrolle der Familienzusammen-führung als vielfaches Integrations-hemmnis.

● Und politische Überwachung derEinwanderung im Hinblick aufWeltspannungen: die Erklärung ab-verlangen, nicht fremden Mächtenzu dienen. Aufenthalts- und Staats-bürgerschaftsrechte dürften nur mitLoyalitätserklärungen übertragenwerden.

Zuwanderung muss Teil staatlicher Ordnungspolitik sein, die gewiss einerglobalisierten Welt Rechnung trägt. Dastut sie mit Expertenwanderung undtemporärer Flüchtlingsaufnahme. Siekann aber nicht das Weltbevölkerungs-problem dadurch lösen, dass es Europaals demografischen Entsorgungsraumzur Verfügung stellt. Deutschland darfsich nicht in ein Land der Volksgrup-penkämpfe verwandeln. Es muss alshochgradige Industrienation bestrebtsein, die benötigten Qualifikationen inEigenbau zu schaffen. Nachdem dieSozialkosten der Zuwanderung hoch

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sind, drängt sich die Überlegung auf,ob nicht wenigstens die Hälfte die-ses künftigen Menschenmangels übergeburtenfördernde Familienpolitik zubeheben wäre. Das würde gegenübereinem raschen Menschenimport zwareine Zeitverzögerung bedeuten, dochdürften die Zuwanderungskosten baldmit den Kosten einer stärkeren Fami-lienförderung abgewogen werden, so-dass nur eine Kombination aus ge-zielter, wohldosierter Einwanderungund Geburtenförderung sozial- und innenpolitisch zu legitimieren seinwird.

Wenn die deutsche Bevölkerung jähr-lich 100.000 Geburten zu wenig auf-weist, um substanziell die Sterbe-fälle auszugleichen, und es gelingenwürde, geburtenfördernde Familien-politik von Tabus zu befreien undeinzuleiten, dann wäre das Risiko großangelegter Zuwanderung, für die einekulturelle Integration kaum zu schaf-fen wäre, schon zur Hälfte gemildert.Die enormen Kosten für einwandern-de ausländische Familien werden sichohne eine ähnliche politische undfinanzielle Aufwertung der einheimi-schen Familien nicht durchsetzenlassen.

Allmählich gewinnt der Ausweg mitEinwanderung und gleichzeitiger Ge-burtenförderung Konturen. (1) Zuwan-derung sollte erst sanft mit ihrer Vor-stufe, der zeitweisen Expertenwerbungund -beschäftigung, beginnen. (2) Ge-burtenförderung duldet keinen Auf-schub, weil ihre Wirkung sich erst in 15bis 20 Jahren zeigt. Hauptmaßnahmenbeziehen sich weniger auf Kindergeldund Steuererleichterung, sondern auf(3) Vereinbarkeit von Frauenerwerbs-tätigkeit und Mutterschaft, und Auf-wertung der Familienleistungen, d.h. siefür ebenso wichtig zu halten wie dieLeistung der Erwerbstätigen zwischen20 und 65! Mehr Geburten rechtferti-gen weniger Zuwanderung, erfordernaber eine (4) Qualifizierungsoffensivefür die Jugend. Mit ihr ist das Human-kapital von morgen heranzubilden. Siemuss in einen Geist der Kreativität undInnovation hineinwachsen.

Die konsequente Einleitung dieses kom-pensierenden und kombinierendenAuswegs bedeutet dennoch eine Art Kulturrevolution. Sie würde nur demZwecke dienen, eine Kulturnation zu ret-ten, denn sie bleibt das Herzstück vonStaat und Demokratie, gleichgültig wiedie übrige Welt beschaffen sein mag.

Anmerkungen1 Schwarz, Karl: Bestimmungsgründe der Al-

terung einer Bevölkerung, in: Zeitschriftfür Bevölkerungswissenschaft, 2/3-1997, S.347–359.

2 Mai, Ralf /Müller-Kuller, André: Projektionder Entwicklung der Erwerbspersonenzahlin der EU bis 2040. Bamberger Materialienzur Bevölkerungswissenschaft, 2001.

LiteraturBundesministerium des Innern (BMI), Ent-wurf eines Gesetzes zur Steuerung und Be-grenzung der Zuwanderung und zur Re-gulierung des Aufenthalts und der Inte-gration von Unionsbürgern und Ausländern(Zuwanderungsgesetz), Stand: 6.11.2001/

Abänderungen zum Frühjahr 2002.Höhn, Charlotte / Grünheid, Evelyn (Hg.),Demografische Alterung und Wirtschafts-wachstum. Schriftenreihe des Bundesins-tituts für Bevölkerungsforschung (29), Op-laden 1999.

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Bevölkerungsrückgang und demografische Alterung 43

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Politische Studien, Sonderheft 2/2002, 53. Jahrgang, Juli 2002

1. Verdrängte Einsicht in einedemografische Eigengesetz-lichkeit

Spätestens seit Beginn des neuen Jahr-hunderts hat die demografische Prob-lematik unseres Gemeinwesens, auf diein der engeren Fachwelt seit vielenJahren immer wieder und nachdrück-lich hingewiesen worden ist, Politikund Öffentlichkeit in voller Breite ein-geholt. Die vielfältig sich abzeich-nenden Konsequenzen der inzwischenprogrammierten rückläufigen Entwick-lung der (deutschen) Bevölkerung inden kommenden Jahrzehnten in denverschiedenen gesellschaftlichen Le-bensbereichen und politischen Hand-lungsfeldern werden inzwischen deut-lich gesehen und auch anzugehen ver-sucht. Es ist unbestritten wichtig undnotwendig, sich mit Anpassungsmaß-nahmen zu befassen, so etwa in der Ar-beitsmarktpolitik und der beruflichenWeiterbildung, im System der sozialenAltersversorgung und im Gesundheits-wesen (unter Einbeziehung auch derpräventiven Ansätze) bis hin schließ-lich zur Verkehrspolitik, die sich nichtnur auf einen wachsenden Anteil äl-terer Menschen einstellen muss, son-dern auch darauf, dass der Bevölke-

rungsrückgang sich nicht flächen-deckend gleichmäßig vollziehen wird.So muss bei den demografischen Um-brüchen in den verschiedenen Regio-nen Deutschlands mit Bevölkerungs-verschiebungen gerechnet werden, diemit Abwanderungen und leer stehen-den Wohnungen, Schulen und anderenInfrastruktureinrichtungen in der ei-nen Region und mit Zuwanderungen –auch von ausländischen Zuwanderern– in bestimmten anderen Regionen ver-bunden sind. Hier sind z.B. sehr deut-liche Abwanderungstendenzen in Tei-len der neuen Länder zu beobachten, – Entwicklungen, die in jüngerer Zeitverstärkt in das öffentliche Bewusst-sein gerückt sind, obwohl der unge-wöhnlich starke Geburtenrückgang inden neuen Ländern bis zur Mitte derNeunzigerjahre der wichtigere Faktorfür die dort eingetretenen Bevölke-rungsverluste war. Gravierend wirktsich dort die demografische Entwick-lung (Geburtenentwicklung und Wan-derungsbewegung) mit einem Rück-gang der Kinderzahlen nach der Wendeum rd. 60% z.B. im Schulbereich aus:So wurden in den neuen Ländern imJahre 2001/02 nur noch 76.000 Kindereingeschult, während es zehn Jahre zu-vor noch fast drei Mal so viele waren.

Geburtenförderung durchganzheitliche Familienpolitik

– aber wie?

Max Wingen

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Geburtenförderung durch ganzheitliche Familienpolitik – aber wie? 45

Zugleich sind die Fragen einer gelenk-ten und begrenzten grenzüberschrei-tenden Zuwanderung inzwischen be-sonders akut geworden. Die bekannteDiskussion um die Einwanderungs-politik hat dies sehr deutlich gemacht.Spätestens seitdem eine Studie der Ab-teilung Bevölkerungsfragen der Ver-einten Nationen (UNDP) vor wenigenJahren die Schrumpfungstrends derIndustrienationen aufzeigte, richtet die Politik ihr Augenmerk noch stär-ker auf eine Zuwanderungspolitik (die im Grunde eine Form der Bevöl-kerungspolitik darstellt), die u.a. denGeburtenrückgang in gewissem Gradekompensieren soll. Ein wirklicher Aus-gleich kann auf diese Weise jedochnicht erreicht werden; eine in den da-mit verbundenen Integrationsproble-men bewältigbare Zuwanderung kann,wie inzwischen nicht mehr bestrittenwird, die demografische Problemlagenur abschwächen, etwas abfedern,nicht aber beseitigen. Eine „Bestands-erhaltungsmigration“ – ein bevölke-rungspolitischer Begriff aus der UN-Studie – kann ernsthaft keine Lösungsein, – wenn denn überhaupt volle Be-standserhaltung der Bevölkerung einZiel sein soll.

So wichtig und unerlässlich diegenannten und andere – rechtzeitig zu bedenkende – Anpassungsstrategienauch sind1, so wenig können sie aus-reichen, die demografische Problem-lage wirklich im Kern zu lösen. Einezukunftsfähige Gesellschaftspolitik wirdauch an der Wurzel – und in diesemSinne „radikal“ – ansetzen und dieNotwendigkeit und Möglichkeiten ei-ner Korrektur der desaströsen Gebur-tenentwicklung bedenken müssen.Letztere stellt, verstärkt durch die ansich erfreuliche Tatsache, dass immer

mehr Menschen noch etwas älter wer-den, den maßgeblichen Bestimmungs-faktor für das „kollektive Altern“ undvor allem für den langfristig angelegtenrückläufigen Bevölkerungsprozess dar.

Die Tragweite der demografischen Prob-lemlage als politisches Gestaltungs-problem wird in voller Breite sichtbar,wenn eine bevölkerungswissenschaft-liche Einsicht wirklich bedacht wird,die in der gesellschaftspolitischen Dis-kussion bisher kaum ausreichend be-achtet wird, auch wenn das demo-grafische Bewusstsein in jüngerer Zeitvielleicht etwas größer geworden ist. Eshandelt sich um den folgenden grund-legenden Sachverhalt: Der aus derzurückliegenden Entwicklung her pro-grammierte unabwendbare Rückgangder (deutschen) Bevölkerung ist durcheine sog. „demografische Trägheit“ ge-kennzeichnet, deren Auswirkungen inder kurzfristigen, eher tagespolitischorientierten Sichtweise nur allzu oftausgeblendet bleiben. Die vorliegendendemografischen Modellrechnungen ausdem Umfeld der amtlichen Statistikkönnen hier deshalb leicht zu Fehl-schlüssen verleiten, weil die dort bis zurMitte des Jahrhunderts ausgewiesenenGrößenordnungen des Bevölkerungs-stands nicht einen Endpunkt bezeich-nen, auf den hin der „Übergang“ inden nächsten Jahrzehnten nun eben„bewältigt“ werden müsse; vielmehrhandelt es sich um Durchgangsgrößeneines ohne nachhaltige Anhebungender Geburtenrate weiter abwärts ge-richteten Bevölkerungsprozesses („Be-völkerungsimplosion“). Eine zur Mittedes Jahrhunderts gegenüber heute umvielleicht – je nach Annahmen in denVorausrechnungen – 10 oder 15 Mill.niedrigerer Bevölkerungsstand, derdann einigermaßen stabilisiert erhal-

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ten bleiben soll, setzt voraus, dassschon in den nächsten Jahren eindeutlich höheres Geburtenniveau er-reicht wird. Es gibt Zusammenhänge,die unbestritten richtig sind, die aberso sehr jenseits der Alltagserfahrungliegen, dass sie kaum in das öffentlicheBewusstsein eingehen. Dazu gehört die Tragweite, die eine schon über Jahrzehnte weit unterhalb des Be-standserhaltungsniveaus einer Be-völkerung liegende Geburtenrate fürdie künftige Bevölkerungsentwicklunghat.

Um den Sachverhalt wegen seiner im-mensen Tragweite in aller Deutlichkeithervorzuheben: Die vorliegenden (mo-dellhaften) Bevölkerungsprognosenkennzeichnen an ihrem Ende Durch-gangsgrößen, nicht aber den Endpunktder rückläufigen Bevölkerungsentwick-lung. Wie die Bevölkerungsgrößen ei-ner dann mehr oder minder stabilisier-ten Bevölkerungsentwicklung aussehenkönnen, entscheiden wir heute, in un-serem Umgang mit dem Thema „Ge-burtenentwicklung“, d.h. mit unserempolitischen Tun oder auch Unterlassen.Diese großen zeitlichen Verzögerungensind auf den o.g. Sachverhalt der „de-mografischen Trägheit“ zurückzufüh-ren. Sie verlangt im Blick auf die künf-tige Entwicklung längst ein Denken inGenerationen.

Die Geburtenrate in Deutschland istnicht nur – auch international – „ver-gleichsweise niedrig“, wie es in der politischen Diskussion häufig heißt(Deutschland hat mit einer durch-schnittlichen Kinderzahl je Frau – der„Generationenrate“ – von 1,37 einesder niedrigsten Geburtenniveaus in-nerhalb der EU, die Generationenrateliegt um über ein Drittel unterhalb des

„replacement levels“, der Anteil derzeitlebens kinderlos Bleibenden steigtdeutlich an); es besteht nicht nur ein„Trend zu niedrigen Kinderzahlen“, wiees im Bericht der Zuwanderungskom-mission heißt, – das Geburtenniveau inDeutschland ist im Klartext gesprochen„zu niedrig“. Diese Beurteilung stelltkeine ideologisch begründete Behaup-tung dar, sondern kann als Ergebniseines rationalen Diskurses angesehenwerden: Die Umsetzung der gemein-wohlrelevanten Wertentscheidungendes Grundgesetzes, die dauerhafte Ab-sicherung der Sozialstaatlichkeit, dieSicherung der Humanvermögensbil-dung in unserer Gesellschaft, die Ver-wirklichung von „Generationengerech-tigkeit“ (was meint, dass jede Gene-ration der nächsten mindestens genauso viele Chancen und Handlungs-spielräume hinterlassen sollte, wie sieselbst vorgefunden hat) und ähnlichegrundlegende Ziele unseres Gemein-wesens setzen einen demografischenProzess voraus, der nicht durch jenedrastischen Verwerfungen gekenn-zeichnet ist, wie sie seit Jahren abseh-bar sind. Der Schrumpfungsprozess inder (deutschen) Bevölkerung als solch-er ist ohnehin unvermeidbar. Es kann„nur“ darum gehen, diesen Prozess ab-zuschwächen (in einer „gelenktenSchrumpfung“). Es ist gar nicht so ein-fach für entwickelte Industriegesell-schaften, in sozialverträglicher Weisezu schrumpfen.

2. Überfällige Enttabuisierunggesellschaftspolitischer Interventionen

Einer auch demografisch akzentuierten,in diesem Sinne bevölkerungsbewuss-ten Familienpolitik kommt hier eine

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geradezu strategische Bedeutung zu. Siewird angesichts des auf mehrere Jahr-zehnte hin unabwendbaren Rückgangsder (deutschen) Bevölkerung eine ge-gensteuernde Wirkung zu entfaltenhaben, und zwar dadurch, dass sie dieBedeutung der Familien und vor allemder Entscheidungen für oder gegenKinder für die demografische Entwick-lung sehr viel deutlicher in das öf-fentliche und politische Bewusstseinrückt und das Feld der generativenEntscheidungen nicht mehr oder we-niger ausklammert.2 Für eine systema-tische und auf die gesamte Leistungs-breite von Familien (und damit ebenauch auf die generative Funktion) aus-gerichtete Familienpolitik lässt sichdieser Aspekt im Grunde nicht (länger)verdrängen. Zum familienpolitischenDiskussionsstand im eigenen Landgehört der Befund, dass die politischeAuseinandersetzung mit den Bestim-mungsfaktoren der Geburtenentwick-lung geradezu tabuisiert war und weit-hin noch ist. Familienpolitik, die sichals eine auch geburtenfördernde Politik– einem wichtigen Aspekt einer Nach-wuchsförderpolitik – verstehen möchte,sieht sich alsbald in die Ecke einer„Bevölkerungspolitik“ unseligen Ange-denkens gerückt. Vielleicht wird diese„kollektive Verdrängung“ (H. Birg)noch dadurch begünstigt, dass die poli-tischen Entscheidungsträger spürenoder auch wissen, dass der Kinderarmutnur durch tief greifende, eigene poli-tische Mehrheiten u.U. gefährdendesozialreformerische Ansätze beizukom-men ist.3

Damit stellt sich dann allerdings diewichtige Frage nach der Legitimitätpolitischer Interventionen, die geradeauch das Feld der hoch persönlichengenerativen Entscheidungen berühren.

Grundsätzlich kann es kaum zweifel-haft sein, dass es für eine gemeinwohl-dienliche Politik mit Blick auf die Wei-terentwicklung unserer Sozialordnunglegitim ist, in einer mit einer frei-heitlichen Sozialordnung vereinbarenWeise auf die für die Weitergabe desLebens wichtigen Bedingungen in denFamilien und der Gesellschaft ein-zuwirken. Sich über diese Zusammen-hänge gesellschaftspolitisch zu ver-ständigen war lange Zeit über dadurchsehr erschwert, dass die gängige Inter-pretation von „political correctness“ einungeschminktes Ansprechen der tat-sächlichen Problemlage und ihrerwesentlichen demografischen Mitver-ursachung in öffentlichkeits- und po-litikwirksamer Weise eher verhinderte.Die Argumentationskeule der „Be-völkerungspolitik“ lag stets griffbereit,um auch rationale familienpolitischeDenkansätze schon im Keim zu er-sticken. Das gilt für nicht wenigeZeitgenossen auch heute noch. Die in-zwischen sehr viel deutlicher in dasöffentliche Bewusstsein getretenenProblemlagen sollten hier eigentlich für eine unvoreingenommenere Sichtden Weg ebnen.

Die generativen Entscheidungen füroder gegen Kinder sind hochpersön-liche Entscheidungen und müssen esbleiben; aber in ihren objektiven Kon-sequenzen sind sie gesellschaftlichhochgradig relevant,4 (weshalb Kin-derhaben und -aufziehen auch keinereine Privatangelegenheit ist, mit derdie einzelne Familie allein fertig zuwerden hat). Angesichts des hochper-sönlichen Charakters der Entscheidun-gen für oder gegen Kinder darf es sichnicht um eine direkte und unmittelbareBeeinflussung der generativen Entschei-dungen als solchen nach staatlichen

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Vorgaben handeln; vielmehr geht esvor allem um die Einwirkung auf diesozialökonomischen und sozio-kul-turellen Rahmenbedingungen auf derMakro- und Mesoebene, unter denendiese generativen Entscheidungen aufder Mikroebene getroffen werden(müssen). Der Einfluss auf die Entschei-dungen selbst ist hier ein indirekter,mittelbarer, durch die Gestaltung derLebensbedingungen vermittelter, beidem die eigenverantwortliche, persön-liche Entscheidung der Paare als einzentraler Faktor dazwischen geschaltetbleibt. Er darf nicht außer Kraft gesetztwerden, (weshalb sich ja auch erst rechtdirekte Zeugungsge- oder -verbote undsonstige manipulative Eingriffe vonvorneherein verbieten, bei denen diefreien Entscheidungen der einzelnenihren Charakter verlören). Auch einebevölkerungsbewusste Familienpolitikmuss sich in diese übergeordneten Ord-nungsvorstellungen einordnen. Ande-rerseits ist im marktwirtschaftlichenProzess z.B. die verhaltenslenkendeWirkung von Preisen oder Steuerndurchaus nicht unbekannt. Sie geltenjedoch im Sinne von Herbert Gierschals „führende“ und nicht als „zwin-gende“ Mittel.

3. Das grundlegende Recht zur freien, verantwortlichenund informierten Entschei-dung über die Zahl derKinder

Für unsere Sozialordnung bietet derRückgriff auf die 1968 in Teheran er-gänzte Menschenrechtserklärung einenpolitikwirksamen Ausgangspunkt füreine solche Familienpolitik. Dort ist dasgrundlegende Recht der (Ehe-)Paarefestgeschrieben, frei, verantwortlich

und informiert über die Zahl der Kinder(und den zeitlichen Abstand ihrerGeburt, dem sog. „spacing“) zu ent-scheiden. Mit der bloßen Proklamationeines formalrechtlichen Anspruchs wirdes in der Alltagswirklichkeit der Men-schen allerdings nicht sein Bewen-den haben können. So stellen sich hierzu einige Rückfragen von aus-gesprochen gesellschaftspolitischerTragweite:

– So frage man sich einmal, wie „frei“diese Entscheidungen tatsächlich sind.Der gründlich belegte familienwis-senschaftliche Forschungsstand zeigt:Es gibt vielfältige „Barrieren“ und Be-hinderungen materieller und imma-terieller Art, teils gerade auch in denStrukturen unserer Wirtschaftsgesell-schaft begründete Hemmnisse, die ei-ner Realisierung von Kinderwünschen– in sozialschichtenspezifisch durchausunterschiedlicher Weise – entgegen-stehen. Dabei sind die Entscheidungenfür oder gegen Kinder nachhaltig durchsoziale Normen und Werthaltungengesellschaftlich überformt. Diese Fak-toren konstituieren zusammen einenRahmen, der allzu oft als wenig kinder-und familienbezogen erfahren werdenmuss. Bekannt ist die Formel von der„strukturellen Rücksichtslosigkeit“ vonWirtschaft und Gesellschaft gegen-über der Familie, die im Anschluss anF.-X. Kaufmann vor allem Eingang inden Fünften Familienbericht (1994) ge-funden hat.

Kann von wirklich freier Entscheidungdann gesprochen werden, wenn Elternmit der Entscheidung zu (mehreren)Kindern sich und die (weiteren) Kinderin – wenn auch kulturspezifisch rela-tive – Armut hinein manövrieren? Mitder formalrechtlichen Freiheit der ge-

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nerativen Entscheidung, der kein ge-setzliches Verbot entgegensteht, ist esja nicht getan. Können diese Entschei-dungen als wirklich frei gelten, wennsie unter den gegebenen Bedingungengleich bedeutend sind mit einemSelbstausschluss aus auch anderenFormen sinnvoller Lebensgestaltung?Ohne einer Position des „to have it alltogether“ das Wort reden zu wollenund wohl wissend, dass die Wahr-nehmung einer (wichtigen) Lebensop-tion durchaus Beeinträchtigungen beianderen Formen der Lebensentfaltungmit sich bringen kann, muss es dochals eine empfindliche und im Grun-de nicht akzeptable tatsächliche Ein-schränkung des elementaren Rechts derfreien Entscheidung in der Weitergabedes Lebens angesehen werden, wennmit der Entscheidung für Kinder anderelebenssinnstiftende Entwürfe von vor-neherein abgekappt werden, Optionen,die begrenzt wahrzunehmen für deneinzelnen z.B. im Blick auf seine Aus-bildung und seine biografische Lagemit zur verantwortlichen Lebens-entfaltung – auch in der Sorge für das Wohl der Kinder – gehören kön-nen.

Ebenso müssen biografische Unsi-cherheiten im Lebensablauf der Einzel-nen (insbesondere von Frauen) ernstgenommen werden, die mit der be-wussten Entscheidung zur Elternschaftvor allem im Blick auf das Wohl desKindes verbunden sein können. Umsowichtiger erscheint es, solche Un-sicherheiten durch eine Familienpo-litik, die auch an den Prinzipien derVerlässlichkeit und Nachhaltigkeit orientiert ist, möglichst abzubauen.Forschungsergebnisse lassen im Blickauf den Prozess der Familienentwick-lung und der generativen Entschei-

dungen immer wieder die Bedeutungsichtbar werden, die den individuellenVorstellungen, Erfahrungen und Zielender Paare hinsichtlich ihrer Bezie-hungsgestaltung und ihrer aktuellenLebenssituation zukommt, also Fak-toren auf der Mikroebene von Ehe undFamilie, die teilweise wiederum inWechselbeziehung stehen zu Faktorenauf der Makroebene. Hier sind damitHilfestellungen gefragt, die bis weit in den Bildungsbereich hineinrei-chen.

Das grundlegende Recht der freien undverantwortlichen generativen Entschei-dung würde im Prinzip allzu leicht aberauch dort unterlaufen, wo Paare etwamit übermächtigen wirtschaftlichenAnreizen (z.B. extrem hohen Geburten-prämien) zu einem (weiteren) Kind„verführt“ würden, das sie mit Rück-sicht auf die Lebenssituation der Fa-milie längerfristig im Grunde kaumverantworten können.

Wenn die Entscheidungen für odergegen (weitere) Kinder „verantwortlich“gefällt werden sollen, stellt sich dieFrage, welche Dimensionen von Ver-antwortung hier zu bedenken sind. Esgibt eine zentrale persönliche Dimen-sion, die auf die einzelne Ehe und Fa-milie und ihre Mitglieder, auf die Ver-antwortung der Eltern voreinander undauf die Verantwortung gegenüber denbereits geborenen und den noch unge-borenen Kindern in ihren persönlichenAnsprüchen abhebt. Daneben stehtfreilich auch eine gesellschaftliche Di-mension, die im Allgemeinen für denEinzelnen schon weit weniger „exis-tenziell“ erfahrbar ist, sich aber ausseinem personalen Charakter als Individual- und Gemeinschaftswesenergibt. „Verantwortete Elternschaft“ er-

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weist sich daher immer als eine auchgesellschaftlich verantwortete Eltern-schaft. Dies gilt nicht nur für zahlreichevon starken Bevölkerungszuwäch-sen elementar bedrohte weniger ent-wickelte Länder, sondern im Prinzipauch für die hoch entwickeltenGesellschaften Westeuropas mit teilsdiametral entgegengesetzter demo-grafischer Problemlage. Die voll zu res-pektierende Entscheidung zur Kinder-losigkeit oder das Bestreben, mit nureinem Kind das individuelle Glück zumaximieren, bedingen mit Rücksichtauf die Gesellschaft geradezu, dasszugleich auch der nötige soziale undwirtschaftliche Freiraum für die Ent-scheidung zu mehreren Kindern tat-sächlich gesichert ist. Dies erfor-dert eine systematische Gestaltung der Rahmenbedingungen einer per-sonal, also individuell und sozial, verantworteten Elternschaft auf derGrundlage einer grundwerteorien-tierten Politik.

Bei einem Bezug auf das Allgemein-wohl werden freilich schwierige Fragenberührt, die hier nur angedeutet wer-den können. Im Zuge des Individua-lisierungsschubs der letzten Jahrzehntemit der besonderen Betonung der Frei-heit des Individuums hat sich die auchfür die Entscheidung für oder gegenKinder wirksame Vorstellung stark aus-gebreitet, dass die (tatsächlichen oderauch vermeintlichen) Bedürfnisse deseinzelnen wichtiger sind als Belangevon Institutionen außerhalb seinespersönlichen Lebenskreises. Und dochdürfen auch die letzteren nach einempersonalen Menschen- und Gesell-schaftsverständnis nicht einfach aus-geblendet werden. Es bleibt daran zuerinnern, dass es überindividuell be-deutsame und auf Dauer angelegte

Einrichtungen (Institutionen) gibt, dienicht zufälliger Erfindung bzw. derWillkür des Menschen entspringen undfür ein menschenwürdiges und -ge-rechtes Zusammenleben unentbehrlichsind. Auch dies anzuerkennen gehörtzu einer verantworteten Freiheit, ohnedie eine „Kultur der Freiheiten“, vonder so oft die Rede ist, letztlich nichtvon Dauer sein kann. Die auf dieGemeinschaft angelegte Person istetwas anderes als das atomisierte „In-dividuum“, das nur sein Eigeninteressekennt. Für das Privateigentum wirdgrundsätzlich – auch unter Berufungauf das Grundgesetz – eine Sozial-pflichtigkeit durchweg bejaht. Bisherspricht – ohne damit Unvergleichbaresvergleichen zu wollen – kaum jemandvon einem „Sozialbezug“ der gene-rativen Entscheidungen – und vonhochgradig individualistischen Posi-tionen aus werden gegenüber einersolchen Vorstellung sicherlich erheb-liche Bedenken erhoben. Dennochstellt sich die Frage, ob nicht der Sozial-bezug der individuellen generativenEntscheidungen in aller Behutsamkeitin den gesellschaftspolitischen Dis-kurs mit hineingenommen werdenmuss.

Bei den „informierten“ Entscheidun-gen der einzelnen Paare kann es sichwohl nicht ausschließlich um die In-formation über die zu Gebote stehen-den Möglichkeiten und Mittel einerbewussten Geburtenregelung und -begrenzung handeln. Darum muss essich gewiss auch und zunächst einmalhandeln – aber auch darum sicher-zustellen, dass der Einzelne die Trag-weite seiner individuellen Entschei-dungen, die sich mit der Vielzahl derindividuellen Entscheidungen andererzu einem gesellschaftlich wirksamen

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tierende Familienpolitik, für die hierplädiert wird , bildet das grundlegen-de Recht der (Ehe-)Paare, frei, verant-wortlich und informiert über die Zahlihrer Kinder zu entscheiden, einen zen-tralen Bezugspunkt.5 Von einer be-völkerungsbewussten Familienpolitikkann nur dort gesprochen werden, wodie in die allgemeine Gesellschafts-politik integrierte Familienpolitik diesesRecht stärkt oder doch zu stärkensucht, wo sie also Voraussetzungenverbessert (oder erst schafft), diesesRecht wirklich ausüben zu können;damit gilt es, Beeinträchtigungenabzubauen, die den Einzelnen daranhindern.

Insoweit eine solche Verbesserung derVoraussetzungen für die Ausübungdieses grundlegenden Rechts zu einemhöheren Geburtenniveau führt, han-delt es sich im Ergebnis durchaus umeine Geburtenförderung. Gleichwohlhaben wir es nicht mit „Bevölke-rungspolitik“ zu tun. Hier erscheint einklärendes Wort zu der weithin anzu-treffenden These angebracht, es seinicht Aufgabe der Familienpolitik, aufgeburtenfördernde Maßnahmen zu set-zen; dies sei ohnehin kaum wirksam.Entscheidend für die Abgrenzung einer bevölkerungsbewussten Fami-lienpolitik, die in einer bestimmten his-torischen Situation des Gemeinwesenszu einem Geburtenanstieg führt, ge-genüber einer Bevölkerungspolitik ist,dass es sich um einen Geburtenanstieghandelt, der aus den eigenverant-wortlichen Entscheidungen der einzel-nen Paare im Blick auf die Realisierungihrer Kinderwünsche im Rahmen ihrerindividuellen Lebensentwürfe erwächst(und nicht staatlichen Planvorgabenentspringt, auf die hin Familien ins-trumentalisiert würden).

kollektiven Verhalten bündeln, in etwaübersehen kann. Erst auf der Grundlagesolcher Einsichten kann wohl von ei-ner wirklich informierten Entscheidunggesprochen werden. Voraussetzungdafür ist eine wohlbegründete breiten-wirksame demografische Informationund Bildung.

4. Bevölkerungsbewusste Familienpolitik ist keine„Bevölkerungspolitik“

Wenn es als ein so grundlegendes Rechtder (Ehe-)Paare gilt, frei, verantwortlichund informiert über die Zahl ihrerKinder (und das „spacing“) zu entschei-den, dann muss die Gesellschaftspo-litik ihren Teil dazu beitragen, dassdieses Recht auch tatsächlich eingelöstwerden kann, d.h. dass die einzelnenPaare die ihrem individuellen Lebens-entwurf entsprechenden Entscheidun-gen zu Kindern möglichst unbeein-trächtigt treffen können. Das setzt eineentsprechende Rahmengestaltung imwirtschaftlich-sozialen Feld ebensovoraus wie ein – z.B. bildungspolitischunterlegtes – Hinwirken auf einemöglichst weit ausgeprägte Dimensionder Verantwortlichkeit dieser Entschei-dungen. Damit wird dann in der sozial-historischen Situation unseres Gemein-wesens, so wie die Dinge liegen, imNebeneffekt eine demografische Wir-kung begünstigt, die der Erreichungeiner gesamtgesellschaftlich als er-wünscht anzusehenden Zielperspek-tive dienen kann, die auch die in derpolitischen Verantwortung liegende demografische Entwicklung mit um-fasst.

Für eine auch ihre demografischen Aus-und Nebenwirkungen bewusst reflek-

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5. Grenzen einer bevölkerungs-bewussten Familienpolitikund Bedeutung der persön-lichen Wertorientierungen

Selbst wenn insbesondere ordnungs-politische Ansatzpunkte konsequentaufgegriffen werden, bleibt freilich die Frage, ob dies in jedem Falle aus-reichend erscheint, um gesamtge-sellschaftlich befriedigende demogra-fische Strukturen dauerhaft zu sichern.Immerhin muss mit der Möglichkeitgerechnet werden, dass – solange ge-sellschaftliche Bezüge in den genera-tiven Entscheidungen zu schwach aus-geprägt sind – unter dem Einfluss vonKalkülen, in die vorwiegend die pri-vaten Folgen der individuellen Ent-scheidungen für oder gegen Kindereingehen, die Vielzahl der einzelnengenerativen Paarentscheidungen nochnicht eine gesamtgesellschaftlich er-wünschte demografische EntwicklungGewähr leistet. Und doch sind hier diegrundlegenden individuellen Rechte(gerade auch der Frau) im generativenFeld zu beachten. Sie setzen als Ge-genpol zu gesamtgesellschaftlichenOrdnungsvorstellungen zur Bevölke-rungsentwicklung eines Gemeinwesenswichtige Grenzen für politisches Han-deln in der Verfolgung solcher ge-sellschaftlichen Ordnungsvorstellun-gen. Diese dürfen nicht gegen dasumrissene grundlegende Recht dereinzelnen Paare zu verwirklichen ver-sucht werden. Maßnahmen, die dieFreiheit der einzelnen Paare in ihrergenerativen Entscheidung beeinträch-tigen, können in unserer Sozialord-nung nicht akzeptiert werden. Hierwürde der Rubikon zu einer Bevöl-kerungspolitik überschritten. Muss Poli-tik also u.U. akzeptieren, wenn dieEntscheidungen der Einzelnen im

Ergebnis etwa zu einem als sozial un-erwünscht angesehenen Bevölkerungs-rückgang führen? Ehe sich diese Fragein aller Radikalität stellt, hat die Politikfreilich zuvor die gesellschaftlichen Be-dingungen so zu gestalten, dass vonwirklich freien Entscheidungen ge-sprochen werden kann. Und hier be-steht erheblicher, bisher bei weitemnicht ausgefüllter Handlungsspielraum.

Besondere Behutsamkeit ist geboten beidem diffizilen Versuch, die dem gene-rativen Handeln zu Grunde liegen-den Motivationen selbst verändern zuwollen. Könnte es hier nicht naheliegen, zumindest die Tragweite un-terschiedlicher Wertvorstellungen inihrem gesellschaftlichen Bezug auchauf den die Allgemeinheit elementarangehenden Bevölkerungsprozess brei-tenwirksam zu verdeutlichen? In dereinschlägigen Diskussion ist das schonvor Jahren auf die Formel gebracht wor-den, ob es über den Abbau von Bar-rieren zur Verwirklichung von „eigent-lich vorhandenen Kinderwünschen“hinaus vertretbar sei, mittelbar auchden Kinderwunsch als solchen zu be-einflussen, und zwar gegenwärtig imSinne einer tendenziellen Anhebungder angestrebten Kinderzahl in denFamilien. Manche mögen sich hier auf einen unter den gegebenen Bedin-gungen „deformierten Kinderwunsch“berufen, der nicht dem wirklichenKinderwunsch entspreche. Nun ist derKinderwunsch von Paaren, die grund-sätzlich Kinder haben können, ohne-hin eine schwer fassbare Größe; wastatsächlich an Stelle von etwas „omi-nösen Kinderwünschen“ in der Wirk-lichkeit zählt, sind Entscheidungen für oder gegen Kinder. Wenn dieseEntscheidungen der einzelnen Paareunter den konkreten und politisch

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gestalteten Rahmenbedingungen derWirtschafts-, Sozial- und Kulturord-nung fallen, so ist die Grenze nur schwer auszumachen, jenseits derer es sich bei einem gezielten Abbau von Hindernissen und Barrieren undeinem planvollen Hinwirken auf fami-lien- und kindgemäße Lebensbedin-gungen nicht nur um erleichterte Ver-wirklichung von vorhandenen Kin-derwünschen, sondern um deren Ent-stehung handelt.6 Politik muss hier injedem Falle transparent sein undbleiben.

Es führt kein Weg daran vorbei, beidem Konzept einer auch demografischeAspekte berücksichtigenden Familien-politik die Ebene der für die Weiter-gabe des Lebens und die Übernahmevon Elternverantwortung wichtigenpersönlichen Werthaltungen und dieeingetretenen Veränderungen mit inden Blick zu nehmen. Gerade hier istfür gesellschaftspolitische Ansätze si-cherlich besondere Zurückhaltung ge-boten. Der Einzelne darf nicht gesell-schaftlich „vereinnahmt“ und auf seine„wahren Bedürfnisse“ von außen fest-gelegt werden. Hier muss das Span-nungsverhältnis zwischen persönlichenWertentscheidungen und individuellenZielvorstellungen einerseits und de-mografischen Ordnungsvorstellungenauf der gesamtgesellschaftlichen Ebeneandererseits ausgehalten werden. Dabeisollte aber auch nicht die Möglichkeitaußer Betracht gelassen werden, dassökonomische und sozialstrukturellefamilienbezogene Hilfen, richtig aus-gestaltet, bewusstseinsbildend wirkenkönnen und damit mittelbar, aberdurchaus nachhaltig die Ebene derindividuellen Werteinstellungen er-reichen. Wer sich hinsichtlich der Än-derung von geistigen Grundeinstellun-

gen auf „die“ herrschende Mentalitätberuft, muss sich fragen lassen, ob esdiese überhaupt gibt und wie vor-herrschende Mentalitäten zu Standekommen. In aller Munde ist der sog.„Wertewandel“, bei dem es sich imGrunde um einen Wandel von Ein-stellungen gegenüber dem Wertesys-tem, also um eine Veränderung vonWertorientierungen, handelt. Dabeiglauben viele, einen Geburtenschwundals Ergebnis eines „Werteverfalls“ aus-machen zu können. So einfach liegendie Dinge aber wohl nicht. Die Verän-derungen in den Wertorientierungensollten nicht vorschnell als ein „Wer-teverfall“ eingestuft werden, wenn-gleich in den Orientierungen der Men-schen nicht wenige überkommeneWertpositionen deutlich an Bedeutungverloren haben; dafür sind andereWertpositionen stärker in den Vorder-grund gerückt. Etwas summarischlassen sich die veränderten Wertorien-tierungen als eine Gewichtsverlagerungvon Unterordnungs- und Gehorsams-werten hin zu Selbstentfaltungswerten(wie Ungebundenheit, „Emanzipation“,aber auch Kreativität bis hin zu Ge-nießen) beschreiben. Helmut Klages,von dem die Formel „von Pflichten-und Akzeptanzwerten zu Selbstent-faltungswerten“ stammt, bezeichnetdiesen nachhaltigen Wandel in denWertorientierungen seit den 60er-Jahren als „eine der einschneidendstenund folgenreichsten Wandlungsbewe-gungen unserer turbulenten Gegen-wart“.7 Gleichzeitig deuten die Ergeb-nisse der Speyerer Werteforschung aberauch darauf hin, dass „synthetischeWertemuster an Bedeutung gewinnen,die in ihrer Synthese von Pflicht- undSelbstentfaltungswerten gerade auch fürgenerative Entscheidungen wichtig er-scheinen.

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Diese Wandlungsbewegung im Feld der Wertorientierungen ist zugleichdurch einen individualistischen Trendgekennzeichnet; die Werthaltungensind sehr viel pluraler geworden. Diedurchgängig ausgeprägte Individua-lisierung der Gesellschaft spiegelt sichgerade auch in den Wandlungen derfamilialen Lebensmuster wider, die in jüngerer Zeit vielfältig beschriebenworden sind. Auf dem Hintergrunddieser individualistisch getönten, ver-änderten Wertorientierungen ist vieldie Rede von „Selbstverwirklichung“;sie gilt heute weithin – wenn auch in unterschiedlichen Schattierungen –als ein zentraler Lebenswert. Dahintersteht auch ein Bewusstwerden eigenerAnsprüche des Einzelnen – z.B. auchder Frau in der Familie. Dieses Stre-ben nach Selbstverwirklichung ist Aus-druck eines Autonomiestrebens, dassehr deutlich mit dem Modernisie-rungsschub der letzten Jahrzehnte ver-bunden ist.

Es dürfte vor allem auch darauf an-kommen, statt gesellschaftlich wirk-samen Leitvorstellungen wie Selbst-entfaltung bzw. Selbstverwirklichungablehnend zu begegnen, diese als„Lebenssinnverwirklichung“ inhaltlichso aufzufüllen, dass sie auch Entschei-dungen für Kinder nicht von vorne-herein entgegenstehen, also in deröffentlichen Kommunikation zu ver-deutlichen, dass – wie die Kammer fürsoziale Ordnung der EKD schon vorvielen Jahren fest gehalten hat – Selbst-verwirklichung auch dadurch erreichtwerden kann, mehrere Kinder zulebenstüchtigen Menschen zu erzie-hen. Eine solche möglichst brei-tenwirksame Sichtweise gehört mit zu einem kulturpolitischen Klima, das günstige Rahmenbedingungen für

Entscheidungen zu Kindern gewähr-leistet.

Die pluraleren Werthaltungen schlagensich auch in den Entscheidungen zu Kindern unmittelbar nieder, undzwar zwischen einzelnen Gruppen vonGesellschaftsmitgliedern, aber auch imZustandekommen der individuellenEntscheidungen der einzelnen Paare.In einer wertepluralistischen Gesell-schaft treten verstärkt Konflikte zwi-schen den unterschiedlichen Wert-orientierungen auf, die bis in dieeinzelne Person hineinreichen können.Die Tendenz der Individualisierungrückt dabei auch das generative Ver-halten in ausgesprochene Konflikt-zonen. Auch hier schlägt durch, dassFreiheit des Individuums heute ei-nen zentralen Grundwert in unsererGesellschaft darstellt; für die Entschei-dungen für oder gegen Kinder erweistsich die Vorstellung als wirkmächtig,dass die Bedürfnisse des Einzelnenwichtiger sind als Bedürfnisse von In-stitutionen bis hin zum Gemeinwesen.Dennoch bleibt auch hier festzuhalten,dass Kinderhaben eben keine reine Pri-vatsache ist.

Die Einbeziehung der Ebene der Wert-orientierungen verweist auf Zusam-menhänge, die weit über den Einflussvon wirtschaftlichen Leistungen hi-nausgehen. Entscheidungen für (odergegen) Kinder sind durchweg partner-schaftlich gefällte wertbezogene Ent-scheidungen, bei denen zentrale per-sönliche Lebensoptionen in ihrerVerknüpfung mit der Sinnsuche desMenschen (als des „zum Sinn be-stimmten Wesens“, V. Frankl) berührtsind. Wenn hier Kinderhaben sich alsein Wert behaupten können soll, gilt esdie allgemeinere Einsicht zu berück-

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sichtigen, dass die Bindung an WerteErfahrungen voraussetzt, in denen dieBindung an Werte überhaupt erstentstehen kann. Hans Joas hat dazuden wichtigen Hinweis gegeben, nichtIndoktrination und Abwehr konkur-rierender Einflüsse erzeugten unterBedingungen kultureller HeterogenitätWertbindungen, sondern nur Lebens-formen, in denen die Werte selbst er-fahren werden: „Erfahrungskonstella-tionen sind es, die den Werte-Traditionen in jeder Generation neueVitalität verleihen – oder nicht.“8 VonBedeutung ist dabei, dass eine zeit-gemäße Artikulation dieser Werte zumindest versucht wird. Dies gilt esauch für die Bedingungen der Mög-lichkeit von Erfahrungen zu bedenken,die Menschen mit Kindern als „Sinn-stiftern“ machen. Diese Erfahrungenwerden neben der Herkunftsfamiliesehr stark durch die gesellschaftlichenBedingungen geprägt, die die einzelnenPaare vorfinden. Wenn diese Erfahrun-gen darauf hinauslaufen, dass es vonden damit verbundenen Konsequenzenin sozialökonomischer und berufs-perspektivischer Hinsicht her schlichtunvernünftig ist, sich für Kinder – erstrecht für mehrere – zu entscheiden,dann kann dem Wert Kind und per-sonale Bereicherung durch Kinder-haben kaum (neue) Vitalität verliehenwerden, um an die Formulierung vonH. Joas anzuknüpfen. Eine wichtigeRolle spielt dabei sicherlich auch dieAntwort auf die Frage, was Kinder fürden Einzelnen in seinen verschiedenenLebensphasen bedeuten – von der Zeitder jungen Aufbaufamilie bis zumLeben im Alter. Was den letzteren As-pekt angeht, so braucht es naturgemäßviel Zeit, bis die Erfahrungen von ver-breiteter Kinderlosigkeit im öffent-lichen Bewusstsein durchschlagen. Bis

dahin können sich freilich Verän-derungen in den generativen Struk-turen, was deren langfristige Aus-wirkungen angeht, in einer ehergemeinwohlschädigenden Weise aus-prägen und spätere Probleme (für denEinzelnen und die Gesellschaft) zumTeil unkorrigierbar grundlegen. Dies istmit zu bedenken, wo auch gewollteKinderlosigkeit als persönliche Ent-scheidung gesellschaftlich zu akzep-tieren ist.

Familienpolitik hat die hochpersön-lichen generativen Entscheidungen zu respektieren, sehr wohl aber dieRahmenbedingungen, unter denendiese Entscheidungen zu treffen sind,so zu gestalten, dass Entscheidungen zur Übernahme von Elternverantwor-tung grundlegenden Wertentschei-dungen in der Gesellschaft etwa hin-sichtlich der Geschlechterbeziehungenoder der Gerechtigkeit zwischen denGenerationen nicht von vornehereinentgegenlaufen müssen. Für eine (auch)bevölkerungsbewusste Familienpolitikwird es sich im Spannungsfeld von in-dividueller und kollektiver Rationalitätdarum handeln müssen, Entscheidungs-und Handlungsspielräume für junge(Ehe-)Paare offen zu halten, sich auchfür (mehrere) Kinder entscheiden zukönnen, wenn dies grundsätzlich ihremLebensentwurf entspricht, und dannnicht lebensperspektivisch durch mas-sive Beeinträchtigungen in der Entfal-tung anderer Lebensdimensionen (wiez.B. Berufstätigkeit in ihren verschiede-nen Formen) behindert zu werden. Sogilt es zu vermeiden, dass die Rea-lisierung von Kinderwünschen durchwirtschaftliche und sozialkulturelleLebensbedingungen, die ja immer zumTeil auch politisch zu verantwortensind, vorzeitig verschüttet wird.

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Der Kern der Problemlösung hin-sichtlich der Geburtenförderung lässtsich auf folgende Formel bringen: Esgilt, solche wirtschaftlichen, sozialen,kulturellen und rechtlichen Bedingun-gen und ordnungspolitischen Voraus-setzungen zu schaffen und dauernd zusichern, dass der Einzelne, der sichnach seinem individuellen Lebens-entwurf für die sinnstiftende Lebens-option „Elternverantwortung über-nehmen“ (auch für mehrere Kinder)entscheidet, dies als vernünftig erlebenkann.

6. Anforderungen an einebevölkerungsbewusste Familienpolitik

Welche Konsequenzen ergeben sich ausden bisherigen Überlegungen für An-lage und Ausgestaltung einer bevöl-kerungsbewussten, auch auf Geburten-förderung (als Nachwuchssicherung)mit abzielenden Familienpolitik? ZurAbschätzung ihrer (begrenzten) Mög-lichkeiten ist vorweg festzuhalten: Eshandelt sich nicht um eine „andere“Familienpolitik in dem Sinne, dass hierganz neue Instrumente ins Spiel ge-bracht würden. In den einzelnen Maß-nahmenfeldern ist bei der Anlage undAusgestaltung der Maßnahmen undLeistungen der Fokus verstärkt mit aufdie familiale Funktion der Sicherungder Generationenfolge zu richten.Dadurch erfährt manche Maßnahmeeine besondere Akzentuierung. Wichtigerscheint besonders, dass eine solcheFamilienpolitik in ihrer notwendigensystematischen Gesamtanlage gesehenund betrieben wird. Es geht darum,ernst zu machen mit dem Systemwis-sen einer modernen Familienpolitik alsgesellschaftlicher Ordnungspolitik mit

Querschnittscharakter: Dazu gehörtwesentlich die Einsicht, dass nur inte-grativ geplante Politikansätze mit Maß-nahmenbündeln, in denen die Not-wendigkeit des Ineinandergreifens vonÄnderung der gesellschaftlichen Le-bensbedingungen und Bewusstseins-änderung der Einzelnen ausreichendbeachtet wird, am ehesten Erfolg ver-sprechen, allerdings auch unterschied-liche Verantwortungsträger (im staat-lichen und nichtstaatlichen Raum)gleichermaßen in die Pflicht nehmen.Von isolierten Einzelmaßnahmen(„monoinstrumentellen Politikansät-zen“) kann erst recht in demografi-scher Hinsicht kaum ein wirklich nach-haltiger und über eventuelle kurzfristi-ge „Pusch-“ oder „Strohfeuereffekte“hinausgehender Erfolg erwartet werden.Das gilt etwa für isolierte einkom-menspolitische Einzelmaßnahmen, dienicht die Lösung sein können. Selbstmit dem Verweis auf verbesserte Rah-menbedingungen für eine konflikt-freiere Vereinbarkeit von Familie undBeruf wird zwar eine sehr wichtige, abereben auch nur eine bedingende Vor-aussetzung für die Erreichung aus-geglichenerer demografischer Struk-turen angesprochen, deren Erfüllungallein für eine Bewältigung des Ge-burtenproblems nicht ausreicht. EineFamilienpolitik, die sich als bevöl-kerungsbewusste Familienpolitik ver-stehen möchte, kann die vielschichti-gen Bestimmungsfaktoren des gene-rativen Verhaltens mit ihrem unter-schiedlichen Gewicht in den verschie-denen Einkommens- und Sozialschich-ten und angesichts unterschiedlicherGrundorientierungen insbesondere dereinzelnen Frauen hinsichtlich Familieund Beruf wohl nur dann erreichen,wenn sie in der gesamten Breite einesintegrativ angelegten Szenarios umge-

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setzt wird und auch in diesem Sinneganzheitlich ist.

Grundsätzlich erscheint sodann für diekonkrete Anlage und Ausgestaltungeiner solchen Familienpolitik wichtig,dass sie betont an den Bedürfnissen ins-besondere der jungen Paare und Elternin der Phase der Familienbildung an-setzt und von diesen akzeptiert wird;9

dies wird sie am ehesten, wenn siedurch die allgemein für die Familien-politik wichtigen Prinzipien der Dauer-haftigkeit und Verlässlichkeit gekenn-zeichnet ist. Hier gilt es zu sehen, dassÜbernahme von Elternverantwortungin aller Regel eine langfristige Angele-genheit darstellt. Zu diesen Prinzipiengehört, möglichst widerspruchsfreieKonzepte zu verfolgen, und dies in aus-reichender Kontinuität. Auf diese undandere Erfordernisse einer auf mehrRationalität bedachten Familienpolitikist in der Vergangenheit immer wiederhingewiesen worden.10 J. Schmid zähltzu den Voraussetzungen einer Politikder Geburtenförderung, eines „zweifel-los komplizierten Politikbereichs“, inunserem westlich-demokratischen Kul-turkreis darüber hinaus, dass sie wederPersönlichkeit noch Freiheit beein-trächtigen darf und demokratisch aufAngebote und Anreize setzen muss.Dem kann nur zugestimmt werden11,auch dem Hinweis, dass eine solchePolitik Entschlusskraft und laufendfinanzielle Mittel erfordert, nicht zu-letzt aber auch einen „langen Atem“;denn wie in den bevölkerungs-wissenschaftlichen Analysen in der Ver-gangenheit – leider ohne den er-wünschten Widerhall in Politik undÖffentlichkeit zu finden – wiederholtaufgezeigt worden ist, darf die Trag-weite der sog. „demografischen Träg-heit“ nicht unterschätzt werden, und

die hat z.B. im Blick auf das Arbeits-kräftepotenzial in der einheimischenBevölkerung zur Folge, dass eine fa-milienpolitisch induzierte Geburten-förderung erst nach einem Vorlauf von mindestens zwanzig Jahren ersteWirkungen zeitigen kann.12

Eben deshalb sind freilich schon diezurückliegenden Jahre, in denen aufsolche Zusammenhänge immer wiederhingewiesen worden ist, als „verloreneJahre“ zu verbuchen. Wenigstens inTeilen der Politik wird – wenn auchsehr verspätet – bewusst, dass schon vor über einem Jahrzehnt mit einemnachhaltigen Hinwirken auf aus-geglichenere demografische Struktu-ren hätte begonnen werden müssen;seinerzeit waren etwa hinsichtlich derVeränderung der Belastungsquotenzwischen den drei Generationen die Be-dingungen noch deutlich günstiger alszu Beginn des neuen Jahrhunderts.Dennoch sollte sich die Politik nicht zuder These verleiten lassen, politischeAnstrengungen nützten heute ohnehinnichts mehr. Es ist schon sehr spät, abernoch nicht zu spät! Hier werden freilichauch folgenreiche Probleme im Ver-hältnis von (Tages-)Politik und de-mografischem Prozess sichtbar: Bei dendemografischen Vorgängen haben wires durchweg mit Prozessen zu tun, dieweit über eine Legislaturperiode hin-ausreichen. Mit kurzatmigem Aktio-nismus ist hier nichts zu bewirken. Dernahe liegende Wunsch der Politiker, amBeginn einer Legislaturperiode zu säen,um an ihrem Ende das dadurch Be-wirkte zu ernten, lässt sich hier nuneinmal nicht erfüllen. Damit wird einProblem in unserer real existieren-den parlamentarisch-repräsentativenDemokratie berührt, das eine rationalePolitik im Blick auf eine Rahmen-

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steuerung der demografischen Ent-wicklung, insbesondere der Gebur-tenentwicklung, erschwert. Hier sindLangfristperspektiven gefragt, die aller-dings keinen tagespolitischen Erfolgversprechen (können).

Welche weiteren Akzentuierungen sindnun für eine Familienpolitik, die ineinem sozialreformerischen Ansatzmehr Chancengleichheit auch fürEltern mit (mehreren) Kindern durcheine nachhaltige und generationen-solidarische strukturgestaltende Ge-sellschaftspolitik zu schaffen hat, un-ter Berücksichtigung der aufgezeigtengrundsätzlichen, auch wertbezogenenund nicht auf die Ökonomie be-schränkten Zusammenhänge in deneinzelnen Handlungsfeldern konkret zu benennen, damit gegensteuerndeWirkungen im demografischen Prozessauf längere Sicht von ihr erwartet wer-den dürfen? Es kann hier nicht darumgehen, diesen Aspekt für die gesamteFamilienpolitik im Einzelnen durch-zubuchstabieren; vielmehr sollen einigebesonders wichtig erscheinende Grund-richtungen und politikgestalterischeAkzente mehr beispielhaft aufgezeigtwerden.

6.1 Personale Beziehungen undBindungen der Ehepartner

Einen ersten Ansatzpunkt bilden diebinnenfamilialen Beziehungsstrukturenund hier die personalen Beziehungenund Bindungen der (Ehe-)Partner. Indiesem durch gegenseitige Verantwor-tung gekennzeichneten Beziehungs-verhältnis sind im Blick auf die fami-liale Grundfunktion der Sicherung derGenerationenfolge möglichst stabileBeziehungen der Partner, und zwar

nicht nur als Mann und Frau, sondernauch in ihrer Rolle als Eltern wichtig.Die Absicherung der gerade auch fürdie generative Funktion so bedeut-samen binnenfamilialen Beziehungs-strukturen sind durch rechtliche Re-gelungen, insbesondere unmittelbardarauf gerichtete Familienrechtsgestal-tung, nur sehr begrenzt möglich(wenngleich hier die positiv einzu-schätzenden Wirkungen der Verbin-dung mit dem Rechtsinstitut der Ehenicht übersehen werden sollten). In un-serer Sozialordnung ist für die fami-lienrechtliche Gestaltung der inne-ren Familienbeziehungen die familialeLebensgemeinschaft als ein weitestmöglich staatsfreier Raum zu respek-tieren. Gleichwohl ist die Ordnungs-konformität der familialen Binnen-strukturen (in den Partner- wie auchElternbeziehungen) zu beachten, unddas bedeutet u.a. die Ausprägung partnerschaftlicher Strukturen auch in der Rollenaufteilung in der inner-familiären Arbeitsteilung. Es kann in der Sicht einer vollentfalteten undauch auf die generative Funktion mitausgerichtete (und auch in diesemSinne ganzheitlichen) Familienpolitiknicht gleichgültig sein, ob in demgesellschaftlichen Teilsystem ’Familie’Beziehungsstrukturen ausgeprägt sind,die mit den übergreifenden Leitvor-stellungen der Ordnung des gesell-schaftlichen Zusammenlebens korres-pondieren oder diesem entgegenlau-fen.

Für die Partnerbeziehung der Eltern istder Aspekt der tatsächlichen Gleich-berechtigung eine besonders wichti-ge Vorgabe für die personal-partner-schaftliche Lebensgemeinschaft. Die Artder Umsetzung des Grundsatzes derGleichberechtigung von Mann und

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Frau erweist sich als geradezu zen-tral auch für die Übernahme von El-ternschaft als einer lebensbestimmen-den Aufgabe. Eine auch bevölkerungs-bewusste Familienpolitik hat aus ih-rem spezifischen Fokus heraus auf Voraussetzungen für gelingende Part-nerschaften hinzuwirken; ihr fällt auch die Aufgabe einer Förderung part-nerschaftlicher Lebensbeziehungen zu, wobei gerade die Entscheidungenfür oder gegen Kinder in das Span-nungsverhältnis von privaten undöffentlichen Interessen und damit ver-knüpften individuellen Ansprüchenund sozialen Erwartungen rücken.13

Wenn es richtig ist, wie Untersuchun-gen zeigen, dass die Entscheidung für Kinder sehr von der Stabilität derPartnerschaftsbeziehung und der Ver-lässlichkeit der getroffenen Arran-gements abhängt, dann gehört die familienrechtsgestalterische Bereit-stellung von dafür förderlichen Struk-turen mit zu dem Aufgabenfeld ei-ner bevölkerungsbewussten Familien-politik, die sich als eine betont gleich-berechtigungsorientierte Familienpo-litik verstehen muss.

Dann stellt sich die praktisch-politischeAufgabe, die Konsequenzen aus demGleichberechtigungsgrundsatz und vorallem aus Diskrepanzen zwischen demverfassungsrechtlich abgesicherten An-spruch auf Gleichberechtigung und der sozialen Wirklichkeit zu ziehen.Dies entspricht der notwendigen Zu-sammenschau von Art. 3 Abs.2 GG und Art. 6 Abs.1 GG, die sich einan-der zu erfüllen haben. Daher gilt die Gewährleistung des GG gerade der Ehe und Familie, in der Mann und Frau gleichberechtigt nebenein-ander stehen.14

6.2 Das Verhältnis von Familie und Erwerbsarbeitsleben

Im Feld des Beziehungsverhältnisseszwischen Familie und Gesellschaft, derGesamtgesellschaft und ihrer gesell-schaftlichen Teilsysteme, verdient dasVerhältnis von Familie und Erwerbs-arbeitsleben besondere Beachtung.Nach den vorliegenden Beobachtungenzu den getroffenen (oder unterlassenen)Entscheidungen für Kinder kommt ge-rade der möglichst konfliktfreien Ver-einbarkeit (eine völlig konfliktfreie wirdes in den seltensten Fällen geben) derÜbernahme von Elternverantwortungund außerhäuslicher Erwerbstätigkeiteine geradezu strategische Bedeutungzu, und zwar mit Blick auf die Frau,denn für den Mann war diese Verein-barkeit im Grunde immer gegeben(weil die Frau dem Mann „den Rückenfrei hielt“). Bei den Ansätzen für einebessere Vereinbarkeit von Familien-arbeit und Erwerbstätigkeit geht es ausgesellschaftsordnungspolitischer Sichtvor allem darum, einen Lebensentwurfder einzelnen Frau und des einzelnenMannes entsprechend den persön-lichen Wertpräferenzen zu ermög-lichen, entsprechend auch dem erwor-benen Ausbildungsstatus insbesondereder Frau. Damit richtet sich dieses Zielauf die Ermöglichung von (mehr) tat-sächlicher Wahlfreiheit zwischen Fa-milie und Beruf. Den Eltern muss esfreigestellt sein zu entscheiden, mitwelchen Optionen sie ihre Vorstellun-gen für ein Leben in Familie und Beruf verwirklichen wollen. Wahlfrei-heit setzt hier ein Angebot unterschied-licher Möglichkeiten voraus, deren Aus-wahl staatlicherseits nicht etwa durchmit bestimmten gesetzlichen Rege-lungen verbundenen wirtschaftlichenSchieflagen gelenkt werden darf („Poli-

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tik der schiefen Ebenen“). Es geht umdie nachhaltige Absicherung einereigenverantwortlichen Lebensgestal-tung im Hinblick auf Familie und Berufsowie zur Chancengleichheit auch vonfamiliengebundenen Mitarbeitern undnicht familiengebundenen Mitarbeiternim einzelnen Unternehmen. Einebevölkerungsbewusste Familienpolitikwird der Verbesserung der Vereinbarkeitvon unterschiedlichen Rollenanfor-derungen, die insbesondere aus Eltern-schaft – nicht nur der Frau als Mutter,sondern auch des Mannes als Vater –und Erwerbstätigkeit erwachsen, ihrebesondere Aufmerksamkeit zuwendenmüssen. Das läuft auf eine bewussteFamilienorientierung der Erwerbsar-beitswelt hinaus, womit neben Staatund Gesetzgeber gerade auch nicht-staatliche Verantwortungsträger (Un-ternehmen und Tarifpartner) ange-sprochen sind.

Insgesamt gilt es, mehr Handlungs-spielräume des Einzelnen für eigen-verantwortliche und partnerschaft-lich konzipierte Biografien zu schaffenund abzusichern. „Erwerbskarriere“ und„Familienkarriere“ in eine ausgewogeneBalance zu bringen erfordert ein ge-rüttelt Maß an Fantasie in der Sozial-und Betriebspolitik. Diese aber istgefragt; denn die Überwindung derdesolaten Geburtenentwicklung wirdnicht zuletzt davon abhängen, in-wieweit es Politik und Gesellschaftgelingt, Voraussetzungen zu schaffen,damit Familienleben und Erwerbsar-beit besser miteinander in Einklang ge-bracht werden können. Deshalb sindeben auch betriebliche Arbeitsabläufeimmer wieder auf ihre Familienver-träglichkeit hin zu überprüfen, zumal,weil vom Einzelnen im Grunde er-wartet wird, dass er aus seiner fami-

lialen Lebenswelt vielfältige Vorleis-tungen mit in den betrieblichen Ar-beitsprozess einbringt.15 Neben be-trieblichen „Frauenförderplänen“ ver-dienen auch „Elternförderpläne“ einegrößere Beachtung. Auch in der un-ternehmerischen Familienpolitik sinddie besonderen Problemlagen von jun-gen Müttern (und Vätern) mit zu se-hen. Worauf es hier u.a. ankommt, lässtsich etwa mit Stichworten umreißenwie: noch weiter verbesserte Bedin-gungen für Teilzeitbeschäftigungensowie für Modelle mit Kombinationvon Vollzeit- und Teilzeitarbeit, ver-mehrte Angebote von partnerschaft-lichen Arbeitsmodellen, (wonach zwarbeide Partner erwerbstätig sind, aber indeutlich weniger als der Stundenzahlvon Vollerwerbstätigkeit).

Die Verknüpfung der Erwerbstätigkeitmit der Übernahme von Elternverant-wortung muss in unterschiedlichenVerhaltensmustern ermöglicht werden,entweder im Sinne des sog. „simulta-nen“ Verhaltensmusters, bei dem Er-werbstätigkeit und (zeitlich entspre-chend begrenzte) Kleinkindbetreuungzeitgleich nebeneinander geleistet wer-den, oder des sog. „sukzessiven“ Ver-haltensmusters, bei dem Erwerbsphase,dominante Familienphase und wiederErwerbsphase zeitlich versetzt im Le-bensablauf aufeinander folgen. BeideVerhaltensmuster müssen gleicher-maßen je spezifische Verwirklichungs-möglichkeiten vorfinden, d.h. es mussvermieden werden, dass ein Verhal-tensmuster gegenüber dem anderenvon den Randbedingungen der Ver-wirklichungsmöglichkeiten her be-nachteiligt wird. Die Übergänge zwi-schen den beiden Grundmustern wer-den in dem Maße fließend, in dem sich längere Elternurlaubsregelungen

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durchsetzen (und in der autonomenbetrieblichen Familienpolitik Platzfinden). Lebensperspektivisch gesehenbedeuten beide Verhaltensmuster (unddie möglichen Zwischenlösungen) ein„Miteinander“ von Familien- und Er-werbstätigkeit, das in seiner unter-schiedlichen Ausgestaltung im Übrigenden unterschiedlichen Ausprägungenvon „Familienorientierung“ und „Be-rufsorientierung“ angehender Elternentspricht. Im Grunde liefe dies aufeine gewisse Akzentverlagerung in derFamilienpolitik von einer betont er-werbsorientierten Familienpolitik zueiner solchen hinaus, die mit derprinzipiellen Gleichwertigkeit von Er-werbstätigkeit und familiärer Kin-derbetreuung und -erziehung nicht nur verbal, sondern auch tatsächlich„handgreiflich“ ernst macht.

Wichtig erscheint daher, dass die un-terschiedlichen Verhaltensmuster durcheine Reihe von verhaltensmusterspe-zifischen flankierenden Randbedin-gungen rechtlicher und tatsächlicherArt abgesichert sind, damit sie auchwirklich lebbar sind. Deshalb sind beidem simultanen Verhaltensmuster ins-besondere ausreichende Angebote anaußerhäuslicher (Klein-) Kinderbe-treuung notwendig. Dabei stellt sichfreilich das Problem der ungleichenökonomischen Ausgangsbedingungenbei Inanspruchnahme von hochgradigöffentlich subventionierter außerhäus-licher (Klein-)Kinderbetreuung unddemgegenüber deren Nicht-Inan-spruchnahme (mit weitestgehend un-entgeltlicher familiärer Eigenleistung),das verteilungspolitisch (durch ein aus-gewogenes Verhältnis von „Realtrans-fers“ und kompensierenden monetärenTransfers) entsprechend anzugehen ist;denn erst dann lässt sich der wirkliche

Bedarf an außerhäuslichen Betreuungs-plätzen für Kleinstkinder ermitteln.

Eine Strategie der Absicherung einerkonfliktfreieren Vereinbarkeit der Über-nahme von Elternverantwortung mitErwerbstätigkeit in unterschiedlichen,von den Eltern möglichst frei zu be-stimmenden lebensperspektivischenModellen muss nicht nur die Gestal-tung der ökonomischen und sozialenRandbedingungen der außerhäuslichen(Klein-)Kinderbetreuung umfassen, son-dern auch die Anregung und Förderungentsprechender Maßnahmen im Rah-men der unternehmerischen Familien-politik (mit familienbewusster Per-sonalpolitik). Dabei ist die Bedeutungangemessen zu berücksichtigen, die dieRessource Zeit bei der elterlichen Be-treuungs- und Erziehungsarbeit besitzt.

Bei dem – mit dem simultanen gleich-wertigen – sukzessiven Verhaltens-muster ist die „Trias“ von einkommens-politischen (Ersatz-)Leistungen („Er-ziehungseinkommen“), arbeitsrecht-lich abgesicherter „Elternzeit“ und An-rechnung von Erziehungszeiten in derGesetzlichen Rentenversicherung her-vorzuheben. Daneben sind bei Über-schreiten der Elternzeit (insbesonderebei mehreren Kindern) längerfristige-re Wiederbeschäftigungszusagen undgezielte Wiedereinstiegshilfen wichtig.Dies gilt im Grunde nicht nur für jungeMütter, sondern auch für junge Vätermit dem Ziel, das Bewusstsein für einegrößere Rollenflexibilität in einer part-nerschaftlichen Arbeitsteilung zu schär-fen. Allerdings wird bisher im Arran-gement zwischen den Partnern dieEntscheidung verständlicherweise auchdurch die unterschiedliche Höhe des ausfallenden Erwerbseinkommens(„Opportunitätskosten“) mitbestimmt

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werden. Deshalb ist die Elternzeit ma-teriell ausreichend auszustatten, undzwar wiederum auch im Blick auf dieSituation junger Väter.

Aus der Sicht einer bevölkerungsbe-wussten Familienpolitik bleibt in die-sem Zusammenhang die unzulängli-che Entwicklung des Erziehungsgeldesanzumahnen, das in seiner nominellenHöhe seit anderthalb Jahrzehnten un-verändert geblieben und daher inseinem Realwert deutlich abgesunkenist, ebenso eine nur unzureichende An-hebung der Einkommensgrenzen fürdie Bezugsberechtigung erfahren hatund bei dem eine Verlängerung derzweijährigen Laufzeit zwecks Überein-stimmung mit der dreijährigen El-ternzeit nach wie vor aussteht. Hierkönnte eine nachhaltige Weiterent-wicklung (zunächst) für Familien mit 3 und mehr Kindern in Betracht kom-men, was den zusätzlichen Finanzbe-darf spürbar begrenzen und unter de-mografischem Aspekt gezielter ansetzenwürde.

6.3 Einkommenssicherung

Sodann ist die Sicherung eines fami-liengemäßen Einkommens in den Blickzu nehmen. Auch dieses allgemeinefamilienpolitische Ziel ist unter demspeziellen Aspekt der Entscheidungenfür oder gegen Kinder zu bedenken.Auch wenn eine ausreichende wirt-schaftliche Sicherung der Familiennicht den alleinigen oder – in be-stimmten Einkommens- und Sozial-schichten – nicht einmal den ent-scheidenden Bestimmungsfaktor fürdas generative Verhalten darstellt, sokommt ihr doch eine erhebliche Be-deutung zu, und zwar gerade im Blick

auf ihre Dauerhaftigkeit und Ver-lässlichkeit. Sie ist eine notwendige,wenngleich keine hinreichende Be-dingung für die in aller Regel lang-fristige Übernahme von Elternverant-wortung. Das Ziel der Sicherung einesfamiliengemäßen Einkommens hat erstrecht nach den jüngeren Entscheidun-gen des BVerfG nichts an Aktualitäteingebüßt, sondern eher noch gewon-nen.

Die durchgreifende Korrektur derStrukturen der marktleistungsbe-stimmten Einkommensverteilung musskonsequent auf die Sicherung einesfamiliengemäßen Einkommens, das derallgemeinen Einkommens- und Preis-entwicklung laufend anzupassen ist,ausgerichtet sein, und zwar in einemdreifachen Aspekt:

● Gewährleistung von Steuergerech-tigkeit (einkommensteuerliche Frei-stellung des sozial-kulturellen Min-destbedarfs von Kindern (einschl.des Betreuungs- und Erziehungsbe-darfs, mit realitätsgerechter Bewer-tung der einzelnen Aufwandsfak-toren), was noch keine eigentlicheFamilienförderung darstellt;

● Gewährleistung von Bedarfsgerech-tigkeit mit Blick auf den Ausgleichder kinderbedingten Mehrkosten imVergleich zu Kinderlosen (Familien-lastenausgleich i.e.S.), in den auchfamilienphasenspezifische Transfer-leistungen wie Erziehungsgeld (Er-ziehungseinkommen) integriertwerden können, womit dann dieGrenze überschritten wird zur

● Gewährleistung eines Familienleis-tungsausgleichs, der in Deutschland(und nicht nur hier) bisher erst inden Anfängen steht und elementareLeistungen der Familien für das

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lichen Güter gesehen werden, sonderndie familiäre Dienstleistung des Auf-ziehens von Kindern. Zum anderenstellt auch diese familiäre Dienstleis-tung nicht in Gänze ein öffentlichesGut dar, sondern diese Investitionen inKinder kommen zunächst einmaldiesen selbst und der Familie zugute.Diese soziale Dienstleistung in denFamilien ist allerdings – inzwischen inunserer veränderten demografischenSituation mehr als je zuvor – durchElemente eines Kollektivguts gekenn-zeichnet. In der Sprache der Theorie deröffentlichen Güter müsste wohl voneinem „Mischgut“ gesprochen werden.Insoweit damit positiv zu bewertendeexterne Effekte verbunden sind, wie esbei der familiären Kinderbetreuung und-erziehung der Fall ist, erscheint dannauch eine öffentliche finanzielle Mit-verantwortung für die Erstellung diesesGutes berechtigt und kommt insoweiteine Subventionierung dieser familiä-ren Leistungen in Betracht. Steht dochdem kollektiven Nutzen aus diesenLeistungen ein erheblich verminderterindividueller Nutzen gegenüber, d.h.der Anreiz für Eltern, über Auf- undErziehen von Kindern in die Human-vermögensbildung zu investieren, ist injüngerer Zeit deutlich gesunken. DasErgebnis ist auch hier ein Auseinan-derlaufen von individueller und kol-lektiver Rationalität, was sich im in-dividuellen Geburtenverhalten nie-derschlägt.

Auf diese Elemente eines öffentlichenGutes, die ein finanzielles Engagementder Allgemeinheit sehr nahe legen,hätten sich die einkommenspolitischenMaßnahmen eines Familienleistungs-ausgleichs zu richten, während diedurch Ausfall von Erwerbseinkommenbedingten weiteren Einkommenseng-

Gemeinwesen (positiv zu bewer-tende externe Effekte im Aufbau des „Humanvermögens“ der Gesell-schaft) angemessen anzuerkennenhat.

Bei den bedarfsorientierten Transfer-leistungen für Kinder (Kindergeld) istdie Abstufung in der Höhe zwischenden ersten und zweiten Kindern unddemgegenüber den dritten und wei-teren Kindern besonders im Auge zubehalten, (weshalb die jüngst erfolgteEinebnung zwischen der Höhe der Leis-tungen für erste und zweite Kinder unddenen für dritte Kinder zu überdenkenwäre). Beim Erziehungsgeld, dessenwünschenswerte Ausweitung (Anhe-bung, Laufzeitverlängerung, deutlicheAnhebung der Einkommensgrenzen)erhebliche Finanzmittel erfordert,könnte man sich diese Ausweitungen,wie bereits angesprochen, zunächst ein-mal ab dem zweiten oder dritten Kindvorstellen.

Bei weitergehenden Vorstellungen, wiesie in Richtung eines Erziehungsein-kommens in Orientierung an durch-schnittlichen Erwerbseinkommen ge-hen („Elterngehalt“), erscheint eineUnterscheidung wichtig, die sich auseiner näheren Betrachtung des Charak-ters der familiären Dienstleistung derKinderbetreuung und -erziehung er-gibt: Einmal erscheint es problema-tisch16, das Kind selbst als eine Art„Kollektivgut“ zu sehen, (auch wenndies einzelnen sozialwissenschaftlichenArbeiten in den USA entsprechen mag,wo in den vergangenen Jahren Kinderim Kontext moderner Gesellschaftenverstärkt als „öffentliches Gut“ aufge-fasst werden, ähnlich wie die natürlicheUmwelt). Nicht das Kind als solchessollte unter dem Aspekt der öffent-

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pässe unter Gesichtspunkten des fami-liären Bedarfs und seiner Berücksich-tigung im Familienlastenausgleich zusehen wären. Je weitergehender hier aufAusgleich der Opportunitätskosten, diedurch den kinderbetreuungsbedingtenAusfall von Erwerbseinkommen ent-stehen, plädiert wird – einzelne Vor-schläge zielen schon bei nur einem zubetreuenden Kind in der Familie auf öf-fentliche Transferleistungen in Höheeines durchschnittlichen Erwerbsein-kommens –, wäre zu fragen, ob hiernicht verstärkt Formen der intertem-poralen Umschichtung von eigenemEinkommen im Lebensablauf deseinzelnen in Betracht zu ziehen wären,womit die Eigenverantwortung weitweniger tangiert würde als bei rein in-terpersoneller Umverteilung – ein As-pekt, der in der familienwissenschaft-lichen Diskussion in jüngerer Zeitwieder verstärkt in das Blickfeld gerücktist.17 Unter demografischer Rücksichtwäre bei diesen einkommenspoliti-schen Vorschlägen auch eine besondereAusrichtung auf Mehrkinderfamiliennahe liegend. Verwiesen sei hier auf dasNachbarland Frankreich (mit einer hiernicht näher zu untersuchenden deut-lich günstigeren Geburtensituation), indem ein bedarfsgeprüftes (d.h. ein-kommensabhängiges) Erziehungsgeld(„Allocation parentale d’education“) fürElternteile gewährt wird, die ihreBerufstätigkeit für die Erziehung einesKindes unter drei Jahren teilweise odervollständig unterbrechen, also vorhererwerbstätig waren (und zwar we-nigstens zwei Jahre lang in einemZeitraum von fünf oder zehn Jahren jenach Kinderzahl) und mindestens 2 Kinder betreuen (voller Satz beivollständiger Aufgabe der Erwerbs-tätigkeit; reduzierte Sätze je nach Aus-maß der Teilzeitbeschäftigung). An-

fänglich war diese Leistung nach Ein-führung i. J. 1985 auf Drei-Kinder-Fa-milien beschränkt.

6.4 Neuordnung der sozialenAltersversorgung

Eine bevölkerungsbewusste Familien-politik sollte auf eine stringentere strukturelle Verknüpfung von sozialerAltersversorgung und Familienlasten-ausgleich bedacht sein, die damit auchder Drei-Generationen-Solidarität, dienicht auf eine Zwei-Generationen-So-lidarität verkürzt werden darf, Rech-nung trägt. Hier liegt eine deutlicheSchwachstelle der deutschen Sozial-und Familienpolitik seit der Renten-reform von 1957. Darauf ist in der Ver-gangenheit wiederholt hingewiesenworden, ohne dass bisher eine durch-greifende, auch familienpolitisch be-friedigende Neuordnung der sozialenAltersversorgung erfolgt wäre. Solangees in den Altersversorgungssystemenbei dem bleibt, was sehr pointiert auchals „Transferausbeutung“ der aktivenElterngenerationen genannt worden ist,wird die Familiengerechtigkeit massivverletzt und der Wille zum Kind nichtgefördert, sondern geschwächt. Auchin den übrigen Zweigen der Sozialver-sicherung ist die familien- und kind-bezogene Ausgestaltung der Leistungs-systeme weiter zu entwickeln, diekonstitutiv durch Elemente eines so-zialen Ausgleichs gekennzeichnet sind.

6.5 FamiliengerechteWohnumfeldbedingungen

Für die Entfaltung des Familienlebensüberhaupt, aber gerade auch für dieEntscheidungen für oder gegen Kinder

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stellen die Wohnverhältnisse und dieWohnumfeldbedingungen der jungenPaare eine wichtige Rahmenbedingungfür ihre generativen Entscheidungendar. Für eine auch demografisch ak-zentuierte Familienpolitik ist daher die Sicherstellung familiengerechterWohnbedingungen ein bedeutsamerAnsatzpunkt, zumal Untersuchungenauf den Einfluss des Faktors Wohnraumauf die Familiengröße hindeuten. DasWohnungsangebot für Familien wieauch das Wohnumfeld sollten so viel-gestaltig sein wie die verschiedenenLebensphasen der Menschen und Fa-milien. Hier wird an einem wichtigenBeispiel das Gewicht sichtbar, das ge-rade auch familienorientierte Maß-nahmen auf örtlicher Ebene besitzen.Deshalb kommt der kommunalen Fa-milienpolitik eine erhebliche Bedeu-tung im Szenario einer bevölkerungs-bewussten Familienpolitik zu.

Für die Gestaltung familiengerechterWohn- und Wohnumfeldbedingungen,die insgesamt besser auf die Prozesseder Familienplanung und -bildungabgestimmt sein sollten, bedarf eskonkreter Orientierungshilfen. Hierzusei beispielsweise (und vorbildhaft!) auf den sehr durchdachten und kon-kretisierten Kriterienkatalog für einePrüfung auf Familien- und Kinder-freundlichkeit bzw. Familiengerech-tigkeit („Familienverträglichkeitsprü-fung“) der Stadt Würzburg verwie-sen. Die jeweils näher spezifiziertenPrüftatbestände umfassen fünf Be-reiche:

● Spielraum für Kinder : – Platz zum Spielen, – Orte zum Treffen,– qualitative Anforderungen

an Spielräume.

● Wohnumfeld – Verkehr-Sicherheit: – Sicherung

der ständigen Wege, – Maßnahmen

zur Verkehrsberuhigung, – Kommunikation

auf Straßen und Plätzen.

● Familiengerechtes Wohnen: – Gebäude und

Wohnungszuschnitte, – Wohnungsgröße, – Wohngesundheit,– Wohnungsbelegung

und Nachbarschaft im Mehrfamilienhaus,

– Kosten und Finanzierung,– Sicherheit.

● Soziale Infrastruktur: – Berücksichtigung

von Familieninteressen in der (Erwerbs-)Arbeitswelt,

– familienergänzende Betreuungfür alle Altersstufen,

– Kinder gehören dazu,– familienunterstützende

Angebote.

● Interessenvertretung: – Arbeitsgemeinschaft Familien, – Sicherung der Mitwirkung und

Beteiligung von Familien,Kindern und Jugendlichen.

Der Kriterienkatalog geht in einigenPunkten ganz bewusst über die Be-urteilung einer Bauleitplanung hinaus;denn er soll auch Anregungen als Leit-linien für private Einrichtungen undUnternehmen darstellen. Der vorge-stellte Kriterienkatalog (mit einer gro-ßen Zahl von Prüftatbeständen) stelltinzwischen ein verbindliches Prüfraster

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für den gesamten Bereich der Stadtver-waltung dar. In diesem Zusammenhangist daran zu erinnern, dass schon mitInkrafttreten des neuen Kinder- undJugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahre1991 der Jugendhilfe (erstmals) dergesetzliche Auftrag erteilt worden ist,dazu beizutragen, positive Lebensbe-dingungen für junge Menschen undihre Familien sowie eine kinder- undfamilienfreundliche Umwelt zu erhal-ten oder zu schaffen. (Ähnliche gesetz-liche Aufträge gab es schon und gibt esnoch im Baugesetzbuch für die Stadt-entwicklung und Bauleitplanung.)

Bevölkerungsbewusste Familienpoli-tik kann somit auch darin bestehen,durchaus vorhandene Richtlinien so zukonkretisieren, dass sie die Alltags-wirklichkeit von Familien wirklich er-reichen. Dazu ist auch der Bedarf anausreichender sozialräumlicher Be-richterstattung anzumelden, die hiereine Orientierungshilfe für praktisch-politische Maßnahmen bieten kann,was wiederum u.a. die Bildung undBerechnung von Indizes voraussetzt. Im Rahmen der örtlichen Jugendhilfe-planung gibt es hier gewisse Ansätze,die aber systematisch weiter entwickeltwerden müssten.

In der Wohnungsbauförderung könn-te die ohnehin in die Diskussion ge-ratene Eigenheimzulage als solche daraufhin überdacht werden, ob sie nicht nuran das Vorhandensein von Kinderngebunden werden sollte. Andererseitswäre über eine verbesserte staatlich ab-gesicherte langfristige Kreditfinanzierungnachzudenken, womit auch hier ver-stärkt dem Aspekt der intertemporalenEinkommensumschichtung von Lebens-einkommen beim einzelnen Rechnunggetragen werden könnte.

6.6 Die familienbezogene soziale Infrastruktur

Für die tatsächliche Lebenslage vonpotenziellen Eltern ist über die Woh-nungsversorgung hinaus die familien-bezogene soziale Infrastruktur vonBedeutung, wie dies schon beim Prob-lemkreis der konfliktfreieren Verein-barkeit von Erwerbstätigkeit und Übernahme von Elternverantwortungdeutlich wurde. Wenn man unterbildungspolitischem Aspekt den schu-lischen Bereich in den Blick nimmt, so drängt sich einmal die Empfehlungauf, das Angebot an Ganztagsschu-len zu vergrößern und die „betreuteGrundschule“ weiterzuentwickeln. Er-gänzend sei auf das breite Feld derFamilienbildung und -beratung ver-wiesen; hier ist z.B. im Rahmen desfamilienpolitisch zu gewährleisten-den familienbezogenen Bildungsan-gebots eine demografische Informa-tion und Bildung im Auge zu behalten,die u.a. zu verdeutlichen hätte, dass derEinzelne Entscheidungen trifft, derenTragweite er auch wegen der spezifi-schen Langzeitwirkungen demografi-scher Prozesse gar nicht voll überse-hen kann. Sie könnte schon in derSekundarstufe II ihren Platz finden.Eine solche demografische Informa-tion und Bildung, die der Verfasser inden vergangenen Jahren wiederholt im Blick auf ein notwendiges „Be-völkerungsbewusstsein“ angemahnthat, muss freilich mit „handfesten“sozial-strukturellen und sozial-öko-nomischen Maßnahmen verknüpftsein, weil sie isoliert allzu leicht zueinem ideologischen Unterfangen ge-rät. Es kann und darf nicht darumgehen, im Feld der generativen Ent-scheidungen einfach auf gesinnungs-ethische Appelle zu setzen, die das

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Bedachtnehmen auf die individuelleWohlfahrt zu überspringen suchen.

6.7 Wertorientierung

Schließlich sollte eine solche Fami-lienpolitik (als gesellschaftliche Quer-schnittspolitik) bei aller Wertpluralitätauf eine auf möglichst großem ge-sellschaftlichen Konsens beruhendebreitenwirksame und bildungs- undkulturpolitisch unterlegte Wertorien-tierung ausgerichtet sein, die Entschei-dungen für Kinder nicht abträglich ist,sondern sie als lebenssinnstiftend un-terstützt. In einer auch wertpluralis-tischen Gesellschaft bezeichnet dies ein nicht leichtes Unterfangen undfordert neben dem Staat und seinerKulturpolitik gerade die Träger vonWertsetzungen (wie Kirchen u.a.) inbesonderer Weise heraus. Damit wirdauf die umfassendere Thematik einer„Wertepolitik“ verwiesen, die die Ent-wicklung und Ausbreitung der obenangesprochenen „synthetischen Werte-muster“ zu begünstigen hätte. Eine her-ausragende Bedeutung und große Ver-antwortung kommt hier gerade denMassenmedien zu, deren Einfluss fürdie Bewusstseinsbildung der Menschenbesonders hervorzuheben ist. Von Sei-ten der Medien wird allerdings nichtselten zurückverwiesen auf die Politik;denn Medien würden weithin nur dieWertorientierungen aus dem Raum derPolitik transportieren. Insoweit dies derFall ist, könnte sich hinsichtlich derEntscheidungen der Einzelnen auch füroder gegen Kinder die Frage stellen, obnicht auch auf hoher politischer Ebeneverstärkt entsprechende bewusstseins-bildende Signale über gesellschaftlichals erwünscht anzusehendes genera-tives Verhalten gesetzt werden könn-

ten, die dann von den Medien brei-tenwirksam zu „übersetzen“ wären.Daneben könnten (und sollten) in der„Bürgergesellschaft“ aber auch Zeichenvon jungen Erwachsenen selbst aus-gehen, die wiederum von den Medienmultipliziert werden können. SolcheWechselbeziehungen verdienen be-sondere Beachtung wegen deren ehergrößer gewordenen Einflusses, (der jagelegentlich das Stichwort für die„Mediokratie“ abgibt). Hier kann imBlick auf den Prozess der Familien-bildung und -entwicklung bei ein-zelnen Vertretern der Medienweltallerdings gelegentlich der Eindruckentstehen, dass diese dazu neigen kön-nen, ihre eigene Biografie zu recht-fertigen – zu Lasten des Wertes Familieund familialem Zusammenleben.

7. Wie wirksam könnenfamilienpolitische Maß-nahmen im Blick auf die Geburtenförderungtatsächlich sein?

Was in der Wirkungsforschung zumVerhältnis von Familienpolitik undGeburtenentwicklung fehlt, ist eigent-lich die empirische Überprüfung derdemografischen Wirkungen eines tat-sächlich verwirklichten ganzheitlichenFamilienpolitikansatzes, der über bis-her mehr oder minder isolierte Ein-zelaktionen weit hinaus geht und vonvorneherein integrativ geplante Maß-nahmenbündel umfasst, die aufeinan-der abgestimmte Maßnahmen sowohlwirtschaftlicher als auch außerwirt-schaftlicher Art (wie die systematischefamilienfreundliche Gestaltung dessoziokulturellen Umfeldes) verbindenund möglichst langfristig wirksam sind(Prinzip der Dauerhaftigkeit und Ver-

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lässlichkeit), sodass sie auch bewusst-seinsprägend sind. Einstellungs- unddaraus erwachsende Verhaltensän-derung stellt in der Regel keinenkurzfristigen Prozess dar. Ein solcherAnsatz konnte bisher kaum überprüftwerden, weil er in der gesamten hierangesprochenen Breite und Nach-haltigkeit noch gar nicht wirklichunternommen worden ist. Bisher find-en sich in der einschlägigen be-völkerungs- und familienwissenschaft-lichen Forschung im Grunde mehr„Partialanalysen“, die mit ihren (dif-ferierenden) Ergebnissen letztlich keinwirklich zusammenhängendes Bild ver-schaffen und daher für die praktischePolitik keine ausreichende Orientierunggeben können.18

Bei einer Analyse der demografischenWirkungen staatlicher Familienpolitikmüsste also eigentlich unterschiedenwerden zwischen der tatsächlich be-triebenen, recht unzulänglichen Fami-lienpolitik, die im Übrigen auch nochdurch Elemente bloßer „verbaler Poli-tik“ gekennzeichnet ist, und zwischenfamilien- und politikwissenschaftlichemvoll Rechnung tragenden Familien-politik-Profil, zu dem sich die Politikaber erst noch durchringen müsste.Diese Unterscheidung erscheint aberdeshalb so wichtig, weil aus – imEinzelfall durchaus sorgfältig unter-suchten – Befunden über die Wirkun-gen von einzelnen familienpolitischenMaßnahmen nicht selten auf dieWirkungen „der“ Familienpolitik alssolcher in ihren Möglichkeiten (undGrenzen) geschlossen wird. Einemsolchen „Kurzschluss“ Vorschub zuleisten wäre aber eine bedenklicheSchwäche einer familienwissenschaft-lichen Politikberatung. Insofern stehtalso eigentlich der Test auf die demo-

grafischen Wirkungen einer vollentfal-teten Familienpolitik noch aus. Er kannnur gemacht werden, wenn die politi-schen Entscheidungsträger den politi-schen Willen zu einer solchen ganz-heitlichen Familienpolitik aufbringen.Sie ist ohnehin angesagt, wenn dieGesellschaftspolitik in unseren euro-päischen Gesellschaften vor der Zu-kunft Bestand haben soll.

Freilich werden von einer solchen zurSicherung der „Freiheit zur Familie“(Paul Kirchhof) betriebenen Politik, wasdie demografischen Aus- und Neben-wirkungen angeht, keine spektakulärenErfolge in Gestalt rapide ansteigenderReproduktionsziffern erwartet werdenkönnen. Darauf hat unter den Bedin-gungen der Zeit nach dem ZweitenWeltkrieg schon Gerh. Mackenroth beider Begründung seines Votums, einemweiteren Abfall des Geburtenniveausdurch „zähe Kleinarbeit am Wirt-schafts- und Sozialsystem“ zu begeg-nen, hingewiesen.19 Und der Wirt-schafts- und Sozialausschuss der EG hat Mitte der 1980er Jahre – offen-sichtlich unter maßgeblichem fran-zösischen Einfluss – in seinem Berichtzur demografischen Lage in der Ge-meinschaft (1986) zur langfristig zuerwartenden Wirksamkeit einer ge-burtenfördernden Politik festgehalten,so illusorisch die Behauptung wäre, eindemokratischer Staat könne mittelsgeeigneter Maßnahmen eine radikaleÄnderung des Fruchtbarkeitsniveauserreichen, so falsch sei andererseits dieBehauptung, der Staat habe keinerleiHandlungsspielraum. Wenn die Ein-flussmöglichkeiten auch bescheidenseien, so seien sie doch „nicht uner-heblich“: „Auf lange Sicht können siesogar von entscheidender Bedeutungsein.“ Genau diese langfristig wirk-

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samen, mit einer freiheitlichen So-zialordnung kompatiblen Kurskorrek-turen in der sog. natürlichen Be-völkerungsbewegung aber sind es, aufdie unsere Gesellschaft dringend an-gewiesen ist (und die schon seit ge-raumer Zeit hätten eingeleitet werdensollen). So wird auch von einer Fami-lienpolitik als bevölkerungsbewussterGesellschaftspolitik sicherlich keine An-hebung des Geburtenniveaus bis aufdas Bestandserhaltungsniveau einerBevölkerung (Generationenrate von1,0) erwartet werden können, (wasauch angesichts gleichzeitiger mode-rater und gesteuerter Zuwanderungensowie immer noch nötigen Anpassungs-maßnahmen an verbleibende rückläu-fige Prozesse gar nicht erforderlich ist);ein „realistisches Utopiequantum“ maghier irgendwo in der Mitte zwischendem gegenwärtigen Niveau (ca. 0,65)und dem replacement level (1,0) liegen(was übrigens in etwa dem Niveau inFrankreich entsprechen würde).

Immer wieder bleibt daran zu erinnern,auch wenn in der gesellschaftspoliti-schen Diskussion nicht selten ausunterschiedlichen Gründen (von ideo-logischen Positionen bis zu Besitz-standsdenken) gegenteiligen Vorstel-lungen Vorschub geleistet wird: Derdemografische Prozess, insbesonderedas veränderte Geburtenverhalten (aberauch die Wanderungsbewegung), istkein unabwendbares, schicksalhaftesGeschehen, das außerhalb der von derPolitik gesetzten Randbedingungenabläuft.20 Diese Rand- oder Rahmenbe-dingungen, unter denen Eltern sich fürmehr oder weniger Kinder entscheidenund damit in einem Ausmaß, das alssozial erwünscht oder unerwünschteinzustufen ist, unterliegen auch dergesamtgesellschaftlichen Verantwor-

tung. Die hochproblematische These,hier könne der Staat nichts bewirken,lenkt insoweit im Grund von längstfälligen familienpolitischen Entschei-dungen ab und ist geeignet, Politikerneher noch ein „gutes Gewissen“ fürfamilienpolitisches Nicht-Handeln zuvermitteln.

Die Familien dürfen zwar keines-falls, um dies noch einmal deutlich zuunterstreichen, zu bevölkerungspoli-tischen Zwecken instrumentalisiert werden; wohl aber sollten die Ent-scheidungs- und Handlungsspielräumejunger Paare und Familien so erweitertund in einer die Freiheit zur Familiesichernden Weise gestaltet werden, dassdie generativen Entscheidungen, dieihrem persönlichen Lebensentwurfentsprechen, „mit Vernunft und An-stand“ getroffen werden können, (wiees in der bevölkerungswissenschaft-lichen Diskussion schon zu Beginn der1950er Jahre formuliert worden ist).Wenn die Gesellschaftspolitik – inDeutschland und EU-weit – der Ge-fahr eines wachsenden Wahrneh-mungsverlustes gegenüber der gesell-schaftlichen Wirklichkeit von Eltern-Kinder-Gemeinschaften, insbesonderevon jungen Paaren während des Pro-zesses von Familiengründung und -aufbau, entgehen will, wird sie sichdieser Herausforderung stellen müssen,– und zwar alsbald.

Ein Vorschlag: Die elementare Bedeu-tung der Familien, insbesondere der zukollektiven Verhaltensmustern gebün-delten individuellen Entscheidungenfür oder gegen Kinder für die Gebur-tenentwicklung und damit für den zugroßer Besorgnis Anlass gebendendemografischen Prozess in unseremGemeinwesen kann nicht zweifelhaft

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sein. Wissenschaften haben sich geradeauch durch ihren Beitrag zur Lösungkonkreter gesellschaftlicher Problemezu legitimieren. Müsste sich nicht imWege der eigenverantwortlichen Selbst-organisation ein Kernkreis von fami-lien-, bevölkerungs- und politikwis-senschaftlichen, in Politikberatungetwas erfahrenen Fachleuten zusam-menfinden, der in einem „Manifest“Grundrichtungen eines gemeinwohl-orientierten bevölkerungsbewussten

gesellschaftlichen Ordnungshandelnsbreitenwirksam aufzeigt? Dies hätte ineiner Weise zu geschehen, dass Tages-politik nicht mehr dahinter zurückkann und zukunftsbezogene Politik derFernverantwortung für nachfolgendeGenerationen jene Unterstützung fin-det, die sie angesichts starker Tenden-zen in unserer Gesellschaft, Gegen-wartsinteressen zu Lasten von Zu-kunftsinteressen durchzusetzen, drin-gend braucht.

Anmerkungen1 Der Vorsitzende der BT-Kommission „De-

mografischer Wandel“, W. Link, MdB,stellte kürzlich in einem Beitrag im „Par-lament“ (Nr. 8/2002) fest: „Wir habenProbleme mit der Demografie; aber wenndiese richtig angegangen werden, sind siezu bewältigen.“ – Was aber bedeutet„richtig“? In der Darstellung selbst wer-den – zu Recht – die vielfältigen not-wendigen Anpassungsmaßnahmen inden verschiedenen politischen undgesellschaftlichen Handlungsfeldern an-gesprochen, nicht aber das Kernproblemeiner zugleich bewusst anzustrebendenGeburtenförderung. Die familien- undgesellschaftspolitische Auseinanderset-zung mit dem Geburtenniveau selbstbleibt weiterhin schon auf der ge-danklichen Ebene weithin ausgeklam-mert. So enthält auch der jüngst vor-gelegte Schlussbericht der Bundestags-Enquete-Kommission „DemographischerWandel – Herausforderungen unserer äl-ter werdenden Gesellschaft an den einzel-nen und die Politik“ (BT-Drs. 14/8800) zumehreren Kapiteln zwar auch „Hand-lungsempfehlungen“. Diese bleiben aberpraktisch im Bereich dessen, was man„Anpassungsmaßnahmen“ nennen kann.Was die Benennung der Aufgabe einerFörderung der Geburtenentwicklung, al-so die gesellschaftspolitische Auseinan-dersetzung mit dem zu niedrigen Ge-burtenniveau selbst angeht, ist der Berichtausgesprochen zurückhaltend, um nichtzu sagen eher enttäuschend. Im Kapitelüber Beschäftigungs- und Arbeitsmarkt-politik etwa findet sich der in der bis-herigen familienpolitischen Diskussionvielfach beschworene Hinweis, für berufs-tätige Eltern bestehe besonderer Hand-

lungsbedarf in Bezug auf die Rahmenbe-dingungen für eine bessere Vereinbarkeitvon Erwerbstätigkeit und Familie; dazuheißt es dann: Wie europäische Erfah-rungen gezeigt haben (z.B. Frankreich),„kann diese übrigens auch eine positiveGeburtenentwicklung begünstigen“ S.83).Leider wird aber insgesamt keine ernst-hafte Debatte über eine (ohnehin nur be-grenzt mögliche, aber dringliche) An-hebung des Geburtenniveaus angestoßen.Die Kommission scheint in dieser Hin-sicht zu resignieren, allerdings auch nichtmit einem weiteren Rückgang des Ge-burtenniveaus zu rechnen. So stellt sie imResümee ihrer Analyse der demographi-schen Grunddaten für die Zukunft alsTendenzaussage fest: „Die Fertilität wirdauf einem niedrigen Niveau verharren“(S.33). Sich damit abzufinden erschieneaber in höchstem Maße unbefriedigend,wenn man die von Kommission und invielfältigen Untersuchungen aufgezeigtenKonsequenzen für Wirtschaft, Gesell-schaft und Kultur bedenkt, die länger-fristig mit einem starken Schrumpfung-sprozess der Bevölkerung verbundenwären.

2 B. Eggen hat vor einer Reihe von Jahreneinmal des Nachdenkens wert bemerkt,die politische Brisanz von Bevölkerungs-entwicklung und Geburtenrückgang habeihre Ursache nicht in den Fakten alsvielmehr in den Meinungen und in demReden darüber. Auf politische Resonanzstießen diese Prozesse nur über das Aus-maß ihrer Wahrnehmung in verschie-denen gesellschaftlichen Teilbereichen,„und zwar im Wesentlichen dort, wodurch die Beobachtung der Bevölkerungs-entwicklung ökonomische, rechtliche

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und nicht zuletzt ureigene politischeEreignisse ausgelöst werden, deren Risikenund Chancen die politische Machtver-teilung beeinflussen können.“, B. Eggen:Bevölkerungsentwicklung in Europa, in:Civis, H. 1/2, 1993, S.22.

3 Hinweise darauf gab schon vor einemhalben Jahrhundert J. A. Schumpeter inseiner großen Abhandlung über Kapita-lismus, Sozialismus und Demokratie: DasPhänomen der starken Beschränkungender Kinderzahlen in der Ehe bzw. derKinderlosigkeit könne vollständig aus der„Rationalisierung des gesamten Lebens“hergeleitet werden, die „eine der Wirkun-gen der kapitalistischen Entwicklung“ sei.„De fakto ist es nur eines der Ergebnissedes Übergreifens dieser Rationalisierungauf die private Lebenssphäre.“ Schum-peter, der grundsätzlich die großen Be-reicherungen durch Elternschaft undFamilienleben und die positiven Seitender Elternerfahrung durchaus kannte,hielt andererseits seinerzeit fest: „SobaldMänner und Frauen die utilitaristischeLektion gelernt haben und es ablehnen,die traditionellen Einrichtungen, die ihrsoziales Milieu für sie bereitstellt, alsgültig anzuerkennen, – sobald sie dieGewohnheit annehmen, die individu-ellen Vor- und Nachteile jeder voraus-sichtlichen Folge von Handlungen ab-zuwägen –, oder, wie wir es auchausdrücken könnten: sobald sie in ihremPrivatleben eine Art unausgesprochenerKostenrechnung einführen –, müssenihnen unvermeidlich die schweren per-sönlichen Opfer, welche Familienbin-dungen und namentlich Elternschaftunter modernen Bedingungen mit sichbringen, ebenso wie die Tatsache bewusstwerden, dass gleichzeitig ... die Kindernicht mehr ein wirtschaftliches Aktivum(hier gemeint : für sie selbst; eig. Anm.)sind. Jene Opfer bestehen nicht nur ausden Posten, die in den Messbereich desGeldes kommen, sondern bedeutenüberdies einen unmessbaren Verlust anBehaglichkeit, an Sorgenfreiheit und anMöglichkeiten, andere Dinge von zu-nehmender Anziehungskraft und Man-nigfaltigkeit zu genießen, – andere Dinge,die mit den einer immer strengeren kri-tischen Analyse unterworfenen Eltern-freuden verglichen werden.“ Das größteAktivum, „der Beitrag, den die Eltern-schaft an die physische und moralischeGesundheit ... leistet, namentlich im Fallder Frauen, dieses Aktivum entgeht bei-nahe ausnahmslos dem rationalenScheinwerfer moderner Individuen, die

im privaten wie im öffentlichen Lebendie Aufmerksamkeit auf ermittelbareEinzelheiten von unmittelbar utilitaris-tischer Bedeutung zu lenken und über dieVorstellung verborgener Notwendigkei-ten der menschlichen Natur oder dessozialen Organismus zu lächeln ten-dieren.“

4 Zu dieser vom Verf. mehrfach heraus-gestellten Sichtweise siehe jüngst nochwieder der Wiss. Beirat für Familienfragenbeim BMFSFJ in seinem GutachtenGerechtigkeit für Familien (Zur Begrün-dung und Weiterentwicklung des Fami-lienlasten- und Familienleistungsaus-gleichs), Schr.Reihe des BMFSFJ, Bd.202,Stuttgart 2001, S.6f.

5 Die Aufforderung von Karl Schwarz andie Demografen zum Einstieg in dieBevölkerungspolitik gibt einen zusätz-lichen Anlass für dieses erneute Plädoyer,in: Zeitschr. für Bevölkerungswissen-schaft, H.3-4/2000, S.431ff. Ein Engage-ment der Bevölkerungswissenschaftlersollte sich dabei wohl in erster Linie aufein Durchdenken einer Bevölkerungs-politik als wissenschaftlicher Disziplinbeziehen (Bevölkerungspolitik-Lehre), alsdie Bevölkerungspolitik neben dem prak-tisch-politischen Handeln auch aufgefasstwerden kann. Die vorliegende Problem-behandlung steht freilich nicht untereinem speziell bevölkerungspolitischenVorzeichen (unter dem auch der Hinweisauf eine „pronatalistische Familienpo-litik“ Missverständnisse auslösen könnte).Vielmehr geht es aus familienwis-senschaftlicher Perspektive um Grund-lagen einer als gesellschaftliche Ord-nungs- und Strukturpolitik verstandenenFamilienpolitik, die im angesprochenenSinne auch bevölkerungsbewusst ist undals solche ihre möglichen Auswirkungenauf die Geburtenentwicklung mit be-denkt, ohne für eine eigenständigebevölkerungspolitische Zielsetzung ins-trumentalisiert zu werden.

6 Vor welcher Gratwanderung hier eine aufKorrekturen bedachte Gesellschaftspoli-tik steht, macht schon von der Wortwahlher der Hinweis von T. Mayer in seinersehr beachtenswerten Arbeit (Habil.-Schrift) Die demografische Krise. Eine in-tegrative Theorie der Bevölkerungsent-wicklung, Frankfurt a.M./New York 1999deutlich, es gehe um Korrekturen, die denKinderwunsch „wertschätzen“, nicht aberdiesen „regelrecht wecken“ (S.233). KeinThema darf sein, so wird zu Recht nochklarer festgehalten, „künstlich Kinder-wünsche wecken zu wollen, wo sie nicht

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verantwortet werden“ (S.253). Anderer-seits, so meint er, „dürfen Lebensführun-gen hedonistischen Zuschnitts, bei denenKinderwünsche gar nicht erst aufkom-men, kein Schongebiet für politische In-terventionen und Umverteilungen sein“(ebda.).

7 Vergl. Wochenzeitung Das Parlament, Nr.32–33/2001, S.1.

8 Joas, H.: Ungleichheit in der Bürger-gesellschaft (Über einige Dilemmata desGemeinwesens), in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 25–26/2001, S.22. – S. auchders., Die Entstehung der Werte, Frank-furt/M. 1997.

9 Vergl. Schmid, J.: Die demografische Ent-wicklung in Deutschland – soziale Folgenund politische Steuerung, in: PolitischeStudien, Mai/Juni 2001, S.79.

10 Siehe vor allem Lampert, H.: Priorität fürdie Familie (Plädoyer für eine rationaleFamilienpolitik), Berlin 1996; – vom Verf.siehe: Umrisse einer rationalen Familien-politik, in: Sozialer Fortschritt, 1971, H.8 und H. 9, S.171–173 und S.210–215;wieder aufgegriffen in dem Band ZurTheorie und Praxis der Familienpolitik,Frankfurt/M. 1994. – Die notwendigekonzeptionelle Kontinuität wurde jüngstnoch wieder von familienwissenschaft-licher Seite im Gutachten des Wissen-schaftlichen Beirats für Familienfragenbeim BMFSFJ „Gerechtigkeit für Fami-lien“, a.a.O., im Rückgriff auch auf denFünften Familienbericht der Bundes-regierung angemahnt.

11 Siehe dazu auch Wingen, M.: Zur Trag-weite der Familienpolitik in einer Rah-mensteuerung der Bevölkerungs- undGeburtenentwicklung, in: Zur Theorieund Praxis der Familienpolitik, Frank-furt/M. 1994, S.365–385, insbes. S.372f.

12 Schmid, J.: Die demografische Entwick-lung, S.79.

13 Vergl. dazu Wingen, M.: GenerativeEntscheidungen im Spannungsfeld zwis-chen individueller und kollektiver Ra-tionalität – eine Herausforderung an einezukunftsorientierte Familienpolitik, in:Familie und Familienpolitik. Zur Situa-tion in der Bundesrepublik Deutschland,Forschungsbericht 44 der K. Ad. Stiftung,hrsg. von K. Weigelt, Melle u. Sankt Au-gustin 1985, S.37–55 (zunächst hekt.veröff. in: Materialien und Berichte derFamilienwissenschaftlichen Forschungs-stelle des Stat. Landesamtes BW, H. 9,Stuttgart 1983). – Siehe z.B. auch Scha-van, A.: Ehe und Familie an der Wende?,in: AKF (Hrsg.), Aktuelle Entwicklun-gen im Eheverständnis, Bonn 1992,

S.35ff.14 Wingen, M.: Familienpolitik – Grund-

lagen und aktuelle Probleme, S.125. 15 Zum speziellen Feld der unterneh-

merischen Familienpolitik sei besondersverwiesen auf die Ergebnisse der großen,Ende 1998 abgeschlossenen Studie derGem. Hertie-Stiftung über familienorien-tierte Unternehmenspolitik. Siehe dazu:Mit Familie zum Unternehmenserfolg,hrsg. von der Gem. Hertie-Stiftung, Köln1998, sowie: Unternehmensziel: Fami-lienbewusste Personalpolitik. Ergebnisseeiner wissenschaftlichen Studie, hrsg. vonder Gem. Hertie-Stiftung, Köln 1999; dortauch den Beitrag von Becker, St./de Graat,E./Wingen, M.: Gesellschaftliche, sozial-rechtliche und familienpolitische Rah-menbedingungen für eine familienbe-wusste Personalpolitik – Sachlage undPerspektiven, S.283–350. – Zur unter-nehmerischen Familienpolitik siehe imÜbrigen auch Wingen, M.: Familienpoli-tik – Grundlagen und aktuelle Probleme,S.161ff.

16 Wingen, M.: Zum Verhältnis von fami-lialer und ausserfamilialer Kinderbetreu-ung, in: Winfried Schmähl (Hrsg.), SozialeSicherung zwischen Markt und Staat,Schr. d. Vereins f. Socialpolitik, NF Bd.275, Berlin 2000, S.344f.

17 Siehe bes. das Gutachten des Wissen-schaftlichen Beirats für Familienfragenbeim BMFSFJ Gerechtigkeit für Familien.

18 Weiterführend zu den demografischenAuswirkungen familienpolitischer Maß-nahmen siehe vom Verf.: Notwendigkeit,Möglichkeiten und Grenzen einer be-völkerungsbewussten Familienpolitik –ein erneutes Plädoyer, in: Familienpoli-tische Denkanstöße – Sieben Abhand-lungen, Grafschaft 2001, S.170ff.

19 Mackenroth, G.: Bevölkerungslehre (The-orie, Soziologie und Statistik der Be-völkerung), Berlin u.a. 1953, S.493.

20 Der Verf. hat diese These seit der zweitenHälfte der 70erJahre des letzten Jahrhun-derts gerade im Blick auf die Geburten-entwicklung in den westeuropäischenIndustriegesellschaften wiederholt dar-gelegt; s. z.B.: Rahmensteuerung der Be-völkerungsbewegung als gesellschaft-spolitische Aufgabe, in: aus Politik undZeitgeschichte (Beilage zur Wochen-zeitung Das Parlament), B 52/1977; DieBevölkerungsentwicklung in den Indus-triestaaten – Schicksal oder Gestal-tungsaufgabe?, in: W. Engels (Hrsg.), Ar-beit und Einkommensverteilung in derInformationsgesellschaft der Zukunft,Heidelberg 1990, S.129–146; Zur Trag-

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Geburtenförderung durch ganzheitliche Familienpolitik – aber wie? 73

weite der Familienpolitik in einer Rah-mensteuerung der Bevölkerungs- undGeburtenentwicklung, in: Wingen, M.:Zur Theorie und Praxis der Familienpoli-tik, Frankfurt a.M. 1994, S.365–385. Ausjüngerer Zeit sei besonders auf die um-fangreiche Arbeit (Habil.-Schr.) des Poli-tikwissenschaftlers und Vertreters einerpolitischen Demografie T. Mayer, Die de-mografische Krise. Eine integrative The-orie der Bevölkerungsentwicklung, Frank-furt a.M. 1999, verwiesen, in der dieseThese ebenfalls nachdrücklich und sehrnachlesenswert untermauert wird. Un-

ter den Bevölkerungswissenschaftlern inDeutschland haben sich nur sehr wenigezur Notwendigkeit einer gesellschaft-spolitischen (gerade auch familienpoli-tischen) Auseinandersetzung mit derGeburtenentwicklung selbst – und nichtnur mit ihren Ursachen und vielfältigenAuswirkungen – bekannt, so neben J.Schmid noch K. Schwarz und H. Birg,letzterer nachlesenswert besonders jüngstin seinem Band „Die demografischeZeitenwende (Der Bevölkerungsrückgangin Deutschland und Europa)“, München2001, bes. S.64ff. und 194ff.

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Politische Studien, Sonderheft 2/2002, 53. Jahrgang, Juli 2002

Die Diskussion über volkswirtschaft-liche Konsequenzen des demografi-schen Wandels ist bisher in mehrerenWellen geführt worden. SichtbarsteFolge sind wohl die sich abzeichnen-den Schwierigkeiten für die Finan-zierung der staatlichen Alterssiche-rungssysteme, die spätestens seit An-fang der 1980-er Jahre in Öffentlich-keit und Politik viel Beachtung fin-den. Seit den 90-er Jahren werden auchdie Auswirkungen des demografischenWandels auf Erwerbsbevölkerung undArbeitsmärkte immer stärker beachtet,wobei vor allem Befürchtungen einerzunehmenden Verknappung von Ar-beitskräften – namentlich von quali-fizierten Fachkräften – im Mittelpunktstehen, die zu einer Verlangsamung desaggregierten Wirtschaftswachstumsführen kann. Erst in den letzten Jahrenhat sich die Perspektive nochmals er-weitert um die Frage, ob in einer al-ternden Gesellschaft nicht auch tech-nischer Fortschritt und Produktivitäts-wachstum behindert werden bzw.welche Maßnahmen gegebenenfalls er-forderlich sind, um das Wachstum zu-mindest pro Kopf der (schrumpfendenZahl von) Erwerbstätigen auf dem ausder Vergangenheit gewohnten Niveauaufrecht zu erhalten.

Von verlässlichen Schlussfolgerungenist die Wissenschaft in diesem zuletztgenannten Bereich noch weit entfernt.Der vorliegende Beitrag soll daher inerster Linie den Stand der einschlä-gigen Forschung zusammenfassen, diewichtigsten offenen Fragen festhaltenund in aller Vorsicht einige vorläufigeÜberlegungen zu den wirtschaftspoli-tischen Implikationen anstellen, diesich in diesem Feld – namentlich imHinblick auf eine lebenslange Aus- undWeiterbildung des zukünftigen Erwerbs-personenpotenzials – ergeben. Die de-mografischen Szenarien für Deutsch-land zeigen nämlich an, dass die Zeitfür eventuell erforderliche Anpassun-gen an den demografischen Wandelmittlerweile begrenzt ist.

1. Grundlegende demografischeEntwicklungen

Auf Grund anhaltend niedriger Ferti-lität wird die Bevölkerung in der Bun-desrepublik Deutschland langfristigabnehmen. Daran wird auch ein Über-schuss an Zuwanderungen gegenüberden Abwanderungen nichts ändern,soweit er nicht eine Größenordnungannimmt, die unser auf die bisherigen

Demografischer Wandel,Produktivität und Weiterbildung

Einige vorläufige Überlegungen

Herbert Hofmann/Martin Werding

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Demografischer Wandel, Produktivität und Weiterbildung 75

Erfahrungen gegründetes Vorstellungs-vermögen übersteigt.1 Vor dem Hinter-grund einer parallel dazu steigendenLebenserwartung werden die zahlen-mäßig kleineren, nachwachsenden Al-tersjahrgänge das Durchschnittsalterder Bevölkerung anheben und die Pro-portionen zwischen den Altersgruppenverändern. In diesen beiden Aussagen– fallende Bevölkerungszahl und stei-gendes Durchschnittsalter – kommenalle ernst zu nehmenden Bevölkerungs-szenarien überein.2

In Tabelle 1 werden die Ergebnisse der9. koordinierten Bevölkerungsberech-nung des Statistischen Bundesamtesdargestellt. Zu Grunde gelegt ist dabeidie Variante II mit einem langfristig

durchschnittlichen Wanderungssaldovon 200.000 Personen pro Jahr. Bei ei-ner insgesamt stark schrumpfendenBevölkerung werden sich demzufolgedie Gewichte der einzelnen Altersgrup-pen deutlich verschieben. Der An-teil der 65-Jährigen und Älteren, derheute bereits bei ca. 17% liegt, wird bis zum Jahr 2050 auf rund 29%anwachsen. Da die Erwerbsbevöl-kerung schneller schrumpft als diegesamte Wohnbevölkerung, steigt dasDurchschnittsalter der Bevölkerungdabei von 41 auf 48 Jahre. Das Durch-schnittsalter der erwerbsfähigen Be-völkerung – definiert als Bevölkerungim Alter von 15 bis 64 Jahren – wirdsich um ca. 2 Jahre von 40,2 Jahren auf42 Jahre anheben.

Tabelle 1: Bevölkerung in Deutschland nach Altersgruppena)

– 1998 bis 2050 –

1998 2000 2010 2020 2030 2040 2050

in Prozent

Insgesamt 100 100 100 100 100 100 100

0 bis 14 Jahre 15,8 15,6 13,5 12,8 12,6 11,9 11,9

15 bis 24 Jahre 11,0 44,1 11,3 10,1 9,5 9,7 9,3

25 bis 34 Jahre 15,5 14,2 11,7 12,3 11,2 10,7 11,1

35 bis 44 Jahre 15,9 16,6 14,7 12,5 13,3 12,3 12,0

45 bis 54 Jahre 12,4 13,0 16,5 14,7 12,8 13,8 13,0

55 bis 64 Jahre 13,4 12,9 12,4 15,9 14,4 12,8 14,0

65 bis 74 Jahre 9.0 9,5 11,2 11,0 14,5 13,4 12,2

75 u. m. Jahre 6,0 7,2 8,8 10,7 11,7 15,3 16,5

Personen (in 1.000)

Bevölkerung 81.998,7 81.946,0 81.421,9 80.151,7 77.672,4 74.155,2 69.940,0

15- bis 64-Jähr. 55.939,6 55.545,3 54.226,4 52.537,3 47.544,8 44.015,1 41.559,4

Durchschnittsalter (in Jahren)

Bevölkerung 40,6 41,1 43,4 45,1 46,5 47,6 48,2

15- bis 65-Jähr. 40,2 40,4 41,0 42,2 42,0 41,6 42,0

a) Variante II mit einem langfristigen jährlichen Wanderungssaldo von 200.000 Personen.

Quelle: Statistisches Bundesamt: Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis zum Jahr 2050. Ergebnisseder 9. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2000; Berechnungen des ifo Instituts.

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2. Beeinträchtigung der Produktivitätsentwicklung?

Einer der interessantesten Aspekte die-ser – bei plausiblen Annahmen nur insehr begrenztem Maße variablen – Ent-wicklung betrifft die Frage, wie sich dermassive demografische Wandel auf dasWachstum des gesamtwirtschaftlichenProduktionspotenzials und auf dievolkswirtschaftliche Produktivitätsent-wicklung auswirken wird. Zwei Effektesind hier gedanklich zu trennen: ZumEinen wird der Rückgang der erwerbs-fähigen Bevölkerung dazu führen, dass– bei gleich bleibender Erwerbsbetei-ligung – das Sozialprodukt von immerweniger Personen erwirtschaftet wer-den muss. Zum Anderen muss dies vonUnternehmen bewerkstelligt werden,deren Belegschaften langfristig „altern“.Geht man davon aus, dass ein positi-ver Zusammenhang zwischen techni-schem Fortschritt, Produktivität undWettbewerbsfähigkeit und ein negati-ver Zusammenhang zwischen Alter,Produktivität und Innovativität besteht,dann folgt daraus unmittelbar einnegativer Effekt des demografisch be-dingten Alterungsprozesses. Die „ver-greisende“ Erwerbsbevölkerung würdezum Hemmschuh für Innovationenund Wachstum des Sozialprodukts – alsgesamtwirtschaftliches Aggregat, proKopf der Wohnbevölkerung und proKopf der Erwerbstätigen.

Vorausgesetzt andere Faktoren, z.B. dasEngagement in Forschung und Ent-wicklung, bleiben konstant und andereLänder oder Regionen sind mit einergünstigeren Bevölkerungsstruktur aus-gestattet, steht die Wettbewerbsfähig-keit einer „alternden“ Volkswirtschaftauf dem Spiel. Dies gilt umso mehr, alsder Strukturwandel, der Druck auf die

Produktivität, der technische und ar-beitsorganisatorische Wandel sowiesteigende Mobilitätsanforderungen dasBedarfs- und Anforderungsprofil fürArbeitskräfte verändern. Arbeitsplätze,bei denen Erfahrungswissen zählt, kön-nen unter diesen Umständen anGewicht verlieren.3

3. Gängige Ideen zur alterspezi-fischen Leistungsfähigkeit

Welche Antwort man auf die Frage nachden Auswirkungen der demografischenAlterung auf die Produktivität und ins-besondere auf den technologischenWandel findet, hängt sehr stark vontheoretischen Grundannahmen undvon Vorstellungen über die altersbe-zogene Leistungsfähigkeit der Erwerbs-tätigen ab. Befürchtungen, eine imDurchschnitt ältere Belegschaft würdeFlexibilität und Innovationskraft derBetriebe beeinträchtigen, stützen sichin der Regel auf ein „Defizit-Modell“ desAlterns. Dieses Modell hat seinen Aus-gangspunkt in älteren psychologischenForschungsarbeiten zur intellektuellenLeistungsfähigkeit im höheren Erwach-senenalter. Aus Untersuchungen derIntelligenzentwicklung, die einen lang-samen, aber stetigen Abbau der in-tellektuellen Fähigkeiten ab dem drit-ten Lebensjahrzehnt feststellen, wurdegeneralisierend die These eines mit demAlter fast automatisch eintretendenphysischen und psychischen Leistungs-abbaus abgeleitet.4 Nach dem Defizit-Modell sind ältere Arbeitnehmer außer-dem weniger flexibel und nicht aus-reichend auf die Anforderungen destechnischen Wandels eingestellt.

Überzeugende empirische Belege fürdas Defizit-Modell fehlen allerdings.

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Demografischer Wandel, Produktivität und Weiterbildung 77

Übung und Weiterbildung ausge-glichen werden.

● In jeder Altersgruppe gibt es schließ-lich eine große Variation des indi-viduellen Leistungsvermögens. Da-durch gibt es stets eine größere An-zahl älterer Personen, die jüngerenüberlegen sind.

4. MikroanalytischeForschungsergebnisse

Empirische Belege für die Auswirkun-gen demografischer Alterungsprozesseauf die Produktivität sind dünn gesät.Das hängt nicht zuletzt mit schwieri-gen Messproblemen zusammen. Einadäquates Forschungsdesign müssteeine Vielzahl von Einflussgrößen ein-beziehen und dann die Wirkungen derAltersvariablen isolieren. Mit einemmikroökonomischen Ansatz kann mandiese Probleme, wenn auch nicht voll-ständig, umgehen. Mit die schwierigsteAufgabe, die bleibt, ist allerdings dieMessung der individuellen Produkti-vität. Empirische Studien bedienen sichals Indikator entweder der Löhne, des„physischen“ Produkts, der (Selbst-)Einschätzung oder des auf Betriebs-ebene aggregierten Outputs im Ver-hältnis zu altersstrukturierten Beleg-schaften. Selbst in der ökonomischenLiteratur wird aber keine automatischeIdentität zwischen Löhnen und Pro-duktivität unterstellt. Nimmt manLöhne als Indikator für Produktivität,dann resultieren allein aus senioritäts-orientierten Tarifsystemen höhereWerte für ältere Personen. Das physi-sche Produkt ist wegen Zurechnungs-problemen ebenfalls unzuverläs-sig, und aggregierte Daten unterlie-gen schwer kontrollierbaren Einflüs-sen.

Nach den Forschungsergebnissen derdifferenziellen Gerontologie gibt esweder ein generelles – d.h. alle Leis-tungsbereiche betreffendes – noch universelles – alle Personen betreffen-des – Phänomen des Abbaus intel-lektueller Fähigkeiten. Körperliche undauch geistige Leistungseinschrän-kungen können kompensiert wer-den, sodass Beschäftigungsproble-me nicht aus dem reduzierten Leis-tungsvermögen einzelner, sondern eheraus einer „dysfunktionalen“ Kom-bination von individuellen Fähigkeitenund objektiven Anforderungen ent-stehen.5

Zwar gibt es Belege aus der geronto-logischen und medizinisch-biologi-schen Forschung, die bestätigen, dassvor allem verschiedene physische Ka-pazitäten mit dem Alter abnehmen. Im Hinblick auf die altersabhängigeProduktivitätsentwicklung sind dieseBelege aber aus mehreren Gründen zurelativieren:

● In vielen Berufen wird nicht die vol-le Leistungsfähigkeit ausgeschöpft,sodass Reserven bleiben, auf die mitfortschreitendem Alter zurückgegrif-fen werden kann.

● Im Laufe eines Berufslebens kannsich die Zuordnung von individu-ellen Fähigkeiten zu den ausgeübtenTätigkeiten oder zu beruflichen Po-sitionen verbessern. Auch dadurchwird die individuelle Produktivitätstärker ausgeschöpft.

● Es gibt Leistungsbereiche, die sichüberhaupt erst mit dem Alter ent-falten (Erfahrung).

● Der messbare Rückgang der Leis-tungsfähigkeit ist in den relevan-ten Altersgruppen unter 65 Jahren häufig gering und kann z.B. durch

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Unter diesen sehr ernst zu nehmendenVorbehalten sind die in Tabelle 2zusammengefassten Studien zu lesen,deren Ergebnisse auf Daten verschie-dener Industrieländer beruhen. Siewerden hier mit dem Typ des jeweilsverwendeten Produktivitätsindikatorsund ihren wichtigsten Resultaten vor-gestellt.

Die Ergebnisse sind ganz offenbar nichteindeutig genug, um sichere Aussagen

zu treffen. Auf der Mikroebene scheintder Zusammenhang zwischen Lebens-alter und individueller Produktivitätnicht eng und stark von der Art derjeweils übertragenen Aufgaben über-formt zu sein. In zwei der hier aufge-führten Studien (und in einigen wei-teren, hier nicht aufgeführten Studien)zeigt sich jedoch, dass eine parabolischgeformte Alters-Produktivitätskurve denZusammenhang am besten darstellenkönnte.6

Tabelle 2: Ausgewählte Studien über den Zusammenhangzwischen Alter und Produktivität

Studie Erwerbstätigengruppe VerwendeterIndikator

Ergebnis

Oliviera, Cohn und Kiker(1989)

Selbstständig arbeitende abhängig Beschäftigteund Selbstständige(USA)

Löhne,EinkommenSelbstständiger

Produktivität steigt in den jüngeren Altersgruppen undnimmt bei älteren Arbeitnehmern wieder ab (parabolische Entwicklung).

Gelderblom und De Koning(1992)

Beamte(Niederlande)

Selbsteinschätzung Ergebnis abhängig vonder gestellten Aufgabe;Ältere können mit hohem Arbeitsdruckschlechter umgehen,haben aber höhereSozialkompetenz; große Variationsbreiteder Ergebnisse.

Simoens und Deys (1997)

Beschäftige(Belgien)

Selbsteinschätzung Ergebnis nichteindeutig;abhängig von dergestellten Aufgabe.

De Koning und Gelderblom(1992)

Unternehmens-erhebung(Niederlande)

AggregierterFirmenoutput undBeschäftigtenstruktur

Produktivität steigt in den jüngeren Altersgruppen undnimmt bei älteren Arbeitnehmern wieder ab (parabolische Entwicklung mit einem Gipfel zwischen40 und 50 Jahren).

Quelle: Gelderblom, A: Aging and Productivity (siehe FN 6).

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gierte Effekte schließen. Denn es isteine Sache, die nachlassende Leis-tungsfähigkeit (Produktivität) einesalternden Arbeiters festzustellen, undeine andere, dieses für Individuen be-obachtete Problem über die Verschie-bung der Altersstruktur des Arbeits-angebots auf signifikante makroöko-nomische Wirkungen zu übertragen.Blanchet hat mit vereinfachten Mo-dellrechnungen demonstriert, dass dielangfristigen Effekte unterschiedlicherFruchtbarkeitsraten – über ihre Aus-wirkungen auf die Alterstruktur der er-werbsfähigen Bevölkerung – die durch-schnittliche Produktivität aller Er-werbstätigen, trotz unterstellter starkerUnterschiede bei der altersabhängigenProduktivität, nur in geringem Maßebeeinflussen können.8 Die gesamtwirt-schaftliche Produktivität wäre demnachviel stärker von anderen potenziellenFaktoren (z.B. vom technischen Fort-schritt) geprägt als von der verändertenAltersstruktur.9

Blanchets Vorgehensweise kann manin ähnlicher Weise auf Deutschland an-wenden. Anhand der aktuellsten Bevöl-kerungsvorausberechnung des Statis-tischen Bundesamtes (Variante II) sollverdeutlicht werden, in welchem Aus-maß sich die projizierte Verschiebungder Altersstruktur auf die aggregierteProduktivität niederschlagen könnte.Die Annahmen, die der Berechnung zuGrunde liegen, sind vergleichsweisegrob, und die Berechnung kann des-halb auch nur illustrativen Charakterbeanspruchen.

Angenommen wird zunächst der Ex-tremfall, dass die Produktivität eines Er-werbstätigen in seinem ersten Beschäf-tigtenjahr am höchsten ist und dannkontinuierlich bis zum Rentenalter ab-

Das Resultat einer umgekehrt U-för-migen Alters-Produktivitätskurve wirdvon einer – allerdings makroökono-misch orientierten – Studie von Sarelbestätigt.7 Sarel verwendet makroöko-nomische und demografische Daten,um die relative Produktivität verschie-dener Altersgruppen zu berechnen. DieDatenbasis umfasst dabei 119 Länderüber den Zeitraum von 1960 bis 1985.Da er a priori einen parabolischen Ver-lauf der altersabhängigen (aggregierten)Produktivitätsentwicklung unterstellt,wird den Parameterschätzungen einepolynomische Funktion dritten Gradeszu Grunde gelegt. Die auf Makro-Basisgeschätzten Produktivitätskoeffizientenbestätigen die „inverse U-Form“ der de-mografie- bzw. altersabhängigen Pro-duktivitätsentwicklung. Den höchstenWert erreicht die Produktivität bei Er-werbstätigen im Alter von 55 Jahren.Der demografische Wandel hat nachdiesen Berechnungen Auswirkungenauf das Wirtschaftswachstum. Signifi-kant ist bei Sarel allerdings nur der An-stieg der Produktivität vom Eintritt insErwerbsalter bis in die mittleren Alters-gruppen, das anschließende Abflauender Produktivität dagegen nicht.

5. MakroökonomischeSimulationen

Schlussfolgerungen für die gesamtwirt-schaftliche Produktivitätsentwicklungauf der Basis personenorientierter (mik-roanalytischer) Untersuchungen unter-liegen neben den in Abschnitt 3 ge-nannten Relativierungen noch einerweiteren Einschränkung. Selbst wennman auf individueller Ebene eine mitdem Lebensalter deutlich abfallendeLeistungskurve unterstellt, kann mandaraus nicht automatisch auf aggre-

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nimmt. Die höchste Produktivität, wel-cher der fiktive Wert 1 (bzw. 100%)zugeschrieben wird, erreicht der Er-werbstätige mit 20 Jahren. Bis zum 60.Lebensjahr sinkt die individuelle Pro-duktivität bei allen Personen linear aufdie Hälfte, also auf 0,5, ab. Diese An-nahme wird man kaum für realistischhalten, sie reicht aber für die Zweckedieser Demonstration aus. Zum Ver-gleich wird in einem zweiten Szenariovon der entgegengesetzten, ebenso ex-tremen Annahme ausgegangen, dassdie individuelle Produktivität vomzwanzigsten bis zum sechzigsten Le-bensjahr linear von 0,5 auf 1 ansteigt.Die Frage ist, wie sich diese drastischenVerläufe der individuellen Produktivität– vor dem Hintergrund des demogra-fischen Wandels – auf die aggregierteProduktivität auswirken.

Unterstellt man vereinfachend, dassalle Personen im Alter von 20 bis 59auch tatsächlich erwerbstätig sind (Er-werbsquoten = 100%), kommt man zudem in Abbildung 1 dargestellten Er-gebnis. Im Ausgangsjahr 1998 liegt die durchschnittliche Produktivität bei ca. 0,75, also fast genau zwischen denvorgegebenen Extremwerten. Bei ab-nehmender altersspezifischer Produk-tivität wird der aggregierte Wert biszum Jahr 2050 um 0,015 oder um 2%abnehmen. Im umgekehrten Fall wirdder Wert notwendigerweise um 2%zunehmen.

Dieses Ergebnis, das auf der Basis ex-tremer Annahmen über die individu-elle Produktivitätsentwicklung gewon-nen wurde, lässt den Schluss zu, dassdurch die für Deutschland absehbare

Abbildung 1: Projektionen der durchschnittlichen Produktivität Erwerbstätiger– Aggregation alternativer altersabhängiger Produktivitätsverläufea)

Quelle: Berechnungen des ifo Instituts.

a) Die (fiktive) individuelle Produktivität nimmt zwischen dem 20. und 60. Lebens-jahr entweder linear von 1,0 auf 0,5 ab oder linear von 0,5 auf 1,0 zu.

Altersgruppe von 20 bis 59 Jahren

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lichen Produktivität um 3%. Durch-schnittlich sind das –0,15% pro Jahr.Dieser Rückgang fällt deutlich geringeraus als der Produktionsverlust, derallein aus dem relativen Rückgang derökonomisch aktiven Bevölkerung re-sultiert. Nach Börsch-Supans Szenarienmuss die erwerbstätige Bevölkerung imJahr 2035 um 15% produktiver sein alsim Jahr 2010, wenn sie pro Kopf derGesamtbevölkerung dieselbe Menge anKonsum- und Kapitalgütern produ-zieren soll. Das würde heißen, dass imDurchschnitt jährlich 0,45% des Pro-duktivitätswachstums vom Rückgangdes Bevölkerungsanteils der Erwerbs-tätigen aufgezehrt würde.

Die wesentliche Botschaft, die man aus diesen Berechnungen ableitenkann, ist, dass die demografisch be-dingten Probleme in Deutschland, soschwer wiegend sie in verschiedenerHinsicht, z.B. für die sozialen Siche-rungssysteme, auch sein mögen, je-denfalls nicht vorrangig durch einenungünstigeren Altersaufbau der Er-werbspersonen verursacht werden. DieEntwicklung der gesamtwirtschaft-lichen Produktivität wird aller Voraus-sicht nach nicht wegen der Alters-struktur der ökonomisch Aktiven zumProblem werden, sondern wegen derrelativen Schrumpfung dieser Gruppegegenüber der der ökonomisch Inak-tiven.

6. Ein vorläufiges Fazit

Als Fazit aus diesem Literaturüberblickund den daran anknüpfenden Über-legungen kann Folgendes festgehaltenwerden. Erstens ist es durchaus nichtso klar, wie häufig unterstellt wird, dassältere Erwerbspersonen weniger pro-

Veränderung der Altersstruktur nichtzwangsläufig ernsthafte Auswirkungenauf die gesamtwirtschaftliche Produk-tivität zu erwarten sind. Die Effekte derAltersstruktur können von anderenFaktoren, welche die Produktivität be-einflussen (z.B. vom technischen Wan-del), bei Weitem in den Schatten gestelltwerden. Als etwas bedenklich erscheint,dass der Rückgang in den nächstenzwanzig Jahren nach den hier gemach-ten Vorgaben am deutlichsten ausge-prägt wäre. In diesem Zeitraum würdenach dem Rechenbeispiel die Produk-tivität altersstrukturbedingt jährlich umdurchschnittlich 0,14% sinken. Diesgeschieht allerdings nur unter denunterstellten, unrealistisch extremenAnnahmen. Verläuft die individuelleProduktivitätsentwicklung über die Lebensarbeitszeit in der realitätsnä-heren inversen U-Form, würden solcheBedenken hinsichtlich der aggregiertenProduktivitätsentwicklung auch für die-sen Zeitraum unbegründet sein.

Dieses Ergebnis wird auf der Basis einesweniger artifiziellen methodischenVorgehens auch von Börsch-Supanbestätigt.10 Statt fiktiver Produktivitäts-größen und -verläufe legt er seinenBerechnungen zwei US-amerikanischeStudien zu empirischen altersab-hängigen Einkommensverläufen zuGrunde. Die Ergebnisse dieser Studienüberträgt er auf Szenarien zur Ver-schiebung der Altersstruktur der er-werbstätigen Bevölkerung in Deutsch-land und berechnet in ähnlicher Weisewie bei den hier angestellten Modell-rechnungen eine aggregierte Produk-tivitätsentwicklung. Auf Basis des ex-tremeren Falles der beiden empirischenStudien errechnet Börsch-Supan überden Zeitraum von zwanzig Jahreneinen Rückgang der gesamtwirtschaft-

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duktiv sind als jüngere Erwerbstätige.11

Zwar deuten einige Studien auf einenAbfall der Produktivität im fortge-schrittenen Erwerbsalter hin, über dieim Hinblick auf den technischenFortschritt fast noch wichtigere Frageder individuellen Kreativität und In-novativität ist aber auch damit nochnichts gesagt.12 Zweitens kann nachdem derzeitigen Kenntnisstand – selbstunter der Annahme, dass die indivi-duelle Produktivität mit dem Altermerklich nachlässt – Entwarnung ge-geben werden hinsichtlich der vielfachbefürchteten massiven Auswirkungender veränderten Altersstruktur der er-werbstätigen Bevölkerung auf die ge-samtwirtschaftliche Produktivität.

Zu vermeiden sind jedoch Fehldeu-tungen und falsche Generalisierun-gen dieser vorläufigen Schlussfolge-rungen. Sie bedeuten beispielsweisenicht, dass der demografische Wandeldie Entwicklung des Sozialproduktespro Kopf der Wohnbevölkerung nichthemmen wird. Sie dürfen auch nichtohne Weiteres auf einzelne Erwerbs-tätige oder auf die Situation einzel-ner Betriebe übertragen werden. Dereinzelne Arbeitnehmer kann sehr wohlunter altersbedingten Leistungsein-schränkungen leiden, und Betriebekönnen wegen einer ungünstigen oder ungünstiger werdenden Zusam-mensetzung ihrer Belegschaften inSchwierigkeiten geraten. Wenn die indas Berufsleben einsteigenden Alters-kohorten immer dünner besetzt sind,kann es vor allem bei Betrieben in ex-pandierenden und auf neuen Tech-nologien basierenden Branchen zu Produktionsbehinderungen durch ei-nen Mangel an Fachkräften mit demjeweils neuesten verfügbaren Wissenkommen.

Unter diesen Umständen ist eine lang-fristig orientierte Personalpolitik, dieden Neuzugang an Arbeitskräften miteiner kontinuierlichen Weiterbildungder alternden Belegschaft abstimmt,eine sinnvolle vorbeugende Maßnah-me. Bei älteren Erwerbspersonen be-stehen sowohl Leistungsreserven, diebesser ausgeschöpft werden könnten,als auch Interventionsmöglichkeitenzum Erhalt der beruflichen Leistungs-fähigkeit, die bislang zu wenig genutztwerden. Entscheidend ist in diesemZusammenhang nämlich, dass ein fal-lendes oder invers-U-förmiges Alters-Produktivitätsprofil – soweit es sichunter den heutigen Gegebenheitenbeobachten lässt – nicht als unver-rückbares Datum genommen werdenmuss. Vielmehr ergibt sich aus öko-nomischer Sicht in erster Linie dieFrage, wie sich die Produktivität älte-rer Erwerbspersonen günstig beein-flussen lässt.

7. Implikationen für dieberufliche Weiterbildung

Unter den wirtschaftspolitischen Im-plikationen der Frage, welche Auswir-kungen der demografische Wandel aufProduktivität und Wirtschaftswachstumhaben kann, soll hier (im Anschluss andie zuletzt angestellten Überlegungen)in erster Linie Aspekten nachgegan-gen werden, die den Bereich berufli-cher Bildung und Weiterbildung be-treffen.13 Angesichts einer verlänger-ten Erwerbsphase älterer Beschäftigterund niedrigerer Zahlen von Berufsein-steigern mit frisch erworbenen Quali-fikationen kommt den Strukturen derberufsqualifizierenden Aus- und Wei-terbildung nämlich eine zentrale Rollefür die zukünftige wirtschaftliche Ent-

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wicklung in Deutschland zu. NeuartigeAufgaben stellen sich dabei insbeson-dere im Bereich der Weiterbildung, daneue Modelle einer stärker formali-sierten, kontinuierlicheren bzw. wieder-holten Qualifizierung bereits Beschäf-tigter ein Kernelement geeigneter Stra-tegien zur Bewältigung der Effekte deslaufenden demografischen Wandelssein dürften. Die bisherigen Formenund Strukturen betrieblicher undaußerbetrieblicher Weiterbildung tau-gen dabei bestenfalls sehr beschränktals Vorbilder dafür, wie diese Heraus-forderung zu bewältigen ist.

Neuartig sind nämlich auch eine Reihevon Fragen, die sich ergeben, wennberufliche Weiterqualifikation im Sinneeiner „lebenslangen Ausbildung“ aufbreiter Basis angeboten, in insgesamtverlängerte Erwerbsbiografien der Ar-beitnehmer integriert und in das be-triebliche Personalmanagement ein-gepasst werden soll. Nicht zuletzt er-geben sich dabei u.U. unterschiedlicheInteressenlagen von Arbeitgebern undArbeitnehmern, die aus Unsicherheitenüber die Bildungsrenditen, Problemeder (Vor-)Finanzierung entsprechenderQualifikationsmaßnahmen bzw. der fi-nanziellen Absicherung der Requali-fikationsphase entstehen. Arbeitneh-mer werden bei einer Entscheidung,ihre Erwerbstätigkeit zu Gunsten einerberuflichen Weiterbildungsmaßnahmefür gewisse Zeit förmlich zu unter-brechen, nach verlässlichen Beschäfti-gungs- und Karriereperspektiven ver-langen. Auch stellt sich ihnen dieFrage, wie sie während der Weiterbil-dungsphase ihren Lebensunterhalt be-streiten (und eventuellen langfristigenfinanziellen Verpflichtungen nachkom-men) können. Demgegenüber bestehtfür Arbeitgeber, die sich bei derartigen

Maßnahmen finanziell engagieren –durch die (Ko-)Finanzierung der Aus-bildung und/oder durch irgendeineForm der Lohnfortzahlung –, ein erheb-liches Risiko, dass diese Investitionendurch einen anschließenden Arbeits-platzwechsel des mit verbesserter Qua-lifikation ausgestatteten Arbeitnehmersfür sie verloren sind.

Grundsätzlich sind diese Probleme imBereich von Bildung und Bildungs-politik nicht neu. Beispielsweise dürf-ten sie auch zu gewissen Spannungeninnerhalb des heutigen, „dualen“ Sys-tems der beruflichen Erstausbildungbeitragen (mit einer recht ungleichenVerteilung des Engagements der Be-triebe nach Unternehmensgrößen undeiner insgesamt gesunkenen Ausbil-dungsbereitschaft auf Arbeitgeberseite).Sie stellen sich hier jedoch verschärft.Im Kern geht es dabei um mögliche ex-terne Effekte oder „Spill-overs“ vonEntscheidungen auf der Ebene ein-zelner Betriebe sowie um Kreditbe-schränkungen, die verhindern, dass dieArbeitnehmer selbst für einzel- wiegesamtwirtschaftlich sinnvolle Investi-tionen in ihre Qualifikationen aufkom-men. In beiderlei Hinsicht ergeben sichaus ökonomischer Sicht daher typischestaatliche Aufgaben, die zur Überwin-dung dieser Probleme beitragen. DasSpektrum möglicher Lösungen be-ginnt bei der Anpassung rechtlicherRahmenbedingungen für arbeitsvertrag-liche Regelungen zwischen Arbeit-gebern und Arbeitnehmern, die einensinnvollen Kompromiss schaffen zwi-schen der für beide Seiten erforder-lichen Verlässlichkeit und der ebenfallsdurchaus wünschenswerten Flexibili-tät, die eine optimale Verwertung dererneuerten Qualifikationen erlaubt.Nachzudenken ist in diesem Zusam-

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menhang etwa über befristete Arbeits-platzgarantien und Zuschüsse der Ar-beitgeber zu Ausbildungskosten undLebensunterhalt der Arbeitnehmer ei-nerseits und Regelungen über Kom-pensationszahlungen bei einem vorzei-tigen Arbeitsplatzwechsel nach Ablaufder Qualifikationsphase. Alternativ zuZahlungen der Arbeitgeber kann derStaat die Arbeitnehmer in Weiterbil-dungsmaßnahmen auch durch Krediteunterstützen, die sie auf Finanzmärk-ten bestenfalls sehr begrenzt erhaltenkönnen. In jedem Fall ergeben sichauch staatliche Aufgaben, soweit esdarum geht, Qualitätsstandards fürWeiterbildungseinrichtungen zu setzenund ihre Einhaltung zu überwachen,nicht zuletzt um Vergleichbarkeit derBildungsangebote herzustellen. Dage-gen erscheint eine staatliche (Voll-)Finanzierung oder sogar eine staatlicheOrganisation der Weiterbildungsmaß-nahmen nicht zwingend als erforder-lich. Dies gilt selbst, wenn manchesdafür spricht, solche Maßnahmen ingeeigneter Weise an vorhandene, teilsstaatlich betriebene Bildungseinrich-tungen, etwa Universitäten, Fachhoch-schulen oder außer- und überbetrieb-liche Einrichtungen der beruflichenAusbildung, anzugliedern.

Zu beachten ist dabei schließlich auch,dass sich die Bedeutung aktualisierterfachlicher Kenntnisse in verschiedenenTätigkeitsfeldern unterschiedlich ent-wickeln wird. Innerhalb des jeweils er-forderlichen Mixes an berufsrelevantenFähigkeiten – d.h. neben unspezifi-schen Qualifikationen, Allgemeinbil-dung, persönlichkeitsbezogenen undkommunikativen Skills sowie betriebs-spezifischem Wissen14 – haben berufs-fachliche Kenntnisse einen nach Bran-chen, Berufen und effektiv ausgeüb-

ten Tätigkeiten stark variierendenStellenwert. Entsprechend verschiedensind daher auch die Anreize für Ar-beitgeber und Beschäftigte, sich imHinblick auf die Erneuerung undWeiterentwicklung fachlicher Qua-lifikationen zu engagieren. Erforder-lich sind entsprechend differenzier-te Lösungen im Sinne jeweils passen-der Strukturen für Organisation undFinanzierung von Modellen einer lebenslangen Ausbildung. Variierenkönnen dabei Initiativrechte, Rege-lungen hinsichtlich der Auswahl vonTeilnehmern und Bildungsmaßnah-men, der (Vor-)Finanzierung entspre-chender Aktivitäten und der Veran-kerung einschlägiger Regelungen inArbeitsverträgen, die den sich wandeln-den Qualifikationserfordernissen undsteigenden Anforderungen an die Fle-xibilität von Arbeitsverhältnissen zurBewältigung des demografischen Wan-dels Rechnung tragen.

Alles in allem kann hier auch zu die-sem Aspekt der Thematik bislang ehernur eine vorläufige Skizze der sich ab-zeichnenden Probleme und möglicherLösungen gegeben werden. Auch wennüberzogene Befürchtungen hinsichtlichder Auswirkungen des demografischenWandels auf die Produktivität des Er-werbspersonenpotenzials in Deutsch-land – trotz nennenswerter Verschie-bungen in der Altersstruktur der Be-völkerung – nicht am Platz sind, istaber klar, dass die Frage nach Perspek-tiven für eine lebenslange beruflicheAus- und Weiterbildung, einschließlichetwaigen politischen Handlungsbe-darfs, steigende Dringlichkeit besitzt.Lösungswege der hier angesprochenenArt müssen daher so bald wie möglichweiter ausgelotet und gründlich disku-tiert werden.

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Anmerkungen1 Um die Wohnbevölkerung (in Klammern:

die Erwerbsbevölkerung im Alter von 15bis 64 Jahren) bis 2050 auf dem heutigenNiveau konstant zu halten, ist nach Mo-dellrechnungen der Vereinten Nationenim Falle Deutschlands eine Nettozuwan-derung von 324.000 (458.000) Personenpro Jahr bzw. von insgesamt 17,8 (25,2)Mio. Personen erforderlich (United Na-tions Population Division 2000). ImDurchschnitt der Jahre 1965 bis 2000 lagder Wanderungssaldo (West-)Deutsch-lands bei rund 200.000 Personen jährlich(Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Rei-he 1, div. Jge.).

2 Neben den Bevölkerungsprojektionen derVereinten Nationen vgl. vor allem die ak-tuellen Vorausberechnungen von: Statis-tisches Bundesamt: Bevölkerungsentwick-lung Deutschlands bis zum Jahr 2050.Ergebnisse der 9. koordinierten Bevölke-rungsvorausberechnung, Wiesbaden 2000;Eurostat: Revised Long-Term NationalPopulation. Scenarios for the EuropeanUnion, Voorburg/Luxemburg 2000.

3 Bäcker, Gerhard: Demografischer Wandel,Arbeitsmarktentwicklung und Beschäfti-gungsperspektiven älterer Arbeitnehmer,Zeitschrift für Geriatrie und Gerontologie29, 1996, S.23–28.

4 Frerichs, Frerich: Älterwerden im Betrieb,Beschäftigungschancen und -risiken imdemografischen Wandel, Opladen 1998,S.39.

5 Ebd., S.40.6 Gelderblom, Arie: Aging and Producti-

vity, in: R. Lindley (Hrsg.), The Impact ofAgeing in the Size, Structure and Be-haviour of Active Age Population and Po-licy Implications for the Labour Market.Revisited Final Report for the Commissionof the European Communities DG V, In-stitut for Employment Research, 1999.

7 Sarel, Michael: Demographic Dynamicsand the Empirics of Economic Growth,IMF Staff Papers 42, No.2 (June), Wash-ington, D.C. 1995.

8 Blanchet, Didier: Does an ageing labourforce call for large adjustments in train-ing and wage policies?, in: P. Johnson/K.F. Zimmermann (Hrsg.), Labour Marketsin an Aging Europe, Cambridge 1993, S.126–145.

9 Ebd., S.129.10 Börsch-Supan, Axel: Labor Market Effects

of Population Aging, NBER Working Paper No.8640, 2001.

11 Auch der in Deutschland und andereneuropäischen Ländern im letzten Jahr-zehnt weithin beobachtbare Trend zurFreisetzung älterer Beschäftigter mussnicht unbedingt als Ausdruck einer Per-sonalpolitik gewertet werden, die aktivnach Produktivitätsunterschieden selek-tiert. Vielmehr stellt sie unter Umständenin erster Linie einen sozial akzeptiertenund durch großzügige sozialrechtlicheRegelungen begünstigten Weg dazu dar,die Beschäftigtenzahl eines Betriebes ins-gesamt zu reduzieren.

12 So lässt sich auch nicht beobachten, dassbetriebliche Personalentscheidungen we-sentlich selektiver werden hinsichtlichdes Alters von Bewerbern und vorhande-nen Beschäftigten, wenn sie Arbeitsmarkt-segmente für hoch Qualifizierte oder be-sonders forschungsintensive Bereichebetreffen. Siehe hierzu: Brasche, Ulrich/Wieland Susanne: Alter und Innovation:Befunde aus der Beschäftigtenstatistik, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsfor-schung 69, Heft 1/2000, S.124 –141.

13 Bedenkenswert sind darüber hinaus ver-schiedene Strategien, Umfang und Al-tersstruktur des Arbeitsangebots auch in rein quantitativer Hinsicht zu beein-flussen. Dazu gehören alle Maßnahmenzur verstärkten Mobilisierung des heimi-schen Erwerbspersonenpotenzials – ins-besondere zum Abbau struktureller Ar-beitslosigkeit, zur weiteren Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen undzur (Wieder-)Verlängerung der Lebens-arbeitszeit – ebenso wie eine aktivere, ar-beitsmarktorientierte Zuwanderungspo-litik. Hier ist jedoch nicht der Raum,politische Implikationen im BereichBildung und Weiterbildung z.B. gegenFragen der Migrationspolitik – unter Be-rücksichtigung relativer Vor- und Nach-teile beider Strategien und ihrer kurz-oder langfristigen Substitutionalität vs.Komplementarität – abzuwägen. Klar ist,dass selbst eine innerhalb realistischerBandbreiten relativ hohe Nettozuwan-derung nach Deutschland keinesfalls aus-reicht, die fundamentalen Trends dernatürlichen Bevölkerungsbewegung außerKraft zu setzen.

14 Siehe hierzu Möller, Dirk: Humankapi-talportfolios als Determinante interna-tionaler Arbeitsmigration, Wirtschafts-und Sozialgeografisches Institut, WorkingPaper No. 2001-03, Köln 2001.

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Herbert Hofmann/Martin Werding86

Weiterführende LiteraturFuchs, Gerhard/Renz, Christian (Hrsg.):Altern und Erwerbsarbeit, Workshopdoku-mentation Nr. 201, Stuttgart 2001.Hofmann, Herbert/Meier, Volker: Beschäf-tigungseffekte und demografische Entwick-lung. Literaturstudie, ifo Institut für Wirt-schaftsforschung, München 2001.

Statistisches Bundesamt, Fachserie 1 (Be-völkerung und Erwerbstätigkeit), Reihe 1(Gebiet und Bevölkerung), div. Jge.United Nations Population Division: Re-placement Migration: Is it a solution to de-clining and ageing populations?, New York2000.

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Politische Studien, Sonderheft 2/2002, 53. Jahrgang, Juli 2002

1. Einleitung

„Die gegenwärtige Situation auf demdeutschen wie auf vielen interna-tionalen Arbeitsmärkten ist durch einepersistente Arbeitslosigkeit bei gleich-zeitigem Fachkräftemangel gekenn-zeichnet. Dieser in der Öffentlichkeitnur schwer vermittelbare Zusammen-hang ist ursächlich vor allem mit dembesonderen Anpassungsdruck bei denGeringqualifizierten und Ungelerntenauf den durch den technischen Fort-schritt geprägten Arbeitsmärkten ver-bunden. Im gleichen Maße, wie es die-sen Gruppen zunehmend weniger ge-lingt, auf dem Arbeitsmarkt dauer-haft Fuß zu fassen, wächst die Engpass-situation bei den hoch qualifizier-ten Arbeitskräften. Die modernen Ar-beitsmärkte und Produktionsabläufeverlangen nach einem intensiven Ein-satz von Humankapital, das sich im-mer mehr als wichtigster Produktions-faktor etabliert. Als Folge sehen sich die Geringqualifizierten einer wei-ter schrumpfenden Zahl von Arbeits-plätzen gegenüber, während die Hoch-qualifizierten zum knappen Faktor werden und nicht alle für sie zur Ver-

fügung stehenden Stellen auch besetztwerden können. In dieser sich öff-nenden Schere liegt eine hohe gesell-schaftspolitische Brisanz.“1

Diese Aussage von Zimmermann ver-deutlicht die gegenwärtige Lage amdeutschen Arbeitsmarkt: Während ei-nerseits viele – vor allem gering qua-lifizierte – Personen von Arbeitslosig-keit betroffen sind, wird auf der an-deren Seite über fehlende Fachkräfteund betriebliche Stellenbesetzungs-probleme geklagt. Über die aktuelleSituation hinaus beschäftigt derzeitauch die langfristige Perspektive inForm der demografischen Entwicklungdie öffentliche und wissenschaftlicheDiskussion: Angesichts sinkender Ge-burtenzahlen und einer steigendenLebenserwartung wird es nicht nur zueiner schrumpfenden, sondern auch zueiner alternden Bevölkerung kommen.Während die demografischen Entwick-lungstrends lange Zeit vorwiegendunter dem Aspekt ihrer Auswirkungenauf die Finanzierung des sozialenSicherungssystems diskutiert wurden,rücken erst in jüngster Zeit ihre Kon-sequenzen für den Arbeitsmarkt in den

Weiterbildung und Zuwanderungals mögliche Strategien zur Überwindung des

Fachkräftebedarfs

Lutz Bellmann/Ute Leber

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Lutz Bellmann/Ute Leber88

Mittelpunkt des Interesses. Im Zentrumder Diskussion steht dabei neben demzu erwartenden Alterungsprozess dererwerbsfähigen Bevölkerung insbe-sondere auch die Frage, inwieweit dieschrumpfende Bevölkerung zu einemRückgang des Arbeitskräfteangebotsund infolgedessen möglicherweise auchzu einem allgemeinen Arbeits- bzw.einem speziellen Fachkräftemangelführen wird.

Vor dem Hintergrund derartiger Ent-wicklungen stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft bzw. die Politik dem aktuellen Bedarf an Fachkräften einer-seits und den sich aus den demogra-fischen Entwicklungen ergebenden mit-tel- bzw. langfristigen Arbeitsmarkt-erfordernissen andererseits begegnenkann. In diesem Kontext werden ver-schiedene Optionen diskutiert, die vonder Erschließung von Personalreservenüber Bildungsstrategien bis hin zu ei-ner verstärkten Zuwanderung reichen.Grundsätzlich gilt es dabei nicht nurdie Wirksamkeit, sondern darüber hin-aus auch die Fristigkeit der verschiede-nen Instrumente zu berücksichtigen,entfalten diese doch die gewünschteWirkung zum Teil erst mit einer ge-wissen zeitlichen Verzögerung.

Der vorliegende Beitrag macht es sichzur Aufgabe, von den grundsätzlichmöglichen Wegen zur Anpassung andie geschilderten kurz-, mittel undlangfristigen Arbeitsmarkterforder-nisse die Weiterbildung und die Zu-wanderung herauszugreifen und einernäheren Betrachtung zu unterziehen.Zu diesem Zweck werden in Abschnitt2 zunächst einige Befunde zum ak-tuellen Arbeitskräftebedarf in der Bun-desrepublik vorgestellt und Überlegun-gen zur zu erwartenden Entwicklung

der Arbeitsmarktsituation angestellt. InAbschnitt 3 werden sodann knapp ei-nige der prinzipiell gegebenen Mög-lichkeiten zur Überwindung eines Ar-beitskräftemangels skizziert, bevor dasAugenmerk anschließend in den Ab-schnitten 4 und 5 auf die hier speziellinteressierenden Strategien gerichtetwird. In diesem Kontext wird analy-siert, ob und inwieweit eine Zuwan-derung ausländischer Fachkräfte auf der einen Seite sowie Weiterbildungs-aktivitäten auf der anderen Seite einenbestehenden bzw. möglicherweise dro-henden Fachkräftebedarf beheben bzw. abmildern können. Dabei werdennicht nur grundlegende theoretischeÜberlegungen angestellt; diese werdendarüber hinaus durch entsprechendeempirische Befunde ergänzt. Abschnitt6 fasst schließlich die wesentlichenErkenntnisse der vorangegangenen Untersuchung zusammen und ziehtSchlussfolgerungen hinsichtlich derWirksamkeit der betrachteten Instru-mente.

2. Einige Befunde zu aktuellenund zukünftigen Arbeits-markterfordernissen

Zur Erfassung eines aktuell gegebenenFachkräftebedarfs stehen grundsätzlichverschiedene Möglichkeiten zur Ver-fügung. So können beispielsweise dieEntwicklung der Beschäftigung bzw. derArbeitslosigkeit verschiedener Arbeit-nehmergruppen oder der Bestand unddie Laufzeit der gemeldeten offenenStellen als Indikator für einen Arbeits-kräftemangel herangezogen werden;entsprechende Informationen hierzufinden sich in den Statistiken der Bun-desanstalt für Arbeit (BA).2 Darüberhinaus ist es auch möglich, Informa-

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tionen zum Bedarf an Arbeitskräftenauf der Basis von Betriebs- bzw. Un-ternehmensbefragungen zu gewinnen.

Eine Datenquelle, die hierfür in Fragekommt, ist das IAB-Betriebspanel, eineseit 1993 in den alten und seit 1996auch in den neuen Bundesländern imAuftrag des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) jährlichdurchgeführte Befragung von Betriebenmit mindestens einem sozialversich-erungspflichtigen Beschäftigten zuverschiedenen Bereichen der betrieb-lichen Geschäfts- und Personalpolitik.3

Besonders interessant für die Frage-stellung ist die Erhebung aus dem Jahr2000, in der das Thema „Fachkräfte-bedarf und nicht besetzte Stellen“einen Befragungsschwerpunkt bildete.Auswertungen der entsprechenden Fra-gen zeigen, dass im ersten Halbjahr2000 von den Betrieben in der Bun-desrepublik etwa 2,13 Millionen Ar-beitskräfte eingestellt wurden; zusätz-lich hätten weitere 570.000 Personenbeschäftigt werden können, wenn alleoffenen Positionen hätten besetzt wer-den können. Insgesamt konnte dem-nach etwa jede fünfte angebotene Stellezum Stichtag der Befragung (30.6.2000)nicht besetzt werden, darunter warenrund 64.000 Positionen für Univer-sitäts- und Fachhochschulabsolventenund davon ungefähr 37.000 speziell fürIngenieure, Informatiker oder Mathe-matiker.4

Ebenso deutet auch die IAB-Erhebungüber das gesamtwirtschaftliche Stel-lenangebot auf nicht unerheblicheStellenbesetzungsprobleme von Be-trieben hin: Dieser Untersuchung zu-folge meldeten im vierten Quartal 2000insgesamt 15% der Betriebe einenArbeitskräftebedarf, wobei der Anteil

der Betriebe, die Arbeitskräfte suchen,insbesondere in den alten Bundeslän-dern im Vergleich zur vorangegan-genen Erhebung des Jahres 1998 deut-lich angestiegen ist. Das Angebot anoffenen Stellen belief sich in West-deutschland auf rund 1,3 Millionen, inOstdeutschland auf etwa 150.000.5

Am aktuellen Rand liegen demnachrelativ eindeutige Indizien für Anspan-nungstendenzen am heimischen Ar-beitsmarkt vor. Weitaus schwieriger alsdie Erfassung der gegenwärtigen Si-tuation stellt sich jedoch die Beant-wortung der Frage dar, mit welcher Ent-wicklung des Arbeitsmarktes in derZukunft zu rechnen ist.

Stellt man allein auf die Angebotsseitedes Arbeitsmarktes ab, so wird es aufGrund der demografischen Entwick-lung zu einem doch recht deutlichenRückgang des Erwerbspersonenpoten-zials kommen. Projektionen des IABzufolge wird es bei Fortschreibung der1995 ansässigen Bevölkerung, d.h. beieiner Vernachlässigung von Wande-rungen, und einer gegenüber demBasisjahr unveränderten Erwerbsbe-teiligung bis zum Jahre 2010 zu einerVerminderung des Erwerbspersonen-potenzials (Erwerbstätige plus regis-trierte Arbeitslose plus Stille Reserve)um 150 Tsd. bis 200 Tsd. Personenkommen. Bis zum Jahre 2040 dürftedas Arbeitskräfteangebot um ein Vier-tel bis ein Drittel niedriger liegen alsheute. Auch bei angenommenen Netto-zuwanderungen in Höhe von 200 Tsd.Personen p.a. wird dieser Effekt, wennauch mit gering verschiebender Wir-kung, eintreten. Erst Nettozuwande-rungen in einer Größenordnung von500 Tsd. Personen pro Jahr würden dasArbeitskräfteangebot zunächst deut-

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lich erhöhen, den Rückgang letztend-lich aber doch nur verschieben.6

Um Aussagen zu einem zukünftig zu erwartenden Arbeitskräftebedarf tref-fen zu können, reicht es jedoch nichtaus, allein auf die Angebotsseite des Arbeitsmarktes abzustellen. Vielmehrist es erforderlich, auch die Nach-frageseite in die Betrachtung einzu-schließen. Um zudem einen mög-licherweise entstehenden Bedarf anbestimmten Fachkräften prognosti-zieren zu können, wäre es darüber hinaus notwendig, auch längerfristi-ge Angebotsprojektionen der Absol-venten aus dem Bildungssystem, dif-ferenziert nach den Qualifikations-ebenen und Fachrichtungen durch-zuführen. Eine solche Projektion istjedoch mit großen Unsicherheiten be-haftet. Das IAB hat allerdings in denletzten Jahren eine umfassende Bil-dungsgesamtrechnung (BGR)7 aufge-baut, die eventuell auch den Grund-stock für derartige Projektionen bildenkönnte.8

Ungeachtet dieser Schwierigkeiten liegen dennoch einige Versuche vor,längerfristige Entwicklungen der Ar-beitslandschaft zu projizieren. Die-se können zumindest grobe Anhalts-punkte dafür geben, mit welcherStruktur der Arbeitskräftenachfrage inZukunft zu rechnen ist, auch wenn es auf ihrer Basis kaum möglich ist,Aussagen zur quantitativen Entwick-lung der Arbeitskräftenachfrage zu treffen. Beispielsweise hat das IAB in Zusammenarbeit mit Prognos bereits in mehreren Jahren längerfristige Pro-jektionen der Arbeitslandschaft er-arbeitet; die zentralen Aussagen derjüngsten Studie, deren Horizont biszum Jahre 2010 reicht, sind:9

● Die relative Beschäftigung in denDienstleistungsbereichen steigt wei-ter an, wohingegen mit einem Ver-lust im warenproduzierenden Ge-werbe und in der Land- und Forst-wirtschaft zu rechnen ist.

● Verbunden damit sind höhere An-teile bei den Dienstleistungstätigkei-ten zu erwarten; produktionsorien-tierte Tätigkeiten nehmen ab.

● Vor allem werden die Beschäfti-gungsanteile anspruchsvollerer Tä-tigkeiten stark anwachsen.

3. Grundsätzliche Strategien zur Überwindung desFachkräftebedarfs

Die vorangegangenen Ausführungenhaben deutlich gemacht, dass einerseitsvon einem aktuellen Mangel oder zu-mindest einem Bedarf an Fachkräftenausgegangen werden kann, anderer-seits aber auch angesichts der demo-grafischen Entwicklungen eine Ver-knappung des Arbeitsangebots für dieZukunft erwartet wird. Insofern stelltsich die Frage, welche Strategien ver-folgt werden können, um derartigenAnspannungstendenzen auf dem Ar-beitsmarkt begegnen und zusätzlicheBeschäftigten- bzw. Qualifizierungs-potenziale erschließen zu können. Wieeingangs bereits erwähnt wurde, wer-den in diesem Kontext in der Literaturgrundsätzlich verschiedene Optionendiskutiert.

Neben den im vorliegenden Beitragbehandelten Möglichkeiten der Wei-terbildung und Zuwanderung unter-scheidet Walwei beispielsweise zwi-schen der Aktivierungs-, der Arbeits-zeit- und der Ausschöpfungsstrategie:10

Während sich Aktivierungsstrategien

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Weiterbildung und Zuwanderung zur Überwindung des Fachkräftebedarfs 91

auf die „Mobilmachung“ von Arbeits-losen oder Personen aus der Stellen Re-serve beziehen, umfassen Arbeitszeit-strategien solche Ansätze, die an dendurch kollektive oder individuelle For-men der Arbeitszeitverkürzung ent-standenen „Zeitreserven“ anknüpfen.Zu denken ist in diesem Zusammen-hang insbesondere an eine Verlän-gerung der individuellen Arbeitszeit,etwa in Form einer Aufstockung vonTeilzeitbeschäftigung oder einer län-geren Wochenarbeitszeit. Das Ziel derAusschöpfungsstrategie besteht dem-gegenüber darin, die Bevölkerung imerwerbsfähigen Alter verstärkt demArbeitsmarkt zuzuführen, so z.B. durcheine höhere Frauenerwerbsbeteiligungoder einen früheren Eintritt und/oderein späteres Ausscheiden aus dem Er-werbsleben. Zusätzlich nennt der Au-tor die Bildung sowie die Zuwande-rung als weitere Optionen zur Er-schließung von Beschäftigungs- undQualifikationspotenzialen. Auf diesenbeiden zuletzt genannten Strategienwird der Fokus der folgenden Ausfüh-rungen liegen. Zunächst stehen dabeidie Wirkungen der Weiterbildung imZentrum des Interesses; anschließendwerden mögliche Effekte der Zuwan-derung diskutiert.

4. Die Weiterbildungsstrategie

In Anlehnung an eine auf relativ weiteVerbreitung gestoßene Definition desDeutschen Bildungsrates kann Weiter-bildung definiert werden als „Fortset-zung oder Wiederaufnahme organi-sierten Lernens nach Abschluss einerunterschiedlich ausgedehnten erstenAusbildungsphase. (...) Das Ende derersten Bildungsphase und damit derBeginn möglicher Weiterbildung ist in

der Regel durch den Eintritt in die volle Erwerbstätigkeit gekennzeich-net.“11 Kritisch an dieser Definitionwird oftmals der Umstand gesehen,dass Weiterbildung sich danach nur auf organisiertes Lernen bezieht, d.h.solches Lernen, das im Rahmen or-ganisierter Aktivitäten von betrieb-lichen und außerbetrieblichen Weiter-bildungsträgern stattfindet und somitetwa Kurse, Lehrgänge und Seminareumfasst. Neben dieser auch als formelleWeiterbildung bezeichneten Lernformwird in letzter Zeit aber gerade dem sogenannten informellen Lernen einebesondere Bedeutung beigemessen:Hierbei handelt es sich um ein „Lernenim Prozess der Arbeit“, also um arbeits-integriertes oder arbeitsimmanentesLernen.12

Nach den Trägern bzw. der Finan-zierung der Weiterbildung lässt sichdiese weiterhin in die öffentliche, d.h.SGB III-geförderte, die betrieblichesowie die individuelle Weiterbildungunterteilen. Von diesen Bereichen wirdim Folgenden ausschließlich die be-triebliche Weiterbildung betrachtet,auch wenn einige der angestelltengrundlegenden Überlegungen auch auf die anderen Formen der Wei-terbildung angewendet werden kön-nen.

Unter betrieblicher Weiterbildung wer-den gemäß den vorangehenden Aus-führungen solche Qualifizierungs-aktivitäten verstanden, die vom Be-trieb veranlasst bzw. (teilweise) finan-ziert werden und die im Anschluss an eine erste Bildungsphase statt-finden. Bei den geförderten Maß-nahmen kann es sich sowohl umformelle als auch um informelle Akti-vitäten handeln.

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4.1 Betriebliche Weiterbildung alsMöglichkeit zur Deckung einesgegebenen Fachkräftebedarfs

Qualifizierung im Allgemeinen bzw.Weiterbildung im Speziellen erscheinengrundsätzlich als geeignete Instrumentedazu, bestehende Diskrepanzen zwi-schen Qualifikationsbedarf und Qua-lifikationsangebot abzubauen und so-mit einen gegebenen Fachkräftebe-darf, der ja gerade durch einen derar-tigen qualifikatorischen Mismatchgekennzeichnet ist, zu lindern. Im Ver-gleich zur beruflichen Erstausbildungdürfte die Weiterbildung dabei gewisseVorzüge aufweisen: So ist zum einendavon auszugehen, dass Weiterbildungschneller wirkt als Ausbildung, da letz-tere eine relativ lange Zeit in Anspruchnimmt und somit die gewünschtenEffekte erst mit einer gewissen zeit-lichen Verzögerung entfalten kann.13

Dennoch ist natürlich auch bei derWeiterbildung zu beachten, dass diegewünschten Wirkungen nicht unmit-telbar, sondern erst nach einer ge-wissen Zeit eintreten werden. Zum an-deren ist es im Rahmen von Weiter-bildungsaktivitäten aber auch ehermöglich, flexibel auf sich veränderndeStrukturen der Arbeitswelt zu reagieren.Trotz der laufenden Überarbeitungender Ausbildungsordnungen und derEntwicklung neuer Berufsfelder wird es oftmals als fraglich dahingestellt, obund inwieweit die berufliche Erstaus-bildung der Dynamik sich verändern-der Produktionsprozesse gerecht wer-den kann.14 Abgesehen von der eigent-lichen Ausbildungsdauer kann es somitnoch zu einer zusätzlichen Verzöge-rung der Wirksamkeit der beruflichenErstausbildung kommen, die darin be-steht, dass es bereits einen gewissenZeitraum in Anspruch nehmen kann,

bis jene Ausbildungsberufe zur Verfü-gung stehen, die die benötigten Qua-lifikationen überhaupt vermitteln.

Stellt man auf die betriebliche Weiter-bildung ab, so ist aus ökonomischerSicht grundsätzlich das unternehme-rische Nutzen-Kosten-Kalkül hinsicht-lich der zu tätigenden Investitionen indas Humankapital zu berücksichtigen.In diesem Sinne ist also danach zu fra-gen, ob und inwieweit Betriebe über-haupt einen Anreiz dazu haben, in dieKöpfe ihrer Mitarbeiter zu investieren.

Die Durchführung von Qualifizie-rungsmaßnahmen ist für Betriebe mitKosten in einer nicht zu vernachläs-sigenden Größenordnung verbunden.Beispielsweise hat die Erhebung desInstituts der deutschen Wirtschaft (IW)zur betrieblichen Weiterbildung erge-ben, dass deutsche Unternehmen derprivaten gewerblichen Wirtschaft imJahre 1998 34,3 Milliarden DM fürFortbildung ausgegeben haben –umgerechnet auf die Beschäftigten be-deutet dies Aufwendungen in Höhevon 2.207 DM pro Kopf.15 Ein Un-ternehmen wird wohl nur dann zurDurchführung von Investitionen indieser Größenordnung bereit sein,wenn den entstehenden Kosten einentsprechender Ertrag gegenübersteht.Folgt man der Humankapitaltheorie16,so führen Bildungsinvestitionen zu ei-ner Steigerung der Produktivität undmüssten sich insofern – falls die Er-träge nicht in vollem Umfang denWeiterbildungsteilnehmern zufließen– positiv auf den Unternehmenserfolgauswirken.

Empirische Studien zu den Auswirkun-gen der betrieblich finanzierten Wei-terbildung auf den Unternehmens-

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erfolg stellen diesen positiven Effektjedoch in Frage. So zeigen etwa Bell-mann/Büchel auf Basis der Daten desIAB-Betriebspanels auf, dass betriebli-che Weiterbildung in einem konven-tionellen Untersuchungsansatz zwardurchaus einen positiven Einfluss aufden Unternehmenserfolg ausübt. Aller-dings ist es im Rahmen dieses Ansatzesals fraglich anzusehen, inwieweit derhöhere Unternehmenserfolg der wei-terbildenden Betriebe ursächlich tat-sächlich auf die Qualifizierungsakti-vitäten zurückzuführen ist. So kannvermutet werden, dass es vornehmlichbesonders leistungsfähige und inno-vative Betriebe, beispielsweise mit ei-nem besseren Management oder einermodernen Produktionsstruktur, sind,die überproportional häufig in Wei-terbildungsaktivitäten ihrer Mitarbeiterinvestieren.17 Ist dies der Fall, so ist derisoliert gemessene Einfluss der be-trieblichen Weiterbildung auf den Un-ternehmenserfolg systematisch verzerrt.Diesem Umstand tragen Bellmann/Büchel Rechnung, indem sie in einemweiteren Schritt die selektive Entschei-dung der Firmen, betriebliche Weiter-bildung zu unterstützen, berücksich-tigen. Anhand eines Modells, in demfür die Selbstselektion der Betriebe hin-sichtlich ihrer Weiterbildungspolitiknach der von Heckman entwickeltenMethode kontrolliert wird, gelingt esden Autoren aufzuzeigen, dass der Ef-fekt der Weiterbildung auf den Un-ternehmenserfolg zwar positiv bleibt,sich jedoch auf ein nicht-signifikantesNiveau abschwächt. Dieses Ergebnisbestätigt die eben aufgestellte Vermu-tung und kann dahingehend inter-pretiert werden, dass die betrieblicheWeiterbildung für einen bestimmtenFirmentyp als untrennbarer, integralerBestandteil der Produktionsstruktur

verstanden werden kann. Der über-durchschnittliche Erfolg dieser Betrie-be, der mit einem intensiveren Weiter-bildungsengagement einhergeht, könn-te dann von Firmen mit einer anderenStruktur nicht unbesehen mit einemgesteigerten Einsatz der betrieblichenWeiterbildung erreicht werden.18

Diese Ergebnisse deuten also daraufhin, dass betriebliche Weiterbildungnicht in jedem Fall zu positiven Effek-ten auf den Unternehmenserfolg füh-ren muss. Welche Umstände können esdarüber hinaus aber sein, die einen Be-trieb dazu veranlassen, Weiterbil-dungsaktivitäten durchzuführen? Ge-rade vor dem Hintergrund der zuvorskizzierten Anspannungstendenzen aufdem deutschen Arbeitsmarkt kann indiesem Zusammenhang dem Fach-kräftebedarf eine nicht unerheblicheBedeutung zukommen: Haben Un-ternehmen einen Bedarf an bestimm-ten Qualifikationen, den sie auf demexternen Arbeitsmarkt mangels ge-eigneter Bewerber nicht befriedigenkönnen, so stellt die betriebliche Wei-terbildung einen möglichen Weg dar,um diesem Mangel zu begegnen. Indiesem Sinne hat ein Betrieb alsoabzuwägen, ob die Kosten der Weiter-bildung oder die des Mangels an qua-lifizierten Mitarbeitern stärker ins Gewicht fallen. Übersteigen die ne-gativen Effekte des Fachkräftebedarfsdie durch die Weiterbildung entste-henden Kosten (abzüglich des darausresultierenden Nutzens), so kann einBetrieb einen Anreiz dazu haben, Wei-terbildungsmaßnahmen durchzufüh-ren.

Durch entsprechende Qualifizierungs-aktivitäten können dabei zum einen imBetrieb bereits beschäftigte Mitarbeiter

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quasi als Seiteneinsteiger dort eingesetztwerden, wo Personal fehlt. Darüberhinaus ist es aber auch denkbar, dassfachfremde Bewerber eingestellt undanschließend eingearbeitet bzw. wei-terqualifiziert werden.19 Die zuletzt ge-nannte Strategie kann sich dabei je-doch der an erster Stelle genannten alsunterlegen erweisen. Dies lässt sichdamit begründen, dass Unternehmenüber die Leistungsfähigkeit der bereitsbeschäftigten Mitarbeiter in der Regelbesser informiert sein dürften als überdie Produktivität externer Bewerber. In-sofern kann angenommen werden,dass die Leistungspotenziale der inter-nen Mitarbeiter besser abgeschätzt wer-den können und ihre Qualifizierungsomit mit einem geringeren Risiko ver-bunden ist als die Neueinstellung einesexternen Bewerbers und dessen an-schließende Qualifizierung. Erweist sichdie Einstellung eines Mitarbeiters vomexternen Arbeitsmarkt als Fehlentschei-dung, so ist diese mit Kosten in einernicht zu vernachlässigenden Größen-ordnung verbunden.

Über einen derartigen Versuch, durchbetriebliche Weiterbildung bestehendeDiskrepanzen zwischen Qualifikations-angebot und Qualifikationsbedürfnis-sen abzubauen, hinaus, kann Weiter-bildung sich jedoch auch aus einemanderen Grund als sinnvolle Strategiein Zeiten des Fachkräftebedarfs erwei-sen. So kann ein regelmäßiges Weiter-bildungsangebot eines Unternehmensals Anreiz für einen Bewerber bzw.Beschäftigten gesehen werden, in einenBetrieb einzutreten bzw. dort zu ver-bleiben. Das Qualifizierungsangeboteines Unternehmens lässt sich insofernals Teil des Personalmarketings verste-hen, das darauf abzielt, geeignete Mit-arbeiter auf dem externen Arbeitsmarkt

zu rekrutieren bzw. bereits beschäftigteMitarbeiter an den Betrieb zu binden.20

Doch selbst wenn Weiterbildung gemäßdiesen Überlegungen für die Betriebeeine an sich sinnvolle Möglichkeit dar-stellt, einem Bedarf an Fachkräften zubegegnen, ist es fraglich, inwieweit einesolche Strategie in der Praxis überhauptdurchführbar ist. Gerade wenn der Per-sonalbestand in einem Unternehmenknapp ist und sich Engpässe in der Leis-tungserstellung ergeben, ist es zweifel-haft, ob und inwieweit es den Betriebenmöglich ist, Mitarbeiter zur Teilnahmean Weiterbildungsmaßnahmen freizu-stellen. Darüber hinaus kann es für ei-nen Betrieb auch aus einem anderenGrund wenig lohnend sein, Mitarbeiterin Zeiten eines allgemeinen Fachkräf-temangels zu qualifizieren: Werden dieauf Kosten des Betriebes vermitteltenQualifikationen auch in anderen Un-ternehmen benötigt, so können dieseeinen Anreiz haben, extern weiter-gebildete Mitarbeiter abzuwerben undsich somit eigene Aufwendungen fürdie Qualifizierung zu sparen. Die in das Humankapital des Mitarbeiters ge-tätigten Investitionen gehen für denWeiterbildungsbetrieb dann verloren.Ein möglicher Ausweg aus diesemDilemma liegt für den Arbeitgeberdarin, seine Mitarbeiter an den Kostender Weiterbildung zu beteiligen. Dieskann er zum einen auf direkte Art undWeise tun, indem die anfallenden Kurs-gebühren zwischen Arbeitgeber undArbeitnehmer aufgeteilt werden. Dar-über hinaus kann ein Betrieb aber auchRückzahlungsklauseln verwenden, mitderen Unterzeichnung sich der Teil-nehmer einer Weiterbildungsmaß-nahme dazu verpflichtet, einen Teil der vom Arbeitgeber übernommenenKosten für den Fall zurückzuzahlen,

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dass er den Betrieb vor Ablauf einer festgelegten Frist aus einem durch ihnzu vertretenden Grund verlässt.21

Zusammenfassend lässt sich somitfesthalten, dass betriebliche Weiter-bildung trotz der damit verbundenenProbleme eine alles in allem sinnvolleMöglichkeit zur Behebung eines aku-ten Fachkräftebedarfs darstellt. Dass die Betriebe auch in der Praxis vondiesem Instrument erfolgreich Ge-brauch machen, wird durch ver-schiedene empirische Untersuchungenbestätigt: So zeigt beispielsweise Köl-ling auf Basis der Daten des IAB-Be-triebspanels auf, dass Betriebe, die übernicht besetzte Stellen klagen, häufigerin Fort- und Weiterbildung engagiertsind als Betriebe, die keine Mitarbeitersuchen. Dies gilt insbesondere für denFall, dass ein Betrieb Akademiker sucht:So förderten im ersten Halbjahr 2000fast 84% der Betriebe mit nicht besetz-ten Stellen für Akademiker Weiterbil-dungsmaßnahmen. Von den Betriebenohne nicht besetzte Stellen für dieseBeschäftigtengruppe trifft dies hin-gegen nur auf rund 36% zu.22 DiesenBefund bestätigt auch eine Erhebungdes Zentrums für europäische Wirt-schaftsforschung (ZEW) aus dem Jahre2000. Danach liegt die Quote der offe-nen Stellen bei Unternehmen, die ihreMitarbeiter weiterbilden, um durch-schnittlich 20% niedriger als in Un-ternehmen, die ihre Weiterbildungs-aktivitäten vernachlässigt haben.23

4.2 Betriebliche Weiterbildung alsMittel zur Begegnung zukünf-tiger Arbeitsmarkterfordernisse

Während sich die bislang angestelltenÜberlegungen auf den Beitrag, den be-

triebliche Weiterbildung zur Überwin-dung eines aktuellen Fachkräftebedarfsleisten kann, bezogen haben, soll imFolgenden der Frage nachgegangenwerden, inwieweit Weiterbildung hel-fen kann, den sich aus den demo-grafischen Entwicklungen ergebendenmittel- bzw. langfristigen Arbeitsmarkt-erfordernissen Rechnung zu tragen.Dabei kommt zukünftigen Bildungsak-tivitäten insbesondere aus zwei Grün-den eine wichtige Bedeutung zu:

● Zum einen deuten vorliegende Pro-jektionen auf einen steigenden Be-darf an Höherqualifizierten hin.

● Zum anderen wird es – gemäß den Ausführungen in Abschnitt 2 –aber auch immer schwieriger, denErsatzbedarf an Qualifikationen rein quantitativ zu befriedigen, weil die nachrückenden Jahrgängeschwächer besetzt sind als die ge-burtenstarken Jahrgänge, die aus-scheiden.24

Betriebe können demnach in Zukunftnicht mehr allein darauf setzen, ihrenQualifikationsbedarf durch die Einstel-lung junger, frisch ausgebildeter Fach-kräfte zu decken. Vielmehr wird der Er-halt und der Ausbau der Leistungs-potenziale der bereits vorhandenenBelegschaft zu einem immer wichti-geren Thema werden. Somit gewinntauch und gerade die Weiterbildung äl-terer Arbeitnehmer an Bedeutung. Wur-de diese Beschäftigtengruppe lange Zeit vorzeitig „aufs Abstellgleis ge-schoben“ und ab einem gewissen Alteroftmals nicht mehr aktiv in den Prozessder betrieblichen Leistungserstellungeinbezogen, so wird es in Zukunft ge-rade darum gehen, auch diese Per-sonen am betrieblichen Entwicklungs-prozess teilhaben zu lassen.

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Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass auch ältere Erwerbstätige bei Qualifizierungsmaßnahmen nichtaußen vor bleiben. Nur wenn die Qua-lifikationen dieser Personen auf denneuesten Stand gebracht werden, sindsie in der Lage, den veränderten An-forderungen, die sich aus dem techni-schen und organisatorischen Wandelergeben, gerecht zu werden. Allerdingswird es kaum ausreichen, mit der Qua-lifizierung erst im Alter zu beginnen.Vielmehr ist es erforderlich, im Sinneeines lebenslangen Lernens einen kon-tinuierlichen Qualifizierungsprozess zuinitiieren, nicht zuletzt zu dem Zweck,dass das Lernen im Laufe der Zeit nichtverlernt wird. Auch wenn der Weiter-bildung somit eine wichtige Funktionhinsichtlich der Sicherung der in-dividuellen Beschäftigungsfähigkeitzukommt, kann diese Maßnahmeallein kaum als hinreichend betrachtetwerden. Vielmehr wird in der Litera-tur darauf hingewiesen, dass es er-forderlich ist, ein ganzes Bündel anInstrumenten einzusetzen, das ne-ben der Qualifizierung etwa auch Maßnahmen des Gesundheitsschut-zes oder der Arbeitszeitgestaltung be-inhalten sollte.25

Von den verschiedenen oben skizzier-ten Formen der betrieblichen Weiter-bildung (formelle vs. informelle Wei-terbildung) wird im Hinblick auf ältereMitarbeiter gerade der informellenWeiterbildung eine besondere Bedeu-tung beigemessen. Dies wird damitbegründet, dass diese Qualifizierungs-form eine Kontinuität des Lernenssichert und an die bisherige Berufser-fahrung sowie an bereits bestehendeKontext- und Sinnbezüge anknüpft.Darüber hinaus ist ein unmittelbarerBezug zur Praxis (Anwendungsbezug)

gegeben. Voraussetzung für die Im-plementierung solcher informellerLernformen sind grundsätzlich lern-förderliche Arbeitsstrukturen bzw.Lernpotenziale am Arbeitsplatz. Zudiesen kann unter anderem auch derAufbau altersheterogener bzw. alters-gemischter Belegschaften, die alsosowohl aus älteren als auch aus jün-geren Mitarbeitern bestehen, gezähltwerden, weil dann über die lernförder-lichen Tätigkeiten hinaus ein weiteresbeträchtliches Lernpotenzial vermutetwerden kann, das die Basis für imma-nentes eigenaktives Lernen ist. DieÄlteren können so am aktuellen theo-retischen Wissen der Jüngeren und dieJüngeren am nicht ohne weiteres ver-balisierbaren Wissen der Älteren, demso genannten Erfahrungswissen, par-tizipieren.26

Inwieweit haben die Betriebe abereinen Anreiz dazu, in das Humanka-pital gerade auch ihrer älteren Mit-arbeiter zu investieren und wie stelltsich die Weiterbildungsbeteiligung älterer Arbeitnehmer in der Realitätdar?

Aus theoretischer Hinsicht ist eine imVergleich zu ihren jüngeren Kollegengeringere Beteiligung älterer Mitarbei-ter an betrieblichen Weiterbildungs-maßnahmen zu erwarten. Dies kannbeispielsweise anhand der Humanka-pitaltheorie begründet werden, der zu-folge Unternehmen auf Grund dergeringeren restlichen Verweildauer äl-terer Arbeitnehmer im Betrieb und derdamit verbundenen kürzeren Auszah-lungsperiode der Weiterbildungserträ-ge einen vergleichsweise geringen An-reiz haben dürften, diese Beschäftigten-gruppe in Qualifizierungsmaßnahmeneinzubeziehen. Darüber hinaus kann

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etwa auch darauf abgestellt werden, inwieweit ältere Mitarbeiter in denProzess technisch-organisatorischerNeuerungen einbezogen werden. Ausempirischen Untersuchungen ist be-kannt, dass es in Betrieben oftmals zueiner altersbezogenen Segmentierungkommt: Während alte Produkte intraditioneller Arbeitsorganisation vonden älteren Mitarbeitern gefertigt wer-den, kommt es zu einer Zuordnungneuer Produkte mit modernen Produk-tionsverfahren zu jüngeren Mitar-beitern.27 Da betriebliche Weiterbil-dungsmaßnahmen aber oftmals mittechnischen und organisatorischen Än-derungen einhergehen – wie auch em-pirische Analysen bestätigt haben28 –kann dies zur Folge haben, dass älterePersonen schlechtere Zugangschancenzur Weiterbildung haben. Schließlichkann auch aus dem so genannten De-fizit-Modell ein geringer betrieblicherAnreiz zur Einbeziehung älterer Mitar-beiter in Weiterbildungsaktivitätenabgeleitet werden: Danach wird mitdem Status „älterer Arbeitnehmer“ oft-mals die Annahme einer vermindertenLeistungs- und Lernfähigkeit verbun-den, was zur Folge haben kann, dassdie Qualifizierung älterer Mitarbeiter alsrisikoreicher bzw. weniger ertragreichangesehen wird als die Weiterbildungjüngerer Mitarbeiter.29

Eine solche aus theoretischen Über-legungen heraus zu erwartende gerin-gere Beteiligung älterer Mitarbeiter anbetrieblichen Weiterbildungsmaßnah-men lässt sich auch empirisch bestäti-gen. So zeigt etwa die europäische Wei-terbildungserhebung CVTS I für dasJahr 1993 auf, dass die Teilnahme anbetrieblicher Qualifizierung mit demAlter abnimmt. Nach dieser Erhebungist die Gruppe der 25- bis unter 35-

Jährigen mit einer Teilnahmequote von30% die wichtigste Zielgruppe derbetrieblichen Weiterbildung; jenseitsder Altersgrenze von 45 Jahren liegt derAnteil der Weiterbildungsteilnehmermit 16% nur noch etwa halb so hoch.30

Ebenso konnte auch anhand multi-variater Analysen auf Basis der Datendes IAB-Betriebspanels aufgezeigt wer-den, dass sich ein hoher Anteil an äl-teren Mitarbeitern im Betrieb negativauf die Weiterbildungsaktivitäten einesBetriebs auswirkt.31

Diese Ergebnisse erstaunen insofern, als dass nach Auswertungen des Fra-genkomplexes „Ältere Arbeitnehmer“,der im Jahre 2000 Bestandteil des IAB-Betriebspanels war, Betriebe sichdurchaus positiv gegenüber ihrenälteren Mitarbeitern äußern und unter anderem zum überwiegenden Teil auch der Ansicht waren, dass diese Beschäftigtengruppe in Quali-fizierungsmaßnahmen einbezogen werden sollte. Zwar zeigt sich hier zum einen, dass nur rund 40% allerdeutschen Betriebe Mitarbeiter be-schäftigen, die älter als 50 Jahre sind.Dies bestätigt die zuvor aufgestellte Vermutung, dass ältere Arbeitneh-mer lange Zeit vorzeitig aufs Alten-teil geschickt wurden und die Stief-kinder am deutschen Arbeitsmarktdarstellten. Zum anderen ist jedochfestzustellen, dass in den Betrieben,die ältere Mitarbeiter beschäftigen, po-sitive Urteile zu deren Leistungsfähig-keit und Einsetzbarkeit überwiegen.Speziell im Hinblick auf die Weiter-bildung wurde beispielsweise der Aus-sage „Auch ältere Mitarbeiter sollten in Qualifizierungsmaßnahmen einbe-zogen werden“ von immerhin knapp90% der Betriebe (zumindest teilweise)zugestimmt.32

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5. Die Zuwanderungsstrategie

Zuwanderung bezeichnet den zeitlichbefristeten oder dauerhaften Zuzug vonPersonen aus dem Ausland in das In-land. Derzeit bestehen in der Bun-desrepublik noch relativ rigide Zuwan-derungsbestimmungen: Zwar habenAngehörige aus dem europäischenWirtschaftsraum (EWR) auf Grund derFreizügigkeitsregelung die Möglichkeit,nach Deutschland einzureisen und hiereiner Erwerbstätigkeit nachzugehen,doch besteht für Personen aus Dritt-staaten seit dem 1973 verhängten An-werbestopp – abgesehen von einigenwenigen Ausnahmen – ein Zuwan-derungsverbot zum Zwecke der Arbeits-aufnahme. Nicht zuletzt angesichts der derzeitigen und zukünftig zu erwartenden Anspannungstendenzenauf dem deutschen Arbeitsmarkt wirdin jüngster Zeit jedoch heftig über eine neue Zuwanderungsgesetzgebungfür die Bundesrepublik diskutiert. Un-terschieden wird dabei zumeist zwi-schen einer zeitlich befristeten und einer dauerhaften Zuwanderungs-möglichkeit: Während die befriste-te Zuwanderung einen Beitrag dazuleisten soll, einen gegebenen Fach-kräftemangel abzumildern, stehenÜberlegungen zur dauerhaften Immi-gration vornehmlich im Rahmenlangfristiger demografischer Entwick-lungen.33

Inwieweit Zuwanderung tatsächlichdazu beitragen kann, diesen Zielengerecht zu werden, soll im Folgen-den analysiert werden. Analog zu den vorangegangenen Ausführun-gen zur Weiterbildung soll auch hierzwischen der kurz- und der lang-fristigen Perspektive unterschieden wer-den.

5.1 Zuwanderung als Strategie zur Überwindung eines gegebenen Fachkräftebedarfs

Sind auf dem einheimischen Arbeits-markt Fachkräfte mit den benötigtenQualifikationen nicht verfügbar undwerden diese auch durch entspre-chende Bildungsaktivitäten nicht „ge-schaffen“, so kann Zuwanderung eineMöglichkeit darstellen, Engpässe imArbeitskräfteangebot zu überbrücken.Die gesuchten Qualifikationen ent-stehen in diesem Fall also nicht durchdie eigene „Produktion“ im Inland,sondern werden vielmehr aus dem Ausland „importiert“.

Voraussetzung dafür, dass Zuwan-derung einen gegebenen Fachkräf-tebedarf abmildern kann, ist, dass die Immigranten über jene Qualifi-kationen verfügen, die am heimi-schen Arbeitsmarkt knapp sind. Dieswiederum bedingt, dass hinrei-chend genaue Informationen dazu vorliegen, in welchen Branchen oderBerufen Fachkräfte benötigt wer-den. Zur Ermittlung eines Fachkräfte-bedarfs kommen grundsätzlich ver-schiedene Verfahren in Frage, vondenen einige in Abschnitt 2 bereitsknapp angerissen wurden. Darüberhinaus ist es auch erforderlich, dass ein Zuwanderungsgesetz vorliegt, dasden entsprechend benötigten Ar-beitskräften Einlass und Arbeits-marktzugang gewährt. Zur Auswahl der Immigranten sollten dabei ins-besondere Anforderungen an Quali-fikationen bzw. an die Berufsgruppen-zugehörigkeit berücksichtigt werden,denn nur auf diese Weise ist esmöglich, gerade jene Zuwanderer zuselektieren, die auf dem heimischenArbeitsmarkt knapp sind.

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Wie zuvor bereits erwähnt wurde, wirdin der Literatur eine zeitlich befristete(im Gegensatz zu einer dauerhaften)Zuwanderung als geeignetes Mittel zurÜberwindung eines gegebenen Fach-kräftebedarfs betrachtet. Dies wirddamit begründet, dass ein aktueller Ar-beitskräftemangel in der Regel aufeinem kurzfristigen qualifikatorischenMismatch zwischen Arbeitskräftean-gebot und -nachfrage beruht: Die zueinem bestimmten Zeitpunkt ange-botenen Arbeitsplätze erfordern Qua-lifikationen, die die Arbeitssuchendenzu diesem Zeitpunkt (noch) nichtaufweisen können. In einer Situationohne Zuwanderung würde aus diesemNachfrageüberschuss eine Lohnstei-gerung resultieren, die einerseits zu ei-ner reduzierten Arbeitsnachfrage sei-tens der Unternehmen, andererseitsaber auch zu einer Erhöhung des Ar-beitsangebots führen würde. Bei einerausreichend hohen beruflichen Mobi-lität der heimischen Arbeitssuchendenwürden diese in den Erwerb jener Qua-lifikationen investieren, die geradeknapp sind und deswegen mit einembesonders hohen Lohn abgegolten wer-den. In der Realität ist allerdings einenur unzureichende Mobilität der er-werbstätigen Individuen festzustellen.Darüber hinaus gilt es zu bedenken,dass der Erwerb der entsprechendenQualifikationen eine gewisse Zeit inAnspruch nimmt, sodass sich das Ar-beitsangebot erst mit einer zeitlichenVerzögerung an die veränderten Nach-fragebedingungen anpassen kann.34

Aus diesem Grunde folgern Zimmer-mann et al.: „Wenn aus diesen Grün-den vorübergehend unbesetzte Ar-beitsplätze ein Wachstumshindernisdarstellen, entsteht für die Dauer derstrukturellen Anpassungsprozesse einbefristeter Zuwanderungsbedarf. Die

Vergabe permanenter Arbeitserlaub-nisse wäre für die inländische Be-völkerung in dieser Situation dagegenkeine optimale Strategie, weil sie diemittelfristigen Beschäftigungschancender Einheimischen verschlechtert unddamit die notwendigen Anreize für eineVerlagerung des Arbeitskräfteangebotsauf strukturell knappe Berufe verrin-gert.“35

Ein besonderes Problem, das sich beider an Arbeitsmarktengpässen orien-tierten Auswahl von Zuwanderern nachihrer Qualifikation bzw. Berufsgrup-penzugehörigkeit ergeben kann, ist dasder mangelnden Vergleichbarkeit undÜbertragbarkeit von Qualifikationenzwischen Herkunfts- und Zielland. Soist es zum einen fraglich, inwieweit be-stimmte berufliche oder universitäreAbschlüsse, die in einem anderen Landerworben wurden, mit den Abschlüssenin einem anderen Land auf die gleicheStufe gestellt werden können. Zum an-deren gilt es aber auch zu bedenken,dass Qualifikationen oder beispielsweiseauch Berufserfahrung, die in einemLand produktiv eingesetzt werden kön-nen, nicht zwangsläufig auch in einemanderen Staat zu einem höheren Leis-tungsvermögen führen müssen. In An-lehnung an die Humankapitaltheoriekann in diesem Zusammenhang zwi-schen herkunfts- bzw. ziellandspezifi-schen und allgemeinen Qualifikationenunterschieden werden: Während die anerster Stelle genannte Humankapi-talkomponente ausschließlich in einembestimmten Staat produktiv verwert-bar ist, kann die an zweiter Stellegenannte zwischen einzelnen Länderntransferiert werden. Im Hinblick auf die Zuwanderung bietet es sich dem-entsprechend an, solche Personenauszuwählen, die über einen relativ

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großen Bestand an allgemeinem (oderunter Umständen sogar ziellandspezi-fischem, das beispielsweise im Rahmeneiner im Zielland absolvierten Ausbil-dung erworben wurde) Humankapitalverfügen. Dies liegt nicht nur im Inte-resse des Aufnahmestaates, sonderndurchaus auch in dem des Immi-granten: Im Falle einer Wanderunggehen für diesen nämlich in herkunfts-landspezifisches Humankapital getä-tigte Investitionen verloren.

Gerade aus betrieblicher Perspektivekann sich die mangelnde Übertrag-barkeit bzw. Vergleichbarkeit von Quali-fikationen möglicherweise als nichtunerhebliches Problem darstellen. Lie-gen nur unvollständige Informationendarüber vor, inwieweit die Qualifika-tionen der ausländischen Arbeitskräftetatsächlich genutzt werden können, sokann dies den Anreiz eines Betriebeszur Beschäftigung solcher Arbeitneh-mer negativ beeinflussen. Eine Anwer-bung im Ausland könnte somit einerRekrutierung auf dem einheimischenArbeitsmarkt bzw. der Durchführungeigener Weiterbildungsmaßnahmen ausbetrieblicher Sicht unterlegen sein.

Entsprechen die Qualifikationen derrekrutierten ausländischen Arbeitskräftenicht voll den Erwartungen der Arbeit-geber, so besteht die Möglichkeit, diesedurch entsprechende Weiterbildungs-maßnahmen an die bestehenden Be-dürfnisse anzupassen. Gerade im Hin-blick auf die zur Überbrückung vonkurzfristigen Arbeitsmarktengpässengeforderte temporäre Zuwanderungkann es dabei jedoch als fraglich ange-sehen werden, inwieweit Unternehmeneinen Anreiz dazu haben, in das Hu-mankapital der ausländischen Arbeit-nehmer zu investieren. Dies kann

damit begründet werden, dass dieseden Betrieb nach einer gewissen Zeitwieder verlassen werden. Werden sichdie Aufwendungen für die Weiterbil-dungsmaßnahmen in dem begrenztenBeschäftigungszeitraum (erwartungs-gemäß) nicht amortisieren, so kanndies dazu führen, dass die Firma voneiner entsprechenden Qualifizierungabsieht.

5.2 Zuwanderung als Möglichkeitzur Begegnung langfristiger Erfordernisse

Anders als die befristete Zuwanderung,die eine Strategie zur Überwindungeines akuten Fachkräftemangels dar-stellen kann, sind Überlegungen zurdauerhaften Zuwanderung im Kontextlangfristiger Erfordernisse zu sehen.Während der kurzfristige Bedarf antemporären Immigranten vor allemvon der Nachfrageseite des Arbeits-marktes her determiniert wird, be-stimmt sich der langfristige Bedarf an dauerhaften Zuwanderern vornehm-lich von der Angebotsseite des Arbeits-marktes. Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 2 skizzierten demogra-fischen Entwicklung in der Bundes-republik, die nicht nur zu einerschrumpfenden, sondern auch zu eineralternden Bevölkerung führen wird,kann dauerhafte Zuwanderung in die-sem Sinne einen Beitrag dazu leisten,diesem Entwicklungsprozess zumin-dest teilweise entgegenzuwirken. Ent-sprechende Studien weisen jedoch dar-auf hin, dass Zuwanderung den Al-terungsprozess der deutschen Bevöl-kerung zwar verlangsamen bzw. ab-schwächen, ihn aber nicht aufhebenoder gar umkehren kann. Auch wennImmigranten im Durchschnitt deutlich

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jünger sind als der einheimische Be-völkerungsbestand, „bleiben die Wir-kungen von Zuwanderung auf die Al-tenlast so gering, dass Einwanderungnur ein ergänzendes Instrument zuweiterreichenden ökonomischen An-strengungen darstellt.“36 Hinsichtlichder Auswahl dauerhafter Immigrantenist man in der Literatur einstimmig derMeinung, dass eine Selektion nachBerufsgruppenzugehörigkeit der Zu-wanderer bzw. nach (zu erwartenden)Engpässen am einheimischen Arbeits-markt wenig sinnvoll bzw. praktischkaum durchführbar ist. So sind ex ante-Schätzungen eines an Arbeitsmarkt-engpässen orientierten Zuwanderungs-bedarfs mit vielerlei Unsicherheitenbehaftet und Aussagen über eine Listelangfristig knapper Berufe, in denen eindemografisch bedingter Zuwanderungs-bedarf besteht, äußerst schwierig. Aufdie damit verbundenen Probleme wur-de bereits in Abschnitt 2 eingegangen.

Vielmehr wird gefordert, dass im Hin-blick auf die dauerhafte Immigrationsolche Personen zur Zuwanderung be-rechtigt werden sollten, die über all-gemeine wettbewerbsfähige Qualifi-kationen verfügen, an denen einzeitlich unbefristeter Bedarf besteht.Von besonderer Bedeutung sollen da-bei solche Eigenschaften der Immi-granten sein, von denen eine hoheIntegrationsfähigkeit in die Gesell-schaft und den Arbeitsmarkt erwartetwerden kann. Als mögliche Verfahrenzur Auswahl der dauerhaften Zuwan-derer werden in diesem Zusammen-hang derzeit verschiedene Optionendiskutiert, die neben mengenpoliti-schen Instrumenten (allgemeine bzw.selektive Quoten sowie die Kombina-tion einzelner Merkmale, etwa in Formeines Punktesystems) auch die von ei-

ner Reihe an Ökonomen favorisiertenpreispolitischen Ansätze (Zuwande-rungsgebühren bzw. -steuern oder zuversteigernde Zuwanderungszertifikate)umfassen. Die Unabhängige Kommis-sion „Zuwanderung“ präferiert zur Aus-wahl dauerhafter Zuwanderer ein Punk-tesystem, in das neben dem Qualifika-tionsniveau etwa auch das Alter oderSprachkenntnisse der Immigranten alsSelektionskriterien einbezogen werdensollten.

6. Fazit

Aufbauend auf Befunden zu einem ak-tuellen Bedarf an Fachkräften und Pro-jektionen der zukünftigen Entwick-lung des Arbeitsmarktes wurde im vor-liegenden Beitrag der Frage nachge-gangen, ob und inwieweit betrieblicheWeiterbildung auf der einen und Zu-wanderung auf der anderen Seite ge-eignete Strategien zur Behebung ge-genwärtiger bzw. zukünftig zu er-wartender Anspannungstendenzen aufdem Arbeitsmarkt darstellen. Die we-sentlichen Erkenntnisse lassen sichknapp wie folgt skizzieren:

Betriebliche Weiterbildung kann inkurzfristiger Sicht durchaus dazu bei-tragen, einen gegebenen qualifika-torischen Mismatch zu beheben, indemdas Qualifikationsangebot der Be-schäftigten an die Qualifikationsbe-dürfnisse des Unternehmens angepasstwird. Berücksichtigt man das betrieb-liche Nutzen-Kosten-Kalkül, so werdenUnternehmen jedoch nur dann dazubereit sein, in das Humankapital ihrerMitarbeiter zu investieren, wenn derdaraus resultierende Nutzen die entste-henden Kosten übersteigt. Angesichtsdes empirisch festgestellten Umstandes,

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dass Weiterbildung nicht per se zueinem höheren Unternehmenserfolgführen muss, kann dennoch dann einentsprechender Anreiz der Betriebegegeben sein, wenn sich keine anderenMöglichkeiten zur Deckung des Bedarfsan Fachkräften bieten bzw. wenn dieRekrutierung von externen Bewerbernmit einem zu hohen Risiko (undentsprechend hohen Kosten) verbun-den wird. Positive Konsequenzen vonWeiterbildung lassen sich auch durchempirische Untersuchungen bestätigen,die aufzeigen, dass Betriebe, die weiter-bilden, weniger Probleme mit der Stel-lenbesetzung haben, als solche, auf diedies nicht zutrifft.

Im Hinblick auf die zu erwartenden de-mografischen Entwicklungen geht es inlangfristiger Sicht aus betrieblicher Sichtvor allem darum, auch und gerade äl-tere Mitarbeiter in den Prozess der be-trieblichen Leistungserstellung undsomit auch in Qualifizierungsmaßnah-men einzubeziehen. Aus theoretischerSicht ist allerdings ein vergleichsweisegeringer betrieblicher Anreiz, in das Hu-mankapital ihrer älteren Mitarbeiter zuinvestieren, zu erwarten. Ein solcherlässt sich auch empirisch bestätigen: So zeigen verschiedene Untersuchun-gen auf, dass die Beteiligung an be-trieblichen Weiterbildungsmaßnahmenmit dem Alter abnimmt.

Zuwanderung kann demgegenüber ei-nerseits einen Beitrag dazu leisten, ei-nen akuten Fachkräftebedarf abzubau-en. Voraussetzung hierfür ist, dass dieImmigranten über die benötigten Qua-lifikationen verfügen und diese auchhinreichend ins Zielland übertragenwerden können. Um nicht die mittel-fristigen Beschäftigungschancen dereinheimischen Erwerbspersonen zu

verschlechtern und die notwendigenAnreize für eine Verlagerung desArbeitskräfteangebots auf strukturellknappe Berufe zu verringern, d.h. denAllokationsmechanimus des Lohnes zustören, wird zur Überbrückung einesgegebenen Arbeitskräftemangels einetemporäre Zuwanderung vorgeschla-gen.

Andererseits erscheint eine dauerhafteZuwanderung geeignet, den sich ausder demografischen Entwicklung er-gebenden langfristigen Arbeitsmarkt-erfordernissen zu begegnen. Auchwenn Immigration den Alterungs-prozess der einheimischen Bevölkerungnicht aufhalten kann, so kann sie den-noch zumindest zu einer Abschwä-chung desselben beitragen. Ex ante-Schätzungen des arbeitsmarktorien-tierten Zuwanderungsbedarfes werdenin der Literatur als wissenschaftlichnicht vertretbar angesehen. Vielmehrwird vorgeschlagen, bei der Auswahlder Immigranten auf allgemeine, wett-bewerbsfähige Qualifikationen zu set-zen, an denen ein zeitunabhängiger Be-darf besteht.

Auch wenn die beiden Strategien „Zu-wanderung“ und „Weiterbildung“ inder vorangegangenen Analyse isoliertvoneinander betrachtet wurden, so darfdies nicht als Plädoyer dahingehend in-terpretiert werden, dass entweder dereine oder der andere Weg beschrittenwerden sollte. Zwar erscheinen beideuntersuchten Instrumente geeignet,einen Beitrag zur Linderung der ge-schilderten Anspannungstendenzen amdeutschen Arbeitsmarkt zu leisten; den-noch wird jedes für sich genommennur begrenzte Erfolge erzielen können.Insofern wird es erforderlich sein, einBündel an Maßnahmen zu ergreifen,

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Weiterbildung und Zuwanderung zur Überwindung des Fachkräftebedarfs 103

das neben der Zuwanderung und derWeiterbildung auch weitere der indiesem Beitrag knapp angerissenenStrategien umfassen sollte. Dass auchzwischen den hier betrachteten Mög-lichkeiten Interdependenzen bestehen,wurde an einzelnen Stellen des Bei-trags deutlich: So kann Zuwanderungetwa insbesondere dann ein geeignetesInstrument zur Behebung eines akutenFachkräftemangels darstellen, wenn es

auf der Basis von Bildungsaktivitätennicht möglich ist, einen hinreichendschnellen Erfolg zu erzielen. Auf der an-deren Seite wird es jedoch auch in denmeisten Fällen nicht ausreichen, alleinauf Zuwanderung zu setzen. Vielmehrgilt es, auch Immigranten in Quali-fizierungsprozesse einzubeziehen, wasjedoch gerade im Fall der befristetenZuwanderung den Unternehmen weniglohnend erscheinen kann.

Anmerkungen1 Zimmermann, K./Bauer, T./Bonin, H./

Fahr, R./Hinte, H.: Arbeitskräftebedarf bei hoher Arbeitslosigkeit. Ein ökonomi-sches Zuwanderungskonzept für Deutsch-land, Berlin u.a. 2002.

2 Vgl. Kölling, A.: Der Bedarf an quali-fizierten Fachkräften und Probleme beider Stellenbesetzung. Analysen mit dem IAB-Betriebspanel. Abschlussbericht desIAB im Rahmen des BMBF-Projekts „Ar-beitsmärkte für Hochqualifizierte“, Nürn-berg 2001, S.3ff oder Zimmermann et al.:Arbeitskräftebedarf, S.51ff.

3 Zu weiteren Informationen zum IAB-Betriebspanel vgl. Bellmann, L.: Das Be-triebspanel des IAB, in: R. Hujer/U. Rend-tel/G. Wagner (Hrsg.), Wirtschafts- undSozialwissenschaftliche Panelstudien.Sonderheft des Allgemeinen StatistischenArchivs, Heft 30, Göttingen 1997, S.169–182; Bellmann, L.: Das IAB-Betriebs-panel: Konzeption und Anwendungs-bereiche. Vortrag bei der Jahreshauptver-sammlung der Deutschen StatistischenGesellschaft, 25.9.2001, Dortmund sowieKölling, A.: The IAB-Establishment Pa-nel, in: Schmollers Jahrbuch, Zeitschriftfür Wirtschafts- und Sozialwissenschaf-ten, 120 (2) 2000,S.291–300.

4 Vgl. hierzu sowie zu weiteren Ergebnis-sen aus dem IAB-Betriebspanel Kölling,A.: Der Bedarf an qualifizierten Fach-kräften und Probleme bei der Stellenbe-setzung.

5 Vgl. hierzu sowie zu weiteren Ergebnis-sen Magvas, E.: GesamtwirtschaftlichesStellenangebot in West- und Ostdeutsch-land 1998, 1999, 2000. IAB-Werkstatt-bericht Nr.12/2001, Nürnberg.

6 Vgl. Fuchs, J./Thon, M.: Potenzialprojek-tion bis 2040: Nach 2010 sinkt das An-gebot an Arbeitskräften – Selbst hohe

Zuwanderungen werden diesen Trendnicht stoppen können. IAB-KurzberichtNr.4/1999, Nürnberg.

7 Zur Bildungsgesamtrechnung des IAB vgl.Reinberg, A./Hummel, M.: Die Entwick-lung im deutschen Bildungssystem vordem Hintergrund des qualifikatorischenStrukturwandels auf dem Arbeitsmarkt,in: A. Reinberg (Hrsg.), Arbeitsmarktre-levante Aspekte der Bildungspolitik,Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufs-forschung, Band 245, Nürnberg 2001, S.1–62.

8 Vgl. Hönekopp, E./Menck, K./Straubhaar,T.: Fachkräftebedarf bei hoher Arbeits-losigkeit. Vorsicht vor richtigen Fragenbei falschen Antworten. Gutachten fürdie Unabhängige Kommission „Zuwan-derung“, Hamburg 2002, S.15f.

9 Vgl. Schnur, P.: Arbeitslandschaft 2010Teil I: Dienstleistungsgesellschaft auf in-dustriellem Nährboden. Gesamtwirt-schaftliche und sektorale Entwicklung,IAB-Kurzbericht Nr.9/1999, Nürnberg;Dostal, W./Reinberg, A.: Arbeitslandschaft2010 Teil II: Ungebrochener Trend in die Wissensgesellschaft – Entwicklungender Tätigkeiten und Qualifikationen, IAB-Kurzbericht Nr.10/1999, Nürnbergsowie zu einer Darstellung der ErgebnisseHönekopp, E./Menck, K./Straubhaar, T.:Fachkräftebedarf.

10 Vgl. Walwei, U.: ArbeitsmarktbedingteZuwanderung und bedenkenswerte Al-ternativen – Strategie zur Erschließungvon Personalreserven, IAB-Werkstat-tbericht Nr.4/2001, S.5ff. Ähnlich auchHönekopp, E./Menck, K./Straubhaar, T.:Fachkräftebedarf, S.17ff.; Zimmermann,K./Bauer, T./Bonin, H./Fahr, R./Hinte, H.:Arbeitskräftebedarf bei hoher Arbeits-losigkeit, S.2f.

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Lutz Bellmann/Ute Leber104

11 Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen derBildungskommission – Strukturplan fürdas Bildungswesen, Stuttgart 1970.

12 Zur Unterscheidung dieser Lernformenvgl. z.B. Faust, M./Holm, R.: FormalisierteWeiterbildung und informelles Lernen,in: Berufliche Kompetenzentwicklung informellen und informellen Strukturen,QUEM-report H. 69/2001, S.67–108 oderBellmann, L./Leber, U.: Formelle und in-formelle betriebliche Weiterbildung, in:Arbeit und Beruf, 52 (11) 2001, S.329–331.

13 Vgl. auch Backes-Gellner, U./Freund, W./Kay, R./Kranzusch, P.: Wettbewerbsfak-tor Fachkräfte. Rekrutierungschancen und-probleme von kleinen und mittleren Un-ternehmen, Wiesbaden 2000, S.75.

14 Vgl. etwa Pütz, H.: Berufliche Aus- undWeiterbildung – Gegenstand und Instru-ment der Zukunftsgestaltung, in: Kom-petenz, Heft 28, 1999, S.7–10. oderGrünewald, U./Sauter, E.: Berufliche Wei-terbildung in der Europäischen Gemein-schaft. Ansätze für einen Länderver-gleich, in: W. Weidenfeld/E. Hönekopp/R. Konle-Seidl (Hrsg.), Europäische Inte-gration und Arbeitsmarkt. Beiträge zur Ar-beitsmarkt- und Berufsforschung, Band181, Nürnberg 1994, S.178–194.

15 Vgl. Weiß, R.: Wettbewerbsfaktor Weiter-bildung. Ergebnisse der Weiterbildungs-erhebung der Wirtschaft, Köln 2000.

16 Vgl. Becker, G.: Investitionen in Human-kapital. Eine theoretische Analyse, in: K.Hüfner (Hrsg.), Bildungsinvestition undWirtschaftswachstum, Stuttgart 1970, S.131–196.

17 Zu Hinweisen hierzu vgl. Düll, H./Bell-mann, L.: Betriebliche Weiterbildungsak-tivitäten in West- und Ostdeutschland.Eine theoretische und empirische Analysemit den Daten des IAB-Betriebspanels1997, in: Mitteilungen aus der Arbeits-markt- und Berufsforschung 31 (2) 1998,S.205–225 sowie Bellmann, L./Düll, H./Leber, U.: Zur Entwicklung der betrieb-lichen Weiterbildungsaktivitäten. Eineempirische Untersuchung auf Basis des IAB-Betriebspanels, in: A. Reinberg(Hrsg.), Arbeitsmarktrelevante Aspekte derBildungspolitik. Beiträge zur Arbeits-markt- und Berufsforschung, Band 245,Nürnberg 2001, S.97–124.

18 Vgl. Bellmann, L./Büchel, F.: Betrieblichfinanzierte Weiterbildung und Unter-nehmenserfolg. Eine Analyse für West-und Ostdeutschland unter besondererBerücksichtigung von Selektionseffekten,in: U. Backes-Gellner (Hrsg.), Bildungs-und Beschäftigungsstrategien, Berlin

2001, S.75–92.19 Vgl. auch Backes-Gellner, U./Freund,

W./Kay, R./Kranzusch, P.: Wettbewerbs-faktor Fachkräfte.

20 Ebd.21 Zum Instrument der Rückzahlungsklau-

sel in theoretischer Sicht vgl. Alewell, D.:Die Finanzierung betrieblicher Weiterbil-dungsinvestitionen. Ökonomische undjuristische Aspekte, Wiesbaden 1997. Zurempirischen Bedeutung von Rückzah-lungsklauseln vgl. die Untersuchung vonLeber, U.: Finanzierung der betrieblichenWeiterbildung und die Absicherung ihrerErträge. Eine theoretische und empirischeAnalyse mit den Daten des IAB-Betriebs-panels 1999, in: Mitteilungen aus der Ar-beitsmarkt- und Berufsforschung, 33 (2)2000, S.229–241.

22 Vgl. Kölling, A.: Der Bedarf an quali-fizierten Fachkräften und Probleme beider Stellenbesetzung, S.41f.

23 Vgl. Falk, M.: IKT-Fachkräftemangel: Aus-und Weiterbildung lohnen sich, in: ZEW-news, Dezember 2001, 1–2, S.2.

24 Vgl. auch Walwei, U.: Arbeitsmarktbe-dingte Zuwanderung und bedenkens-werte Alternativen, S.9f sowie Dostal,W./Reinberg, A.: Arbeitslandschaft 2010.

25 Vgl. etwa Hilpert, M./Kistler, E./Wahse, J.:Demografischer Wandel, Arbeitsmarktund Weiterbildung, in: Arbeit und Beruf,51 (9) 2000, S.253–261 oder Koller, B./Plath, H.-E.: Qualifikation und Weiter-bildung älterer Arbeitnehmer, in: A. Rein-berg (Hrsg.), Arbeitsmarktrelevante As-pekte der Bildungspolitik, Beiträge zurArbeitsmarkt- und Berufsforschung 245,Nürnberg 2001, S.63–96.

26 Vgl. Koller, B./Plath, H.-E.: Qualifikationund Weiterbildung.

27 Vgl. Morschhäuser, M.: AltersbezogenePersonalplanung: zwischen Personalent-wicklung und Personalaustausch. In: AK-Forum zur Wirtschafts- und Strukturpoli-tik: Älter werden im Betrieb, Saarbrücken1999, S.23–32.

28 Vgl. hierzu Düll, H./Bellmann, L.: Be-triebliche Weiterbildungsaktivitäten inWest- und Ostdeutschland sowie Bell-mann, L./Düll, H./Leber, U.: Zur Ent-wicklung der betrieblichen Weiterbil-dungsaktivitäten.

29 Vgl. hierzu sowie zu weiteren Aspektenauch Behringer sowie Koller, B./Plath, H.-E.: Qualifikation und Weiterbildung.

30 Vgl. Grünewald, U./Moraal, D.: Betrieb-liche Weiterbildung in Deutschland. Ge-samtbericht. Ergebnisse aus drei empi-rischen Erhebungsstufen einer Unter-nehmensbefragung im Rahmen des EG-

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Weiterbildung und Zuwanderung zur Überwindung des Fachkräftebedarfs 105

Aktionsprogramms FORCE, Berlin 1996,S.31.

31 Vgl. Leber, U.: Betriebliche Weiterbildungälterer Arbeitnehmer. Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel. Beitrag für dieSAMF-Tagung „Demografischer Struktur-bruch und Arbeitsmarktentwicklung –Probleme, Fragen, erste Antworten“ am 4.und 5. Mai 2001 in Niederpöcking 2001.

32 Vgl. hierzu sowie zu weiteren Ergebnis-sen Leber, U.: Ältere – ein Schatz mussgehoben werden, in: IAB-Materialien, Nr.

2/2001, S.6–7.33 So beispielsweise das Zuwanderungs-

konzept der Unabhängigen Kommission„Zuwanderung“ oder Zimmermann, K./Bauer, T./Bonin, H./Fahr, R./Hinte, H.:Arbeitskräftebedarf bei hoher Arbeits-losigkeit. Ein ökonomisches Zuwan-derungskonzept für Deutschland, Berlinu.a. 2002.

34 Vgl. ebd., S.171f.35 Ebd., S.171f.36 Ebd., S.168

Weiterführende LiteraturBackes-Gellner, U.: Betriebliche Aus- undWeiterbildung im internationalen Vergleich,in: D. Timmermann (Hrsg.), Berufliche Wei-terbildung in europäischer Perspektive, Ber-lin 1999, S.65–92.

Heckman, J.: The Common Structure ofStatistical Dependent Variables and a Sim-ple Estimator for Such Models, in: Annals ofEconomic and Social Measuerment 5 (1976),S.475–491.

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Politische Studien, Sonderheft 2/2002, 53. Jahrgang, Juli 2002

1. Einführung

Alterssicherung ist ein weltweit disku-tiertes Thema. Die von Struktur undUmfang unterschiedlich gestaltetenSysteme der Alterssicherung stehen vorHerausforderungen, die je nach öko-nomischen, gesellschaftlichen und po-litischen Bedingungen und je nach der Ausgestaltung der Alterssicherungvon unterschiedlicher Bedeutung sind.Für viele Länder – so auch in Deutsch-land – ist die Alterung der Bevölkerungeine wichtige Herausforderung, aber inder Regel eben nur eine unter meh-reren. Immer wieder wird darauf ver-wiesen, dass die Zahl der Leistungenaus der Alterssicherung in Anspruchnehmenden Personen steigt, währenddie Zahl potenzieller Beitragszahler (z.B. in der gesetzlichen Rentenversi-cherung) rückläufig sei und sich folg-lich die Relation der beiden Gruppenzueinander verschiebe, die finanziellenBelastungen steigen. Die rückläufigeGeburtenhäufigkeit und die steigendeLebenserwartung werden als zentraleGründe immer wieder hervorgehobenfür die drohende „Zeitbombe“, in diesich Alterssicherungssysteme (aber auch

Kranken- und Pflegeversicherung) ver-wandelten. Dabei muss man aber u.a.darauf hinweisen, dass diese Ver-schiebung der Relation maßgeblichdurch politische Entscheidungen sowieEntscheidungen von Arbeitnehmernund Arbeitgebern bzw. den Sozialpart-nern mitgestaltet wurde. Die langan-dauernde Tendenz zur Frühverrentung,die im großen Konsens zwischen allenBeteiligten als Errungenschaft und„sozialverträgliche“ Bewältigung vonProblemen auf dem Arbeitsmarkt ge-feiert wurde, trug zu den steigendenAusgaben in der Alterssicherung beiund wird sich noch längere Zeit aus-wirken – auch wenn in jüngster Zeitzumindest auf nationaler wie euro-päischer Ebene in offiziellen Erklä-rungen eine Umkehr dieser Entwick-lung als wichtig bezeichnet wird.

Auch die jüngsten in Deutschland seitEnde des Jahres 2000 getroffenen ge-setzgeberischen Entscheidungen sindvor allem mit dem Hinweis auf die de-mografische Entwicklung und damiteinhergehende Folgen begründet wor-den. Das deutsche Alterssicherungs-system befindet sich auf Grund dieser

Alterssicherungspolitik in eineralternden Bevölkerung

Anmerkungen zur Situation in Deutschland *

Winfried Schmähl

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Alterssicherungspolitik in einer alternden Bevölkerung 107

Entscheidungen in einem wohl tiefgreifenden Umgestaltungsprozess. Erbetrifft nicht allein das zentrale Systemder deutschen Alterssicherung – diegesetzliche Rentenversicherung –, son-dern auch die betriebliche Alters-sicherung im Privatsektor und auch imöffentlichen Sektor sowie die privateVorsorge. Zum Teil wird damit eineneue Entwicklungsrichtung eingeschla-gen. Allerdings kann man noch nichtabschließend sagen, wohin dies führtund welches insgesamt die Folgen seinwerden. Ob dies eine Antwort auf diedemografischen Herausforderungendarstellt, ist allerdings sehr zu be-zweifeln. Das Demografieargumentwurde aber auch von der Regierungund nicht zuletzt von Finanzmarkt-akteuren (Banken, Versicherungen)herangezogen zur Begründung einerGewichtsverlagerung von der Umlage-finanzierung hin zu mehr kapital-fundierten Formen der Alterssicherung,die – so die überwiegenden Meinun-gen – nicht im öffentlichen, sondernim privaten Sektor erfolgen sollten.

Es ist unstrittig, dass ein Anpassungs-bedarf im deutschen Alterssicherungs-system auf Grund der vielfältig sichändernden Umfeldbedingungen inDemografie und Ökonomie, aber auchbei sich ändernden normativen Vor-stellungen über individuelle Lebens-entwürfe wie auch über die Rolle desStaates besteht. Strittig ist aus meinerSicht aber, welche Wege eingeschlagenwerden, welches die maßgebendenZiele sind und welche Wirkungenangestrebt bzw. ausgelöst werden. DieRegierung hat – im Laufe der immerwieder von ihr bis zur Gesetzes-entscheidung im Parlament modifizier-ten Vorschläge – zwar immer wiedererklärt, zu dem, was sie anstrebe, gebe

es „keine Alternative“, was jedoch nicht zutreffend ist. Durch solche Er-klärungen sollte die Diskussion kana-lisiert und begrenzt werden. Dies istauch weithin gelungen, da die neueOpposition nach der verlorenen Bun-destagswahl vom Herbst 1998 ihreRolle noch nicht gefunden hatte undzudem die CDU durch Diskussionenüber Parteispenden und innerpar-teiliche Konflikte partiell gelähmt war.

Um die Weichenstellungen in der deut-schen Alterssicherungspolitik besserverdeutlichen zu können, soll zunächstein Blick auf die institutionelle Struk-tur des deutschen Alterssicherungssys-tems geworfen werden.

2. Die institutionelle Strukturdes deutschen Alters-sicherungssystems1

Von zentraler Bedeutung im deutschenAlterssicherungssystem ist die gesetz-liche Rentenversicherung – also dieSozialversicherung zur Absicherung vonRisiken im Zusammenhang mit Alterund Invalidität sowie bei Tod desErnährers (Hinterbliebenenversorgung).Im Unterschied beispielsweise zu man-chen anderen Ländern existiert inDeutschland kein einheitliches Al-terssicherungssystem, das die gesam-te Bevölkerung erfasst, sondern ver-schiedene Gruppen der Bevölkerungsind in unterschiedlich strukturierte Alterssicherungssysteme einbezogen,wobei diese Systeme jeweils die Basisfür die Alterssicherung dieser Perso-nengruppen bilden (Regelsicherungs-systeme). In der gesetzlichen Renten-versicherung sind Arbeiter und An-gestellte erfasst, aber auch verschie-dene Gruppen von Selbstständigen.

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Winfried Schmähl108

Für Selbstständige gibt es aber auchgesonderte Systeme wie beispielsweisefür Landwirte, für Angehörige freierBerufe (wie Ärzte, Rechtsanwälte). FürBeamte besteht ein separates System.

Neben den Regelsicherungssystemen(der 1. Schicht des deutschen Alters-sicherungssystems) gibt es weitereSchichten, so betriebliche Maßnahmenund Einrichtungen (2. Schicht). Be-triebliche Alterssicherung weist im Pri-vatsektor einen deutlich niedrigerenDeckungsgrad als im öffentlichen Sek-tor auf. Hinzu tritt als 3. Schicht all das,was in vielgestaltigen Formen als pri-vate freiwillige Altersvorsorge vorzufin-den ist.

Im Hinblick auf die quantitative Be-deutung der verschiedenen Schichtenergeben sich gerade für die private Vor-sorge Probleme der Abgrenzung undErfassung. Selbst private Lebensver-sicherungsverträge müssen nicht unbe-dingt der Altersvorsorge und -sicherungdienen. Das heißt, man ist hier aufSchätzungen angewiesen. Insofern sindauch die quantitativen Angaben überdas Gewicht der drei Schichten zueinan-der mit manchen Unsicherheiten be-haftet. Dennoch bleibt festzustellen,dass die umlagefinanzierten Systemeder gesetzlichen Rentenversicherungund der Besamtenversorgung (letz-tere wird im Rahmen der Haushalte deröffentlichen Gebietskörperschaftenabgewickelt) bei weitem die größte Be-deutung besitzen. Schätzungsweise 80% der Ausgaben für die sozialenTatbestände Alter, Invalidität und Hin-terbliebene dürften hierauf entfallen,weitere je 10% auf die betriebliche Al-terssicherung und die private Vorsor-ge. Dabei ergibt sich hinsichtlich derstatistischen Trennung von 2. und 3.

Schicht noch ein weiteres Problem, da als ein Weg der betrieblichen Al-terssicherung auch die Direktversi-cherung – also die Versicherung, die ein Arbeitgeber bei einem Lebensver-sicherungsunternehmen zu Gunstenvon Beschäftigten abschließt – zählt.Insofern sind die privaten Lebens-versicherungsinformationen auf die 2. und 3. Schicht „aufzuteilen“.

Außerdem hat sich in jüngerer Zeit zunehmend gezeigt, dass die Grenz-ziehung zwischen der 2. und 3. Schichtfließend wird. Das herausragende Bei-spiel hierfür ist die Entgeltumwand-lung, bei der der Arbeitnehmer einenTeil seines Arbeitsentgelts in Ansprücheauf spätere Alterseinkünfte „umwan-delt“, d.h. diese dann auch selbst fi-nanziert. Der Arbeitgeber agiert hiervielfach nur als Vermittler z.B. zum Erlangen kostengünstiger Versiche-rungsverträge.

Es ist nicht überraschend, dass an-gesichts des herausragenden Gewichtsder gesetzlichen Rentenversicherungund auch der Beamtenversorgung die Einkommenssituation von Perso-nen bzw. Haushalten im Alter für dengrößten Teil der Bevölkerung inDeutschland maßgeblich durch dieZahlungen dieser Systeme geprägt wird. Dabei besteht ein signifikanterUnterschied zwischen West- und Ost-deutschland, denn in Ostdeutschlandbesitzen die Renten der gesetzlichenRentenversicherung im Budget derHaushalte eine noch höhere Bedeutungals in Westdeutschland. Dies hat ver-schiedene Gründe. Hierzu gehört ins-besondere die Tatsache, dass die Er-werbsbeteiligung von Frauen in derDDR höher war als in Westdeutschlandmit der Folge, dass z.B. in 2-Personen-

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Rentnerhaushalten in höherem Maßeeigene Versichertenrenten von Frauenzu der Versichertenrente des Manneshinzukommen. Ein weiterer wichtigerGrund für die strukturellen Unter-schiede ist, dass in Ostdeutschlandkapitalfundierte Formen der betrieb-lichen und privaten Vorsorge faktischkeine Rolle spielten. Das heißt aberauch, dass eine Veränderung der Ein-kommensstruktur der Haushalte inOstdeutschland sich erst sehr langsamund allmählich vollziehen kann, dennes dauert lange Zeit, bis in kapital-fundierten Systemen Leistungen erfol-gen, die dann eine Quelle von Alters-einkünften darstellen. Gleichzeitigheißt das, dass Senkungen des Leis-tungsniveaus in der gesetzlichen Ren-tenversicherung ostdeutsche Versi-cherte relativ stärker einkommens-mäßig berühren als westdeutsche an-gesichts der größeren Bedeutung derRentenversicherungsleistungen im Bud-get ostdeutscher Privathaushalte.

In Deutschland bestand die Mög-lichkeit, bei unzureichendem Einkom-men nach Bedürftigkeitsprüfung eineEinkommensaufstockung durch Sozial-hilfeträger zu erhalten. Durch die Re-formgesetze des Jahres 2001 ist nuneine bedürftigkeitsgeprüfte Transfer-zahlung an alte und dauerhaft invalideMenschen eingeführt worden, derenLeistungshöhe allerdings der der Sozial-hilfe entspricht. Der zentrale Unter-schied ist, dass weitgehend auf einenRegress verzichtet wird, d.h. dass Kinder– je nach ihrem Einkommen und Ver-mögen – nicht zur Erstattung von So-zialhilfezahlungen herangezogen wer-den, sofern ihr Einkommen 100.000EUR im Jahr nicht übersteigt. Diese be-darfsorientierte Mindestsicherung solltenach den ursprünglichen Vorstellungen

der Regierung in die gesetzliche Renten-versicherung integriert werden. AufGrund von Widerständen ist dann dieEntscheidung für eine Lösung außer-halb der Rentenversicherung erfolgt.Die neue Leistung soll gleichfalls aufkommunaler Ebene administriert wer-den. Wie dies organisatorisch – und op-tisch (!) – so von der Sozialhilfe ge-trennt erfolgen soll, dass deutlich wird,es sei eben keine Sozialhilfe, das bleibtabzuwarten.

3. Das bis zur Reform maß-gebende Konzept für die Leis-tungsgestaltung in der gesetz-lichen Rentenversicherung

Für das Verständnis der in jüngster Zeiteingeleiteten Veränderungen im Al-terssicherungssystem ist es hilfreich,sich vor allem die Grundstruktur derLeistungsberechnung vor Augen zuführen. Hierbei beschränke ich michauf wenige Eckpunkte. Für die Höheeiner (Versicherten-)Rente spielen vorallem zwei Elemente eine Rolle, dieSumme der so genannten „Entgelt-punkte“ und die Höhe des „aktuellenRentenwerts“.

Für jedes Jahr der Versicherung wird imFalle versicherungspflichtiger Erwerbs-tätigkeit festgestellt, was der Arbeit-nehmer an individuellem Bruttoent-gelt hat verglichen mit dem durch-schnittlichen Bruttoentgelt aller imgleichen Jahr versicherten Arbeit-nehmer. Hat der Arbeitnehmer geradedas Durchschnittsentgelt erreicht, so er-hält er für dieses Jahr einen Entgelt-punkt. Lag beispielsweise das individu-elle Entgelt um 20% über oder um 20% unter dem Durchschnittsentgelt,so erhielt er 1,2 bzw. 0,8 Entgeltpunk-

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te. Zum Zeitpunkt der Rentenberech-nung werden dann die im Lebensab-lauf angesammelten Entgeltpunkte auf-summiert.

Es ist wichtig festzuhalten, dass für dieRentenberechnung die gesamte Ver-sicherungsdauer eine Rolle spielt undnicht nur – wie in vielen Ländern – einAusschnitt, z.B. die letzten 5 oder 10Jahre oder die „besten“ 15 Jahre. Dasheißt, die Rentenberechnung knüpftnicht am letzten Arbeitsentgelt an –dies erfolgt im Unterschied zur gesetz-lichen Rentenversicherung in der Be-amtenversorgung –, sondern faktischam Durchschnitt der über den Erwerbs-zyklus erworbenen Entgeltpunkte.

Die absolute Höhe der Rente ergibt sichnun dadurch, dass die Summe der Ent-geltpunkte multipliziert wird mit demDM-Betrag (ab 2002 dem Euro-Betrag)pro Monat, den 1 Entgeltpunkt in dembetreffenden Jahr ausmacht („aktuellerRentenwert“). Hat also beispielsweiseein Versicherter 40 Entgeltpunkte undbeträgt der aktuelle Rentenwert (alsoder Betrag eines Entgeltpunktes) 250EUR, so wird dadurch eine Rente von1.000 EUR im Monat erreicht.

Der „aktuelle Rentenwert“ ist das ei-gentliche dynamische Element in derRentenformel. 1992 wurde damit be-gonnen, diesen Wert mit der Ände-rungsrate des durchschnittlichen Net-toarbeitsentgelts aller Versichertenfortzuschreiben (also nach Abzug derdirekten Abgaben in Form von Lohn-steuer und Arbeitnehmer-Sozialbei-trägen vom Bruttoentgelt) – „Nettoan-passung“ der Renten.

Man ging seinerzeit davon aus, dass diedirekte Abgabenbelastung der Arbeit-

nehmer steigen werde, sodass eine Kop-pelung der Entwicklung der indivi-duellen Rentenzahlbeträge an die Ent-wicklung des (durchschnittlichen)Bruttoarbeitsentgelts zunehmend dazuführen würde, dass Renten schnellerstiegen als die Nettoentgelte der Ar-beitnehmer. Der Grund ist, dass diedirekte Abgabenbelastung von Rent-nern weitgehend auf die Beitrags-zahlung zur Krankenversicherung (undneuerdings zur Pflegeversicherung)beschränkt ist, während Arbeitnehmerdarüber hinaus auch einen Beitrag zurRentenversicherung, zur Bundesanstaltfür Arbeit (früher Arbeitslosenversi-cherung) zu entrichten haben und zu-dem Lohnsteuerzahlungen das Netto-entgelt mindern.

Wichtig ist festzuhalten, dass 1992 mitdem Übergang von der früher brutto-lohnbezogenen zur nun nettolohnbe-zogenen Rentenanpassung (also derregelmäßigen Erhöhung des Renten-zahlbetrages) zugleich explizit ein ver-teilungspolitisches Ziel im Gesetz fest-gelegt wurde. Dieses verteilungspoli-tische Ziel lautete vereinfacht wie folgt:Ein Versicherter mit einer bestimmtenAnzahl von Entgeltpunkten soll stetseinen bestimmten Prozentsatz des je-weiligen durchschnittlichen Nettoar-beitsentgelts der jeweils beschäftigtenversicherungspflichtigen Personen er-halten. So sollte beispielsweise für einenRentner, dessen Rente auf 45 Entgelt-punkten basierte, die Rente rund 70%des durchschnittlichen Nettoarbeit-sentgelts betragen.

Die Höhe des Prozentsatzes richtet sichnach der Anzahl der Entgeltpunkte,also im Falle von 40 Entgeltpunktensind es (40/45 mal 70) 62% des durch-schnittlichen Nettoarbeitsentgelts. Da

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jede Rente auch mit dieser Änderungs-rate – also der des durchschnittlichenNettoarbeitsentgelts – fortgeschrieben(dynamisiert) wird, bleibt die jeweiligeindividuelle Relation zwischen Renteund durchschnittlichem Nettoarbeits-entgelt im Zeitablauf konstant.

Durch diese Rentenformel und das zuGrunde liegende verteilungspolitischeZiel wird deutlich, dass die deutschegesetzliche Rentenversicherung ein leis-tungsdefiniertes System ist (definedbenefit). Die zur Finanzierung notwen-digen Mittel (Beitrag und Bundes-zuschuss aus dem Staatshaushalt) wur-den zur abhängigen Variablen, d.h. siewaren so festzulegen, dass die sich ausdem Leistungsrecht und der Strukturdes Rentnerbestandes ergebenden Aus-gaben finanziert werden können.

Hier erfolgte nun durch die Neurege-lung des Jahres 2001 ein grundlegen-der Paradigmenwechsel (auf den späternäher einzugehen sein wird), da zu-mindest der Tendenz nach von einemleistungsdefinierten System zu einembeitragsdefinierten System übergegan-gen wird, in dem die Leistungen zur ab-hängigen Variablen werden und dieVorstellung einer Stabilisierung desBeitragssatzes bzw. einer engen Be-grenzung des Anstiegs des Beitrags-satzes dominierend wird. Vereinfa-chend kann man sagen, es erfolgt einÜbergang vom Leistungsprimat zumBeitragsprimat. Beitragssatzstabilitätwird zum zentralen Ziel der auf diegesetzliche Rentenversicherung aus-gerichteten Maßnahmen.

Versucht man, das bisherige Konzeptder gesetzlichen Rentenversicherung inStichworten zu charakterisieren, sokann man Folgendes festhalten:

● Es ist ein System mit individuellenKonten, da für jeden Versichertenseine Ansprüche im Lebensab-lauf auf einem individuellen Kontobeim Versicherungsträger akkumu-liert werden. In der öffentlichenund überwiegend interessengelei-teten Diskussion wird oftmals derEindruck erweckt, als ob nur in pri-vaten kapitalfundierten Systemenindividuelle Konten bestünden.

● Es wird die gesamte Versicherungs-dauer für die Rentenberechnungberücksichtigt. Damit erfolgt seitlangem in Deutschland etwas, wasin vielen anderen Ländern nunangestrebt wird, so u.a. in Schwe-den im neuen beitragsdefiniertenRentensystem, wo jetzt auch diegesamte Versicherungsdauer eineRolle spielt und nicht mehr – wieim vorherigen ATP-System – nureine begrenzte Anzahl von Ver-sicherungsjahren. Andere Länderverlängern stufenweise die Jahre,die für die Rentenberechnung rele-vant sind, so z.B. Österreich.

● Im deutschen gesetzlichen Renten-versicherungssystem besteht zudem– was hier im Detail nicht dar-gestellt werden kann – eine ver-gleichsweise enge Beziehung zwi-schen dem der Beitragszahlung zuGrunde liegenden versicherungs-pflichtigen Arbeitsentgelt und derHöhe der späteren Renten. Dasheißt, es erfolgt vor allem eineintertemporale Umschichtung vonEinkommen im Lebensablauf. DieseVorsorge-Leistungs-Verknüpfung istin Deutschland weitaus enger als invielen anderen Ländern mit einemleistungsdefinierten Sozialversiche-rungssystem. So wird beispielsweiseim US-amerikanischen Sozialver-sicherungssystem in weit höherem

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Maße Einkommen interpersonellumverteilt als im deutschen gesetz-lichen Rentenversicherungssystem.Das heißt, in den USA ist die Be-ziehung zwischen Vorleistung undspäterer Gegenleistung nicht so engwie in Deutschland.

● Allerdings ist darauf hinzuweisen,dass die deutsche gesetzliche Ren-tenversicherung keine „Lebensstan-dardsicherung“ realisiert. Allerdingswird in der politischen Diskussionimmer wieder betont, man kön-ne sich angesichts der demografi-schen Entwicklung in Zukunft ei-ne Lebensstandardsicherung in dergesetzlichen Rentenversicherungnicht mehr leisten. Doch bereits dieoben erwähnte Struktur der Renten-berechnungsformel macht deut-lich, dass sich die Rentenberech-nung auf den Durchschnitt der imErwerbsleben erreichten Entgelt-punkte (also den Durchschnitt derim Lebensablauf erreichten relativenLohnposition) bezieht und nicht et-wa auf die Entgeltsituation in einerletzten Phase des Erwerbslebens.Darüber hinaus ist zu berücksich-tigen, dass der Erwerb von Ent-geltpunkten nach oben durch dieBeitragsbemessungsgrenze begrenztist. Diese Grenze liegt bei rund 180% des durchschnittlichen Brut-toarbeitsentgelts, d.h. dass die ma-ximal in einem Jahr erreichbare Hö-he von Entgeltpunkten 1,8 beträgt.

Zur Bewertung der Höhe des Leis-tungsniveaus der gesetzlichen Renten-versicherung in Deutschland vor derRentenreform des Jahres 2001 dientauch die Information, wie viele Ver-sicherungsjahre z.B. für einen Durch-schnittsverdiener notwendig sind, umeine Rente zu erhalten, die gerade

die Höhe eines vollen Sozialhilfe-anspruchs erreicht. Danach waren füreinen Durchschnittsverdiener etwa 25Versicherungsjahre notwendig, andersausgedrückt rund 25 Entgeltpunkte. Es ist unmittelbar einsichtig, dass dann,wenn jemand unterdurchschnittlichverdient, die Zahl der erforderlichenVersicherungsjahre höher ist. Verdientjemand im Durchschnitt seines Er-werbslebens nur etwa 70% des Durch-schnittslohnes, dann braucht er etwa35 Versicherungsjahre zum Erwerbeiner Sozialversicherungsrente in Höhedes Sozialhilfeanspruchs.

Berücksichtigt man, dass gegenwär-tig etwa 50% aller männlichen Ver-sicherten weniger als 45 Entgeltpunk-te erreichen (also damit auch eineRente von weniger als 70% des durch-schnittlichen Nettoarbeitsentgelts) undsogar 95% aller Frauen weniger als 45 Entgeltpunkte haben, so wird deut-lich, dass die in der deutschen so-zialpolitischen Diskussion oftmals zurCharakterisierung des Leistungsniveausherangezogene Rente eines „Eckrent-ners“ mit 45 Entgeltpunkten ein ver-zerrtes Bild des tatsächlichen Leis-tungsniveaus in der Rentenversi-cherung vermittelt. Von einer Lebens-standardsicherung oder – wie es oftmalsauch heißt – einer „Vollversorgung“sind wir weit entfernt. Das heißt nichtsanderes, als dass ergänzende Alters-sicherung – sei sie betrieblicher odersonstiger privater Art – erforderlich istfür ein Aufrechterhalten des Lebens-haltungsniveaus, wie es etwa in derletzten Phase des Erwerbslebens ins-besondere durch das Arbeitsentgeltgeprägt wurde.

Diese Informationen sollten beachtetwerden, wenn im Folgenden auf Ver-

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änderungen des Leistungsrechts unddes Leistungsniveaus eingegangen wird.Sie sind maßgeblich dadurch ausgelöstworden, dass ein steigender Finanz-bedarf für die Zukunft erwartet wird,sofern das Leistungsniveau etwa un-verändert bleibt.

4. Wichtige strukturelle Veränderungen als Ursachesteigenden Finanzbedarfs in der gesetzlichen Renten-versicherung und in anderenAlterssicherungssystemen

Sieht man einmal ab von der Erhö-hung des Finanzbedarfs im Zuge derdeutschen Vereinigung – durch Um-stellung des Rentenrechts in Ost-deutschland auf das westdeutscheRentenrecht sowie durch die un-günstige ökonomische Lage in Ost-deutschland (insbesondere auf dem Ar-beitsmarkt) –, so steht Deutschland voreiner Reihe struktureller Veränderun-gen, die sich mit unterschiedlicherAusprägung auch in vielen anderenLändern zeigen. Durch den Rückgangder Geburtenhäufigkeit wird die Basis der Bevölkerungs“pyramide“ immerschmaler. Durch Verlängerung der Aus-bildungsphase beginnen Erwerbstä-tigkeit und Beitragszahlung später. Sohat sich in Westdeutschland der Zeit-punkt des Beginns der Erwerbstätigkeitinnerhalb von 20 Jahren im Durch-schnitt um etwa 4 Jahre hinaus-geschoben; er lag 1975 bei rund 20Jahren und erreichte 1995 bereits 24Jahre. Die Erwerbsphase ist aber auchdurch früheres Ausscheiden aus demErwerbsleben zusätzlich verkürzt wor-den. Ein früheres Rentenalter – das inDeutschland im Durchschnitt bei etwa60 Jahren liegt – bedeutet gleichzeitig

eine verlängerte Laufzeit der Renten-zahlungen. Diese wird noch gesteigertdurch eine zunehmende Lebenser-wartung. Das heißt also, dass sich dieLänge der Lebensphasen zueinander –wenn man eine einfache Dreiteilung in Kindheit und Jugend (Ausbildung),Erwerbsphase und Rentnerphase zuGrunde legt – im Zeitablauf deutlichverschoben hat, d.h. die Rentnerphaseist nicht nur absolut länger geworden,sondern hat auch relativ zugenommen,bezogen auf den gesamten Lebens-ablauf wie auch auf die Erwerbsphase.

Die gestiegene Lebenserwartung drücktsich insbesondere auch in einer Zu-nahme der ferneren Lebenserwartungbereits älterer Menschen aus. Hier hatsich sogar die Schere zwischen derLebenserwartung von Frauen und Män-nern weiter geöffnet. So ist z.B. diefernere Lebenserwartung 65-jährigerFrauen in den letzten Jahren stärkergestiegen als die 65-jähriger Männer.Dies hat für die Alterssicherung erheb-liche Konsequenzen. Nicht nur, dassdie Versichertenrenten von Frauenlänger gezahlt werden, sondern auchdie Wahrscheinlichkeit der Zahlungvon Witwenrenten und die Laufzeitvon Witwenrenten werden dadurchgesteigert.

In diesem Zusammenhang ist bereitsdarauf hinzuweisen, dass eine Ver-lagerung von Alterssicherung von dergesetzlichen Rentenversicherung (beider die unterschiedliche Lebenser-wartung von Männern und Frauenkeine Rolle spielt) zur privaten Alters-sicherung (bei der die Unterschiede inder Lebenserwartung für die Renten-berechnung bzw. die Prämienhöhewichtig sind) die Alterssicherung fürFrauen verteuert. Außerdem wird häu-

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fig übersehen, dass eine Reduzierungdes Leistungsniveaus in öffentlichenSystemen bei gleichzeitiger Verlagerungauf private Einrichtungen zwar den Fi-nanzbedarf in öffentlichen Haushaltenreduziert, nicht aber die Belastung mitVorsorgeaufwendungen für die priva-ten Haushalte. Diese können sogar überlängere Zeit noch steigen – wie diejüngsten in Deutschland getroffenenEntscheidungen deutlich machen(siehe unten).

Die verschiedenen strukturellen Verän-derungen, die hier nur grob angedeutetwurden, führen zu einem steigendenFinanzbedarf, somit ceteris paribus inder gesetzlichen Rentenversicherungauch zu höheren Beitragssätzen.2 Dieseswiederum – angesichts der Tatsache,dass die Beiträge je zur Hälfte von Ar-beitnehmern und Arbeitgebern gezahltwerden – bedeutet (wenn man vonÜberwälzungsprozessen zunächst ein-mal absieht), dass steigende Renten-versicherungsbeiträge ceteris paribus zu einer Erhöhung der Lohnkostenführen. Dieser Effekt spielt in der ak-tuellen Diskussion eine wichtige Rollemit Blick auf die internationale Wett-bewerbsfähigkeit. Hingewiesen wird u. a. darauf, dass die Möglichkeiten zur Überwälzung höherer Lohnkos-ten angesichts der Intensivierung des internationalen Wettbewerbs ge-sunken sind, d.h. steigende Lohn-kosten die Wettbewerbsfähigkeit derheimischen Wirtschaft einschränken.Ob und inwieweit dieses in der Realitätvon Bedeutung ist – bzw. in welchenBereichen und unter welchen Um-ständen –, kann hier nicht diskutiertwerden. Als politisches Argument für eine Begrenzung des Beitragssatz-anstiegs ist es jedoch von großer Be-deutung.

Allerdings ist die Befürchtung steigen-der Beitragssätze kein neues Phänomen.Verschiedene Reformmaßnahmen inder gesetzlichen Rentenversicherunginsbesondere seit den 80er-Jahrenhaben dazu geführt, dass z.B. 1989 beiunverändertem Leistungsrecht (alleinbezogen auf Westdeutschland) eineBeitragssatzsteigerung auf 36% erwartetwurde. Inzwischen wurde vor der jüngsten Reform des Jahres 2001 (nunfür das wiedervereinte Deutschland)mit einem Anstieg auf „nur“ 24% biszum Jahr 2030 gerechnet. Das zeigt zugleich, dass es durchaus politischmöglich ist, im umlagefinanzierten Sys-tem Reformen durchzuführen, die be-trächtliche quantitative Bedeutunghaben.

Hingewiesen sei darauf, dass in jüngs-ter Zeit auf europäischer Ebene eineDiskussion über gemeinsame Ziele undMesskonzepte für die Zielerreichungstattfindet, die zu „bench-marks“ füh-ren werden, an denen die Ergebnisseder nationalen Alterssicherungspoli-tik gemessen werden. Es wird entschei-dend darauf ankommen, wie dieseBeurteilungskriterien definiert sind und ob sie nicht von ihrer Auswahlund Ausgestaltung her bestimmten Reformstrategien bessere „Noten“ si-chern als anderen.3

5. Zentrale Elemente der Re-formmaßnahmen des Jahres2001 und dafür maßgebendeZielvorstellungen

Wie erwähnt, spielt das Beitragssatz-ziel nun eine dominierende Rolle. Vonder Regierung wurde postuliert – unddann vom Gesetzgeber entsprechendbeschlossen –, dass der Beitragssatz in

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der gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahre 2020 nicht über 20%und bis zum Jahre 2030 nicht über 22% steigen solle. Da aber – wie er-wähnt – bei unverändertem Leis-tungsrecht unter Verwendung bestim-mter Annahmen für die künftigeEntwicklung der gesetzlichen Renten-versicherung (Annahmen über De-mografie, Rentenzugangsverhalten,ökonomische Entwicklung usw., An-nahmen, über die natürlich jeweilstrefflich gestritten werden kann) einBeitragssatz im Jahre 2030 von rund 24% errechnet wurde, lautete die po-litische Antwort, dieses sei nicht trag-bar. Folglich seien Änderungen desLeistungsrechts erforderlich, um denAusgabenanstieg und folglich den Fi-nanzbedarf zu reduzieren.

Um dieses zu realisieren, wurde einganzes Bündel von Maßnahmen er-griffen. Hier kann nur auf einige Ele-mente hingewiesen werden. So klam-mere ich Änderungen bei den In-validitätsrenten aus4 und weitgehendauch die Veränderungen im Hinblickauf die Alterssicherung von Frauen undHinterbliebenen.5

Neben den leistungseinschränken-den Maßnahmen in der gesetzlichenRentenversicherung, von denen nach-folgend die Änderung der Rentenan-passungsformel erläutert wird, wurdeeine Förderung der privaten Alters-sicherung durch Prämien bzw. Steu-ervergünstigungen beschlossen. Dieseswird – wie erwähnt – als das „Herz-stück“ der Rentenreform von der Bun-desregierung angesehen. Die private Al-terssicherung soll allerdings freiwilligbleiben. Während ursprünglich aus-schließlich eine Förderung der pri-vaten Vorsorge vorgesehen war, ist

schließlich auch die betriebliche Al-terssicherung in das Förderprogrammeinbezogen worden, was – zusammenmit Konzessionen in anderen Sach-gebieten – den Gewerkschaften die Zu-stimmung zu dem gesamten Reform-paket ermöglichte. Darüber hinauswurde nicht nur ein weiterer „Durch-führungsweg“ für betriebliche Alters-vorsorge geschaffen (als Pensionsfonds),sondern durch das Recht des Arbeit-nehmers auf Entgeltumwandlung fürZwecke der Alterssicherung – wofür verschiedene, ggf. auch nebeneinandernutzbare Wege zur Verfügung stehen –wurden weitere Impulse für eine Neu-belebung betrieblicher Alterssicherunggegeben, zumal diese in den letztenJahren eher rückläufig war.6

Ein zentrales Element der Umge-staltungsstrategie ist eine Änderung der Rentenanpassungsformel in der gesetzlichen Rentenversicherung. DieFortschreibung des aktuellen Ren-tenwerts ist nicht mehr an die Ent-wicklung des Nettoarbeitsentgelts gekoppelt, da eine steuerpolitischeStrategie, die zumindest zeitweise zu einer Verringerung der Lohnsteuer-belastung führt, eine Erhöhung derNettoentgelte und folglich des Aus-gabenwachstums in der Rentenver-sicherung zur Folge hat. Stattdessenwird steuerpolitisch mehr auf die Ein-nahmebeschaffung durch indirekteSteuern gesetzt.

In der Anpassungsformel wird jetztneben der Entwicklung des durch-schnittlichen Bruttoarbeitsentgelts diedes Beitrags zur gesetzlichen Renten-versicherung berücksichtigt. Dies ist einschon vor Jahrzehnten vorgetragenerund diskutierter Vorschlag, der in jün-gerer Zeit wiederbelebt und nun von

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der Regierung – nach anfänglicherAblehnung – aufgegriffen wurde.7

Allerdings ist ein zusätzlicher Faktor in die Formel eingeführt worden, derdazu dient, das Leistungsniveau in dergesetzlichen Rentenversicherung zureduzieren: Es handelt sich um einenProzentsatz des Arbeitsentgelts, der ausSicht der Regierung sinnvoll bzw.erforderlich ist, um eine Reduktion desLeistungsniveaus in der gesetzlichenRentenversicherung durch privateVorsorge zu kompensieren. Vorgesehenist, dass dieser (freiwillige) Vorsorge-Beitragssatz stufenweise von 1% bis auf 4% steigt. Dies bewirkt, dass dieZuwachsrate des aktuellen Rentenwertsschwächer steigt als ohne diesen zu-sätzlichen Faktor.8

Allerdings sind diese Vorsorgebeiträgefreiwillig, wenngleich steuerlich bzw.durch Prämien gefördert. Das heißt,niemand weiß, in welchem Maße tat-sächlich vorgesorgt wird. In der Renten-formel wird allerdings unterstellt, dasstatsächlich in dem von der Regierunggewünschten Ausmaß vorgesorgt wird.Die private Vorsorge kann dann wie-derum als Argument für eine Minde-rung des Leistungsniveaus in derRentenversicherung dienen.

Deutlich ist, dass die private Vorsorge –wie auch die in Fördermöglichkeiteneinbezogene Vorsorge über Betriebe –nicht etwa ergänzende Vorsorge ist, son-dern substitutiv eingesetzt wird, also dasLeistungsniveau der gesetzlichen Ren-tenversicherung partiell ersetzen soll.

Die Berücksichtigung dieses fiktivenVorsorgebeitrags ist folglich ein Hebel,um das Leistungsniveau in der Renten-versicherung zu senken. Dies ist aller-

dings ein zur Manipulation der Renten-formel geradezu einladendes Instru-ment, denn warum sollten nicht späterdieser fiktive Vorsorgebeitrag auf fünf,sechs oder sieben Prozent erhöht unddamit das Leistungsniveau der ge-setzlichen Rentenversicherung weiterreduziert werden? Eine solche Erhö-hung des Vorsorgebeitragssatzes müsstezudem nicht notwendigerweise miteiner Erhöhung der fiskalischen För-derung von privater Vorsorge einher-gehen. Es gibt aus Kreisen der SPDschon verschiedentlich Äußerungen, indenen dieser Weg der Anhebung desVorsorgebeitrags zur weiteren Leis-tungsreduktion in der gesetzlichenRentenversicherung propagiert wird –ggf. dann sogar als obligatorischerPrivatvorsorgebeitrag.

Ein Ergebnis der neuen (Anpassungs-)Formel ist, dass das Leistungsniveau inder gesetzlichen Rentenversicherungspürbar reduziert wird. So wird bei-spielsweise für den „Eckrentner“ – einen Rentner mit 45 Entgeltpunk-ten – in Zukunft als Zielwert nichtmehr 70% des durchschnittlichen Net-toarbeitsentgelts gelten, sondern rund64%, wenn man das durchschnittlicheNettoarbeitsentgelt in bisheriger Weisedefiniert. Allerdings ist dabei zu be-rücksichtigen, dass demnächst die volleRente – ohne Abschläge – erst danngezahlt wird, wenn diese ab dem 65.Lebensjahr in Anspruch genommenwird. Eine vorzeitige Inanspruch-nahme, die unter bestimmten Bedin-gungen bis zu drei Jahren frühermöglich ist, führt zu einer Reduzierungdes Rentenzahlbetrags um 3,6% proJahr, bei drei Jahren also um 10,8%.

Vergleicht man dies wiederum mit demgegenwärtigen Sozialhilfeniveau von

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40% des durchschnittlichen Netto-arbeitsentgelts, so würde die Reduk-tion des Leistungsniveaus in der ge-setzlichen Rentenversicherung z.B.dazu führen, dass ein Durchschnitts-verdiener nun rund 29 Versicherungs-jahre benötigt, um eine Rente in Höhedes Sozialhilfeniveaus zu erhalten.Scheidet aber jemand im Alter von 62Jahren aus und hat beispielsweise 35 Entgeltpunkte, so erhält er eineRente in Höhe von 45% des durch-schnittlichen Nettoarbeitsentgelts, eineRente, die also kaum über der Sozial-hilfeschwelle liegt.

Damit besteht die Gefahr, dass inZukunft selbst für eine Großzahl vonPersonen mit langer Versicherungs-dauer nur noch eine Rente erreichbarist, die sich wenig vom Sozialhilfe-niveau unterscheidet.

Hierdurch könnte allerdings die ge-genwärtige Struktur des Rentenversi-cherungssystems politisch in Fragegestellt werden: Wie wird es noch poli-tisch legitimierbar sein, dass Arbeit-nehmer zu einem Pflichtbeitrag heran-gezogen werden, der selbst nach le-benslanger Beitragszahlung nur nochzu einer Rentenzahlung führt, die sichkaum vom Sozialhilfeniveau unter-scheidet?9 Das gegenwärtige Ren-tenversicherungssystem ist – wie er-wähnt – durch eine vergleichsweise en-ge Verknüpfung zwischen Vorleistungund späterer Gegenleistung gekenn-zeichnet. Dies soll – nach Aussage derRegierung – auch erhalten bleiben.Doch faktisch würden diese Vor-leistungs-Leistungs-Verknüpfung wohldann im Zweifel in Frage gestellt unddie Rentenversicherung primär zueinem Basissicherungssystem mit starkumverteilendem Charakter werden.

Hierfür dürfte langfristig dann eher dieSteuerfinanzierung die geeignete Fi-nanzierungsart sein, bei der man jenach der finanziellen Leistungsfähigkeitzur Finanzierung eines solchen der Ba-sissicherung dienenden Steuer-Trans-fer-Systems beiträgt.

Es sollte auch zur Kenntnis genommenwerden, dass sich im internationalenVergleich vorleistungsbezogene Siche-rungssysteme als leistungsfähiger er-wiesen haben sowohl im Hinblick aufdie Minderung von Ungleichverteilungals auch von Einkommensarmut imAlter.10

Es besteht also die Gefahr, dass der nuneingeschlagene Weg zugleich den Ein-stieg in den Ausstieg aus der einkom-mensbezogenen gesetzlichen Renten-versicherung bedeutet – auch wenn dieVerfechter dieses Paradigmenwechselseine solche Folge in Abrede stellendürften, zumindest dies nicht als ihrZiel angeben würden.

Damit würde man aber auch etwas aufsSpiel setzen, was die gegenwärtigeRentenversicherung von einem solchenSteuer-Transfer-System unterscheidet,nämlich, dass es im Prinzip (bei engerVorleistungs-Gegenleistungs-Verknüp-fung) anreizfördernd wirkt, da vermehr-te Vorsorgebeiträge auch zu höhererspäterer Rentenleistung führen. Ein Sys-tem mit enger Vorleistungs-Gegenleis-tungs-Beziehung hat auch am Arbeits-markt geringere verzerrende und ne-gative Anreize auslösende Wirkungenals ein der Umverteilung dienendesSteuer-Transfer-System.

Was nun die Entwicklung der Vor-sorgebeiträge betrifft, so führt die Re-form dazu, dass an Stelle der 23,6%

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(ohne die Reform) nun ein Beitragssatzin der gesetzlichen Rentenversicherungim Jahre 2030 von 22% errechnet wird,also gerade gemäß dem postuliertenBeitragsziel. Allerdings ist zu berück-sichtigen, dass – nach dem Willen derRegierung – noch 4% als freiwilligeVorsorge hinzukommen, durch die dieLeistungsminderung in der gesetzlichenRentenversicherung kompensiert wer-den soll. 22 plus 4% ergeben aller-dings 26%. Während vorher 24% alsuntragbar angesehen wurden und von einer „demografischen Krise“ desAlterssicherungssystems gesprochenwurde, scheint dies nun bei 26% nichtmehr der Fall zu sein.

Für die Arbeitgeber ist die Reduzierungder Beitragszahllast vergleichsweisegering: Hätten sie sonst knapp 12% anArbeitgeberbeitrag im Jahr 2030 zuzahlen, so wären es unter Berücksich-tigung der Reform nun 11%. Allerdingsergäbe sich eine deutliche Verschiebungin der Beitragszahllast für Arbeitnehmervon sonst rund 12% auf nun 15% (11% plus 4%). Man sieht also deut-lich, welche Weichenstellungen mitdiesem Reformansatz verbunden sind.

Auch im Hinblick auf die „Renditen“,die sich für Versicherte vor und nachder Reform unter bestimmten Bedin-gungen errechnen lassen,11 zeigt sich,dass sich diese durch die Reform nurvergleichsweise gering verändern. Estreten zwar für alle Jahrgänge, die vor1975 geboren sind, Verschlechterun-gen und für alle Jahrgänge ab 1975Verbesserungen ein gemessen an Ren-diteziffern. Allerdings betragen die-se Differenzen jeweils maximal 0,2Prozentpunkte. Dabei ist zu berück-sichtigen, dass es sich um Rendite-berechnungen handelt, die sich auf

den Fall beziehen, dass jemand mit 65 Jahren seine Rente bezieht. 1975Geborene würden also erst im Jahre2040 (mit 65 Jahren) aus dem Erwerbs-leben ausscheiden. Diese Personen-gruppe würde sich dann – im Durch-schnitt – so hinsichtlich der Renditeihrer Alterssicherung stellen wie ohneReform. Für alle früher Geborenen undaus dem Erwerbsleben (mit 65) Aus-scheidenden gibt es eine Verschlech-terung. Erst für alle nach 2040 aus demErwerbsleben Ausscheidenden kannmit einer geringen Verbesserung ge-rechnet werden.

Es wird deutlich, dass diejenigen, diebereits Rentner sind, die Leistungs-reduktionen in der gesetzlichen Ren-tenversicherung nicht durch priva-te Vorsorge kompensieren können. Gleiches gilt für Arbeitnehmer dann, jenäher sie der „Altersgrenze“ sind. Dienun substitutive – und nicht komple-mentäre – geförderte private Vorsorgewirkt sich also erst für erheblich Jün-gere positiv aus.

Sowohl hinsichtlich der Entlastung derArbeitnehmer (bei den Lohnneben-kosten) als auch im Hinblick auf die„intergenerationale“ Belastungsver-änderung für verschiedene Kohortendurch die Reformmaßnahmen kannnicht davon gesprochen werden, dasssich die Reform gemessen an diesenKriterien „lohnt“.

Allerdings gibt es eindeutige Gewinnerder Reform, und zwar diejenigen, dieFinanzmarktprodukte anbieten undeinen größeren Teil des gesamten Al-tersvorsorgegeldes in ihre Produktelenken. Auf einige damit verbundeneAspekte wird abschließend kurz einge-gangen. Zuvor aber noch ein Hinweis

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auf zwei Fragenkomplexe, die aus demReformpaket bewusst ausgeblendetwurden, die m.E. aber für die Zukunftvon Bedeutung sind.

6. Besteuerung von Altersein-künften und Veränderungendes Rentenalters bei steigen-der Lebenserwartung – zwei bislang ausgeklammerteThemen

Aus dem Reformkonzept des Jahres2001 wurden ausdrücklich zwei Fragenausgeklammert. Eine betrifft die steuer-liche Behandlung von Alterseinkünf-ten, die zwischen Rentenversicherungund Beamtenversorgung unterschied-lich geregelt ist, aber auch im Bereichder betrieblichen Alterssicherung. DieRegierung wollte hier ein neuerlichesUrteil des Bundesverfassungsgerichtsabwarten, ihm die unpopuläre Fragezuschieben, ob eine Änderung derBesteuerung erforderlich sei. Inzwi-schen hat das Bundesverfassungsge-richt den Gesetzgeber aufgefordert, bisEnde 2004 einen aus Sicht des Ver-fassungsgerichts verfassungswidrigenZustand zu beseitigen.12 Das heißt, hier besteht Handlungsbedarf. Dieskann einen neuerlichen Anstoß auchzu Diskussionen über die Gestaltungder Alterssicherung – und speziell auchder gesetzlichen Rentenversicherung –geben, zumal die Besteuerungsfrage alleFormen der Altersvorsorge berührt. Aufdie verschiedenen Vorstellungen dazuund die Optionen kann hier nichteingegangen werden. Erwähnt sei nur,dass es aus meiner Sicht durchausGründe dafür gibt, verschiedene For-men von Alterseinkünften steuerlichunterschiedlich zu behandeln.13 Zudemkann diese Frage nicht allein unter

steuersystematischen Gesichtspunk-ten entschieden werden. Allerdingswird in der Diskussion vielfach – soinsbesondere von Finanzwissenschaft-lern – der Eindruck erweckt, dass diesder entscheidende Gesichtspunkt sei – eine Auffassung, der sich nun auch das Verfassungsgericht in seinem Urteilals maßgebend für die verfassungs-rechtliche Beurteilung angeschlossenhat.

Der zweite ausgeklammerte Problem-komplex betrifft die Frage, ob in Zu-kunft Änderungen der Regelungen fürden Zeitpunkt der Inanspruchnahmevon Altersrenten („Altersgrenze“) er-griffen werden sollten. Vor Verabschie-dung des Gesetzes wurde allenfalls an-gedeutet, dies könne für einen späterenZeitpunkt (um das Jahr 2010 herum) inErwägung gezogen werden. Nach Ver-abschiedung der Reform wird diesesThema nun zunehmend aufgegriffen.

Dieses Ausklammern aus dem Reform-paket ist aus meiner Sicht bedauerlich,und zwar aus mehreren Gründen. Zumeinen handelt es sich hier um eine fürdie längerfristige Finanzentwicklungwichtige Maßnahme, was im Prinzipallgemein anerkannt wird, wenngleichsie bei der derzeit hohen Arbeits-losigkeit nicht ein Instrument ist, dasbereits derzeit finanzwirksam werdensollte. Die Ausklammerung dieses The-mas führt zusätzlich dazu, dass baldneue Reformdiskussionen aufflammenwerden. Zum anderen ist gerade beiVeränderungen der „Altersgrenzen“eine lange Vorlaufzeit erforderlich, d.h.die Maßnahme muss im Interesse vonArbeitnehmern wie auch Arbeitgebernfrühzeitig angekündigt werden, damitsich die Akteure in ihren Planungen da-rauf einrichten können.

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Schon seit langem habe ich auf dieNotwendigkeit hingewiesen, bei weitersteigender Lebenserwartung den Zeit-punkt, ab dem man die volle Rente –also ohne Abschläge – erhält, im Zugeder Veränderung der Lebenserwartunghinauszuschieben.14 Dieses wäre zudemein inhaltlich sinnvoll begründbarer„demografischer Faktor“. Denkbar wäreauch, dass man zusätzlich den frühest-möglichen Zeitpunkt, ab dem man eineAltersrente erhalten kann, entspre-chend anhebt. Wie man das technischmacht, ob durch direkte Kopplung aneinen Lebenserwartungs-Indikator oderob man im Hinblick auf die erwarteteLebenserwartung eine stufenweise vor-programmierte Anhebung vornimmt,das ist eine untergeordnete instrumen-telle Frage. Allerdings ist eine klareRegel fallweisen Entscheidungen vorzu-ziehen.

Ziel könnte sein, dass die Relation zwi-schen Rentnerphase und potenziellerErwerbsphase bei steigender Lebenser-wartung etwa unverändert bleibt, alsosteigende Lebenserwartung auf die bei-den Lebensphasen aufgeteilt wird,nicht aber, dass – wie bisher – steigendeLebenserwartung allein zur Verlänge-rung der Rentnerphase führt.

Allerdings sollte eine solche Maßnahmenicht isoliert ergriffen werden, sondernsie erfordert flankierende Maßnahmen.Besondere Bedeutung besitzt dabei dieWeiterqualifizierung von Arbeitneh-mern. Aber auch die Ansätze zur Re-duzierung von Invaliditätsrenten –durch Rehabilitation, veränderte Ar-beitsbedingungen usw. – sind hierfürwichtig.

Immer wieder wird darauf hingewie-sen, dass ältere Arbeitnehmer kaum

noch in Maßnahmen zur Weiterquali-fizierung einbezogen sind. Dies hängtaber auch damit zusammen, dass derZeitpunkt des Ausscheidens aus demErwerbsleben relativ früh liegt. Das be-deutet für ältere Arbeitnehmer, dass fürsie kaum noch Anreize bestehen, sichan weiterqualifizierenden Maßnahmenzu beteiligen, und für Arbeitgeber stelltsich die Frage, ob sich Investitionen inHumankapital der älteren Beschäftigtenangesichts der kurzen Zeit für dieNutzung des vermehrten Humanka-pitals lohnen.15

Bildung von Humankapital ist für diedeutsche Volkswirtschaft von zentralerBedeutung für die wirtschaftliche Ent-wicklung. Angesichts des schrump-fenden und alternden Erwerbsperson-enpotenzials ist der Humankapital-bildung im Interesse des Produkti-vitätsfortschritts vermehrt Aufmerk-samkeit zu widmen. Dabei stellt sichzugleich die Frage, in welchem Maßehier mit öffentlichen Mitteln förderndeingegriffen werden kann und sollte.Aus meiner Sicht besteht derzeit eineSchieflage hinsichtlich der fiskalischenFörderung von Kapitalbildung, indemder Blick vor allem auf die Bildung vonFinanzkapital gerichtet wird, wie diesdie Förderung der privaten Altersvor-sorge deutlich macht. Hier dürfte einUmdenken erforderlich werden inRichtung einer Stärkung der Human-kapitalentwicklung bei Erwerbstätigen,was im Interesse einer Stärkung derWachstumskräfte wäre und zugleicheinen Beitrag darstellen würde zurBewältigung von strukturellen Verschie-bungen im Altersaufbau, auch im Be-reich der Alterssicherung.

In der öffentlichen Diskussion wirdvielfach die Vorstellung vertreten, Prob-

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leme der sozialen Sicherung erfordertenvermehrte Zuwanderung. Abgesehendavon, dass Zuwanderung auch mit„Kosten“ (man denke u. a. an die er-forderlichen Integrationsmaßnahmen)verbunden ist, hängen die Auswirkun-gen auf die sozialen Sicherungssystemevon vielen Faktoren ab, die dafürmaßgebend sind, ob und wann es zu Entlastungen oder Belastungenkommt.16

7. Vermehrte kapitalfundierteAlterssicherung als geeigneteMaßnahme in einer alternden Bevölkerung –Wunschvorstellungen undZukunftsperspektiven

Derzeit steht im Zentrum vieler Über-legungen der Ausbau kapitalfundierterAlterssicherung – nicht nur in Deutsch-land, sondern in vielen anderen Län-dern. Dies wird vielfach auch in der wirtschaftswissenschaftlichen For-schung als zentraler Ansatzpunkt fürdie Bewältigung von Problemen imBereich der Alterssicherung angesehen.Lange Zeit dominierte die Vorstellung,dass mit dem Ausbau kapitalfundierterAlterssicherung eine Erhöhung derErsparnisbildung einhergehe, diese zuvermehrter Realkapitalinvestition führeund damit positiv auf das Wirtschafts-wachstum wirke. Hiergegen sind schonfrühzeitig Bedenken vorgetragen wor-den, die allerdings lange Zeit außer-halb des „mainstream“ der herrschen-den wirtschaftswissenschaftlichen Dis-kussion lagen.17 Inzwischen ist es hin-sichtlich dieser Argumentationskettedeutlich stiller geworden. Ein wichtigerGrund dafür dürfte sein, dass die em-pirische Evidenz, dass die kapital-fundierte Alterssicherung tatsächlich

zu einer Erhöhung der Ersparnis führt, immer noch sehr auf sich wartenlässt.

Recht aufschlussreich ist, dass inLändern wie Großbritannien und den Niederlanden im Verlauf der letz-ten Jahrzehnte zwar ein beträchtlicherAnstieg von Vermögensanlagen imBereich der Alterssicherung erfolgte, derdazu geführt hat, dass der Anteil derAltersvermögensanlagen in Relationzum Bruttoinlandsprodukt um einVielfaches höher liegt als in Deutsch-land. Dennoch ist in diesen beidenLändern die Sparquote weder gestiegennoch höher als in Deutschland, wo dieRelation der Altersvermögensbeständezum Bruttoinlandsprodukt weitausniedriger ist.

In den Vordergrund der Argumentationhat sich an Stelle dieser Ersparnis-In-vestitions-Wachstums-Argumentations-kette eine andere Argumentation ge-schoben, und zwar die der höhe-ren „Rendite“ kapitalfundierter Alters-sicherung. Mit diesem Argument wirddann auch eine Ausweitung kapital-fundierter Alterssicherung und ein Zu-rückdrängen der Umlagefinanzierungbegründet. Allerdings werden dabeivielfach verzerrende Vergleiche ange-stellt: So wird auf der einen Seite dieprivate Alterssicherung betrachtet, aufder anderen die Sozialversicherung, dieallerdings neben der Absicherung fürden Tatbestand „Alter“ auch eine Ab-sicherung im Falle von Invalidität undfür Hinterbliebene enthält. Ein amMarkt zu kaufender Versicherungs-schutz für den Fall der Invalidität istmit beträchtlichen Kosten verbun-den. Berücksichtigt man dies nicht, so ist notwendigerweise die Rendite des umlagefinanzierten Sozialversi-

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cherungssystems niedriger als die ei-nes kapitalfundierten reinen Alters-sicherungssystems. Darüber hinausmangelt es vielfach an Transparenzüber die verschiedenen Kosten unter-schiedlicher Formen privater Alters-vorsorge. Inzwischen liegen empiri-sche Informationen für einige Ländervor, so auch für Großbritannien, dieernüchternd wirken. Vor allem wirddeutlich, welche Spannbreite an Kostensowohl hinsichtlich der Kostenarten alsauch der Höhe zu berücksichtigen ist.Erforderlich wären für sachadäqua-te Vergleiche die Berücksichtigung gleicher Risiken auf der Basis risiko-adjustierter Netto-Renditen.

Schließlich ist zu beachten, dass ein –wenngleich auch nur partieller – Über-gang von Umlagefinanzierung zur Kapitalfundierung mit Zusatzkosten ineiner Übergangszeit verbunden ist.Diese sind mit zu berücksichtigen undmindern folglich auch die Rendite, dieder Kapitalfundierung zugerechnet wer-den kann.

Ein weiterer wichtiger Gesichtspunktist folgender: Lange wurde als ein zen-traler Unterschied zwischen Umlage-finanzierung und Kapitalfundierunghervorgehoben, dass eine Umlage-finanzierung stark von der Entwicklungder Demografie abhängig sei. Dem-gegenüber wäre die Kapitalfundierungeher demografieresistent. Unbestrittenist allerdings, dass auch die steigen-de Lebenserwartung kapitalfundierteAlterssicherung verteuert. Bestrittenwurde allerdings lange Zeit, dass dieVeränderungen des Bevölkerungsauf-baus – insbesondere also die Relationzwischen der Zahl der Rentner und derZahl derjenigen, die sich in der Er-werbsphase befinden (Rentnerquo-

tient) auch für kapitalfundierte Si-cherungssysteme relevant seien. Zwarwäre mit einer relativ steigenden ZahlÄlterer zu rechnen, die dann auch Ver-mögen für die Finanzierung ihresLebensunterhalts im Alter auflösenwürden, doch wäre dies quantitativnicht von solcher Bedeutung, dass hier-durch negative Auswirkungen auf denKapitalmärkten zu befürchten wären,zumal auch Anlagen im Auslandmöglich seien. Es ist nun bemerkens-wert, dass in jüngster Zeit – nachdemder Zug überall in Richtung Kapital-fundierung rollt – warnende Stimmenaus Finanzmarktkreisen kommen, diedarauf hinweisen, dass durch die Ver-änderung des Altersaufbaus auch Rück-wirkungen über die Finanzmärk-te auf die Einkommenssituation Älte-rer zu erwarten seien. Dabei ist zubeachten, dass es ja nicht um Ent-wicklungen in einem Land allein geht,sondern um eine weltweite Tendenz zu vermehrt kapitalfundierter Alters-sicherung. Auch gibt es – so in Deutsch-land – Forderungen, zumindest Teileder Krankenversicherung (und auch derPflegeversicherung) in Zukunft überkapitalfundierte Formen abzuwickeln.Dies macht es erforderlich, dass künftigvermehrt Vermögen in der Altersphaseaufgelöst werden. Dann wird entschei-dend, welchen Wert das Vermögenzum Zeitpunkt der Auflösung tatsäch-lich hat angesichts einer schmalerenpersonellen Basis an Personen, die fürihr eigenes Alter vorsorgen.18

Zunächst aber ist zu erwarten, dass ver-mehrt anlagesuchende Liquidität aufdie Finanzmärkte strömt. Dabei ist zuberücksichtigen, dass in vielen Ländernder Staat immer weniger als Kredit-nehmer auftritt, da die politische Ten-denz zu ausgeglichenen Staatshaus-

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halten besteht. Zunehmende Liquiditätwird vermehrt an die Börse fließen undhier Aktienkurse beeinflussen. Steigen-de Aktienkurse sagen allerdings nochnichts darüber aus, ob die Produktivitätin der Volkswirtschaft steigt oder ver-mehrt Realkapital gebildet wird.

Welche Konsequenzen dies für die Al-terssicherung der für ihr Alter vorsor-genden Menschen hat – auch ange-sichts der Tatsache, dass ein gleich-gerichtetes (Herden-)Verhalten vonFinanzmarktakteuren nicht auszu-schließen ist –, das ist bislang erst inAnsätzen zu erkennen. Aber es gibt beträchtliche Quellen für Risiken inkapitalfundierten Alterssicherungs-systemen.

Im Zusammenhang mit Risiken istauch daran zu erinnern, dass nicht nur– wie oft betont – umlagefinanzierteSysteme politischen Risiken ausgesetztsind (durch Eingriffe z.B. ins Leis-tungsrecht), sondern auch kapital-fundierte Formen der Alterssicherung.Man denke allein an Auswirkungensteuerrechtlicher Entscheidungen unddie unterschiedliche Ausgestaltung vonRegulierung.

Erforderlich ist also eine Analyse freivon Wunschdenken. Allerdings exis-tieren ausgeprägte Interessen, die dementgegenstehen. Man braucht dabeinur an die verständlichen ökonomi-schen Interessen von Finanzmarkt-akteuren zu denken und an ihr be-trächtliches Potenzial zur Einfluss-nahme auf die öffentliche Meinung.Hier hätten Gesetzgeber und Regie-rungen eine wichtige Aufgabe, mög-lichst ausgewogen über Folgen undRisiken unterschiedlicher Strategien zuinformieren. Daran hat es allerdings

in Deutschland gefehlt. Der Gesetz-geber hat im Einklang mit den In-teressen der Finanzmarktakteure eineAusweitung der kapitalfundiertenAlterssicherung angestrebt und dielange Zeit gerade durch steigende Ak-tienkurse beflügelten optimistischenEinschätzungen nicht gerade gedämpft.Eine Aufklärung über die möglichenFolgen unterschiedlicher Strategien –auch die politisch präferierte – erfolgtenicht. Zu dem, was man vorschlug,gäbe es – wie erwähnt – „keine Alter-native“.

8. Entscheidungsvorbereitung in der Alterssicherungspolitik: Ein integrativer Ansatz ist erforderlich

Am Beispiel der Veränderung des Ren-tenalters wurde oben exemplarisch da-rauf hingewiesen, dass Alterssiche-rungspolitik nicht isoliert gesehen undbetrieben werden kann. Zusammen-hänge mit der Entwicklung auf demArbeitsmarkt, der Bildungspolitik, derFinanzpolitik – um nur einige wichtigeAspekte zu nennen – sind zu beachten.Zugleich ist zu beachten, dass z.B. die gesetzliche Rentenversicherung inDeutschland mit anderen Zweigen der Sozialversicherung (Kranken- undPflegeversicherung sowie Bundesanstaltfür Arbeit) in vielfältiger Weise fis-kalisch verflochten ist. Dadurch habenEntscheidungen in einem BereichRückwirkungen auf andere. Darüberhinaus bestehen enge fiskalische Ver-flechtungen mit dem Bundeshaus-halt.19

Zu berücksichtigen sind aber auch dievielfältigen Verteilungswirkungen, diemit den zu Grunde liegenden Konzep-

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tionen, Strategien und Maßnahmen der Alterssicherungspolitik verbundensind. Dabei spielt auch eine wichtigeRolle, ob und inwieweit eine demjeweiligen Aufgabenzweck adäquateForm der Finanzierung gewählt wird.Dies ist ein lange in Deutschland dis-kutiertes Thema, das im Zusammen-hang mit der deutschen Vereinigungund der Finanzierung damit ver-bundener Transferzahlungen zusätz-lich belebt wurde. Dabei spielt für diedeutsche Rentenversicherung einewichtige Rolle, dass Maßnahmen, dieder interpersonellen Einkommens-umverteilung dienen sollen und überdie Rentenversicherung (wie auch an-dere Sozialversicherungsträger) abge-wickelt werden,20 in sachadäquaterWeise insbesondere aus allgemeinenHaushaltsmitteln und nicht aus lohn-bezogenen Sozialbeiträgen finanziertwerden. Hier ist in den letzten Jahreneiniges erfolgt, um dieser VorstellungRechnung zu tragen.21 Dennoch be-steht auch hier noch Handlungsbedarf,und zwar hinsichtlich der Finanzierungder Hinterbliebenenversorgung. DennHinterbliebenenrenten werden nicht –wie früher – als Versicherungsleistungin einem bestimmten Prozentsatz derVersichertenrente berechnet, sondernerst nach einer Bedarfs- und Einkom-mensüberprüfung. In Zukunft sollendabei alle Einkünfte des überlebendenEhegatten in die Prüfung einbezogenwerden (mit Ausnahme der staatlichgeförderten Privatrente). Es handeltsich also um eine bedarfsgeprüfteTransferzahlung, für die eine Finan-zierung aus lohnbezogenen Sozialver-sicherungsbeiträgen nicht sachadäquatist. Allerdings wollen politische Partei-en, Bundesregierung wie auch Renten-versicherungsträger an diesem Themanicht rühren, allein angesichts seiner

Dimension (machen die Hinterbliebe-nenrenten doch etwa ein Fünftel allerRentenausgaben aus).22

Dass im Hinblick auf Verteilungs-effekte oftmals keine oder hierzu rela-tiv einseitige Informationen in der öf-fentlichen Diskussion eine Rolle spie-len, wird im Zusammenhang mit derstaatlichen Förderung privater Vorsorgedeutlich. Zwar wird immer wieder da-rauf hingewiesen, dass der Staat die pri-vate Vorsorge fördere, ja es wird oftmalsdavon gesprochen, der Staat „schenke“dem Bürger etwas. Allerdings müssensolche Geschenke finanziert werden.Das heißt aber, wer trägt zur Finan-zierung der Förderung der privaten Vor-sorge bei? Beachtet man, dass die De-ckung zusätzlicher Staatsausgaben ineinem Bereich – erfolgt sie nicht durcheine Senkung anderer Ausgaben – im-mer stärker aus dem Aufkommen indi-rekter Steuern erfolgt, dann werdendavon alle Haushalte und tendenziellbesonders ausgeprägt Haushalte im un-teren Einkommensbereich sowie großeHaushalte betroffen. Auf der anderenSeite ist zu fragen, wer die Förderunggegebenenfalls nicht in Anspruchnimmt. Dies können gleichfalls Haus-halte im unteren Einkommensbereichsein, die sich ein zusätzliches Sparen –trotz Verminderung der Netto-Vor-sorgeaufwendungen für sie selbst durchdie Förderung – nicht leisten können.Oder es sind Haushalte, die verschuldetsind und im Zweifel eine höhere Ent-lastung dadurch erzielen, wenn sie sichentschulden, statt zusätzlich in anderenFormen zu sparen. Sollte es nun so sein,dass gerade im unteren Einkommens-bereich die Inanspruchnahme der För-derung unterproportional ist, dagegendie Zahllastverteilung der Finanzierungangesichts verstärkten Einsatzes indi-

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Leider liegt allerdings oft die Vermu-tung nahe, dass zu viel Transparenzvon politischen Entscheidungsträgernnicht so sehr geschätzt wird. So fehlt esja auch bis heute in Deutschland aneiner umfassenden Verteilungsbericht-erstattung (trotz vieler bereichsbezo-gener Einzelberichte) wie auch an ei-nem unabhängigen Gremium, dasregelmäßig eine Analyse der Vertei-lungssituation vorlegt. Da zu erwartenist, dass bald wieder intensive Dis-kussionen über die Zukunft der Al-terssicherung in Deutschland ausgelöstwerden, wäre es überaus wünschens-wert, wenn auch diese grundsätzlichenAspekte Aufmerksamkeit finden wür-den. Doch klaffen hier Wunsch undWirklichkeit recht weit auseinan-der.

Gerade im Zusammenhang mit Fragender Alterssicherung ist von großer Be-deutung, dass politischem Handeln einKonzept zu Grunde liegt – also nichtpurer Pragmatismus regiert – und dassdieses wie auch die Implikationen derdamit verbundenen Entscheidungender Bevölkerung in verständlicherWeise vermittelt werden. Die politi-schen Entscheidungsträger solltendabei Fragen der Alterssicherung nichtisoliert, sondern in ihren Verknüpfun-gen mit anderen Politikfeldern behan-deln. Im Interesse älterer und vor allemauch jüngerer Menschen sollten sie sichdarum bemühen, Fragen der Alters-sicherung möglichst weitgehend imKonsens zu entscheiden, um dadurchwieder ein relativ hohes Maß an Kon-tinuität zu erreichen und Vertrauenzurückzugewinnen. Denn auf Ver-trauen basiert jede Form der Alters-sicherung – nur dann wird sich einAlterssicherungssystem als „zukunfts-fähig“ erweisen.

rekter Abgaben dort beträchtlich belas-tend wirkt, so könnten sich hierausneue Verteilungsprobleme ergeben.

Zudem ist generell zu erwarten, dass die Ausweitung privater Vorsorge, ver-bunden mit sich ändernden Erwerbs-biografien und einer Reduktion desLeistungsniveaus in gesetzlichen Alters-sicherungssystemen, zu einer größerenDifferenzierung von Einkommen imAlter führen wird. Die Entwicklung inGroßbritannien macht dies exempla-risch deutlich, auch wenn die dortigeSituation nicht einfach auf Deutsch-land übertragen werden kann. Aber eswird sorgfältig zu prüfen sein, ob nichtdurch eine veränderte Strategie in dersozialen Sicherung – und speziell in derAlterssicherung – neue politische Her-ausforderungen erwachsen.

Eine wichtige Frage bleibt auch, welch-es Absicherungsniveau im Alter an-gestrebt werden und in welcher Kom-bination durch welche Formen derAlterssicherung dies realisiert werdensoll. Für die Höhe als erforderlich ange-sehener Alterseinkünfte spielen nichtzuletzt auch die Regelungen in anderenSozialleistungsbereichen wie Kranken-und Pflegeversicherung eine großeRolle. Wird z.B. das Leistungsniveau derPflegeversicherung immer weiter realsinken angesichts fehlender oder un-zulänglicher Dynamisierung der Leis-tungen bei steigenden Pflegekosten, soist immer mehr Einkommen erforder-lich zur Deckung der „Finanzierungs-lücke“, sei es aus dem Einkommen und/oder Vermögen der Privathaushalte oder– wie vor Einführung der Pflegeversi-cherung – durch die Sozialhilfeträger.23

Inzwischen deutet sich an, dass eswieder zu einem Anstieg der sozialhil-febedürftigen Pflegefälle kommt.

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Winfried Schmähl126

Anmerkungen* Eine detaillierte Analyse des Fragenkom-

plexes findet sich in Schmähl, Winfried:Umlagefinanzierte Rentenversicherung inDeutschland – Optionen und Konzeptesowie politische Entscheidungen als Ein-stieg in einen grundlegenden Transfor-mationsprozess, in: Winfried Schmähl/Volker Ulrich (Hrsg.), Soziale Sicherungs-systeme und demografische Herausfor-derungen, Tübingen 2001, S.123–204.Darüber hinaus basieren die hier dar-gestellten Überlegungen zum Teil auf ananderer Stelle veröffentlichten Analysen.

1 Vgl. hierzu ergänzend die Darstellung inSchmähl, Winfried: Beiträge zur Reformder Rentenversicherung, Tübingen 1988.

2 In der Beamtenversorgung kommt alswichtiges strukturelles Element hinzu,dass in der Vergangenheit die Zahl derBeamten erheblich ausgeweitet wurde.

3 Siehe hierzu Schmähl, Winfried: Die„offene Koordinierung“ im Bereich derAlterssicherung – aus wirtschaftswis-senschaftlicher Sicht, in: Verband Deut-scher Rentenversicherungsträger u.a.(Hrsg.), Offene Koordinierung der Al-terssicherung in der Europäischen Union,DRV-Schriften, Bd.34, Frankfurt/M. 2002, S.108–121.

4 Siehe dazu jetzt ausführlich Achenbach,Volker u.a.: Die Erwerbsminderungsren-te – Grundsätze der gesetzlichen Ren-tenversicherung, in: Deutsche Renten-versicherung, S.81–213.

5 Näheres bei Schmähl, Winfried: Um-lagefinanzierte Rentenversicherung inDeutschland – Optionen und Konzeptesowie politische Entscheidungen als Ein-stieg in einen grundlegenden Transfor-mationsprozess, in: Winfried Schmähl/Volker Ulrich (Hrsg.), Soziale Sicherungs-systeme und demografische Heraus-forderungen, Tübingen 2001, S.123–204.Zu vielen Facetten der Alterssicherungvon Frauen siehe die Beiträge in Schmähl,Winfried/Michaelis, Klaus (Hrsg.): Alters-sicherung von Frauen, Wiesbaden 2000.

6 Zu Neureglungen in der betrieblichen Al-terssicherung siehe u.a. Bundesministe-rium für Arbeit und Sozialordnung: Be-triebliche Altersvorsorge, Berlin 2002.

7 Zu dieser als Alternative zur Nettoan-passung entwickelten Formel (die durcheine veränderte Besteuerung von Alters-einkünften ergänzt werden sollte) sieheSchmähl, Winfried: Die Nettoanpassungder Renten „auf dem Prüfstand“: Für eineModifizierung der Nettoanpassung undfür einen Übergang zu einer „lohn- und

beitragsbezogenen“ Anpassungsformel,in: Deutsche Rentenversicherung, S.494–507.

8 Zur Kritik an dieser Formel und einemschon jetzt festgelegten nach 2010 ein-tretenden Bruch in der Formel sieheSchmähl, Winfried: Plädoyer für eine ein-heitliche und verständliche Renten-formel, in: Sozialer Fortschritt, Jg. 50, S.2–6.

9 Das heißt nicht, dass dann Sozialhilfe-bedürftigkeit eintritt, denn Sozialhilfe-zahlungen sind bedürftigkeitsgeprüft,berücksichtigen also auch andere Einkün-fte und den Haushaltszusammenhang.

10 Siehe dazu Korpi, Walter/Palme, Joakim:The Paradox of Redistribution and Strate-gies of Equality: Welfare State Institution,Inequality and Poverty in the WesternCountries, Institutet för Social Forskning,Working Paper 3/1997, Universitet Stock-holm.

11 Auf die Sinnhaftigkeit solcher Rendite-vergleiche wird hier nicht eingegangen;vgl. dazu Viebrok, Holger/Dräther, Hen-drik: Alterssicherung auf der Grundlagevon Sicherheit, Rendite und sozialer Ver-antwortung, Schriftenreihe GVG, Bd.12,Berlin 1999.

12 Bundesverfassungsgericht: Urteil desZweiten Senats vom 6. März 2002 – 2 BvL17/99 –, http://www.bverfg.de

13 Ausführlich ist dies begründet inSchmähl, Winfried: Beiträge zur Re-form der Rentenversicherung, Tübingen1988. Für eine aktuelle Äußerung vorVeröffentlichung des Urteils des Ver-fassungsgerichts Schmähl, Winfried: DiePolitik wird sich nicht mehr vornehmzurückhalten können, in: Handelsblatt,6.3.2002.

14 Siehe als ein Beispiel aus jüngerer ZeitSchmähl, Winfried: Referat auf demDeutschen Juristentag, in: Verhandlun-gen des 62. Deutschen Juristentages Bre-men 1998, Bd. II/1 Sitzungsberichte,München 1999, S.K 51– K 77.

15 Vgl. zu älteren Arbeitnehmern u.a.50plus: Erfahren, erfolgreich, aber ohneChance auf dem Arbeitsmarkt, PolitischeStudien 52. Jg., Sonderheft 2/2001;Schulz, James H.: Zur Fortentwicklung des Konzepts des „Ruhestandes“: EinBlick auf das Jahr 2050, in: InternationaleRevue für Soziale Sicherheit 2002, Bd.55,S.99–124.

16 Siehe dazu Schmähl, Winfried: Migrationund soziale Sicherung – Über die Not-wendigkeit einer differenzierten Betrach-

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Sozialversicherungsträgern – Elementeeiner Bestandsaufnahme und einige Reformüberlegungen, in: Klaus-DirkHenke/Winfried Schmähl (Hrsg.), Fi-nanzierungsverflechtung in der SozialenSicherung – Analyse der Finanzierungs-ströme und -strukturen, Baden-Baden2001, S.9–37.

20 In der öffentlichen Diskussion spielt diesoft unter dem vielfach irreführenden Be-griff der „versicherungsfremden Leistun-gen“ eine Rolle.

21 Siehe dazu die Analyse in Schmähl, Win-fried: Änderung der Finanzierungsstruk-tur der sozialen Sicherung und insbeson-dere der Sozialversicherung als wichtigesElement eines „Umbaus“ des deutschenSozialstaats, in: Richard Hauser (Hrsg.)u.a., Reform des Sozialstaats I, Arbeits-markt, soziale Sicherung und sozialeDienstleistungen, Berlin 1997, S.121–167.

22 Das Thema, das der Verfasser schon vor vielen Jahren aufgegriffen hatte(Schmähl, Winfried: Neuregelung derHinterbliebenenversorgung in länger-fristiger Perspektive, in: Deutsche Renten-versicherung 1985, S.288–296), findetjetzt auch Erwähnung im Schlussberichtder Enquête-Kommission „Demografi-scher Wandel“ des Deutschen Bun-destages.

23 Siehe hierzu – mit weiteren Verweisen –Schmähl, Winfried: Pflegeversicherung inDeutschland: Finanzbedarf und Finanz-verflechtung. Empirische Befunde und of-fene Fragen, in: Allgemeines StatistischesArchiv – Zeitschrift der Deutschen Statis-tischen Gesellschaft 1999, 83. Band, S.5–26.

tung: das Beispiel der gesetzlichen Kran-ken- und Rentenversicherung, in: Ham-burger Jahrbuch für Wirtschafts- undGesellschaftspolitik 40. Jahr 1995, S.247–271.

17 Vgl. Schmähl, Winfried: Vermögensan-sammlung für das Alter im Interessewirtschafts- und sozialpolitischer Ziele –Begründungen und Realisierungsmög-lichkeiten vor dem Hintergrund der künf-tigen Bevölkerungsentwicklung, in: KlausSchänke/Winfried Schmähl (Hrsg.),Alterssicherung als Aufgabe für Wissen-schaft und Politik – Helmut Meinholdzum 65. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1980, S.379–406.

18 Siehe zum Vergleich der Finanzierungs-verfahren und das Bemühen um eine aus-gewogenere Sicht Schmähl, Winfried:Zum Vergleich von Umlageverfahren undkapitalfundierten Verfahren zur Finan-zierung einer Pflegeversicherung in derBundesrepublik Deutschland, Schriften-reihe des Bundesministeriums für Familieund Senioren Band 10, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S.1–59 und Schmähl, Win-fried: Pay-As-You-Go Versus Capital Fund-ing: Towards a More Balanced View inPension Policy – Some Concluding Re-marks, in: Gerard Hughes/Jim Stewart(Hrsg.), Pensions in the European Union:Adapting to Economic and SocialChange, Boston/Dordrecht/London 2000,S.195–208.

19 Eine ausführliche Analyse findet sich inSchmähl, Winfried: Finanzverflechtungder gesetzlichen Rentenversicherung: in-terner Finanzausgleich und Finanzbe-ziehungen mit dem Bund sowie anderen

Weiterführende LiteraturBundesverfassungsgericht (2002): Bun-desverfassungsgericht, Urteil des ZweitenSenats vom 6. März 2002 – 2 BvL 17/99 –,http://www.bverfg.de/Schmähl, Winfried: Das Gesamtsystem der

Alterssicherung, in: Jörg-E. Cramer/WolfgangFörster/Franz Ruland (Hrsg.), Handbuch zurAltersversorgung (Fritz-Knapp), Frankfurt/Main 1998, S.59–83.

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Politische Studien, Sonderheft 2/2002, 53. Jahrgang, Juli 2002

Der absehbare demografische Wandelwird in den nächsten Jahrzehnten merk-liche Beitragssatzerhöhungen in der Ge-setzlichen Krankenversicherung (GKV)erzwingen, wenn das hohe Versor-gungsniveau gehalten und wie bisher imUmlageverfahren finanziert werden soll.Demografisch bedingte Beitragssatz-erhöhungen wären jedoch nach einerjüngst vorgelegten Berechnung durcheine ergänzende kapitalgedeckte Fi-nanzierung der GKV vermeidbar.1

1. Beitragssatzexplosion in der GKV

Neuere Schätzungen kommen unterexpliziter Berücksichtigung des medi-zintechnischen Fortschritts ziemlicheinhellig zu dem Besorgnis erregendenErgebnis, dass etwa vom Jahr 2010 an merklich steigende Beitragssätze er-forderlich sein werden, um die demo-grafiebedingt wachsende Lücke zwi-schen Einnahmen und Ausgaben in der GKV zu schließen. Für das Jahr2040 wird mit einem GKV-durch-schnittlichen allgemeinen Beitragssatz

zwischen 20 und 34 v.H. gerechnet. Hierbei handelt es sich freilich um„Status-quo-Prognosen“, die von denaktuellen Rahmenbedingungen aus-gehen und weder die Reaktionen derVersicherten, Krankenkassen und Leis-tungserbringer noch die der Gesund-heitspolitik auf die künftige Beitrags-satzdynamik einbeziehen.

Die jüngsten, noch vergleichsweisemoderaten Beitragssatzerhöhungenhaben die Diskussion über grundsätz-liche Reformoptionen für das GKV-System wiederbelebt: So wird einerseitspropagiert, die Trennung zwischenGKV und privater Krankenversicherung(PKV) aufzuheben und zu einer kapi-talgedeckten Finanzierung durch ge-schlechtsgleiche Kopfprämien überzu-gehen; andererseits wird gefordert, denGKV-Leistungskatalog mehr oder we-niger drastisch einzuschränken und dieherausfallenden Leistungen der priva-ten Vorsorge anheim zu stellen; undschließlich wird auch daran gedacht,die Finanzierungsbasis der GKV durchEinbeziehung anderer Einkunftsartenmerklich zu verbreitern.

Alterungsrückstellungen gegen demografisch bedingte

Beitragssatzexplosion in der Gesetzlichen

Krankenversicherung?

Dieter Cassel/Veit Oberdieck

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Alterungsrückstellungen gegen Beitragssatzexplosion in der GKV 129

Derartige Vorschläge zielen auf einenSystembruch, widersprechen dem So-lidarprinzip oder reichen bei weitemnicht aus, die zu erwartende Beitrags-satzexplosion in der GKV abzuwenden.Es ist deshalb nahe liegend zu fragen,ob nicht im Rahmen des bestehendenGKV-Systems der Demografieeffekt aufden Beitragssatz durch eine das Um-lageverfahren ergänzende kapitalge-deckte Finanzierung ausgeglichen undinsoweit Beitragssatzstabilität gewähr-leistet werden kann.

2. Demografiereserve undBeitragssatzstabilität

Als „Pate“ für das hier angedachteKonzept einer „Kapitaldeckung in derGKV“ steht die PKV mit ihrer Bildungvon Alterungsrückstellungen nach demAnwartschaftsdeckungsverfahren: Umdie mit dem Alter steigende Inan-spruchnahme von Gesundheitsleis-tungen auszugleichen und keine alters-bedingten Prämienerhöhungen vor-nehmen zu müssen, führen die priva-ten Krankenversicherungen einen Teilder Prämieneinnahmen ihrer jüngerenVersicherten einer zu verzinsenden Al-terungsrückstellung zu. Aus ihr werdenDeckungsbeiträge zugesetzt, sobald diemit dem Alter zunehmenden Pro-Kopf-Ausgaben die altersabhängig nichtsteigenden Prämien dieser Versichertenüberschreiten.

Analog dazu könnten in der GKV dieBeitragssätze in den nächsten Jahrenum jeweils kasseneinheitliche „Beitrags-satzaufschläge“ angehoben werden, umaus den daraus zu erzielenden Mehr-einnahmen einen Kapitalstock als „De-mografiereserve“ zu bilden. Diese wäreebenfalls verzinslich anzulegen und

dann den Beitragseinnahmen der GKVwieder zuzusetzen, sobald die aus-gabendeckenden Beitragssätze demo-grafisch bedingt steigen und eine ge-sundheitspolitisch zu setzende Tole-ranzschwelle überschreiten.

Die damit verfolgte Absicht ist somit,zur nachhaltigen Wahrung der Bei-tragssatzstabilität in der GKV dadurchbeizutragen, dass alterungsbedingteAusgabensteigerungen nach Ablauf der„demografischen Schön-Wetter-Pe-riode“ im zweiten Jahrzehnt diesesJahrhunderts durch Rückgriff auf einenzuvor gebildeten Kapitalstock finanziertwerden könnten. Wie weit müsstenaber die Beitragssätze angehoben wer-den, um eine ausreichend große De-mografiereserve bilden zu können? Abwelchem Zeitpunkt müssen Deckungs-beiträge aus dem Kapitalstock zugesetztwerden, um den Demografieeffekt aufdie Beitragssätze auszugleichen? Wiehoch sind die dazu erforderlichenDeckungsbeiträge und Rückstellungen?Und schließlich: Wie entwickeln sichalle diese Größen bei unterschiedlicherVerzinsung?

Diese Fragen wurden anhand von Si-mulationen für den Zeitraum von 2003bis 2040 untersucht, um die Idee einerKapitaldeckung in der GKV nicht vonvornherein dem Verdikt einer empi-risch nicht belegbaren Utopie auszu-setzen. Dabei hängen die Simula-tionsergebnisse naturgemäß davon ab,welche Beitragssatzentwicklung bis2040 unterstellt wird. Um die mögliche„Spannbreite“ aufzeigen zu können,wurden zwei valide Status-quo-Prog-nosen aus neuerer Zeit ausgewählt, dieauf Grund unterschiedlicher Metho-den und Annahmen zu einer starkdivergierenden Einschätzung der Bei-

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tragssatzdynamik gelangen: Nach ei-ner eher „pessimistischen“ Schätzung(Oberdieck-Prognose aus dem Jahr1998) steigt der Beitragssatz im Zeit-raum von 2003 bis 2040 von 13,9 v.H.auf 31,2 v.H., nach einer eher „opti-mistischen“ (Hof-Prognose aus demJahr 2001) von 14,5 v.H. auf 20,5 v.H.

3. Simulationsergebnisse

Der durch Kapitalbildung und -auf-lösung auszugleichende Demografie-effekt setzt sich aus Ausgaben- und Fi-nanzierungseffekt zusammen: Erstererzeigt sich in einem wachsenden nega-tiven Saldo von Beitragseinnahmenund Leistungsausgaben in der KVdR,der aus den Beitragseinnahmen derAKV zu decken ist (KVdR-Subventions-last); Letzterer ergibt sich daraus, dassdiese steigende Subventionslast de-mografiebedingt von immer wenigererwerbstätigen AKV-Mitgliedern ge-schultert werden muss. Der sich ausbeiden Effekten ergebende „Subven-tionsbedarf“ der KVdR beträgt schonjetzt etwa 5,5 Beitragssatzpunkte undwird sich nach der Oberdieck-Prognosebis 2040 auf stattliche 23,8 Prozent-punkte erhöhen. Das hier berechneteKapitaldeckungsmodell soll diesenAnstieg vermeiden, aber nicht zusätz-lich den derzeit bereits bestehendenSubventionsbedarf der KVdR decken.

Im Falle der Hof-Prognose würde ein abdem Jahr 2003 auf 15,9 v.H. heraufge-setzter Beitragssatz ausreichen, um denDemografieeffekt bis zum Jahr 2040auszugleichen und insoweit über 37Jahre hinweg Beitragssatzstabilität zuGewähr leisten. Bei einer – empirischgesehen freilich sehr niedrigen – jahres-durchschnittlichen Rendite von 4 v.H.

würde im Jahr 2040 sogar noch einRestkapital von 57,3 Mrd. Euro ver-bleiben, das in der Größenordnung derderzeitigen PKV-Alterungsrückstellungliegt. Unterstellt man die wesentlichpessimistischere Oberdieck-Prognose,müsste der Beitragssatz ab dem Jahr2003 auf 17,3 v.H. angehoben wer-den, um den Demografieeffekt beieinem Renditeniveau von 4 v.H. auszu-gleichen.

Wie sich die Beitragssätze in beidenPrognosevarianten entwickeln, wird ausder Abbildung ersichtlich: Nach derHof-Prognose wächst der Beitragssatzunter Status-quo-Bedingungen von14,5 v.H. in 2003 erst moderat undsteigt dann ab dem Jahr 2010 stärkeran, bis er in 2040 die 20,5-Prozent-Marke erreicht. Solange der ausga-bendeckende Beitragssatz noch unterdem zu erhebenden Satz von 15,9 v.H.bleibt, kann der Demografiereserve derTeil der Beitragseinnahmen zugeführtwerden, der nicht zur Deckung derlaufenden Leistungsausgaben benö-tigt wird. Hinzu kommt noch diejährliche Verzinsung, sodass der Ka-pitalstock anfänglich stark zunimmt.Erst ab dem Jahr 2017 wird es erfor-derlich, den laufenden Beitragsein-nahmen Deckungsbeiträge zu Las-ten der Demografiereserve zuzuführen.Dennoch wächst der Kapitalstock we-gen der Verzinsung weiter an und er-reicht bei einer unterstellten Renditevon 4 v.H. p.a. erst im Jahr 2027 seinMaximum. Danach nimmt er rasch ab,weil die zum Ausgleich des Demo-grafieeffektes erforderlichen Deckungs-beiträge beschleunigt steigen.

Legt man die wesentlich pessimisti-schere Oberdieck-Prognose zu Grunde,ergibt sich tendenziell das gleiche Bild

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Alterungsrückstellungen gegen Beitragssatzexplosion in der GKV 131

– wenn auch mit deutlich unterschied-lichen Größenordnungen. Wie die Ab-bildung zeigt, liegt der Beitragssatz2003 mit 13,9 v.H. niedriger als in derHof-Prognose, erreicht aber 2040 mit31,2 v.H. einen wesentlich höherenEndwert. Dementsprechend müssteauch der zum Ausgleich des Demo-grafieeffektes erforderliche Beitragssatzab dem Jahr 2003 vergleichsweise starkauf 17,3 v.H. angehoben werden, umbis zum Jahr 2018 eine hinreichend

große Demografiereserve aus Beitrags-überschüssen bilden zu können. In-teressanterweise müssen nach dieserVariante erst ab dem Jahr 2019 De-ckungsbeiträge aus der Demografie-reserve zugesetzt werden, sodass derKapitalstock ebenfalls im Jahr 2027 seinMaximum erreicht. Allerdings ist dannmit 724,1 Mrd. Euro ein nahezu dreiMal so großer Kapitalstock wie in deroptimistischen Prognose erforder-lich.

Beitragssatzentwicklung mit und ohne Ausgleich des Demografieeffektes in alternativen Beitragssatzprognosen im Zeitraum von 2003–2040

Beitragssätze nach der Oberdieck-Prognose (von 13,9 v.H. auf 31,2 v.H. bzw. konstant 17,3 v.H.).Beitragssätze nach der Hof-Prognose (von 14,5 v.H. auf 20,5 v.H. bzw. konstant 15,9 v.H.).

4. GKV-Kapitaldeckung ist machbar

Diese Simulationsergebnisse verbietenes, eine ergänzende kapitalgedeckte Fi-nanzierung der GKV leichtfertig in dasReich der Utopie zu verweisen. Immer-hin decken die zu Grunde gelegtenBeitragssatz- und Renditeszenarien einerealistische Spannbreite ab; die ab 2003erforderliche Beitragssatzanhebung wä-re an der bisherigen Beitragssatzent-

wicklung gemessen keineswegs exorbi-tant und der zu bildende Kapitalstockläge auch nicht völlig außerhalbgesamtwirtschaftlich realisierbarer Di-mensionen:

● Alle neueren Beitragssatzprognosengehen von einem unter Status-quo-Bedingungen unvermeidlichen Bei-tragssatzanstieg aus, der sich ab demnächsten Jahrzehnt demografischund medizintechnisch bedingt er-

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heblich beschleunigen wird. Un-sicher ist allerdings das quantitativeAusmaß der zu erwartenden jähr-lichen Beitragssatzerhöhungen. Diehier verwendeten Prognosealterna-tiven lassen sich als „best-case-“ und „worst-case-“Szenarios interpre-tieren.

● Das Gleiche gilt hinsichtlich des un-terstellten Renditespektrums. Zwarkalkuliert die PKV ihre Alterungs-rückstellungen mit einer gesetzlichvorgeschriebenen Mindestrendite inHöhe von 3,5 v.H., doch liegt dietatsächlich erzielte Nominalverzin-sung mehr als doppelt so hoch.Auch gemessen an der erzielba-ren Verzinsung des Deckungsstocksdeutscher Lebensversicherungendürfte man mit der unterstelltenRenditespanne von 3,5 v.H. bis 4,5v.H. langfristig auf der „sicherenSeite“ sein.

● Um eine ausreichende Demogra-fiereserve bilden zu können, müssteder GKV-Beitragssatz im Jahr 2003nach der Hof-Prognose um 1,4 Pro-zentpunkte auf 15,9 v.H. bzw. um3,4 Prozentpunkte auf 17,3 v.H.nach der Oberdieck-Prognose ange-hoben werden. Im Vergleich zu denaktuellen Beitragssatzerhöhungen,die sich im GKV-Durchschnitt aufüber einen halben Prozentpunkt be-laufen, dürfte dies kein unange-messen „hoher Preis“ für die da-nach über vier Jahrzehnte möglicheBeitragssatzstabilität sein.

● Auch der maximal erforderlicheUmfang der Demografiereserve(259,0 Mrd. Euro bzw. 724,1 Mrd.Euro) relativiert sich, wenn man diederzeitige Alterungsrückstellung in

der PKV in Höhe von 59,55 Mrd.Euro zum Vergleich heranzieht: Wä-re für alle GKV-Versicherten einegleich hohe Alterungsrückstellungpro Kopf wie in der PKV gebildetworden, beliefe sich der Kapital-stock derzeit auf rd. 600 Mrd. Euround läge damit „nur“ etwa 124Mrd. Euro unter der in der „pessi-mistischen“ Prognosevariante ma-ximal erforderlichen Demografie-reserve.

Die hier vorgestellte ergänzende Ka-pitaldeckung wäre zudem mit dembestehenden GKV-System völlig kom-patibel: Weder verstieße sie gegen dasGKV-konstitutive Solidarprinzip, nochwürden grundsätzlich systemwidrigeElemente in die umlagefinanzierte GKVeingeführt. So wäre die Demografie-reserve nicht aus risikoäquivalentenPrämien zu dotieren, sondern aus Zu-führungen, die einkommenspropor-tional nach dem Umlageverfahrendurch kasseneinheitliche Aufschlägeauf die jeweils ausgabendeckendenBeitragssätze aufzubringen wären. Dem-entsprechend würde sich die ergän-zende kapitalgedeckte Finanzierung„selbst tragen“ und bedürfte keinerzusätzlichen steuerfinanzierten Sozial-transfers.

Zu diskutieren bliebe freilich, ob dieDemografiereserve paritätisch finan-ziert werden sollte. Um die Lohnzu-satzkosten nicht zu erhöhen, müssteder Beitragssatzaufschlag allein von den GKV-Mitgliedern getragen werden.Ohnehin wird zunehmend gefordert,die Arbeitgeberbeiträge abzuschaffenoder zumindest festzuschreiben. Füreine nicht paritätische Finanzierung der Demografiereserve spricht, dass esgrundsätzlich nicht Sache der Arbeit-

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Alterungsrückstellungen gegen Beitragssatzexplosion in der GKV 133

geber sein kann, die finanziellen Fol-gen des demografischen Wandels aufdie sozialen Sicherungssysteme mitzu-tragen.

Für das Konzept einer umlagefinan-zierten ergänzenden Kapitaldeckung inder GKV spricht schließlich auch, dassder wettbewerblich erwünschte Kas-senwechsel – und damit die materielleKassenwahlfreiheit – nicht beeinträch-tigt würden: Weder entstünde ein in-dividueller Anspruch auf die Demo-grafiereserve, noch hätte die „Nicht-mitgabe“ von Kapitalstockanteilenbeim Kassenwechsel negative wirt-schaftliche Folgen für das wechselndeGKV-Mitglied.

5. 2040 – und was dann?

Das hier vorgestellte Konzept scheintjedoch einen gravierenden „Haken“ zu haben: Die Simulation ist metho-disch so angelegt, dass jener Beitrags-satz berechnet wird, der bis zum Jahr2040 durch Bildung und Auflösung der Demografiereserve konstant ge-halten werden könnte. Ist der Kapital-stock aber verbraucht, müsste derBeitragssatz unter Status-quo-Be-dingungen auf sein dann ausgaben-deckendes Niveau – d.h. von 15,9 v.H.auf 20,5 v.H. (Hof-Prognose) bzw. von 17,3 v.H. auf 31,2 v.H. (Oberdieck-Prognose) – angehoben werden. Mankönnte somit in der ergänzen-den Kapitaldeckung eine trügerischeScheinlösung sehen. Es gibt jedoch eine ganze Reihe empirischer Sach-verhalte und politischer Handlungs-möglichkeiten, welche die Demogra-fiereserve als tragfähige Reformoptionauch über das Jahr 2040 hinaus er-scheinen lassen:

● So könnte die Beitragssatzdynamikdurch eine Verkürzung der Ausbil-dungs- und Studienzeiten, ein hö-heres Renteneintrittsalter, mehr Zu-wanderung qualifizierter Erwerbs-personen und ein erhöhtes Produk-tivitätswachstum deutlich abgemil-dert und damit die Reichweite desKapitalstocks erheblich verlängertwerden.

● Den gleichen Effekt hätten Leis-tungskürzungen in der GKV, die Er-schließung von Wirtschaftlichkeits-reserven, die Verbreiterung der Bei-tragsbemessungsgrundlage oder dieBegrenzung der beitragsfreien Mit-versicherung von Familienangehö-rigen.

● In der Simulation wird alternativmit Renditen gerechnet, die weitunter der dauerhaft erzielbaren Ver-zinsung von Deckungsstöcken inder privaten Assekurranz liegen. Ei-ne auf Dauer erzielbare Verzinsungvon 5 bis 6 v.H. würde die Reich-weite des Kapitalstocks um Jahr-zehnte in die Zukunft verschieben.

● Weil sich die Gesundheitspolitik„Beitragssatzstabilität“ als prioritäresZiel gesetzt hat, wurde auch dieSimulation auf einen im Zeitablaufkonstanten Beitragssatz hin ange-legt. Praktisch wäre es auch mög-lich, den erhobenen Beitragssatzvon Jahr zu Jahr steigen zu lassen,seine Steigerungsrate jedoch deut-lich unterhalb der des ausgaben-deckenden Beitragssatzes zu halten.

Insgesamt gesehen erscheint es an-gesichts der aufgezeigten Handlungs-optionen möglich, einen „Beitrags-satzsprung“ in ferner Zukunft zu ver-meiden. Ohnehin wäre es nach denErfahrungen mit der GesetzlichenRentenversicherung naiv anzunehmen,

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dass über einen so langen Zeitraumkein wirtschafts- und gesundheits-politischer Handlungsbedarf besteht.Tatsächlich bestünde die Aufgabe derPolitik darin, die Beitragssatz- undKapitalstockentwicklung ständig zubeobachten, die Status-quo-Prognosenbei sich ändernden Daten anzupassenund fortzuschreiben sowie gegebenen-falls Maßnahmen zu ergreifen, welchedie zeitliche Reichweite der Demo-grafiereserve erhöhen und einen Bei-

tragssatzsprung verhindern.

Die weitere Beitragssatzentwicklungabzuwarten und gegebenenfalls nurkosmetisch zu reagieren, hieße freilich,die Chance zu verpassen, unter denjetzt noch relativ günstigen demo-grafischen Bedingungen einen hinrei-chenden Kapitalstock aufzubauen, derwirksamen Schutz vor der künftig her-einbrechenden Flut der „age wave“bieten könnte.

Anmerkung1 Siehe hierzu ausführlicher Cassel, D./Oberdieck, V.: Kapitaldeckung in der Gesetzlichen

Krankenversicherung, in: Wirtschaftsdienst, 82.Jg., Heft 1, Januar 2002, S.15–21.

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Politische Studien, Sonderheft 2/2002, 53. Jahrgang, Juli 2002

1. Entwicklung des Bevölke-rungsaufbaus in denkommenden Jahrzehnten

In der Bundesrepublik Deutschlandleben heute ca. 82 Millionen Men-schen. Von diesen sind 18.5 Millionen(= 22.5%) 60 Jahre und älter, 3.2 Mil-lionen (= 3.9%) 80 Jahre und älter. Diedurchschnittliche Lebenserwartung be-trägt heute für weibliche Neugeborene80.4 Jahre, für männliche Neugeborene74.3 Jahre. 65-jährige Frauen habeneine durchschnittliche Lebenserwar-tung von 18.5 Jahren, 65-jährige Män-ner von 14.7 Jahren, 80-jährige Frauenvon 8 Jahren, 80-jährige Männer von6.5 Jahren. Die 9. Koordinierte Bevöl-kerungsvorausberechnung des Statis-tischen Bundesamtes1 gibt Auskunftüber die nach gegenwärtigem Kennt-nisstand zu erwartende Entwicklungder Altersstruktur:2 Heute sind 22.5%der Bevölkerung 60 Jahre und älter,56.1% zwischen 20 und 60 Jahren, 21.4% jünger als 20 Jahre. Im Jah-re 2050 werden – unter der Bedin-gung eines Zuwanderungssaldos von200.000 Personen – 36% der Bevöl-kerung 60 Jahre und älter, 47.7% zwi-schen 20 und 60 Jahren, 16.3% jün-ger als 20 Jahre sein. Zugleich wird sichdie Gesamtbevölkerung von heute

82.0 Millionen Menschen auf 77.7 Mil-lionen im Jahre 2030 und auf 69.9 Mil-lionen im Jahre 2050 verringern. Unterder Bedingung, dass diese Vorausbe-rechnungen zutreffen, wird sich der Al-tersaufbau der Bevölkerung zwischen1950 und 2050 bei einer nahezu iden-tischen Bevölkerungszahl umgekehrthaben: Waren 1950 etwa doppelt soviele Menschen unter 20 Jahre wie über59 Jahre alt, so wird es im Jahre 2050mehr als doppelt so viele ältere wie jün-gere Menschen geben.

Die Veränderungen im Bevölkerungs-aufbau spiegeln sich auch in demAltenquotienten wider, der die Relationzwischen der erwerbstätigen Bevölke-rung einerseits und der nicht mehr er-werbstätigen Bevölkerung andererseitswieder gibt. Dieser wird der Bevölke-rungsvorausberechnung zufolge biszum Jahre 2050 um ca. 60% zuneh-men. Diese Zunahme veranschaulichtin besonderer Weise die materiellen An-forderungen, die in Zukunft auf dassoziale Sicherungssystem zukommenwerden.

Für Fragen der medizinischen undpflegerischen Versorgung ist die demo-grafische Entwicklung insbesonde-re in den höchsten Altersgruppen von

Demografische Umgestaltung der Gesundheitsversorgung

Andreas Kruse

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besonderer Bedeutung, da in diesen das Risiko chronischer Erkrankungensowie des Hilfe- und Pflegebedarfs er-heblich zunimmt. Für die kommendenJahrzehnte sagt das Statistische Bundes-amt3 gerade in der Gruppe der 80-jäh-rigen und älteren Menschen eine starkzunehmende Bevölkerungsanzahl vo-raus: Danach werden im Jahre 2010 4.0 Millionen Menschen (= 4.9% derGesamtbevölkerung) 80 Jahre und älter sein, im Jahre 2020 5.3 Millionen(= 6.6%), im Jahre 2050 7.9 Millionen(= 11.3%). Der Bevölkerungsanstieg inden höchsten Altersgruppen ist für dieBeitrags- und Leistungsentwicklung inder Gesetzlichen Kranken- und Pflege-versicherung von zentraler Bedeutung.Wenn über eine demografiegerechteUmgestaltung des Gesundheitswesensgesprochen wird, so ist vor allem aufdie Anforderungen an die medizinischeund pflegerische Versorgung in diesenAltersgruppen einzugehen.

2. Entwicklungen im Gesund-heitszustand und in der Selbstständigkeit in denaufeinander folgendenälteren Generationen

Allerdings ist davor zu warnen, vonBevölkerungsvorausberechnungen un-mittelbar auf künftige Entwicklungenin der Anzahl pflegebedürftiger Men-schen zu schließen. Denn mit einemderartigen Vorgehen würde unterstellt,dass sich in Bezug auf die medizinischeund pflegerische Versorgung ältererMenschen in Zukunft keine weiterenFortschritte ergeben würden. Ein Bei-spiel für die hier angesprochene Ten-denz, aus einer Bevölkerungsvoraus-berechnung unmittelbar auf die Anzahlvon pflegebedürftigen Menschen in

den kommenden Jahrzehnten zuschließen, ist das vom Deutschen Ins-titut für Wirtschaftsforschung4 vor-gelegte Szenario. Zunächst sei fest-gestellt, dass dieses Institut sehr dif-ferenzierte Szenarien zur weiteren Entwicklung der durchschnittlichenLebenserwartung und des Bevölke-rungsaufbaus vorgelegt hat. Problema-tisch erscheint nur der unmittelbareSchluss auf die Entwicklung der An-zahl von pflegebedürftigen Menschen.Das Institut nimmt an, dass die Zahlder 60-jährigen und älteren pflege-bedürftigen Menschen von 1.3 Millio-nen im Jahre 1997 auf 2.25 Millionenim Jahre 2020 und auf 3.88 Millionenim Jahre 2050 ansteigen wird. Es gehtdabei von der Annahme aus, dass dasRisiko des Pflegebedarfs in den kom-menden Jahrzehnten genauso hochsein wird wie heute. Da für die Diskus-sion des Themas: ‘DemografiegerechteUmgestaltung des Gesundheitswesens’die Frage des Hilfe- und Pflegebedarfsvon großer Bedeutung ist, sei diese Annahme nachfolgend kritisch reflek-tiert.

Zunächst ist auf Studien aus dem na-tionalen und internationalen Raum zuverweisen, die darauf hindeuten, dasssich in der jüngeren Vergangenheit derGesundheitszustand älterer Menschenverbessert hat. Diese positive Entwick-lung lässt sich in der Aussage zusam-menfassen, dass in den vergangenendrei Jahrzehnten fünf gesunde Alters-jahre hinzu gekommen sind: Die heu-te 70-Jährigen verfügen im Durch-schnitt über einen Gesundheitszustand,der jenem der 65-Jährigen vor drei Jahr-zehnten entspricht. Die lebensbedroh-lichen Erkrankungen werden zuneh-mend auf einen Zeitpunkt kurz vorEintritt des Todes verschoben. Dieses

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tischen Annahmen über die voraus-sichtliche Entwicklung des Gesund-heitszustands der Alten der Zukunftberuhen“.9

Die Verbesserung der Gesundheit äl-terer Menschen in den vergangenenJahrzehnten ist auf mehrere Faktorenzurückzuführen:

● auf Veränderungen im Lebensstil(gesundheitsbewusstes Verhalten,Meidung von Risikofaktoren, Er-haltung der körperlichen und see-lisch-geistigen Leistungskapazität),

● auf Veränderungen in den Lebens-bedingungen (höhere materielleRessourcen, verbesserte Wohnbe-dingungen, verändertes gesellschaft-liches Altersbild, verbesserte Dienst-leistungen für ältere Menschen),

● auf erweiterte Maßnahmen der Ge-sundheitsförderung und Präven-tion (letztere umfasst auch die Inan-spruchnahme von Vorsorgeunter-suchungen) sowie

● auf Entwicklungen in Medizin undPflege (hier ist vor allem das er-weiterte Spektrum diagnostischerMethoden sowie therapeutischer,rehabilitativer und pflegerischerMaßnahmen zu nennen).

Für die kommenden Jahrzehnte werdenweitere positive Veränderungen in derGesundheit und der Selbstständigkeiterwartet – und zwar unter der Voraus-setzung, dass die Präventions- und Re-habilitationspotenziale älterer Men-schen genutzt werden10, dass es gelingt,das in SGB XI (‘Soziale Pflegeversi-cherung’) genannte Leitbild ‘Rehabili-tation vor Pflege’ in die Praxis umzu-setzen11, und dass sich in Zukunft einverändertes Verständnis von Pflegedurchsetzt, welches sowohl die präven-

modifizierte ‘compressed-morbidity-model’ ist für die BundesrepublikDeutschland und vergleichbare Ländercharakteristisch.5 Weiterhin konnte inden vergangenen Jahrzehnten einRückgang des Anteils von Menschenmit Pflegebedarf in den aufeinanderfolgenden Generationen alter und sehralter Menschen beobachtet werden.6

Die Daten aus dem internationalenRaum rechtfertigen die Aussage, dasssich in den vergangenen Jahrzehntenauch in der Gruppe der sehr alten Men-schen der Gesundheitszustand erkenn-bar verbessert hat. Dinkel7 hat auf derGrundlage von Mikrozensusdaten desZeitraums 1978 bis 1995 die Entwick-lung des subjektiven Gesundheitszu-standes im Alter sowie den Zuwachsder durchschnittlichen Lebenserwar-tung in Gesundheit in der Abfolge der Geburtsjahrgänge 1907, 1913 und1919 untersucht und kommt zu demSchluss, dass sowohl für das dritteLebensalter (‘junges Alter’) als auch fürdas vierte Lebensalter (‘altes Alter’) imDurchschnitt eine Verbesserung derGesundheit anzunehmen ist: „Mankann zumindest für die jüngere Ver-gangenheit in der Bundesrepublik dieweit verbreitete pessimistische Thesenicht länger aufrechterhalten, wir wür-den zwar immer älter, aber auch gleich-zeitig immer kränker“8. Im DrittenAltenbericht der Bundesregierung wirdebenfalls festgestellt: „Die Kommissionwendet sich gegen noch immer vor-herrschende Auffassungen einer dra-matischen Ausweitung der Gebrech-lichkeit mit zunehmender Langlebig-keit der Bevölkerung. Es spricht vielesdafür, dass die – unter Hinweis auf diedemografische Alterung unserer Ge-sellschaft – vorgebrachten Befürchtun-gen eines massiven Anstiegs der Ge-sundheitsausgaben auf zu pessimis-

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tive (auf Erhaltung der Selbstständigkeitgerichtete) als auch die rehabilitative(auf Wiederherstellung der Selbst-ständigkeit gerichtete) Funktion derPflege ausdrücklich berücksichtigt.12

Damit sind auch zwei wichtige Auf-gaben hinsichtlich der demografischenUmgestaltung des Gesundheitswesensgenannt.

● Als erste die Entwicklung und Um-setzung von Maßnahmen, die aufdie Förderung gesundheitlicher Res-sourcen und die Vermeidung vonErkrankungen zielen – hier ist dasausgeprägte Präventionspotenzial inBezug auf die Herz-Kreislauf-Er-krankungen (Arteriosklerose, Blut-hochdruck, Herzinfarkt, Erkrankun-gen der Gefäße, Hirninfarkt, gefäß-bedingte Demenz), die Stoffwech-selerkrankungen (Diabetes mellitusTyp II), die Erkrankungen der Atem-wege (chronische Bronchitis, bös-artige Neubildungen), die Erkran-kungen des Stütz- und Bewegungs-systems (Arthrose, Osteoporose,Dorsopathien) und bestimmte Kar-zinome (vor allem der Lunge, derBronchien und des Magen-Darm-Trakts) zu betonen.

● Als zweite Aufgabe ist die Umset-zung von Maßnahmen zu nennen,die darauf zielen, die Mobilität undSelbstständigkeit zu erhalten oderwiederherzustellen und dadurchPflegebedürftigkeit zu vermeiden,zu lindern oder zu überwinden.13

Es ist es auch notwendig, den Ge-danken der Prävention und Rehabili-tation auch auf psychische Störungenzu übertragen, das heißt, Maßnahmenzu entwickeln und umzusetzen, diedazu beitragen, dass sich bestimmte

psychische Störungen erst gar nichtausbilden (wie zum Beispiel bestimmteFormen einer depressiven Störung,gefäßbedingte Demenzen, akute Ver-wirrtheitszustände, neurotische Stö-rungen), oder dass im Falle bereitseingetretener psychischer Störungenversucht wird, deren Verlauf sowiederen Symptomatik positiv zu beein-flussen. Bereits an dieser Stelle ist kri-tisch anzumerken, dass der Gedankeder Prävention und Rehabilitationheute noch viel zu selten auf die psy-chischen Erkrankungen – deren Ver-meidung oder deren Linderung – über-tragen wird. Für eine mit Blick auf dieGesundheit und Selbstständigkeit künf-tiger älterer Generationen optimisti-sche Prognose spricht auch die Tat-sache, dass

● Ursachen von Herz-Kreislauf-Er-krankungen, zerebrovaskulären Er-krankungen, Karzinomen und seni-ler Demenz immer besser erforschtund damit auch wirksamer be-kämpft werden können,

● diese Erkrankungen frühzeitig er-kannt und die Patienten damitrechtzeitig behandelt werden kön-nen und

● aus den gewonnenen Erkenntnissenüber Ursachen und Risikofaktoreneffektive Präventionsansätze abge-leitet werden können, durch die zurVermeidung einzelner Erkrankun-gen beigetragen wird.

Vor dem Hintergrund des gegen-wärtigen molekularbiologischen For-schungsstandes erscheint zum Beispieldie Erwartung als realistisch, dass diepathogenetischen Prozesse der zumNervenzelluntergang führenden Alz-heimer Demenz in den nächsten zehnbis 15 Jahren so weit erforscht sein wer-

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den, dass eine Arzneimittelbehandlungentwickelt werden kann, die über dierein symptomatische Behandlung hin-aus Krankheitsprozesse direkt unddamit ursächlich angreifen kann.14 Bisheute ist nur eine symptomatischeBehandlung der Alzheimer Demenzmöglich, das heißt, durch die Gabe vonAcetylcholinesterasehemmern sowiedurch kognitives Training und Verhal-tenstraining wird versucht, den Symp-tomverlauf positiv zu beeinflussen.Doch der eigentliche Krankheitsverlauflässt sich langfristig nicht aufhalten, die Zerstörung des Nervenzellgewebesschreitet kontinuierlich fort. Im Falleeiner genauen Kenntnis der patho-genetischen Prozesse könnte dazu bei-getragen werden, dass auch der ei-gentliche Krankheitsverlauf aufgehaltenwerden kann; damit würde ein zentra-ler Beitrag zur Linderung von Pflege-bedürftigkeit geleistet.15

Im Jahresgutachten 2001 des Sachver-ständigenrates für die KonzertierteAktion im Gesundheitswesen16 wird einumfassendes Verständnis von Präven-tions- und Rehabilitationspotenzialenim Alter entwickelt, das Altern nichtallein als einen körperlich deter-minierten Prozess betrachtet, sondernvielmehr als ein mehrdimensionalesund damit komplexes Geschehen, dasneben der körperlichen die seelische,die geistige, die alltagspraktische, diesoziale und die sozialkommunikativeDimension umfasst. Das erweiterte Ver-ständnis der Präventionspotenzialespiegelt sich in folgender Bewertungdes Sachverständigenrates wider: „Diehohen präventiven Potenziale beiälteren Menschen werden unterschätzt.Um diese Potenziale zu realisieren, soll-ten sich die Maßnahmen und Strate-gien nicht allein auf die Verhütung von

Krankheiten beziehen, sondern viel-mehr den gesamten Alternsprozess mitseinen funktionellen Einschränkungenund dem drohenden oder tatsächlichenVerlust an körperlicher und mentalerFitness sowie den daraus resultierendenProblemen der sozialen Integrationberücksichtigen“17.

Die soziale Dimension des Alternsschließt auch die Frage nach Schicht-unterschieden in der Morbidität undMortalität ein. In soziologischen undsozialmedizinischen Untersuchungenwurden enge Zusammenhänge zwi-schen sozialer Schicht einerseits undMorbidität sowie Mortalität anderer-seits nachgewiesen: Menschen aus un-teren sozialen Schichten weisen im Ver-gleich zu Menschen aus mittleren undhöheren Schichten eine signifikanthöhere Morbidität auf; darüber hinausist bei ihnen eine erhöhte Mortalitäts-rate erkennbar. Mielck & Helmert18

analysierten 72 empirische, in den al-ten Bundesländern ausgerichtete Un-tersuchungen zum Zusammenhangzwischen sozialer Schicht und Mor-bidität sowie Mortalität. 61 Beiträgewiesen eine höhere Morbidität undMortalität in unteren Sozialschichtennach, neun Studien ließen keine ein-deutigen Beziehungen, zwei Studieneine entgegengesetzte (positive) Be-ziehung zwischen sozialer Schicht undMorbidität sowie Mortalität erkennen.Eine Analyse vorliegender Studien zurPrävalenz von Risikofaktoren ergab ein ähnliches Bild: Von 26 Studien zudiesem Themengebiet berichteten 21einen negativen Zusammenhang zwi-schen sozialer Schicht und individu-ellen Gesundheitsrisiken; nur in fünfStudien war dieser Zusammenhangnicht erkennbar. Auf der Grundlagevon Daten aus dem Sozioökonomi-

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schen Panel wurden für Menschen mitlängeren Ausbildungszeiten geringereMortalitätsraten ermittelt. In Analysenzum Mortalitätsrisiko, in denen sowohlBildung als auch Einkommen berück-sichtigt wurden, konnte nachgewiesenwerden, dass ein geringes Einkommenauch unabhängig von einem niedrigenBildungsstand ein erhöhtes Mortali-tätsrisko mit sich bringt.19 Ebenfalls aufder Grundlage von Daten aus demSozioökonomischen Panel konnte Vo-ges20 zeigen, dass Männer mit einerschlechteren Einkommensposition einhöheres Mortalitätsrisiko aufweisen alsMänner mit einer besseren Einkom-mensposition. Erst jenseits des 90. Le-bensjahrs gehen diese Unterschiedezurück. Bei Frauen finden sich ganzähnliche Beziehungen zwischen Ein-kommensposition und Mortalität; dochist bei diesen bereits ab dem 80.Lebensjahr eine Abnahme einkom-mensbezogener Unterschiede im Mor-talitätsrisiko erkennbar. – Diese Datenzeigen, dass Präventionsmaßnahmenentwickelt werden müssen, die inbesonderer Weise auf Menschen ausunteren sozialen Schichten zielen, dasheißt, die deren spezifische Bedürfnisseund Risikolagen, aber auch Barrierender Nutzung von Präventionsange-boten ausdrücklich berücksichtigen.

3. Körperliche Erkrankungen im Alter

Nachfolgend seien Aussagen zu denkörperlichen Erkrankungen des hohenund sehr hohen Lebensalters sowiezum Präventions- und Rehabilitations-potenzial, das für diese Erkrankungenbesteht, getroffen. Denn erst auf derGrundlage dieser Aussagen – wie auchder Aussagen über psychische Er-

krankungen im Alter (siehe Kapitel 4)– lassen sich Vorschläge bezüglich ei-ner Umgestaltung der gesundheitlichenVersorgung erarbeiten.

Legt man den gesundheitlichen Be-schwerden im Alter einen subjektivenMaßstab zu Grunde, dann sind Ar-throsen, Herzinsuffizienz, Osteoporoseund Rückenleiden als die bedeutsams-ten körperlichen Erkrankungen an-zusehen. Geht man dagegen von dermedikamentösen Behandlung aus, al-so einem objektiven Maßstab, dannkommt der Herzinsuffizienz die größteBedeutung zu, gefolgt von der Hyper-tonie, der koronaren Herzkrankheit, der Arthrose und der arteriellen Ver-schlusskrankheit.21 Nachfolgend wirdauf diese vier Erkrankungen eingegan-gen:

● Arteriosklerose, ● Osteoporose, ● Karzinome und ● Schlaganfall.

Diese Erkrankungen wurden ausge-wählt, da sie Aufschluss über die Prä-ventions- und Rehabilitationspotenzialeim Alter geben.

Bei der Arteriosklerose ist in Folge vonKalkablagerungen in den Gefäßen dieDurchblutung des Herzens, des Gehirnsund/oder der Gliedmaßen gestört, wo-durch es an den genannten Organen zugravierenden Folgeschäden kommenkann (Herzinfarkt, Schlaganfall, Embo-lie). Die Arterienverkalkung wird dabeivor allem durch die RisikofaktorenRauchen, Zucker, Bluthochdruck, Fett-stoffwechselstörung, erhöhter Harn-säuregehalt des Blutes, Übergewichtund Bewegungsarmut begünstigt, wo-bei das Erkrankungsrisiko mit einer

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Zunahme von Risikofaktoren nichtlinear, sondern exponenziell ansteigt.Gerade im Hinblick auf die Arterio-sklerose ist von einem sehr hohenPräventionspotenzial auszugehen. Dieslässt sich vor allem am Beispiel derHypertonie (Bluthochdruck) veran-schaulichen. Diese wird durch die fol-genden sechs Faktoren begünstigt:

● Anlagen,● Alter,● Übergewicht,● Rauchen,● Bewegungsmangel und● Stress.

In der Altersgruppe zwischen 25 und34 Jahren ist bei 8%, in der Alters-gruppe zwischen 60 und 74 Jahren bei60% eine Hypertonie nachweisbar.Etwa 50% der an Bluthochdruckerkrankten Menschen entwickelnschon früh eine Arteriosklerose. Einefür die Vermeidung der Arterioskle-rose (sowie ihrer Folgeerkrankungen)dringend notwendige Senkung desBluthochdrucks ist auf nicht-medika-mentösem Wege vor allem möglichdurch

● Normalisierung des Gewichts, ● gesundheitsbewusste Ernährung,● Vermeidung von Kaffee,● Vermeiden von Zigaretten und

Alkohol sowie ● regelmäßiges körperliches Training.

Durch diese präventiven Maßnahmenkönnte die Anzahl neu aufgetretenerErkrankungen der Herzkranzgefäße um15%, die Anzahl neu aufgetretenerSchlaganfälle sogar um 27% verringertwerden. Auf medikamentösem Weglässt sich der Bluthochdruck durchBetablocker, Calciumantagonisten, Diu-

retika, ACE-Hemmer und Angioten-sin-II-Antagonisten behandeln. Die Effektivität einer antihypertensivenTherapie ist auch für ältere Menscheneindeutig belegt. Die Möglichkeiten der nicht-medikamentösen und dermedikamentösen Prävention sind inder Öffentlichkeit noch viel zu wenigbekannt und werden aus diesemGrunde nicht ausreichend genutzt.Somit ist die vermehrte Vermittlunggesundheitsbezogener Informationenals eine sehr wichtige Aufgabe zuwerten. Das Präventionspotenzial ist im Hinblick auf die Arteriosklerose und deren Folgeerkrankungen sehrhoch, sodass vor diesem Hintergrunddie Stärkung der Prävention als sinnvollund notwendig erscheint.

Bei der Osteoporose treten in Folgefortschreitender Abnahme der Kno-chenmasse Änderungen der Körper-haltung und Schmerzen auf; darüberhinaus ist eine erhöhte Anfälligkeit fürKnochenbrüche gegeben. Von dieserjenseits des 60. Lebensjahres häufigs-ten Knochenerkrankung sind vor allemFrauen betroffen; 20–30% der Frauenleiden an Osteoporose. Bis zur Meno-pause sind Frauen durch die Östrogenevor Osteoporose geschützt. Danachkönnen Bewegungsarmut, kalziumarmeErnährung und geringe Sonnenein-wirkung (fehlende Bildung von Vita-min D) den Knochenabbau zusätzlichbeschleunigen. Neben körperlicherAktivität und ausgewogener Ernährungerweist sich vielfach eine medikamen-töse Therapie, vor allem mit Kalziumoder Vitamin D, als bedeutsame prä-ventive Maßnahme. Wenn der Kno-chenschwund bereits weit fortge-schritten ist, kann vor allem durch dieKombination aus Schmerztherapie,physikalischen Maßnahmen (Anwen-

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dung von Kälte, Wärme, elektrischenStrömen, Ultraschall, Zug- und Druck-übungen der Knochen) und Bewe-gungsmaßnahmen einer weiteren Be-weglichkeitseinschränkung vorgebeugtwerden. Gerade die Möglichkeiten ei-nes Bewegungstrainings für die Erhal-tung der Beweglichkeit werden heutenoch vielfach unterschätzt. Völlig zuRecht weisen Selbsthilfeinitiativen da-rauf hin, dass die Krankenkassen vielstärker dafür werben sollten, dassOsteoporosepatienten an therapeu-tischen Sportgruppen teilnehmen, und dass sie diese Teilnahme im Sin-ne einer Rehabilitationsmaßnahmefinanziell unterstützen sollten. DieOsteoporose stellt eine wesentlicheUrsache für Stürze im Alter dar, dieihrerseits zu Frakturen und damit zudeutlichen Einschränkungen der Mo-bilität – in den schwer wiegenderenFällen sogar zu Pflegebedarf – führenkönnen. Durch das Training der Be-weglichkeit wird ein sehr wichtigerBeitrag zur Vermeidung von Stürzengeleistet.

In Deutschland erkranken jährlich etwa 340.000 Menschen an einem bös-artigen Tumor, von diesen sind 265.00065 Jahre und älter. EpidemiologischeAnalysen des Robert-Koch-Institutsdeuten darauf hin, dass sich zwischen1990 und 1998 das Krebserkran-kungsrisiko nicht verändert hat. Die indieser Zeitspanne eingetretenen Zu-wächse in den absoluten Erkrankungs-zahlen lassen sich dabei vollständigdurch den Bevölkerungsanstieg in derGruppe der 65-Jährigen und Älterenaufklären. Da sich in den vergangenenJahren bei Frauen wie bei Männernüber 65 Jahren eine relativ konstanteKrebsinzidenz gezeigt hat, ist bei derVorausberechnung der Anzahl neu an

Krebs erkrankender Menschen von der(allerdings stark vereinfachenden) An-nahme auszugehen, dass sich die Krebs-inzidenz in der Größenordnung von1998 entwickeln wird. Den Berech-nungen des Robert-Koch-Instituts zu-folge wird bis zum Jahre 2020 die An-zahl der Krebsneuerkrankungen bei den65-jährigen und älteren Männern um60%, bei den 65-jährigen und älterenFrauen um 24% steigen.22 Bei gleichbleibenden durchschnittlichen Kostenfür die Grundversorgung Krebskrankerhat dies eine Vervielfachung der Kos-ten zur Folge. Eine wesentliche Stra-tegie zur verbesserten Kontrolle desAuftretens und Wachstums von Tumo-ren bildet die Zunahme der Verant-wortung des Individuums für seineGesundheit – zum einen durch Ver-meidung von Risikofaktoren (Rauchen,Alkohol, Fehlernährung, Exposition anSchadstoffen), zum anderen durch dieInanspruchnahme von Vorsorgeunter-suchungen. Da bei Karzinomerkran-kungen die Heilungschancen vom Zeit-punkt der Entdeckung der Erkrankungabhängen, sind Vorsorgeuntersuchun-gen als ein bedeutsamer Beitrag zurPrävention zu interpretieren. Die Mo-tivation zur Teilnahme an Vorunter-suchungen ist eine zentrale Aufgabe desGesundheitswesens. Als häufig zu be-obachtende Gründe für mangelndeTeilnahme erwiesen sich in empiri-schen Studien:

● Fehlende Kenntnisse über die Be-deutung der Vorsorgeuntersuchun-gen,

● Schichtzugehörigkeit (in unterensozialen Schichten sind die Wissens-defizite besonders stark ausgeprägt),

● Furcht vor Vorsorgeuntersuchungen, ● Mangel an ärztlichen Empfehlun-

gen und höheres Alter.23

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In einer Untersuchung zur Nutzungvon Mammografien, an der 5.318Frauen im Alter von 65 Jahren undälter teilgenommen haben24, konntegezeigt werden, dass Ärzte eine Mam-mografie seltener empfahlen undFrauen diese auch seltener nutzten,wenn die Frauen im höheren Lebens-alter standen; hingegen waren dieEmpfehlungen und die Nutzung häu-figer, wenn die Frauen jünger warensowie einer höheren Einkommens- undBildungsschicht angehörten. Wenn dieFrauen einen schlechteren Gesund-heitszustand aufwiesen, wurde seltenereine Mammografie empfohlen und tat-sächlich genutzt. Empfehlungen wur-den häufiger gegeben, wenn die kon-sultierten Ärzte jünger und wenn sieweiblich waren.

Einen Schlaganfall erleiden in Deutsch-land jährlich etwa 250.000 Menschen.Neben chronischem Bluthochdruckund Herzrhythmusstörungen zählt dasAlter zu den Hauptrisikofaktoren desSchlaganfalls. Im Jahre 1999 waren 94% aller im Krankenhaus behandel-ten Schlaganfallpatienten 55 Jahre undälter. In einer 10-Jahres-Mortalitäts-Follow-up-Studie25 wurde nach demZusammenhang zwischen dem relati-ven Mortalitätsrisiko auf Grund einesSchlaganfalls und dem Grad körper-licher Aktivität bei Frauen im Alter ab50 Jahren (n= 14.101) gefragt. In allenAltersgruppen (50–69, 70–79, 80–101)nahm das relative Mortalitätsrisiko mitzunehmender körperlicher Aktivität ab. Unter den 50- bis 69-Jährigen hat-ten die aktiven Frauen ein um 58% verringertes Risiko, unter den 70–79-Jährigen und 80–101-Jährigen fandsich bei aktiven Frauen jeweils ein um45% vermindertes Risiko. Diese Zu-sammenhänge blieben auch dann be-

stehen, wenn Frauen mit kardio-vaskulären und zerebrovaskulärenErkrankungen beim ersten Messzeit-punkt aus der weiteren Analyse aus-geschlossen wurden. Neben dem ho-hen Präventionspotenzial ist auch beiälteren Schlaganfallpatienten ein ho-hes Rehabilitationspotenzial erkennbar.Dies zeigen Studien zu den Effekten derstationären und ambulanten Rehabi-litation: Das Alter erwies sich in vielenStudien nicht als ein statistisch be-deutsamer Einflussfaktor des Rehabi-litationserfolges; von Bedeutung warenvielmehr Krankheitsmerkmale (wie dieSchwere des Schlaganfalls, die Art unddie Schwere der funktionalen und kog-nitiven Schädigungen, die durch denSchlaganfall hervorgerufen wurden, dieAusprägung des Hilfe- oder Pflegebe-darfs, die begleitenden Erkrankungen)sowie Lebensstil- und Lebenslagemerk-male (wie der Grad der Überzeugung,dass die Rehabilitation zu einem Er-folg führen wird, die Art der Unter-stützung durch das soziale Netzwerk,die Schichtzugehörigkeit, die Quali-tät der Wohnung und des Wohnum-feldes).26 Es ist vielfach die Tendenzerkennbar, älteren Menschen allein aufGrund ihres Alters eine Rehabilitationzu verweigern. Eine Ablehnung vonAnträgen erfolgt oft ohne genaue Be-stimmung des gesundheitlichen undfunktionalen Status (‘geriatrisches As-sessment’). Dies bedeutet, dass Re-habilitationspotenziale nicht genutztwerden und das Auftreten einer Pflege-bedürftigkeit gefördert wird.

4. Psychische Erkrankungen im Alter

Etwa ein Viertel der über 65-jährigenBevölkerung leidet an einer psychi-

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schen Störung. Trotz der altersabhän-gigen Zunahme von Demenzerkran-kungen ist die psychiatrische Ge-samtmorbidität mit etwa 25% in derGruppe der 65-jährigen und älterenMenschen nicht höher als in jüngerenAltersgruppen. Dabei ist allerdings zuberücksichtigen, dass sich in den ver-schiedenen Lebensaltern unterschied-liche Verteilungen der einzelnen psy-chischen Störungen ergeben. Im Ju-gendalter und frühen Erwachsenen-alter dominieren Substanzabhängig-keit, depressive Störungen und Angst-störungen, im frühen und mittlerenErwachsenenalter ist zusätzlich dasRisiko des Auftretens von Schizophre-nien und Depressionen erhöht, im Al-ter hingegen dominieren Demenzenund depressive Störungen, währendAngststörungen selten auftreten undSchizophrenien praktisch nicht zubeobachten sind. Nachfolgend sollenAussagen zu den Demenzen und de-pressiven Störungen getroffen werden,wobei auch hier die Frage nach denPräventions- und Rehabilitationspoten-zialen zu stellen ist.

Obligate Merkmale einer Demenz sindnach ICD-10 die Abnahme des Ge-dächtnisses und anderer kognitiverFähigkeiten (Urteilsfähigkeit, Denkver-mögen) über einen Zeitraum von min-destens sechs Monaten, Störung derAffektkontrolle, des Antriebs sowie desSozialverhaltens (mit emotionaler La-bilität, Reizbarkeit und Apathie odermit Vergröberung des Sozialverhaltens)sowie fehlende Hinweise auf einenvorübergehenden Verwirrtheitszustand.Bezüglich der Prävalenz der Demenzenwurde ein exponenzieller Anstieg imhohen Alter nachgewiesen: Wäh-rend nur zwischen 1% und 4% der 65- bis 69-jährigen Bevölkerung an

einer schweren oder mäßig schwerenDemenz leiden, beläuft sich dieser Anteil in der 80- bis 84-jährigen Be-völkerung auf 15% und in der 90-jäh-rigen und älteren Bevölkerung auf 40%.27

Die häufigste Form der Demenz mit ca. 60% aller Demenzen stellt dieAlzheimer Demenz dar, als derenwichtigste morphologische Kenn-zeichen fortschreitende Hirnantro-phie, neurofibrilläre Veränderungen,Ausbildung von senilen Plaques, Ver-lust kortikaler Pyramidenzellen undVeränderungen der Neurotransmittergelten. Als Risikofaktoren für dieseForm der Demenz wurden Alter undFamiliengeschichte nachgewiesen. DieAlzheimer Demenz verläuft fort-schreitend und irreversibel. Im Mit-telpunkt pharmakologischer Überle-gungen steht derzeit die nachgewiese-ne Abnahme des für kognitive Funk-tionen wichtigen NeurotransmittersAzetylcholin. Durch Aztylcholineste-rasehemmer soll der Abbau von Azetyl-cholin gestoppt und damit das Azetyl-cholin-Defizit verringert werden. DieseMedikation ist vor allem in einemfrühen Stadium der Alzheimer De-menz Erfolg versprechend, sodass sichauch die Notwendigkeit der frühzeiti-gen Erfassung der Alzheimer Demenzergibt.28 Nach heutigen Erkenntnissensind Präventionspotenziale in Bezug aufdie Alzheimer Demenz so gut wie nichtgegeben. Es wird zwar verschiedent-lich hervorgehoben, dass lebenslangegeistige Regsamkeit, Cholesterinsen-kung, vitaminreiche, fettarme Ernäh-rung und tägliches körperliches Trai-ning einen gewissen Schutz vor Alz-heimer Demenz darstellen könnten, je-doch finden sich keine empirisch ge-sicherten Belege für diese Aussage.

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Zum heutigen Zeitpunkt werden dievaskulären (das heißt durch eineSchädigung der Gefäße bedingten) Demenzen als zweithäufigste Form der Demenz bezeichnet. 10–20% allerDemenzen sind als vaskulär bedingtanzusehen, 20% als eine Mischung ausvaskulärer und Alzheimer Demenz. Bei vaskulären Demenzen setzen dieSymptome eher plötzlich ein, die Ver-schlechterung erfolgt eher stufenweise.Auch bei dieser Form der Demenz finden sich als Hauptsymptome Störun-gen des Gedächtnisses, der Urteils-fähigkeit, des abstrakten Denkens sowieder Persönlichkeit. Bei ca. 30% derSchlaganfallpatienten ist ein vaskulä-res Demenzsyndrom nachweisbar. DiePrävention der vaskulären Demenzenist vor allem durch Beeinflussung derRisikofaktoren für vaskuläre Demenzmöglich. Den bedeutsamsten Risiko-faktor bildet die arterielle Hyperto-nie, als weitere Risikofaktoren wer-den Diabetes mellitus, Hyperlipidä-mie, Rauchen und übermäßiger Alko-holkonsum beschrieben.

Aus den hier genannten Risikofaktorengeht hervor, dass – anders als bei derAlzheimer Demenz – bei der vaskulä-ren Demenz die Präventionspoten-ziale hoch sind. Dies wird in der öf-fentlichen Diskussion, in der viel-fach nicht zwischen verschiedenen Demenzformen differenziert, sondernfälschlicherweise von einer Demenz-form ausgegangen wird, nicht ausrei-chend beachtet.

Von den Demenzen abzugrenzen sinddie kurzzeitigen Verwirrtheitszustände,die von wenigen Stunden bis zu weni-gen Tagen dauern können. Deren Ur-sachen sind vielfältig: Verwirrtheits-zustände können

● auf eine reduzierte Sauerstoffver-sorgung des Gehirns (in Folge vonHerzrhythmusstörungen, starkemBlutdruckabfall oder cerebralen Ge-fäßprozessen),

● auf hohe psychische Belastungen(vor allem bei bereits eingetretenenpsychoorganischen Veränderungen),

● auf medikamentöse Einflüsse (inFolge von Überdosierung, Interak-tionen und Wirkungen einzelnerSubstanzen) sowie

● auf diätetische Ursachen (mangeln-de Flüssigkeitszufuhr, unzureichen-de Ernährung) zurückgehen.

Wie die genannten Ursachen unmit-telbar erkennen lassen, sind die Präven-tionspotenziale bei Verwirrtheitszu-ständen sehr hoch.

Bei 1–5% der älteren Bevölkerung liegt eine schwere, bei 8–16% eine mit-telgradige bis schwere Depression vor.Berücksichtigt man alle Schweregradeder Depression (das heißt auch dieleichten und subdiagnostisch verlau-fenden Depressionen), so streut derAnteil depressiv erkrankter Menschenin den verschiedenen Studien zwi-schen 10% und 25%. In der BerlinerAltersstudie litten 9.1% der Teilnehmeran einer depressiven Störung.29 Die de-pressiven Störungen haben zum Teileine lange Vorgeschichte, das heißt, eshandelt sich bei diesen um „alternde“psychische Störungen, zum Teil sind siedurch eine Häufung von Belastungenim Alter bedingt. Zudem ist zu berück-sichtigen, dass ein Teil der depressivenStörungen eine endogene Komponenteaufweist, das heißt, auf genetisch be-dingte Stoffwechselstörungen zurückzu führen ist. Je nach Ätiologie sind diePräventionspotenziale unterschiedlich.Bei depressiven Störungen, die durch

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eine Häufung von Belastungen im Alter bedingt sind, liegen auf Seiten des Individuums Präventionsmaß-nahmen nahe, die auf eine Stärkungdes Selbstkonzepts und der Kontroll-überzeugungen sowie auf eine Er-weiterung des Spektrums persönlichbedeutsamer Aktivitäten zielen. AufSeiten der Umwelt sind zum einenAngebote zu nennen, durch die zusozialer Integration und sozialer Teil-habe beigetragen wird.

Zum anderen kommt medizinischen,pflegerischen und sozialen Dienst-leitungen eine große Bedeutung zu, die darauf zielen, Krankheiten undKrankheitssymptome zu lindern, dieSelbstständigkeit zu erhalten sowie dieseelische Verarbeitung von Krankheit-en oder anderen Grenzsituationen zufördern. Wie Befunde zur Psychothe-rapieforschung zeigen, ist auch im Al-ter von einer ausreichend hohen psy-chischen Plastizität auszugehen, die fürden Einsatz psychotherapeutischer undpsychosomatischer Verfahren spricht.30

Bei depressiven Störungen, die bereitsseit vielen Jahren oder sogar seit Jahr-zehnten bestehen, sind die Präven-tionspotenziale im Alter geringer. DiePrävention zielt vor allem darauf, denMenschen dabei zu unterstützen, be-stimmte Entwicklungsaufgaben undAnforderungen des Alters gedanklichvorweg zu nehmen.

In der gedanklichen Vorwegnahmekönnen Menschen rechtzeitig Tech-niken erarbeiten, mit deren Hilfe siesich gegen potenziell negative Einflüssebestimmter Veränderungen im Alterns-prozess schützen können; besonderswichtig ist hier die Überzeugung, dieseVeränderungen wenigstens in Teilenkontrollieren zu können.

5. Zum Hilfe- und Pflegebedarf im Alter

1999 belief sich die Anzahl der pflege-bedürftigen Menschen in Privathaus-halten auf 1.204 Millionen, in voll-stationären Einrichtungen auf 492.100.Fast 90% der in Privathaushalten le-benden Leistungsempfänger der So-zialen Pflegeversicherung erhalten Leis-tungen entsprechend den PflegestufenI und II. Bei den stationären Leis-tungsempfängern entfallen ca. 70%aller Leistungen auf die Pflegestufen IIund III. Bezüglich des Pflegebedarfs istein deutlicher Anstieg mit zunehmen-dem Alter festzustellen:

● 2.6% der 65–70-jährigen, 4.5% der 70–75-jährigen und 8.9% der75–80-jährigen Bevölkerung warenpflegebedürftig;

● in der 80–85-jährigen Bevölke-rung betrug dieser Anteil hingegen19.2%,

● in der 85–90-jährigen Bevölke-rung 34%, in der 90-jährigen undälteren Bevölkerung 55.4%;

● 70% der Pflegebedürftigen wer-den in Privathaushalten gepflegt, 30% in einem Heim,

● selbst von den 90-jährigen und älteren Pflegebedürftigen leben fast60% in Privathaushalten.

Die familiäre und ambulante Pflegebildet also bis in das höchste Alter diedominante Versorgungsform. In dieserkommt die Existenz des kleinen Gene-rationenvertrages, das heißt, die Soli-darität zwischen den Generationenauch in einer Grenzsituation zum Aus-druck. Doch darf nicht übersehen wer-den, dass die Pflege mit hohen physi-schen und psychischen Belastungender Angehörigen verbunden ist. Aus

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diesem Grunde ist die in der Pflege-forschung getroffene Aussage, wonachdie Prävention in der Pflege auch aufdie Entlastung der pflegenden Ange-hörigen – dies mit dem Ziel der Ver-meidung von Erkrankungen – zielensolle, ausdrücklich zu unterstreichen.Bis heute hat unsere Gesellschaft nochnicht realisiert, wie umfassend die von Familien geleistete Pflege ist. Diefür die Zukunft vorhergesagte Ab-nahme der familiären Pflegeleistungen– die sowohl durch den demogra-fischen Wandel als auch durch dieVeränderungen in den Lebensstilenund Lebensorientierungen der mitt-leren Generation bedingt sein wird – istmit einer deutlichen Zunahme derBelastungen der Sozialen Pflegever-sicherung sowie des einzelnen Men-schen verbunden.

Es soll an dieser Stelle betont wer-den, dass durch den Ausbau der ge-riatrischen und gerontopsychiatri-schen Therapie- und Rehabilitations-angebote ein bedeutsamer Beitrag zur Vermeidung von Pflegebedürftig-keit geleistet werden könnte. Die Um-setzung des in SGB XI beschriebenenLeitbildes Rehabilitation vor Pflegewürde dazu führen, dass die Anzahlpflegebedürftiger Menschen nicht in dem Maße steigen würde, wie dies vom Deutschen Institut fürWirtschaftsforschung angenommenwird. In diesem Kontext ist auch her-vorzuheben, dass das Rehabilitations-potenzial älterer Menschen viel-fach unterschätzt wird.31 Der Auftragdes Gesetzgebers, das Leitbild Reha-bilitation vor Pflege praktisch um-zusetzen, wurde bis heute nicht er-füllt. Dabei ist zu berücksichtigen, dassdie soziale Pflegeversicherung zwei Ziele hat:

● zum einen das sozialpolitische Zielder Absicherung gegen das Risikoder Pflegebedürftigkeit,

● zum anderen das gesundheits-politische Ziel der Vermeidung,Linderung und Überwindung vonPflegebedürftigkeit durch Maßnah-men der Prävention, Therapie undRehabilitation.

Angesichts gerontologischer Erkennt-nisse über die positive Veränderungs-fähigkeit (Plastizität) bei vielenpflegebedürftigen Menschen sowie der genannten Schätzungen des künf-tig bestehenden Pflegebedarfs ist derAusbau von Rehabilitationsangebotensowie von Angeboten einer präventi-ven und rehabilitativen Pflege dringendzu empfehlen. Dabei ist auch in derpraktischen Umsetzung bereits ent-wickelter, kompetenzorientierter Pfle-gekonzepte eine wichtige Aufgabe zusehen: In dem Maße, in dem präven-tive und rehabilitative Elemente in diePflege eingehen, kann ein Beitrag dazugeleistet werden, dass eine drohendePflegebedürftigkeit vermieden oder einebestehende Pflegebedürftigkeit gelin-dert bzw. überwunden wird.

6. Implikationen für eineUmgestaltung desVersorgungssystems

Im Kontext der Darstellung körper-licher und psychischer Erkrankungenim Alter wurde deutlich, dass in Bezugauf einzelne Erkrankungen im Alter einhohes Präventionspotenzial besteht –zu nennen sind hier vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erkrankungendes Bewegungsapparats, Stoffwech-selerkrankungen, Erkrankungen derAtemorgane und bestimmte Tumor-

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erkrankungen. Einen zentralen Beitragzur Verbesserung der Gesundheit imAlter könnte die Stärkung der Präven-tion leisten. Dabei sollten auch prä-ventive Konzepte der Pflege stärkerakzentuiert werden, die auf eine Be-ratung älterer Menschen mit dem Ziel der Erhaltung von Gesundheit undSelbstständigkeit zielen. Ein Beispiel für das hohe Präventionspotenzial im Alter ist der präventive Hausbesuch:Bei jenen Menschen, die von einerGesundheitsschwester aufgesucht wer-den und bei denen eine differenzierteEinschätzung der physischen, der kog-nitiven und der emotionalen Situa-tion erfolgt, besteht in den folgendenein bis zwei Jahren ein geringeres Risi-ko für den Umzug in ein Pflegeheim.32

Des Weiteren ist zu berücksichtigen,dass bei einem Großteil der älterenMenschen Rehabilitationspotenzialevorliegen, die oftmals nicht ausrei-chend ausgeschöpft werden, sei es, weildiese Potenziale in der Diagnostik,Therapie und Pflege nicht differen-ziert genug erfasst werden, oder sei es,weil Schnittstellenprobleme zwischenPflegeversicherung und Krankenver-sicherung sowie zwischen akutme-dizinischer und rehabilitativer Ver-sorgung bestehen. In diesem Zusam-menhang sei hervorgehoben, dass auchdie Pflege von ihrem Grundverständ-nis her als Beitrag zur Aktivierung, dasheißt, zur Rehabilitation zu definierenist. Jedoch ist die praktische Umsetzungdieser Orientierung durch fehlendeLeistungsanreize erschwert. Rehabilita-tionspotenziale im Alter beschränkensich nicht nur auf den körperlichenBereich, sondern sie sind in gleichemUmfang im seelisch-geistigen Bereichnachweisbar. Studien zu Effekten psy-chotherapeutischer und psychosoma-tischer Versorgung sprechen für eine bis

ins sehr hohe Alter erhaltene Verhal-tensplastizität und emotionale Plasti-zität. Allein auf Grund des hohen Al-ters eine psychotherapeutisch-psycho-somatische Versorgung abzulehnen, istnach dem heutigen Erkenntnisstandnicht angemessen und nicht zu ver-antworten.

Die Erfolge in Therapie, Rehabilitationund Pflege stehen im auffälligenGegensatz zu den in der Praxis ver-wirklichten Versorgungskonzepten. ImHinblick auf die geriatrische, vor allemauf die gerontopsychiatrische und diegerontopsychosomatische Versorgungist ein Mangel an stationären und teil-stationären Einrichtungen festzustellen,darüber hinaus fehlt vielfach bei denniedergelassenen Ärzten entsprechendeExpertise. Die Rehabilitationspoten-ziale im Alter werden auf Grund un-zureichender Infrastruktur sowie aufGrund fehlender fachlicher Kenntnisseder am Antragsverfahren beteiligtenPersonen nur unzureichend genutzt.Diese Feststellung gilt für den Bereichder körperlichen Erkrankungen, erstrecht aber für den Bereich der psychi-schen Erkrankungen. In Bezug auf diegerontopsychiatrische Versorgung istfestzustellen, dass diese bislang keinzentrales Anliegen bei der Umsetzungder Psychiatriereform bildete.33 Nurwenige der für die Versorgung psy-chisch erkrankter Menschen verant-wortlichen Entscheidungsträger habendie Defizite in der Gerontopsychiatrieals einen regelungsbedürftigen Mangelempfunden. Bislang haben sich nurvereinzelt gerontopsychiatrische Mo-dellprojekte entwickelt, die jedochnach Abschluss der Modellförderungmeist nicht fortgeführt wurden. Ge-rontopsychiatrische Zentren und Ta-geskliniken arbeiten effektiv, doch trotz

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der nachgewiesenen Behandlungs-erfolge wird ein entsprechendes An-gebot nicht vorgehalten. Schließlichsind auch im Hinblick auf den in derPraxis vorherrschenden Stand in Dia-gnostik, Pharmakotherapie und Psy-chotherapie Defizite zu konstatie-ren, die zu einer unzureichenden Ver-sorgung beitragen. Auch mit Blick aufdie gerontopsychiatrische Pflege istfestzustellen, dass zwar theoretisch-konzeptionell eine hohe Zielgruppen-und Aufgabenspezifität der Pflege ent-wickelt wurde, diese jedoch nicht ausreichend bei der Entwicklung vonVersorgungssystemen berücksichtigtwurde. Ein ähnlicher Mangel ist imBereich der gerontopsychosomatischenVersorgung zu beobachten. Dabei fälltvor allem die sehr geringe Anzahl vonälteren Menschen auf, die sich in einerpsychotherapeutischen Behandlungbefinden, obwohl der psychothera-peutische Bedarf im Alter keinesfallsgeringer ist als in früheren Lebens-altern. Dieser Versorgungsmangel istvor allem darauf zurückzuführen, dassPsychotherapeuten kein wirkliches Interesse an älteren Patienten haben,dass sie von fehlenden Interventions-möglichkeiten im Alter ausgehen oder dass in den von ihnen an dieKrankenkassen gerichteten Anträgenauf Finanzierung der Psychotherapiedie Erkenntnisse hinsichtlich der In-dikation und Erfolge der Psychothe-rapie bei älteren Menschen nicht dif-ferenziert genug dargestellt werden.Darüber hinaus muss damit gerechnetwerden, dass sich Gutachter an De-fizitmodellen des Alters orientieren undaus diesem Grunde Anträge ohne einegründliche Prüfung ablehnen.34

Überlegungen zur Umgestaltung desVersorgungssystems dürfen sich nicht

allein auf die medizinische Versorgungbeschränken; genauso wichtig sindÜberlegungen zur Entwicklung vonVersorgungskonzepten im Bereich derPflege.35 Dabei ist zunächst festzu-stellen, dass sich die Defizite in der Ver-sorgung älterer Menschen nicht alleinauf den medizinischen Bereich be-schränken, sondern auch zentral denBereich der Pflege berühren. Im öffent-lichen Verständnis wird Pflege vielfachals eine ‘Restkategorie’ im Kontext derIntervention gewertet; Prävention, Ak-tivierung und Rehabilitation als zen-trale Komponenten der Pflege werdenviel zu wenig beachtet. Nicht zuletztdurch die Soziale Pflegeversicherungwurde der Pflegeprozess mehr undmehr auf körperliche Funktionen re-duziert; die kommunikative, psycho-soziale und edukative Dimension derPflege wurde hingegen weitgehend aus-geklammert. Die zentralen Mängel beider Umsetzung wissenschaftlich fun-dierter Pflegekonzepte in die Pflege-praxis lassen sich wie folgt charakte-risieren:

● Es wird eine in der Praxis nicht halt-bare Trennung von grund- undbehandlungspflegerischen, haus-wirtschaftlichen und psychosozia-len Leistungen vorgenommen;

● es fehlt eine systematische Förde-rung rehabilitativer Pflegekonzepte;

● im Bereich der Palliativpflege be-steht ein deutlicher Mangel anFachkompetenz.

Das in SGB V und SGB XI formulierteLeitbild ‘Rehabilitation vor Pflege’ führtvielfach zum Missverständnis, dassPflege keine rehabilitative Funktionbesitze. Und schließlich wird auch die Prävention nicht als Komponenteder Pflege gewertet; dies zeigt sich

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zum Beispiel darin, dass im Hinblickauf Selbstständigkeit vs. Abhängigkeitvon Betreuung, Rehabilitation undPflege, hingegen nicht von Präventiongesprochen wird. Die Dringlichkeit derpflegerischen Primärprävention wirdvon gesundheitspolitischer Seite nochnicht in ausreichendem Maße wahr-genommen. Professionelle Pflege-beratung im präventiven Sinn wurde ineinzelnen europäischen Ländern ver-wirklicht: Allgemeine Gesundheits-beratung und Gesundheitserziehung,Beratung hinsichtlich spezifischer ge-sundheitlicher und pflegerischer Auf-gaben (zu der auch die Beratung vonAngehörigen zählt) sowie Wohnraum-beratung bilden dort einen bedeuten-den Aufgabenbereich der Pflegefach-kräfte. In Deutschland konnte sichdiese Entwicklung jedoch noch nichtdurchsetzen.

Im Zusammenhang mit Fragen nacheiner für die Therapie und Pflege älte-rer Menschen geeigneten Veränderungder Versorgungslandschaft im beste-henden System medizinischer, pflege-rischer und ergänzender sozialer Ein-richtungen und Dienstleistungen istnicht zuletzt der Sicherstellung vonVersorgungsketten Aufmerksamkeit zuschenken. Die Begleitung älterer Men-schen durch Casemanager und sozialeProzessmanager wird in den Behand-lungs- und Versorgungsverläufen be-sondere Bedeutung gewinnen.

Diese Aussagen berühren das Themader Sicherung einer integrierten undkontinuierlichen Versorgung alter Men-schen. Dieses Ziel ist nur unter derVoraussetzung erreichbar, dass Koope-ration und Koordination im Gesund-heitswesen verstärkt gefördert werden.Versorgungsbrüche und Schnittstellen-

probleme bilden bekannte Erschei-nungen bei der Versorgung alter Men-schen und mindern deren Lebensqua-lität. Sie zu beheben, ist Aufgabe nichtnur des Gesetzgebers, sondern auch derGesundheitsprofessionen und Gesund-heitsorganisationen. Dabei sollen auchPerspektiven und Präferenzen ältererMenschen als Nutzer des Gesund-heitswesens verstärkt in die Versor-gungsgestaltung eingehen. Stärkung derNutzerkompetenz kann zu erhöhtemGesundheitsbewusstsein, zu verbesser-tem Schutz vor Fehlbehandlung, zuerhöhter Selbstbehandlungsfähigkeitsowie zu einer an den Bedürfnissenälterer Menschen orientierten Ver-sorgung führen.

7. Implikationen für das soziale Sicherungssystem, dieGültigkeit des Generationen-vertrags und den politischenDiskurs

Angesichts des demografischen Wan-dels mit einer deutlichen Zunahmenicht nur der älteren, sondern auchund vor allem der hochbetagten Men-schen stellt sich die Frage nach demAusmaß der Anforderungen an dassoziale Sicherungssystem. Dabei istauch die Finanzierung des Gesund-heitssystems angesprochen. In diesemZusammenhang ist hervorzuheben,dass die heutigen älteren Generationen,verglichen mit den älteren Genera-tionen vor drei Jahrzehnten, fünfgesunde Lebensjahre hinzu gewonnenhaben. Es kann davon ausgegangenwerden, dass sich diese positive Ent-wicklung in Zukunft fortsetzen wird.Somit erscheint die Auffassung einererheblichen Ausweitung der Pflege-bedürftigkeit mit zunehmender Lang-

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Demografische Umgestaltung der Gesundheitsversorgung 151

lebigkeit als nicht angemessen. Vielesspricht dafür, dass die – unter Hinweisauf die demografische Alterung un-serer Gesellschaft – vorgebrachtenBefürchtungen eines erheblichen An-stiegs der Gesundheitsausgaben auf zupessimistischen Annahmen über dievoraussichtliche Entwicklung des Ge-sundheitszustands der Alten der Zu-kunft beruhen.

Von Veränderungen im Bevölkerungs-aufbau allein ist ein vergleichsweisemoderater Anstieg der Gesundheits-ausgaben und Beitragsbelastung zuerwarten. Bedeutsamer sind vielmehrandere ausgabensteigernde Faktoren,insbesondere die Ausweitung des Leis-tungsangebots, eine erhöhte Nachfrageund – auf der Einnahmenseite – die ho-he Arbeitslosigkeit und die Frühver-rentungen. Dennoch wird auch die de-mografische Alterung in steigendemMaße zu erhöhten Pro-Kopf-Ausgabenund Pro-Kopf-Belastungen in derGesetzlichen Krankenversicherungführen. Aus diesem Grunde müssenwirkungsvolle und konsensfähige Ge-genmaßnahmen ergriffen werden, diegeeignet sind, sowohl die Ausgaben-dynamik zu begrenzen als auch dieSumme der beitragspflichtigen Ein-nahmen zu erhöhen. Dabei ist vor ei-ner Absolutsetzung der Beitragsstabilitätzu warnen, sofern an dem Ziel einer be-darfsgerechten, wirksamen, kostengüns-tigen und solidarisch finanziertenGesundheitsversorgung fest gehaltenwerden soll.

Die Erhöhung von Beiträgen in derKranken-, Pflege- und Rentenversi-cherung kann ab einem bestimmtenPunkt dazu führen, dass im gesell-schaftlichen und im politischen Diskursdie Notwendigkeit bestimmter medi-

zinischer oder sozialer Leistungen fürältere Menschen in Frage gestellt wird.Hier ist zum Beispiel an medizini-sche Leistungen für jene älteren Men-schen zu denken, bei denen Pflege-bedarf oder eine weit fortgeschritteneDemenz besteht. Es ist durchaus mög-lich, dass im Falle wachsender finan-zieller Belastungen – auch wenn diesenicht primär auf Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung zurück-zuführen sind – vermehrt das Ar-gument in die Diskussion eingebrachtwird, der Effekt bestimmter medizi-nischer und pflegerischer Leistungen für ältere Menschen sei nicht nach-gewiesen, sodass in Zukunft diese Leis-tungen nicht mehr von der Solidar-gemeinschaft finanziert werden sollten.Es ist damit zu rechnen, dass diesesArgument selbst dann in die Diskussioneingebracht wird, wenn wissenschaft-liche Erkenntnisse dieser Aussage wider-sprechen. In Bezug auf die geriatrischeRehabilitation ist diese Abweichung öf-fentlich vorgetragener Aussagen vonwissenschaftlichen Erkenntnissen be-reits erkennbar. Die Enquete-Kommis-sion ‘Demografischer Wandel’ desDeutschen Bundestages stellt – auf derGrundlage von Ergebnissen einer Ex-pertenanhörung zum Thema Rehabi-litation – in ihrem Zwischenberichtfest, dass in den vergangenen Jahrendie Anzahl der bewilligten Rehabilita-tionsanträge für ältere Menschen rück-läufig sei, obwohl zahlreiche Befundevorlägen, die auf die positiven Effekteder Rehabilitation bei vielen älterenMenschen deuten.36

Es erscheint gerade angesichts der Tat-sache, dass in der Gegenwart immerhäufiger von Belastungen des Gene-rationenvertrages durch den demo-grafischen Wandel gesprochen wird,

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sinnvoll, die Leistungen älterer Men-schen für unsere Gesellschaft dar-zustellen und damit deutlich zu ma-chen, dass zwischen mittlerer undälterer Generation ein Austausch be-steht, sodass diese Beziehung nur un-vollständig charakterisiert wäre, wennnur von den Leistungen der mittlerenfür die ältere Generation gesprochenwürde.37 Das Alter bedeutet für unse-re Gesellschaft nicht nur Belastung,sondern auch Gewinn. Eine Politik fürältere Menschen sollte sich nicht nurauf Fragen der sozialen Sicherungkonzentrieren, sondern auch nach We-gen suchen, wie das Wissen und die Er-fahrungen älterer Menschen für unsereGesellschaft genutzt werden können.Ein Beispiel: In dem Wirtschaftsbericht2001 der Bundesregierung38 wird vorallem mit Blick auf die Arbeitswelt her-vorgehoben, dass unsere Gesellschaftauf das Wissen und die Erfahrungenälterer Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer nicht verzichten kann. Als einezentrale Strategie zur Sicherung desWirtschaftsstandortes Deutschland wirdin dem Wirtschaftsbericht der kon-tinuierliche Anstieg der Beschäfti-gungsdauer gewertet, sodass sich inZukunft das faktische dem gesetzlichdefinierten Renteneintrittsalter annä-hert. Dabei, so wird weiter festgestellt,ist diese erwartete und politisch er-wünschte Entwicklung nicht nur unterdem Aspekt der finanziellen Entlastungdes sozialen Sicherungssystems zubetrachten, sondern auch unter demAspekt der Nutzung spezifischer beruf-licher Expertise, über die viele ältere

Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnenverfügen.

Wenn von der Mitverantwortung derPolitik für ein selbstständiges und pro-duktives Alter gesprochen wird, so istdamit nicht allein die Bundespolitikgemeint, sondern in gleicher Weise dieLandes- und Kommunalpolitik. Geradein Bezug auf die Kommunalpolitik istfestzustellen, dass diese einen bedeut-samen Ort der Daseinsvorsorge bildetund in hohem Maße Einfluss daraufausübt, welche Angebote für ältereMenschen entwickelt werden undwelche Qualität diese Angebote be-sitzen.

Hinsichtlich der Art und Weise, wie derpolitische Diskurs zu Fragen des Altersgeführt wird, sowie der Ressourcenal-lokation sind folgende Prinzipien be-sonders zu beachten: Zum einen dasPrinzip der Wahrhaftigkeit im politi-schen Diskurs, das sich vor allem in dereindeutigen Differenzierung zwischenTatsachenentscheidungen einerseitsund Wertentscheidungen andererseitsausdrückt. Zum anderen das Prinzip derVerteilungsgerechtigkeit, das sich in derBerücksichtigung der Bedürfnisse allerGenerationen – somit auch der älterenGeneration – bei der Verteilung vonRessourcen orientiert. In diesem Zusam-menhang sei abschließend die Feststel-lung getroffen, dass der Generationen-vertrag und die in ihm verwirklichteSolidarität zwischen den Generationenein zentrales Merkmal unserer Ge-sellschaft und Kultur bildet.

Anmerkungen1 Statistisches Bundesamt: Bevölkerungsent-

wicklung bis 2050. Ergebnisse der 9. Ko-ordinierten Bevölkerungsvorausberech-

nung, Wiesbaden 2000.2 Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von

J. Schmid in diesem Sammelband.

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3 Statistisches Bundesamt: Bevölkerungs-entwicklung bis 2050.

4 Deutsches Institut für Wirtschaftsfor-schung: Bevölkerungsvorausberechnungbis zum Jahre 2050, Berlin 1999.

5 Bellach, B.-M.: Reform des Gesundheits-wesens, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.),Anhörung der Enquete-Kommission ‘De-mografischer Wandel’ des DeutschenBundestages am 22. Januar 2001, Berlin2001, S.1–17.

6 Manton, K.G.: Mortality and Morbidity,in: R.H. Binstock & L.K. George (Eds.),Handbook of Aging and the Social Sciences, San Diego 19903.

7 Dinkel, R.: Demografische Entwicklungund Gesundheitszustand. Eine empirischeKalkulation der Healthy Life Expectancyfür die Bundesrepublik Deutschland aufder Basis von Kohortendaten, in: H. Häf-ner (Hrsg.), Gesundheit – unser höchstesGut?, Berlin 1999, S.61–82.

8 Ebd., S.79.9 Kommission: Dritter Bericht zur Lage der

älteren Generation, Bundesministeriumfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend,Berlin 2001, S.70.

10 Kommission: Sachverständigenrat für dieKonzertierte Aktion im Gesundheits-wesen, Gutachten 2000/2001. Bedarfs-gerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit, Bd.1:Zielbildung, Prävention, Nutzerorien-tierung und Partizipation, Baden-Baden2001.

11 Kommission: Dritter Bericht zur Lage derälteren Generation.

12 Robert Bosch Stiftung: Pflege neu denken,Stuttgart 2000.

13 Kruse, A.: Gesund altern. Stand der Prä-vention und Entwicklung ergänzenderPräventionsstrategien. Expertise an dasBundesministerium für Gesundheit, Bun-desministerium für Gesundheit, Bonn2002.

14 Förstl, H./Lauter, H./Bickel, H.: Ursachenund Behandlungskonzepte der Demen-zen. Entwicklungen, Gegenwart undZukunft, in: Deutsches Zentrum für Al-tersfragen (DZA) (Hrsg.), Expertisen zumDritten Altenbericht, Band III, Leverku-sen 2001.

15 Masters, C.L./Beyreuther, K.: Alzheimer’sdisease. British Medicine Journal 1999,316, S.446–448.

16 Kommission: Sachverständigenrat für dieKonzertierte Aktion im Gesundheits-wesen, Gutachten 2000/2001.

17 Ebd., S.25.18 Mielck, A./Helmert, U.: Krankheit und

soziale Ungleichheit. Empirische Studienin Westdeutschland, in: A. Mielck (Hrsg.),

Krankheit und soziale Ungleichheit –Ergebnisse der sozialepidemiologischenForschung in Deutschland, Opladen1994, S.102–134.

19 Klein, T.: Soziale Determinanten der ak-tiven Lebenserwartung, Zeitschrift fürSoziologie, 28, 1999, S.448–464.

20 Voges, W.: Ungleiche Voraussetzungenauf Langlebigkeit – Bestimmungsgründefür Mortalität im zeitlichen Verlauf.Zeitschrift für Gerontologie & Geriatrie,29/1999, S.18–22.

21 Steinhagen-Thiessen, E./Gerok, W./Bor-chelt, M.: Innere Medizin und Geriatrie,in: P.B. Baltes/J. Mittelstrass/U. Staudinger(Hrsg.), Alter und Altern. Ein interdis-ziplinärer Studientext zur Gerontologie,Berlin 1994, S.124–150.

22 Bellach, B.-M.: Reform des Gesund-heitswesens.

23 Siehe zum Beispiel: Tang, T.S./Solomon,L.J./McCracken, L.M.: Cultural barriers tomammography, clinical breast exam, andbreast self-exam among Chinese-Ame-rican women 60 and older, PreventiveMedicine, 31/2000, S.575–583.

24 Lane, D.S./Zapka, J./Breen, N./Messina,C.R./Fotheringham, D.J.: A systems mo-del of clinical preventive care: The caseof breast cancer screening among olderwomen, Preventive Medicine, 31/2000,S.481–493.

25 Ellekjaer, H./Holmen, J./Ellekjaer, E./Vatten, L.: Physical activity and strokemortality in women. Ten-year follow-upof the Nord-Troendelag Health Survey,1984–1986, Stroke 2000, 31, S.14–18.

26 Meier-Baumgartner, H.P. /Nerenheim-Duscha, I./Görres, S.: Die Effektivität vonRehabilitation bei älteren Menschenunter besonderer Berücksichtigung psy-chosozialer Komponenten bei ambu-lanter, teilstationärer und stationärerBetreuung, Stuttgart 1992.

27 Helmchen, H./Baltes, M.M./Geiselmann,B./Kanowski, S./Linden, M./Reischies,F.M./Wagner M./Wilms, H.-U.: Psychi-sche Erkrankungen im Alter, in: K.U.Mayer/P.B. Baltes (Hrsg.), Die Berliner Al-tersstudie, Berlin 1996, S.185–220.

28 Förstl, H./Lauter, H./Bickel, H.: Ursachenund Behandlungskonzepte der Demen-zen.

29 Helmchen u.a.: Psychische Erkrankungenim Alter.

30 Heuft, G./Kruse, A./Radebold, H.: Geron-topsychosomatik, München 2000.

31 Kruse, A./Heuft, G./Schmitt, E./Schulz-Nieswandt, F.: Gesundheit im Alter,Gesundheitsbericht für die Bundesre-publik Deutschland, Berlin 2002.

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32 Stuck, A.: Präventive Hausbesuche mitgeriatrischem Assessment, in: E. Stein-hagen-Thiessen (Hrsg.), Das geriatrischeAssessment, Stuttgart 2001, S.155–167.

33 Helmchen, H./Kanowski, S.: Gegenwär-tige Entwicklung und zukünftige An-forderungen an die Gerontopsychiatriein Deutschland, in: Deutsches Zentrumfür Altersfragen (DZA) (Hrsg.), Expertisenzum Dritten Altenbericht, Band III, Le-verkusen 2001.

34 Heuft, G./Kruse, A./Radebold, H.: Geron-topsychosomatik.

35 Schwerdt, R. (Hrsg.): Gute Pflege. Pflege

in der Beurteilung von Menschen mitPflegebedarf, Stuttgart 2002.

36 Kommission: Enquete-Kommission ‘De-mografischer Wandel’ des DeutschenBundestages, Zwischenbericht, Druck-sache des Deutschen Bundestages, Berlin1998.

37 Kommission: Dritter Bericht zur Lage derälteren Generation.

38 Bundesministerium für Wirtschaft:Wirtschaftsbericht 2001 für die Bun-desrepublik Deutschland, Berlin: Schrif-tenreihe des Bundesministeriums fürWirtschaft.

Weiterführende LiteraturRadebold, H.: Psychodynamik und Psychotherapie Älterer. Psychodynamische Sicht undpsychoanalytische Psychotherapie 50- bis 75-Jähriger, Heidelberg 1992.

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Politische Studien, Sonderheft 2/2002, 53. Jahrgang, Juli 2002

1. Mobilität – Zur Viel-schichtigkeit eines vielgebrauchten Begriffs

Ein wesentliches Kennzeichen mo-derner Gesellschaften besteht darin,dass sie Gesellschaften in Bewegungsind: „Modern society is a society onthe move“1. Doch was bedeutet Be-wegung beziehungsweise Mobilität? Of-fensichtlich ist der Begriff vielschichtigund bedarf folglich auch einer mehr-dimensionalen Analyse, in der unter-schiedliche Bedeutungsfacetten berück-sichtigt werden. Mobilität im Sinnegeografischer oder räumlicher Mobi-lität bildete in der soziologischenForschung und Diskussion bisher einweitgehend auf die Wanderungen be-ziehungsweise Migration einzelnerIndividuen oder Gruppen beschränk-tes Thema.2 Täglich wiederkehrende,zirkuläre Mobilität, also Bewegung imRaum, die einen identischen Ausgangs-und Zielpunkt hat, war eher Gegen-stand der Verkehrsforschung und Ver-kehrspsychologie. In dem Maße, indem Mobilität als Verkehr und ins-besondere in Form von Automobilität

zum Problem und allgemeinen Diskus-sionsstoff wurde, ist sie auch zu-nehmend zum Thema soziologischerErklärungs- und Theoriebildungsver-suche geworden. Insbesondere im Rah-men ökologisch orientierter Stadt-forschung und der Diskussion um eine„neue Urbanität“ wurde der (negative)Einfluss des immer dominanter wer-denden Automobilverkehrs thema-tisiert3, aber auch im Zusammenhangmit der Verbreitung neuer Informa-tions- und Kommunikationstechnolo-gien wird die Frage nach räumlicherMobilität neu gestellt4. Dabei handeltes sich angesichts der ungebrochenenAttraktivität des motorisierten Indivi-dualverkehrs vorwiegend um Versuche,neue Definitionen von Mobilität undneue theoretische Konzepte zu ent-wickeln, die über die in der Verkehrs-forschung gebräuchlichen, weitgehendauf rational-technische Erklärungenbeschränkten Ansätze hinaus gehen.Burkart5 beispielsweise meint mit Mo-bilität sowohl die zeit-räumliche Be-wegung von Akteuren als auch soziale„Mobilisierung“, also Freisetzungenund soziale Umschichtungen6. Er be-

Ältere Menschen in der mobilenFreizeitgesellschaft

Konsequenzen für die Verkehrspolitik

Heidrun Mollenkopf/Hans-Werner Wahl

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schränkt sich bei seinen Überlegungenjedoch auf die mit der Diffusion desAutos verbundenen Phänomene undbetrachtet Automobilismus aus kultur-theoretischer Perspektive der Technik-Soziologie als sozio-kulturelles Phä-nomen. Ähnlich argumentiert Kuhm7,der die Herausbildung des Automobil-verkehrs zum großtechnischen Systemin Anlehnung an Braun8 als spiralför-migen Prozess auffasst, in dem dieMöglichkeit der Nutzung eines priva-ten Pkw’s die Voraussetzung für eineDifferenzierung des Alltagshandelnsund sein vielfacher Gebrauch durch dieGesellschaftsmitglieder zugleich Vor-aussetzung seiner weiteren Verbreitungist.

Weitergehende Erklärungsansätze se-hen – allerdings ebenfalls auf den mo-torisierten Individualverkehr bezo-gen – Mobilität unter Rückgriff auf Klas-siker wie Comte, Simmel oder Giddensals Ausdruck gesellschaftlicher Moder-nisierung9: Modernisierung als dieGlobalisierung von Raum, als Ursacheund Folge räumlicher Segregation undTrennung gesellschaftlicher Funktions-bereiche, unlösbar verbunden mit so-zialer Differenzierung und Individua-lisierung. Umgekehrt wird Mobilität imSinne von Verkehr als Indikator für denGrad gesellschaftlicher Modernisierungverstanden. Rammler10 spricht deshalbin Anlehnung an Max Weber von einer„Wahlverwandtschaft zwischen Mo-derne und Mobilität“, die zu einer zu-nehmenden gegenseitigen Abhängig-keit führt. Dies hat zur Folge, dass Mo-bilität eine wesentliche Dimension desLebens in modernen Gesellschaftengeworden und damit natürlich auch für ältere und alte Mitglieder dieserGesellschaften von zentraler Bedeutungist.

2. Zur Bedeutung von Mobilität im Alter

Altern wird bis heute vor allem alsVeränderung personaler Gegebenheiten(z.B. von Gesundheit oder Gedächtnis),weniger als Veränderungen in Person-Umwelt-Systemen verstanden. In einerökologischen Orientierung hingegensteht die Wechselwirkung zwischenMenschen und ihren jeweiligen Umwel-ten im Mittelpunkt. Wechselwirkungheißt, dass Menschen ihre Umweltschaffen oder zumindest mitgestalten,und umgekehrt je spezifische Umwelt-gegebenheiten fördernd oder erschwe-rend auf ihre Verhaltensmöglichkeitenzurückwirken. Eine Grundannahme istdabei, dass „nur dasjenige als die Um-welt eines Menschen (gilt), was für dieBetreffenden erlebnis- und verhaltens-wirksam ist.“11 Außerdem – und dies isteine zweite Grundannahme –, musszwischen Mensch und Umwelt eineangemessene „Passung“, ein „Fit“ beste-hen, der einerseits genügend Spielraumfür Anregungen, vielleicht sogar Her-ausforderungen enthält, andererseitsaber die Kompetenzen einer Personauch nicht überfordert.12 Außerhäus-liche Mobilität kann nun als eine pro-totypische Wechselwirkung zwischenalternder Person und Umwelt mit ho-her Bedeutung verstanden werden: DasVerlassen der Wohnung, die alltäglichenWege und Fahrten sind Voraussetzungfür eine selbstständige Lebensführung,für haushaltsübergreifende Kontakteund bürgerschaftliches Engagement,und sie können der Strukturierung desAlltags, der Bestätigung eigener Fähig-keiten, der Selbstdarstellung und Auf-rechterhaltung von Identität dienen.13

Mobile ältere Menschen (ab 60 Jahre)halten sich nach einer Untersuchung

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Ältere Menschen in der mobilen Freizeitgesellschaft 157

in Südhessen an Werktagen im Durch-schnitt 239 Minuten außerhalb ihrerWohnung auf.14 Ähnliche Befunde er-gab eine eigene mehrstufige Unter-suchung, die 1995 in einer ost- undeiner westdeutschen Großstadt (Chem-nitz und Mannheim) zu Bedürfnis-sen, Verhaltensweisen und Problemenälterer Menschen hinsichtlich ihreraußerhäuslichen Mobilität durchge-führt wurde. Die 90% der 55-jährigenund älteren Befragten, die ihre Woh-nung innerhalb von drei Tagen min-destens einmal verlassen hatten, warenlaut ihrer Tagebuchaufzeichnungen imDurchschnitt rund drei Stunden amTag außer Haus unterwegs.15 In ihrerWohnung – das ist aus Zeitbudgetstu-dien bekannt – verbringen 60–64-Jährige täglich 19 Stunden und über 70-Jährige 20,5 Stunden (jeweils imDurchschnitt); das entspricht insgesamtrund 80% des Tages.16

Mit diesen quantitativen Relationen istallerdings noch nichts über die Bedeu-tung ausgesagt, die das lange Leben in-nerhalb und das kurze Leben außerhalbder eigenen vier Wände für ein be-friedigendes Altern haben. Vielmehr istanzunehmen, dass die wenige draußenverbrachte Zeit – und damit auch derAktionsraum, das Umfeld draußen vorder Tür – im Alter immer wichtigerwird, gerade weil der in der Wohnungverbrachte Anteil der Zeit wächst undder Aktionsradius und das Aktivi-tätsspektrum außerhalb der Wohnungabnehmen. Dies wird durch Aussagenälterer Frauen und Männer unter-mauert, die in offenen Interviewsdanach gefragt wurden, was es für siebedeutet, aus dem Haus gehen zu kön-nen.17 Die Antworten verdeutlichen,dass Mobilität für sie über die Not-wendigkeit alltäglicher Erledigungen

hinaus insbesondere mit der Erfahrungvon Neuem und Anregendem, mit kör-perlicher Bewegung und dem Erlebenvon Natur und der Begegnung mit an-deren Menschen verbunden ist. Indiesem Sinne bedeutet Mobilität für sie weit mehr als ein rationales Mittelzum Erreichen bestimmter Ziele, näm-lich Freude und Selbstbestätigung, Teil-habe an der natürlichen und sozialenUmwelt, Unabhängigkeit und Wahl-freiheit und – speziell für sehr alte Men-schen bei Antizipation des nahen Le-bensendes – das Gefühl, noch einvollwertiges Mitglied der Gesellschaftzu sein. Diese Motive decken sich zumTeil mit Werten wie Freiheit und Frei-zügigkeit, Freizeit und Selbstbestimmt-heit, die (unter anderen) als charakte-ristische Ursache für die zunehmendeMobilität in modernen Gesellschaftenangesehen werden,18 gehen aber nochüber diese hinaus.

Vor diesem Hintergrund – also derErkenntnis, dass einerseits außerhäus-liche Mobilität im Alter zwar quanti-tativ im Durchschnitt relativ wenig„Alltagszeit“ einnimmt, dass ihr an-dererseits jedoch subjektiv eine hoheund vielfältige Bedeutung zukommt –wollen wir im folgenden Teil der Arbeiteinige Schlaglichter auf die vielenGesichter der außerhäuslichen Mobi-lität älterer Menschen werfen. Begin-nen werden wir mit einer Beschreibungihrer alltäglichen Wege, gefolgt voneiner Charakterisierung der für ältereMenschen besonders wesentlichenaußerhäuslichen Freizeitaktivitäten. Imdritten Schritt wenden wir uns dennicht-alltäglichen Mobilitätshandlun-gen, den Ausflügen und Reisen Älterer,zu. Nach dieser Betrachtung der Inhalteaußerhäuslicher Mobilität gehen wir im vierten Schritt auf die von Älteren

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Heidrun Mollenkopf/Hans-Werner Wahl158

genutzten Mittel zur Realisierung vonMobilität ein. In einem fünften undletzten Schritt fragen wir schließlichnach der Zufriedenheit Älterer mitihren Mobilitätsmöglichkeiten, die ih-rerseits wiederum mit den realisiertenbeziehungsweise realisierbaren Mobi-litätsinhalten und -mitteln zusammen-hängen.

3. Die vielen Gesichter außer-häuslicher Mobilität im Alter:Befunde eigener Studien

In unserer Darstellung rekurrieren wirin erster Linie auf eigene Untersu-chungen, und zwar einmal auf eine imJahr 1995 in den Städten Mannheimund Chemnitz durchgeführte Studie,die mit der Erhebung in anderen eu-ropäischen Städten (Ancona, Italien;Jyväskylä, Finnland) gekoppelt war.19

Zum anderen werden Daten aus einerim Jahre 1999 in zwei ländlichen Re-gionen (Hunsrück, Westdeutschland;Lausitz, Ostdeutschland) durchgeführ-ten Studie einbezogen.20 In beiden Studien wurden die Voraussetzungen,Bedürfnisse und Muster außerhäus-licher Mobilität bei jeweils einer etwagleich großen Zahl zufällig ausge-wählter Frauen und Männer, geschich-tet nach zwei Altersgruppen (55–74Jahre und 75 Jahre und älter) in stan-dardisierten Interviews und Tagebü-chern erhoben. Die Stichprobe um-fasste in den Städten 804 Personen(Outdoor Mobility Survey und Diary1995) und in den ländlichen Regionen412 Personen (Rural Mobility Surveyund Diary 1999) ab 55 Jahre.

Schon aus der Grobcharakterisierungder Studien wird ersichtlich, wie not-wendig und erhellend es ist, die außer-

häusliche Mobilität Älterer nach ver-schiedenen sozial-strukturellen Krite-rien zu differenzieren: Neben unter-schiedlichen individuellen Lebensbe-dingungen wie Alter, Geschlecht, so-zioökonomischem Status und gesund-heitlicher Situation bestehen mit hoherWahrscheinlichkeit Unterschiede hin-sichtlich Mobilität, wenn nach regio-nalem Kontext (Ost- versus West-deutschland; städtische versus ländlicheRegionen) differenziert wird. Schließ-lich ist es nicht zuletzt in einer Zeit, inder Europa immer stärker zusammen-wächst, auch in einer wissenschaft-lichen Perspektive sinnvoll, nach Un-terschieden und Gemeinsamkeiten inder außerhäuslichen Mobilität Ältererin unterschiedlichen europäischen Re-gionen zu fragen. Aus diesem Grundesoll nachfolgend auch dieser Schwer-punkt der bisherigen und zukünftigenArbeiten des Deutschen Zentrums fürAlternsforschung Beachtung finden.

3.1 Die alltäglichen Wege älterer Menschen

Wie zentral das unmittelbare Wohnum-feld und das Wohngebiet für diealltäglichen Aktivitäten Älterer sind,lässt sich aus den relativ engen Aktions-oder Handlungsräumen schließen, indenen sie sowohl alltägliche Besorgun-gen erledigen wie sozialen oder phy-sischen Aktivitäten nachgehen. Auf derGrundlage der Tagebucheintragungenvon 1215 Befragten können wir dies imDetail nachvollziehen:

Knapp die Hälfte aller Wege der vonuns befragten Männer und Frauen fanden in den beiden untersuchtenStädten und ländlichen Regionen inder näheren Umgebung der Wohnung

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Ältere Menschen in der mobilen Freizeitgesellschaft 159

statt (Tabelle 1). Als weitere Ziele wur-den überwiegend die Stadt- oder Orts-zentren sowie andere Ortsteile oder dieweitere Umgebung genannt. In eineandere Stadt oder einen anderen Ortführten vergleichsweise mehr Wege derLandbewohner als der Städter. InChemnitz und Mannheim beliefen letz-tere sich auf rund 3% beziehungsweise7%, während in der Lausitz 11% undim Hunsrück sogar 22% aller Wegeeinen anderen Ort zum Ziel hatten. Da

jedoch die Entfernung in den Tage-büchern nicht erfasst wurde, bestehtdiesbezüglich möglicherweise keingroßer Unterschied zu den häufiger inden Stadtzentren oder in anderen Stadt-teilen gelegenen Zielen der städtischenWege. Friedrich21 stellte in seiner Un-tersuchung in Südhessen ebenfalls fest,dass „fast zwei Drittel (61%) allerAußerhausaktivitäten“ im Durchschnittin einem Umkreis von einem halbenund drei km stattfinden.22

Tabelle 1: Ziele der zurückgelegten Wege a)

Städtische Regionen Ländliche Regionen

Chemnitz Mannheim Lausitz Hunsrück

Zielorte

Nähere Umgebung, Nachbarschaft 49 50 46 45

Haltestelle, Bahnhof 19 7 1 1

Innenstadt, Ortszentrum 10 16 28 21

Weitere Umgebung, anderer Stadt- oder Ortsteil 19 19 13 11

Anderer Ort, andere Stadt 3 7 11 22

Angaben in %a) Basis: Alle Teilwege mobiler Personen (d.h. der Personen, die während der drei dokumentierten Tage

mindestens einmal außerhalb ihrer Wohnung unterwegs waren) ohne Rückweg zur Wohnung (Ch:1956; Ma: 1926; Lau: 743; Hun: 600 Teilwege);

N (Chemnitz) = 360; N (Mannheim) = 363; N (Lausitz) = 180; N (Hunsrück) = 170 Datenbasis: Outdoor Mobility Diary 1995; Rural Mobility Diary 1999

Ob und in welchem Umfang Ältere ihrBedürfnis verwirklichen können, au-ßerhalb ihrer Wohnung etwas zu un-ternehmen, hängt von ganz unter-schiedlichen Faktoren ab. Ein wichtigerFaktor dabei ist der Gesundheitszustandeiner Person, denn das wichtigsteVerkehrsmittel älterer Frauen und Män-ner sind die eigenen Füße. Über dieHälfte ihrer alltäglichen Wege legen siezu Fuß oder mit dem Fahrrad, also inForm von nichtmotorisiertem Indi-vidualverkehr, zurück. Beeinträch-tigungen der Bewegungsfähigkeit tre-ten erwartungsgemäß unabhängig vonWohnregion und Geschlecht mit zu-

nehmendem Alter verstärkt auf. DerAnteil der Personen, die ständig in ihrerBewegungsfähigkeit eingeschränkt sind,steigt von knapp einem Drittel bei den55–64-Jährigen auf fast die Hälfte beiden 75-Jährigen und Älteren. Immer-hin jede beziehungsweise jeder fünfteüber 75-Jährige fühlt sich jedoch (noch)nicht beeinträchtigt. Wenn die Be-wegungs- und Reaktionsfähigkeit, dasSeh- oder Hörvermögen oder ganz all-gemein die Kräfte allmählich nach-lassen, fallen natürlich ungünstigeUmweltbedingungen wie bauliche Hin-dernisse im Wohnumfeld oder schwie-rige Verkehrsverhältnisse stärker als

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Heidrun Mollenkopf/Hans-Werner Wahl160

bei jungen Menschen ins Gewicht. Äl-tere, die in ihrer physischen Bewe-gungsfähigkeit beeinträchtigt sind, aberauch diejenigen, die kein Auto besit-zen, legen demzufolge weniger Wegezurück und sind außerhalb der Woh-nung weniger aktiv als Personen, die in ihrer Mobilität nicht eingeschränktsind. Von den befragten Hochaltri-gen (ab 80 Jahre) in Chemnitz undMannheim wurden nur 0,8 Wege proTag zurückgelegt, in den jüngeren Al-tersgruppen signifikant mehr (55–64Jahre: 1,4; 65–74 Jahre: 1,3; 75–79Jahre: 1,2 Wege pro Tag23).

Signifikante Unterschiede bestehenauch zwischen Personen, die aktiv Auto fahren, und solchen, die die-ses Verkehrsmittel nicht selbstständignutzen (können). Aktive Autofahrerund -fahrerinnen legen im Durch-schnitt in den ländlichen Regionen 1,2 und in den Städten 1,6 Wege proTag zurück, während der entsprechendeDurchschnitt bei den Nicht-Auto-fahrern zwischen einem Weg (Land)und 1,1 Wegen (Städte) liegt. Insgesamtwaren die Mannheimer Befragten anden dokumentierten drei Tagen mitdurchschnittlich 3,6 Wegen (vom Ver-lassen der Wohnung bis zur Rückkehrnach Hause; das entspricht der in derVerkehrsforschung verwendeten Defi-nition von „Ausgängen“) am häufigs-ten und die Befragten im Hunsrück mit drei Wegen am seltensten außer-halb ihrer Wohnung unterwegs. DieBefragten in den beiden ostdeutschenRegionen berichteten während desgleichen Untersuchungszeitraums un-abhängig vom Wohnort über durch-schnittlich 3,4 Wege. Auf einen Tagumgerechnet ergeben sich daraus imDurchschnitt je Person zwischen einemund 1,3 Wegen in den westdeutschen

und 1,2 Wege in den beiden ost-deutschen Regionen.

Betrachtet man die Wegedauer, be-rechnet auf der Grundlage aller im Zeitraum von drei Tagen zurückge-legten Wege der mobilen Personen(jeweils einschließlich Aktivität amZielort), fällt auf, dass die Wege derLandbewohner im Durchschnitt kür-zer sind als diejenigen der Stadtbe-wohner: Im Hunsrück dauerte eindurchschnittlicher „Ausgang“ zwei-einhalb Stunden (150 Minuten) und in der Lausitz nur knapp über zweiStunden (124 Minuten). In den Städtenwar der Zeitaufwand für einen durch-schnittlichen Weg – wiederum ein-schließlich Aktivität(en) am Zielort –größer, nämlich knapp drei Stunden(168 Minuten). Die Dauer eines typi-schen Weges je Befragtem unterschei-det sich allerdings in allen vier Re-gionen deutlich nach Alter undGeschlecht: Die längste Zeit sind Män-ner der jüngeren Altersgruppe außerHaus unterwegs (Ma: 268 Min.; Ch:288 Min.; Hun: 209 Min.; Lau: 181Min.), während die hochaltrigen Frau-en (ab 75 Jahre) die vergleichsweisekürzeste Zeit außerhalb ihrer Wohnungverbringen (Ma: 147 Min.; Ch: 115Min.; Hun: 108 Min.; Lau: 99 Min.).

Die beobachteten Unterschiede dürf-ten zum einen durch objektive in-dividuelle und strukturelle Gegeben-heiten begründet sein (von den jün-geren Männern ist in den Städten nochein beträchtlicher Teil erwerbstätig; alte Frauen haben häufig keinen Füh-rerschein und kein Auto; in Ost-deutschland besitzen weniger Ältere ein Auto als in Westdeutschland), zumanderen – speziell auf dem Land – ver-mutlich aber auch durch in diesen

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Ältere Menschen in der mobilen Freizeitgesellschaft 161

Generationen älterer Menschen nochhäufig traditionell geprägte geschlechts-spezifische Verhaltensmuster.

3.2 Die außerhäusliche Freizeit-gestaltung Älterer

Bei den außerhäuslichen Freizeitakti-vitäten Älterer stehen gemeinschaft-

liche Unternehmungen wie das Zu-sammensein mit Freunden oder Ver-wandten an erster Stelle, gefolgt vonSpazierengehen und Stadtbummeln.Diese Aktivitäten werden nicht nur amhäufigsten ausgeübt, sondern auch vonden meisten Frauen und Männern un-abhängig von Alter, Bewegungsfähig-keit oder Autobesitz als wichtig erachtet(Tabelle 2).

Tabelle 2: Wichtige Aktivitäten älterer Menschen (nach Alter und Beeinträchtigung)

Alter Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit

55–74 75+ keine ständig

SOZIALE AKTIVITÄTENFreunde und Bekannte treffen 51 41 50 40Religiöse Veranstaltungen 8 11 10 10Klub- und Vereinsaktivitäten 5 6 8 4Seniorenveranstaltungen 3 9 5 7

HÄUSLICHE AKTIVITÄTENZu Hause Besuch bekommen 33 37 31 36Spiele machen (u.a. Bingo, Skat) 8 7 8 4Lesen, Rätsel raten etc. 39 43 42 40Es sich zu Hause gemütlich machen 25 33 23 32Handarbeiten, „Do it yourself“, Reparaturen 17 10 19 12

MIT MOBILITÄT VERBUNDENE AKTIVITÄTENSpazieren gehen, Stadtbummel 40 39 43 36Ausflugsfahrten, kleinere Reisen 27 17 25 15Gartenarbeit 34 13 24 20Wandern, Radfahren 23 10 24 11Aktiv Sport treiben 8 6 11 4

KULTURELLE AKTIVITÄTENTheater, Kino, Konzerte 12 8 12 7Bücherei aufsuchen 2 1 2 1

SONSTIGE AKTIVITÄTENIns Café oder Restaurant gehen 13 12 16 8Tanzen, Kegeln 5 3 6 3

Angaben in %fett: Unterschiede den Ausprägungen der jeweiligen Variable signifikant (p<0.01)N (Chemnitz) = 400; N (Mannheim) = 404Datenbasis: Outdoor Mobility Survey 1995

Als Beschäftigung innerhalb der Woh-nung wird Lesen am häufigsten ge-nannt und als wichtig bezeichnet.Diese und andere ruhige, eher passiveBeschäftigungen wie Besuch bekom-

men oder es sich einfach zu Hause ge-mütlich machen, sind vorwiegend fürPersonen höheren Alters von Bedeu-tung, die entweder kein Auto zur Ver-fügung haben oder aus gesundheit-

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lichen Gründen in ihrer Bewegungs-fähigkeit eingeschränkt sind. Mit zu-nehmendem Alter verstärkt sich dieWichtigkeit dieser Beschäftigungen in-nerhalb der Wohnung oder im näherenWohnumfeld noch.

Für Autofahrer wie für mobile jüngerePersonen stehen Aktivitäten wie Aus-flüge machen, Wandern und Rad-fahren, aktiv Sport treiben oder auchins Café oder Restaurant gehen, stärkerim Vordergrund. Nennenswerte Un-terschiede zwischen Männern undFrauen finden sich nur in wenigenBereichen. So wird das Zusammenseinmit Freunden, Lesen oder Rätsellösensowie ein gelegentlicher Theater- oderKinobesuch mehrheitlich von Frauenals wichtig erachtet, während MännerGartenarbeit, Wandern und Radfahrenetwas häufiger nennen. Aktivitäten wieder Besuch von Seniorenveranstaltun-

Abbildung 1: Aktivitätsniveau und Zufriedenheit mit Freizeitmöglichkeiten

gen, Kirchgang oder andere religiöseVeranstaltungen haben erst ab einemAlter von 75 Jahren eine gewisse Be-deutung (Tabelle 2).

Frauen und Männer, die in mehrerenBereichen – häuslich, sozial, körperlich,kulturell oder anderweitig – aktiv sind,äußern sich wesentlich zufriedener überihre Freizeitmöglichkeiten als Perso-nen, deren Aktivitätsspektrum ver-gleichsweise eingeschränkt ist. Am un-zufriedensten sind Ältere, die kaumnoch etwas oder gar nichts mehr außer-halb ihrer Wohnung unternehmenkönnen (Abbildung 1). Das niedrigeZufriedenheitsniveau der wenig akti-ven Älteren ist ein klarer Hinweis da-rauf, dass sie gerne mehr unternehmenwürden, wenn sie könnten. Ein Drittel(33%) der 55-jährigen und älterenMänner und Frauen äußert diesenWunsch auch ganz direkt.

Angaben in %* mindestens eine außerhäusliche Aktivitätskategorie(( )) Fallzahl: n<30kursiv: Durchschnitt auf Zufriedenheitsskala von 0 (ganz und gar unzufrieden)

bis 10 (ganz und gar zufrieden)Datenbasis: Outdoor Mobility Survey 1995

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Differenziert man bei der Betrachtungaußerhäuslicher Freizeitaktivitäten nachost- und westdeutschen Befragten undStadt- und Landbewohnern, dann las-sen sich je nach regionaler Zugehö-rigkeit teilweise deutliche Unterschiedeerkennen. Lediglich alternsbedingte Ein-schränkungen im Aktivitätsspektrum(insbesondere bei Tätigkeiten, die einegute physische Kondition erfordern)lassen sich in Ost und West und in Stadtund Land gleichermaßen feststellen(Tabelle 3). Auf dem Land berichten ins-besondere die jüngeren Befragten übermehr außerhäusliche Freizeitaktivitätenals in den Städten. Außerdem unter-

scheiden sich die westdeutschen deut-lich von den ostdeutschen Befragten,und zwar unabhängig davon, ob sie inder Stadt oder auf dem Land leben. DieÄlteren in den westdeutschen Unter-suchungsregionen sind in mehr Freizeit-bereichen aktiv als die jeweils Gleichal-trigen in den ostdeutschen Regionen. InBezug auf die Zufriedenheit mit ihrenFreizeitmöglichkeiten besteht jedochkein Unterschied zwischen den Älte-ren in Ost- und Westdeutschland. Viel-mehr beurteilen die Befragten in beidenStädten ihre diesbezüglichen Möglich-keiten etwas besser als die Älteren in denländlichen Regionen.

Tabelle 3: Außerhäusliche Freizeitaktivitäten und Zufriedenheit Älterer

Variable 55–74 Jahre 75 und älter(M oder %, n)

Ländliche LändlicheRegionen Stadtregionen Regionen Stadtregionen (n = 221) (n = 412) (n = 191) (n = 392)

W O Unter- W O Unter- W O Unter- W O Unter-Hun Lau schiede Ma Ch schiede Hun Lau schiede Ma Ch schiede

Außerhäusliche Freizeitaktivitäten (0–13) a) 6.2 4.0 *** 4.6 3.3 *** 3.9 2.4 *** 3.3 2.3 ***

Zufriedenheit mit Freizeitaktivitäten (0–10) b) 7.1 7.0 n.s. 7.5 7.1 n.s. 6.3 6.2 n.s. 6.7 6.6 n.s.

Anmerkung: * = p < .05; ** = < .01; *** = < .001.a) Summenscore aus Aktivitäten wie Wandern, kulturelle Aktivitäten (Kino, Theater usw.),

Gartenarbeit, Sport, usw. (0–13).b) Durchschnittswerte auf einer Zufriedenheitsskala von 0 (ganz und gar unzufrieden)

bis 10 (ganz und gar zufrieden).

3.3 Ausflüge und Reisen Älterer

Eine besondere Form von Mobilität istdas Reisen. Immer mehr ältere Men-schen verbringen kürzere oder längereZeiten fern ihres Wohnortes. Sie ma-chen einen Großteil der Kunden vonReise- und Touristikunternehmen aus24,und selbst Wohlfahrtsverbände haben

inzwischen die Älteren als Reisekundenentdeckt und bieten entsprechendeProgramme an. Schlagzeilen wie „Se-nioren geben Gas“25, „So alt und somobil“26, oder „Oldies – die Goldies derReisebranche?“27 verdeutlichen eineEntwicklung, die dazu geführt hat, dassreisende Senioren geradezu zur „In-karnation“28 der aktiven, „jungen“ Al-

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ten geworden sind. Nach Daten derForschungsgemeinschaft Urlaub undReisen29 sind 1997 knapp zwei Drit-tel der 50- bis 64-Jährigen verreist. Vonden Frauen und Männern ab 65 Jahrewaren es in Westdeutschland 43% undin Ostdeutschland knapp 49%. Wäh-rend Wandern und Reisen in früherenZeiten vor allem aus Not erfolgte und

mit großen Anstrengungen und Risikenverbunden war, haben Verbesserungender Verkehrsmittel und der technischenund organisatorischen Infrastruktur aufder einen und größere finanzielle undzeitliche Spielräume auf der anderenSeite es auch Älteren zunehmend er-möglicht, ihre Reisewünsche zu er-füllen.30

Abbildung 2: Größere Reisen Älterer in vier europäischen Regionen

Angaben in %Reisen in den letzten zwei Jahren von mindestens einer Woche DauerDatenbasis: Outdoor Mobility Survey 1995

Die mit dem Outdoor Mobility Survey1995 erhobenen Daten zeigen aberauch, dass es eine große Zahl ältererMenschen gibt, die nicht reisen oderzumindest in den zwei Jahren vor derBefragung nicht verreist waren. Zwarhaben auch 29% der 55-Jährigen undÄlteren in der westdeutschen und 21%der Älteren in der ostdeutschen Unter-suchungsregion zwischen Anfang 1994

und Herbst 1995 – also in knapp zweiJahren – eine größere Reise gemacht,und in beiden Städten sind etwa gleichviel Ältere (29% bzw. 30%) sogarmehrmals für mindestens eine Wocheverreist. Umgekehrt bedeutet das je-doch, dass etwa die Hälfte (49%) derÄlteren in Chemnitz und 41% derGleichaltrigen in Mannheim in diesemZeitraum keine Reise gemacht haben.

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Selbst in Finnland mit seinen langenWintermonaten ist nur rund die Hälfteder älteren Befragten ein- odermehrmals verreist, und in Italien (An-cona) lag dieser Anteil sogar bei 72%(Abbildung 2).

Die Bahn wird – international ver-gleichend betrachtet – in sehr unter-schiedlichem Maße benutzt: Währendin Italien lediglich 22% der Befragtengelegentlich mit dem Zug fahren, sindes in Finnland 53%. Die Älteren in den

Abbildung 3: Größere Reisen Älterer (nach Alter, Bewegungsfähigkeit,Haushaltsgröße, Pkw-Besitz, Geschlecht und Einkommen)

Angaben in %In den letzten zwei Jahren Reisen länger als eine WocheN(Chemnitz)=400; N(Mannheim)=404Datenbasis: Outdoor Mobility Survey 1995

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deutschen Untersuchungsregionen lie-gen mit 26% (Chemnitz) und 42%(Mannheim) dazwischen. Noch sel-tener dient das Flugzeug als Transport-mittel: Nur 10% der italienischen undostdeutschen und 20% der westdeut-schen Befragten gaben an, gelegentlichzu fliegen. Nur in Finnland mit seinengroßen Distanzen lag diese Zahl deut-lich höher: 45% der Befragten reisendort auch mit dem Flugzeug.

Ob Reisen gemacht werden beziehungs-weise gemacht werden können, hängtmit ähnlichen Voraussetzungen zusam-men wie die Ausübung anderer Frei-zeitaktivitäten: mit der Bewegungsfä-

higkeit, dem Alter und der Verfügbar-keit eines Autos. Darüber hinaus ist fürgrößere Reisen die Höhe des Ein-kommens von Bedeutung. „Junge“ Alte(55–74 Jahre), Personen, die (noch)einen Partner beziehungsweise einePartnerin haben und/oder nicht inihrer Bewegungsfähigkeit beeinträchtigtsind, Autobesitzer und Personen mithöherem Einkommen verreisen öfterals Personen, die diese Voraussetzun-gen nicht erfüllen (Abbildung 3). Auchdie Bildung spielt eine Rolle: Perso-nen mit höherer Bildung reisen nichtnur häufiger, sondern auch mehr ins Ausland und auch noch im höherenAlter.31

Abbildung 4: Zufriedenheit mit Reisemöglichkeiten nach durchgeführten Reisen

Angaben in %kursiv: Durchschnitt auf Zufriedenheitsskala von 0 (ganz und gar unzufrieden)

bis 10 (ganz und gar zufrieden)– keine Zufriedenheitswerte erhobenN(Chemnitz)=395; N(Mannheim)=389Datenbasis: Outdoor Mobility Survey 1995

Entsprechend zeigt sich auch bei derZufriedenheit mit den Reisemöglich-keiten ein ähnliches Muster wie bei der Zufriedenheit mit der Freizeit: Ältere, die größere Reisen unternom-

men haben, äußern sich wesentlich zufriedener als diejenigen, die nichtverreisen konnten (Abbildung 4).Dieses Ergebnis ist erneut ein Hin-weis darauf, wie wichtig es ist, im Alter

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mobil und aktiv sein zu können. Eswäre also ein entscheidender Beitragzur Lebensqualität älterer Männer undFrauen, wenn es gelingen würde, ihnendiese Möglichkeiten auch bei körper-lichen Beeinträchtigungen, bei fi-nanziellen Restriktionen und unterungünstigen sozialen, technischen undräumlichen Umweltbedingungen zu er-halten.

3.4 Zur alltäglichen Verkehrs-mittelnutzung im Alter

Neben dem Gesundheitszustand ei-ner Person ist die Verfügbarkeit priva-ter oder öffentlicher Verkehrsmitteleine wichtige Voraussetzung für dieMöglichkeit, außerhalb der eigenen

vier Wände unterwegs zu sein. EineVersorgung mit Verkehrsmitteln des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) ist in vielen ländlichen Ge-genden und städtischen Randgebietenjedoch nur rudimentär gegeben, undFührerschein und Autobesitz hängenbei älteren Menschen derzeit noch starkvon der Zusammensetzung des Haus-halts, von Einkommen, Alter, Ge-schlecht und Ost- oder West-Zuge-hörigkeit einer Person ab. So wurdenBus oder Straßenbahn in den beidenuntersuchten Großstädten von rund 80% der Älteren zumindest gelegent-lich benutzt. In den untersuchtenländlichen Regionen war die ÖPNV-Nutzung dagegen deutlich geringer:Nicht einmal die Hälfte der Älteren(Lausitz: 44%; Hunsrück: 41%) be-

Tabelle 4: Pkw-Verfügbarkeit in Haushalten Älterer (nach Wohnregion, Alter und Haushaltsform)

Angaben in %* Pkw-Verfügbarkeit: Unterschiede zwischen Ost- und Westregion signifikant (p<0.01)N (Chemnitz) = 400; N(Mannheim) = 404; Datenbasis: Outdoor Mobility Survey 1995N (Lausitz) = 207; N(Hunsrück) = 205; Datenbasis: Rural Mobility Survey 1999

Stadtregionen * Ländliche Regionen *

Chemnitz Mannheim Lausitz Hunsrück

Alter 1 Person mehr 1 Person mehr 1 Person mehr 1 Person mehr Pers. Pers. Pers. Pers.

55–64 Jahre 39 84 55 88 25 81 33 89

65–74 Jahre 19 47 39 75 10 82 31 88

75–79 Jahre 2 41 31 67 18 47 33 70

ab 80 7 23 8 45 6 42 7 57

nutzte dort öffentliche Verkehrsmittel.Über einen privaten Pkw verfügen dieälteren Westdeutschen signifikanthäufiger als die Ostdeutschen, und ab-gesehen von den hochbetagten Frauenund Männern auf dem Land fahren sieauch häufiger selbst Auto. Mehr als dieHälfte der 55-Jährigen und Älteren inder untersuchten westdeutschen, aber

lediglich zwei Fünftel in der ost-deutschen Großstadt hatten 1995 einAuto im Haushalt. In den ländlichenRegionen lag der Anteil der Autobe-sitzer 1999 – möglicherweise auf Grundder inzwischen weiter fortgeschrittenenMotorisierung – jeweils knapp überdem der städtischen. In den Städtenwie auf dem Land ist die Zahl der Pkw-

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Besitzer in den jüngeren Altersgruppendeutlich höher als in den älteren, undAlleinlebende haben wesentlich sel-tener ein Auto zur Verfügung als Per-sonen, die in Zwei- und Mehrper-sonenhaushalten leben (Tabelle 4).

Dasselbe gilt nach unseren Analysenauch für die Bezieher niedriger Einkom-men. Nur im Hunsrück, der unter-suchten westdeutschen Landregion, ist der Autobesitz auch in der niedrigs-ten Einkommensgruppe hoch.

Basis: Wege an drei TagenQuelle: Outdoor Mobility Diary 1995; Rural Mobility Diary 1999.

Abbildung 5: Benutzte Verkehrsmittel (Städtische und ländliche Regionen; in Prozent)

Die Unterschiede in der verkehrstech-nischen Infrastruktur und Ausstattung,aber auch geografische Gegebenhei-ten schlagen sich auch in der Wahl derVerkehrsmittel für die in den Tage-büchern dokumentierten alltäglichenWege nieder: Von Fahrten mit öffent-lichen Verkehrsmitteln wurde fast nurin den Städten berichtet. In den Regio-nen mit höherer Pkw-Dichte wurdenWege auch entsprechend häufig mitdiesem Verkehrsmittel erledigt, und dasFahrrad kam speziell in Gegenden zumEinsatz, in denen keine größerenHöhenunterschiede überwunden wer-den müssen. Mindestens die Hälfte – inChemnitz sogar 62% – aller Wege wur-den jedoch zu Fuß zurückgelegt (Ab-bildung 5).

Von konkreten Schwierigkeiten in min-destens einem Bereich, der für diealltägliche Lebensführung, für sozialeIntegration und gesellschaftliche Teil-habe von Bedeutung ist – der Weg zuFreunden und Verwandten, zu Dienst-leistungseinrichtungen oder Freizeit-aktivitäten –, berichtete mehr als dieHälfte (54%) der 55-jährigen und äl-teren Männer und Frauen in den un-tersuchten Großstädten und 35% der Gleichaltrigen in den ländlichenRegionen. Die Ursachen waren in allenRegionen die gleichen: Als Hauptgrundwurden gesundheitliche Schwierig-keiten genannt, aber auch zu großeEntfernungen, schlechte Verkehrsver-bindungen und fehlende Möglichkei-ten in der Nähe spielten eine Rolle. Bei

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Hochbetagten traten Schwierigkeitenerwartungsgemäß häufiger auf als injüngeren Altersgruppen. Immerhin fastjede(r) dritte 80-Jährige und ältere inden beiden Städten und sogar jede(r)Zweite in den ländlichen Regionen (51%) konnte wichtige Ziele aber nochproblemlos erreichen.

Zu den materiellen und organisa-torischen Umweltbedingungen, die dieaußerhäuslichen Bewegungsmöglich-keiten älterer Menschen erschweren,gehören zum Beispiel fehlende Radwe-ge, zu kurze Grünphasen an Fußgän-gerampeln und fehlende Zebrastreifen,zu hohe Einstiege bei Bus und Straßen-bahn und zu wenig Sitzgelegenheitenzum Ausruhen unterwegs. Jede(r) fünf-te Ältere empfindet auch das ruckartigeAnfahren der Busse und Bahnen, die zulangen Abstände zwischen den Fahr-zeiten, unverständliche Fahr- und Li-nienpläne und zu schmale Fußwege alsSchwierigkeit. Eine Herausforderung fürviele Ältere bedeutet auch die zuneh-mende Technisierung und Automa-tisierung öffentlicher Bereiche und Dienstleistungen. Kartentelefone, Bank-

automaten und Fahrkartenautomatenwerden bisher kaum von ihnen ge-nutzt, und wenn, dann vorwiegendvon den Jüngeren (55–74-Jährigen)unter ihnen.32 Das größte Problem be-reitet Älteren jedoch das hektische Ver-kehrsgeschehen. Vor allem in Städtenhat die Verdichtung des Verkehrs einAusmaß angenommen, das dazu füh-ren kann, dass ältere Menschen sichverunsichert aus der Öffentlichkeitzurückziehen. Fast ein Drittel der äl-teren Menschen in den beiden unter-suchten Städten sagt, dass sie sichkaum mehr auf die Straße wagen, weilder Verkehr zu bestimmten Zeiten sostark ist.

3.5 Die Zufriedenheit Älterer mit ihren außerhäuslichen Mobilitätsmöglichkeiten

Die individuell und regional unter-schiedlichen Mobilitätsvoraussetzun-gen wirken sich nicht nur in unter-schiedlichen Mobilitätsmustern, son-dern auch in unterschiedlichen Zu-friedenheiten aus (Tabelle 5).

Tabelle 5: Die Zufriedenheit Älterer mit ihren außerhäuslichen Mobilitätsmöglichkeiten

Anmerkung:* = p < .05; ** = < .01; *** = < .001.a) Durchschnittswerte auf einer Zufriedenheitsskala von 0 (ganz und gar unzufrieden)

bis 10 (ganz und gar zufrieden). N (Chemnitz) = 400; N (Mannheim) = 404; Datenbasis: Outdoor Mobility Survey 1995N (Lausitz) = 207; N (Hunsrück) = 205; Datenbasis: Rural Mobility Survey 1999

Variable 55–74 Jahre 75 und älter(M oder %, n)

Ländliche Stadtregionen Ländliche StadtregionenRegionen (n = 412) Regionen (n = 392) (n = 221) (n = 191)

W O Unter- W O Unter- W O Unter- W O Unter-Hun Lau schiede Ma Ch schiede Hun Lau schiede Ma Ch schiede

Zufriedenheit mit Mobilitäts-möglichkeiten (0–10) a) 8.5 8.0 n.s. 8.2 7.7 * 7.2 6.9 n.s. 7.4 6.9 *

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Im Durchschnitt sind die Älteren mitden Möglichkeiten, überall dort hinzu-kommen, wohin sie möchten odermüssen, in den städtischen und ländli-chen Regionen Westdeutschlands zu-friedener als in den entsprechenden ost-deutschen Regionen. Dabei äußern sichdie jüngeren Befragten – und dies warnicht anders zu erwarten – im Durch-schnitt zufriedener als die älteren Be-fragten. Überraschend ist jedoch, dassdie Zufriedenheit der 55–74-Jährigenmit ihren außerhäuslichen Mobilitäts-möglichkeiten trotz der begrenzten In-frastruktur in den ländlichen Regionengrößer ist als in den Städten. Lediglichdie 75-Jährigen und älteren in der west-deutschen Stadt äußern sich etwas zu-friedener als die Hochbetagten auf demLand. In den ostdeutschen Regionen istin dieser Altersgruppe kein Unterschiedzwischen Stadt und Land festzustellen.

Deutliche Unterschiede in der Zufrie-denheit zeigen sich, wenn man zwi-

schen Personen mit unterschiedlichenRessourcen differenziert: Die in Tabelle6 vorgestellten Daten zeigen, dass dieZufriedenheit mit den Möglichkeiten,sich außerhalb der Wohnung fortzube-wegen, mit steigendem Alter und wach-sender Beeinträchtigung der Bewe-gungsfähigkeit abnimmt. Dieses Ergeb-nis entspricht den Erwartungen – trifftaber fast ausschließlich für Personen zu,die nicht (mehr) selbst Auto fahren.Wenn ein Pkw zur Kompensation alters-oder gesundheitsbedingter Einschrän-kungen genutzt werden kann, bleibt dieZufriedenheit auch im hohen Alter undbei beeinträchtigter Bewegungsfähigkeitauf hohem Niveau bestehen.

Wie die geringe Zufriedenheit der inihren Freizeit- und Reisemöglichkeiteneingeschränkten Personen könnenauch diese Ergebnisse als Ausdruckdafür interpretiert werden, dass Mobi-lität ein wichtiger Bestandteil der Le-bensqualität älterer Menschen ist.

Tabelle 6: Die Zufriedenheita) Älterer mit ihren Mobil-itätsmöglichkeiten

Chemnitz Mannheim Lausitz Hunsrück(Ø 7,3) (Ø 7,8) (Ø 7,5) (Ø 7,9)

Auto- Nicht- Auto- Nicht- Auto- Nicht- Auto- Nicht-Alter fahrer Autofah. fahrer Autofah. fahrer Autofah. fahrer Autofah.

55–64 Jahre 8,2 7,8 8,6 7,0 9,0 7,7 9,2 7,765–74 Jahre 7,7 7,3 9,0 7,9 8,4 7,4 8,6 7,575–79 Jahre 8,0 7,3 8,1 7,6 8,4 7,4 8,7 7,9ab 80 8,5 6,2 8,3 6,8 7,4 6,6 8,9 6,2BewegungsfähigkeitNicht beeinträchtigt 7,6 8,0 8,7 8,2 9,0 8,1 9,3 8Zeitweise beeinträchtigt 8,3 7,4 8,7 8,0 9,4 6,7 8,5 7,2Ständig beeinträchtigt 8,4 6,4 8,2 6,6 7,0 6,5 8,6 6,2Pkw im HaushaltPkw vorhanden 8,1 7,1 8,5 7,7 8,5 8,0 9,0 8,0Kein Pkw – 7,0 – 7,2 – 7,0 – 6,7

a) Durchschnittswerte auf Zufriedenheitsskala von 0 (ganz und gar unzufrieden) bis 10 (ganz und gar zufrieden)

– nicht vorhanden/trifft nicht zu/nicht gefragtfett: Unterschiede zwischen den Ausprägungen der Variable signifikant (p<0.01)N (Chemnitz) = 400; N (Mannheim) = 404; Datenbasis: Outdoor Mobility Survey 1995N (Lausitz) = 207; N (Hunsrück) = 205; Datenbasis: Rural Mobility Survey 1999

Tabelle 6: Die Zufriedenheita) Älterer mit ihren Mobilitätsmöglichkeiten

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Um den Einfluss der verschiedenen in-dividuellen Voraussetzungen und regio-nalen Gegebenheiten auf die Variabi-lität der Zufriedenheit erklären zukönnen, führten wir getrennt für jededer vier Regionen Regressionsanalysendurch, in die wir die entsprechendenobjektiven und subjektiven Variableneinbezogen, die für außerhäuslicheMobilität relevant sein können.33 Ins-gesamt erklären die einbezogenen Vari-ablen die Unterschiede in der Mobi-litätszufriedenheit in den ländlichenRegionen zu 53% (West) und 55%(Ost), in den Stadtregionen zu 30%(West) und 31% (Ost). In allen vierUntersuchungsregionen – in den Städ-ten wie auf dem Land und in den ost-deutschen wie den westdeutschen Re-gionen – zeigte sich, dass sowohl dieindividuellen Voraussetzungen Bewe-gungsfähigkeit oder Alter als auchdurch regionale Unterschiede geprägteinfrastrukturelle Voraussetzungen wiedie Zufriedenheit mit dem ÖPNV unddie Zufriedenheit mit Freizeitaktivitä-ten entscheidend dazu beitragen, wiezufrieden ältere Menschen mit ihrenaußerhäuslichen Mobilitätsmöglich-keiten insgesamt sind. In den länd-lichen Regionen spielt außerdem einewichtige Rolle, ob jemand ein Auto be-sitzt, und speziell in der ostdeutschenRegion, ob Geschäfte und andere Dienstleistungseinrichtungen in derWohngegend vorhanden sind.

Mit anderen Worten: Individuelle,durch Alter oder Krankheit bedingteMobilitätseinschränkungen können of-fenbar durch geeignete Verkehrsmittelund/oder eine gute Infrastruktur desWohngebietes kompensiert werden.Keine oder nur geringe Erklärungskraftfür die Mobilitätszufriedenheit habenEinkommen, soziales Netzwerk, und ob

sich eine Person in ihrer Wohnumge-bung sicher oder unsicher fühlt.

Diese Ergebnisse zeigen, wie wichtig für Ältere zum einen öffentliche undprivate Verkehrsmittel und zum an-deren Geschäfte und Dienstleistungs-einrichtungen in erreichbarer Nähesind. Die in ländlichen Regionen undstädtischen Randgebieten beobachtbareReduzierung von regionalen Verkehrs-verbindungen und die Schließung oderZentralisierung von Einkaufsmöglich-keiten, Sport- und Kulturangebotensowie Verwaltungseinrichtungen wirdvor allem für diejenigen Älteren zumProblem, die in ihrer körperlichen Be-wegungsfähigkeit eingeschränkt sindund dies nicht durch die Nutzung einesPrivatautos ausgleichen können. DieNutzung eines Automobils wird indiesem Fall zur blanken Notwendigkeitund darf nicht auf Aspekte der Moder-nisierung und Mobilisierung der Ge-sellschaft reduziert werden, auch wennModernisierungsprozesse vielleicht erstzu diesen Problemen geführt haben.Daneben verdeutlichen die Befundeaber auch den hohen Stellenwert, denaußerhäusliche Freizeitaktivitäten fürÄltere besitzen. Dies kann als eine Be-stätigung der These von der „mobilenFreizeitgesellschaft“ interpretiert wer-den, an der selbstverständlich auchältere Menschen in Stadt und Land teil-haben möchten.

4. Konsequenzen für die Verkehrspolitik

Mobilität, das haben die Befunde derhier vorgestellten Studien gezeigt, istfür das subjektive Wohlbefinden älte-rer Menschen von zentraler Bedeutung.Sich zu selbstgewählten Orten oder

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notwendigen Zielen begeben und sichaußerhalb der eigenen vier Wändebetätigen zu können, ist nicht nur Voraussetzung für die Erhaltung einerselbstständigen Lebensführung, son-dern auch für die Befriedigung desBedürfnisses nach Teilhabe an dersozialen und räumlichen Umwelt, nachUmsetzungsmöglichkeiten von Inte-ressen und neuen Erfahrungen, nachBestätigung eigener Fähigkeiten undAnerkennung als vollwertiges Mitgliedder Gesellschaft.

Ob und wie dieses Stück Lebensqualitäterreicht werden kann, hängt – auch daszeigen die hier vorgestellten Ergebnis-se – einerseits von individuellen Kom-petenzen und Beeinträchtigungen, Res-sourcen und Präferenzen und anderer-seits von äußeren Rahmenbedingungenab, die regional stark differieren kön-nen, wobei sich teilweise Stadt-Land-und (noch bestehende) Ost-West-Unterschiede überlagern. Besonders kri-tische Situationen für alte Menschenkönnen in Landregionen, zum Teil aberauch in Städten entstehen, wenn es anDienstleistungseinrichtungen und zu-gleich an nutzerfreundlichen öffent-lichen Verkehrsangeboten mangelt. EinPrivatauto kann Handlungsmöglich-keiten zwar individuell erweitern – undwird dies in Zukunft immer mehr Men-schen ermöglichen, da der Anteil derAutofahrer und vor allem Autofah-rerinnen in den nachwachsenden Ge-nerationen steigt – aber zumindestderzeit nur um den Preis einer weiterenVerkehrsverdichtung und Umweltbe-lastung. Ganz abgesehen davon wird esauch in Zukunft (nicht nur ältere) Men-schen geben, die einen Pkw aus denunterschiedlichsten Gründen nichtfahren können oder wollen. Insofernsollten verstärkt stadt- und verkehrs-

planerische Alternativen entwickeltwerden, die es älteren Menschen ermöglichen, auch bei alters- oderkrankheitsbedingten Einschränkungenphysischer oder sensorischer Fähig-keiten mobil und aktiv zu bleiben undihnen damit einen wichtigen Teil ihrerLebensqualität zu erhalten.

Welche Voraussetzungen müssen nungegeben sein oder geschaffen werden,damit alternde Frauen und Männersich ihren Bedürfnissen entsprechendin ihrem näheren und weiteren Wohn-umfeld bewegen, ihre Besorgungenerledigen und ihren Interessen nachge-hen können? Und wie kann weiträu-mige Mobilität, also das Bedürfnis zureisen und damit vielfältige neue Erfah-rungen zu machen, unterstützt wer-den?

Damit insbesondere auch finanziellnicht besonders gut ausgestattete, imhohen Alter überwiegend allein leben-de und sensorisch oder physisch ein-geschränkte ältere Menschen Ausflügeund Reisen ihren Wünschen ent-sprechend unternehmen können, soll-ten zum einen die Angebote kom-merzieller Reiseanbieter die Bedürfnissedieser Personengruppen stärker berück-sichtigen und sich nicht nur an diezahlungskräftigen, noch jugendlichenund „mobilen“ Älteren richten.

Zum anderen ist es unabdingbar, denseit einigen Jahren begonnenen gesetz-geberischen Prozess zur Erschließungöffentlicher Einrichtungen und Ver-kehrsmittel für alle Gesellschaftsmit-glieder konsequent weiter voranzu-treiben, um gesellschaftliche Integra-tion in diesem auch für alte Menschenbedeutsamen Lebensbereich zu gewähr-leisten.

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Ältere Menschen in der mobilen Freizeitgesellschaft 173

Im Hinblick auf die eher kleinräumigealltägliche Mobilität Älterer müss-ten Maßnahmen sowohl im Bereichsozialen Verhaltens als auch hinsicht-lich technischer, baulicher und or-ganisatorischer Rahmenbedingungenerfolgen. Dazu gehören verkehrspoli-tische und sozialpolitische Maßnah-men ebenso wie entsprechende Planun-gen im Bereich der Stadtentwicklung.Da sich speziell Ältere, die nicht (mehr)selbst Auto fahren, in ihrer Mobilitäteingeschränkt fühlen, während Auto-fahrer und Autofahrerinnen auch mitzunehmendem Alter und bei gesund-heitlichen Beeinträchtigungen zufrie-den mit ihren Mobilitätsmöglichkeitensind, wären an erster Stelle Maßnah-men erforderlich, die die Situation fürFußgänger und die Nutzer öffentlicherVerkehrsmittel verbessern. Dazu ge-hören Maßnahmen zur Verkehrsberu-higung und Erhöhung der Verkehrs-sicherheit sowie zur Erleichterung undUnterstützung sozial- und umweltver-träglicher Mobilität.

Für ältere Menschen, deren Lebens-raum sich durch die Veränderung um-weltrelevanter Kompetenzen mehr und

mehr einengt, ist außerdem von zen-traler Bedeutung, dass es in ihremWohnumfeld Geschäfte, medizinischeDienste, angepasste öffentliche Ver-kehrsmittel und sonstige für die Auf-rechterhaltung einer eigenständigenLebensführung, für soziale Kontakteund Freizeitgestaltung wichtige Ein-richtungen gibt, die ohne Behinderun-gen erreichbar und zugänglich sind.Stadt- und Verkehrsplanung auf dereinen und Sozialplanung auf der an-deren Seite müssen deshalb stärker alsbisher aufeinander bezogen werden,um allen Verkehrsteilnehmern einenweitgehenden Verzicht auf das Auto zuermöglichen und damit sowohl die In-tegration älterer Menschen in öffent-lichen Bereichen zu fördern als auchaus ökologischer Sicht unerwünschtenVerkehr zu vermeiden, ohne den Ak-tionsradius älterer Menschen einzuen-gen oder sie von bedeutsamen Be-reichen und Optionen gesellschaft-licher Teilhabe auszuschließen. In sol-cherart gestalteten und erschlossenenStadtteilen würde sich zugleich dieWohn- und Lebensqualität nicht nurfür Ältere, sondern für Menschen jedenAlters erhöhen.

Anmerkungen:1 Lash, Scott/Urry, John: Economies of

signs and space, London 1994, S.252.2 Albrecht, Günter: Soziologie der geo-

graphischen Mobilität, Stuttgart 1972;Franz, Peter: Soziologie der räumlichenMobilität. Eine Einführung, Frankfurta.M. 1984.

3 Vgl. die Beiträge in Friedrichs, Jürgen/Hollaender, Kirsten: StadtökologischeForschung. Theorien und Anwendungen,Berlin 1999; Kommission Zukunft Stadt:Abschlussbericht, Bonn 1993; Petersen,Rudolf/Schallaböck, Karl O.: Mobilität fürmorgen, Berlin 1995.

4 Jessen, Thomas/Lenz, Barbara/Vogt, Wal-ter: Neue Medien, Raum und Verkehr.Wissenschaftliche Analysen und prakti-

sche Erfahrungen, Opladen 2000.5 Burkart, Günter: Individuelle Mobilität

und soziale Integration. Zur Soziologiedes Automobilismus, in: Soziale Welt,45/1994, S.216–240.

6 Ebd., S.218.7 Kuhm, Klaus: Moderne und Asphalt. Die

Automobilisierung als Prozess technolo-gischer Integration und sozialer Vernet-zung, Pfaffenweiler 1997.

8 Braun, Ingo: Technik-Spiralen. Verglei-chende Studien zur Technik im Alltag,Berlin 1993.

9 Tully, Claus J./Wahler, Peter: Leben undAufwachen in der Mobilitätsgesellschaft.Ein soziales Muster vor dem Umbruch,in: Österreichische Zeitschrift für So-

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Heidrun Mollenkopf/Hans-Werner Wahl174

ziologie, 21/1996, S.25–58; Knie, An-dreas: Eigenzeit und Eigenraum. ZurDialektik von Mobilität und Verkehr, in:Soziale Welt, 47/1997, S.39–54; Buhr,Regina/Canzler, Weert/Knie, Andreas/Rammler, Stephan (Hrsg.), BewegendeModerne. Fahrzeugverkehr als sozialePraxis, Berlin 1999; Jahn, Thomas/Weh-ling, Peter: Das mehrdimensionale Mo-bilitätskonzept. Ein theoretischer Rahmenfür die stadtökologische Mobilitäts-forschung, in: Jürgen Friedrichs/Kirsten Hollaender (Hrsg.), StadtökologischeForschung, Berlin 1999, S.127–141;Wilke, Georg/Petersen, Rudolf: Von derökologisch verträglichen zur nachhal-tigen Mobilität. Zum Wandel des Mobi-litätsdiskurses in den neunziger Jahren,in: Jürgen Friedrichs/Kirsten Hollaender(Hrsg.), Stadtökologische Forschung,Berlin 1999, S.143–168.

10 Rammler, Stephan: Die Wahlverwandt-schaft von Moderne und Mobilität – Vor-überlegungen zu einem soziologischenErklärungsansatz der Verkehrsentstehung,in: Regina Buhr/Weert Canzler/AndreasKnie/Stephan Rammler (Hrsg.), Bewegen-de Moderne. Fahrzeugverkehr als sozialePraxis, Berlin 1999, S.39–71, hier S.52ff.

11 Graumann, Carl F.: Alte Menschen in ih-ren Umwelten, in: Annette Niederfranke/Ursula M. Lehr/Frank Oswald/GabrieleMaier (Hrsg.), Altern in unserer Zeit. Bei-träge der IV. und V. GerontologischenWoche, Heidelberg 1992, S.94–102, hierS.97.

12 Zu Perspektiven der Ökologischen Geron-tologie vgl. auch Wahl, Hans-Werner/Mollenkopf, Heidrun/Oswald, Frank(Hrsg.): Alte Menschen in ihrer Umwelt:Beiträge zur ökologischen Gerontologie,Wiesbaden 1999.

13 Vgl. ebd.14 Friedrich, Klaus: Altern in räumlicher

Umwelt. Sozialräumliche Interaktions-muster älterer Menschen in Deutschlandund in den USA, Darmstadt 1995, S.148.

15 Mollenkopf, Heidrun/Flaschenträger, Pia:Erhaltung von Mobilität im Alter, Stutt-gart 2001.

16 Küster, Christine: Zeitverwendung undWohnen im Alter, in: Deutsches Zentrumfür Altersfragen (Hrsg.), Wohnbedürfnisse,Zeitverwendung und soziale Netzwerkeälterer Menschen. Expertisenband 1 zumZweiten Altenbericht der Bundesregie-rung, Frankfurt/Main 1998, S.51–175.

17 Mollenkopf, Heidrun/Flaschenträger, Pia:Erhaltung von Mobilität im Alter;Mollenkopf, Heidrun/Oswald, Frank/Wahl, Hans-Werner: Alte Menschen in

ihrer Umwelt: „Drinnen“ und „Draußen“heute und morgen, in: Hans-WernerWahl/Heidrun Mollenkopf/Frank Oswald(Hrsg.), Alte Menschen in ihrer Umwelt:Beiträge zur ökologischen Gerontologie,Wiesbaden 1999, S.219–238.

18 Rammler, Stephan: Die Wahlverwandt-schaft von Moderne und Mobilität, S.40.

19 Mollenkopf, Heidrun/Flaschenträger, Pia: Erhaltung von Mobilität im Alter;Mollenkopf, Heidrun/Marcellini, Fiorel-la/Ruoppila, Isto: The Outdoor Mobilityof Elderly People – A Comparative Studyin Three European Countries, in: JanGraafmans/Vappu Taipale/Neil Charness(Eds.), Gerontechnology. A SustainableInvestment in the Future, Amsterdam1998, S.204–211.

20 Mollenkopf, Heidrun/Oswald, Frank/Schilling, Oliver/Wahl, Hans-Werner:Aspekte außerhäuslicher Mobilität äl-terer Menschen in der Stadt und auf demLand: Objektive Bedingungen und sub-jektive Bewertung, in: Sozialer Fortschritt,50/2001, S.214–220.

21 Friedrich, Klaus: Alltagshandeln ältererMenschen in ihrer räumlichen Umwelt,in: Anette Niederfranke/Ursula M. Lehr/Frank Oswald/Gabriele Maier (Hrsg.), Altern in unserer Zeit, Wiesbaden 1992,S.115–126.

22 Ebd., S.122.23 Mollenkopf, Heidrun/Flaschenträger, Pia:

Erhaltung von Mobilität im Alter, S.119;vgl. dazu auch Brög, Erl & Glorius, 2000;Friedrich, Klaus: Altern in räumlicherUmwelt.

24 Institut für Freizeitwirtschaft: Der Tou-rismus der Senioren ab 50. Textband,München 1996.

25 Die Welt, 16.2.2001.26 Die Zeit, Nr.4, 22.2.2001.27 Frankfurter Rundschau Magazin, 12.5.

2001.28 Rammler, Stephan/Dienel, Hans-Liud-

ger: „Zwischen Butterbrot und Wellness“– Zur Entwicklung des Reisens im Alter,in: Antje Flade/Maria Limbourg/Bern-hard Schlag (Hrsg.), Mobilität ältererMenschen, Opladen 2001, S.183–198.

29 F.U.R.; zit. nach Scheiner, Joachim: Reisenälterer Menschen: Empirische Befundeund Handlungsstrategien, in: AntjeFlade/Maria Limbourg/Bernhard Schlag(Hrsg.), Mobilität älterer Menschen, Op-laden 2001, S.199–208, hier S.185.

30 Zur Entwicklung des Reisens vgl. Keitz,Christine: Reisen als Leitbild. Die Entste-hung des modernen Massentourismus inDeutschland. München 1997.

31 Scheiner, Joachim: Reisen älterer Men-

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schen, S.186.32 Marcellini, Fiorella/Mollenkopf, Hei-

drun/Spazzafumo, Liana/Ruoppila, Isto(2000): Acceptance and use of techno-logical solutions by the elderly in the out-door environment: findings from a Euro-

pean survey, in: Z Gerontol Geriat 33, S.169–177

33 Detailliert dargestellt in Mollenkopf, Hei-drun/Oswald, Frank/Schilling, Oliver/Wahl, Hans-Werner: Aspekte außerhäus-licher Mobilität.

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Beckstein, Günther, Dr., MdLBayerischer Staatsmi-nister des Innern, Mün-chen

Bellmann, Lutz, Dr.Leitender wissenschaftlicher Direktoram Institut für Arbeitsmarkt und Be-rufsforschung, Nürnberg

Cassel, Dieter, Prof. Dr.Lehrstuhl für Allge-meine Wirtschaftspolitikam Institut für Euro-päische Wirtschafts- undSozialpolitik, UniversitätDuisburg

Hofmann, HerbertWissenschaftlicher Mit-arbeiter des Bereichs So-zialpolitik und Arbeits-märkte am ifo Insti-tut für Wirtschaftsfor-schung e.V., München

Kruse, Andreas, Prof. Dr.Direktor des Instituts für Gerontologie, Universität Heidelberg

Leber, UteWissenschaftliche Mitarbeiterin am Ins-titut für Arbeitsmarkt und Berufs-forschung, Nürnberg

Mollenkopf, Heidrun, Dr.Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Se-nior Researcher am Deutschen Zentrumfür Alternsforschung an der Universität

Heidelberg (DZFA), Abteilung für So-ziale und Ökologische Gerontologie

Oberdieck, Veit, Dr.Promotion am Lehr-stuhl für AllgemeineWirtschaftspolitik derUniversität Duisburgüber die Beitragssatz-entwicklung in derGesetzlichen Kranken-versicherung

Schmähl, Winfried,Prof. Dr. Professor für Wirt-schaftswissenschaft undDirektor der Wirtschaft-wissenschaftlichen Ab-teilung des Zentrums fürSozialpolitik, UniversitätBremen.

Schmid, Josef,Prof. Dr.Lehrstuhl für Bevölke-rungswissenschaft, Uni-versität Bamberg

Stein, Peter, Dr.Referent für Wirtschafts-, Finanz- undSozialpolitik der Akademie für Politikund Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München

Wahl, Hans-Werner, Prof. Dr.Leiter der Abteilung für Soziale undÖkologische Gerontologie am Deut-schen Zentrum für Alternsforschung(DZFA), Universität Heidelberg

Autorenverzeichnis

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Werding, Martin, Dr.Abteilungsleiter des Be-reichs Sozialpolitik undArbeitsmärkte am ifo Institut für Wirtschafts-forschung e.V., Mün-chen

Wingen, Max, Prof. Dr.Honorarprofessor an derUniversität Konstanz,Ministerialdirektor a.D.im Bundesministeriumfür Familie und Seni-oren, Bonn