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    Lutz Robbers

    Platzbildung bei Mies van der Rohe

    Das Jahr 1923 markierte die Ankunft Ludwig Mies van der Rohes im Zen-trum der Weimarer Architektur-Avantgarde. In diesem Jahr prsentierte Mies seine Arbeiten auf insgesamt vier Ausstellungen: der Groen Berli-ner Kunstausstellung, der Ausstellung der Arbeitsgemeinschaft fr neue Kunst und Dichtung in Magdeburg, der De Stijl Schau in der Galerie de lEffort Moderne in Paris und der Ausstellung Internationale Architektur in Weimar. In unterschiedlichen Kombinationen wurden hier die inzwischen zu Ikonen der modernen Architektur gewordenen Modelle, Zeichnungen und Fotomontagen des Hochhauses Friedrichstrae, des Glashochhauses, des Brohauses in Eisenbeton, des Landhauses in Eisenbeton und des Landhauses in Backstein gezeigt. Gleichzeitig trat er erstmalig mit sei-nen theoretischen Ideen an die ffentlichkeit. Nachdem er seinen Artikel

    Hochhuser im Jahr zuvor publiziert hatte, umreit Mies in der Zeitschrift G:Material zur elementaren Gestaltung, an deren Grndung er mageblich beteiligt war, in insgesamt drei Beitrgen die Grundzge seines architek-tonischen Denkens.1

    Wster konstruktivistischer Formalismus

    Von besonderer Bedeutung ist seine Teilnahme an der von Walter Gropius organisierten Ausstellung Internationale Architektur, die im Rahmen der Bauhausausstellung vom 15.August bis zum 30.September 1923 in Weimar stattfand. Unter dem Motto Kunst und Technik Eine neue Einheit sollten Arbeiten von knapp dreiig deutschen und internationalen Architekten die

    1 Ludwig Mies van der Rohe: Hochhuser, in: Frhlicht, 1922, H.4, S.122124; ders.: Brohaus, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H.1, o.S.; ders.: Bauen, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, H.2, 1923, o.S.; ders.: Industrielles Bauen, in: G: Zeitschrift fr elementare Gestaltung, 1924, H.3, o.S.

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    programmatische Kehrtwende des Bauhauses hin zu einem funktionalis-tischen Paradigma bezeugen. Im Gegensatz zu den expressionistischen Phantasiegebilden der Frhphase des Bauhauses sollte ein neuer Bauleib geschaffen werden, der seinen Sinn und Zweck aus sich selbst heraus durch die Spannung seiner Baumassen zueinander funktionell verdeut-licht und alles Entbehrliche abstt, das die absolute Gestalt des Baues verschleiert.2 Durch die Ausstellung von Hochhausprojekten aus moder-nen Materialen wie Eisenbeton, Stahl und Glas von Mies, Gropius, Mart Stam und Max Taut, Siedlungsplanungen mit variierbaren Haustypen von Farkas Molnr oder auch Le Corbusiers Projekt einer Ville contemporaine de trois millions dhabitants sollte das Bild einer europaweit triumphierenden Moderne prsentiert werden.3

    Gropius hatte der Architektur von Mies eine wichtige Rolle zugedacht. In Vorbereitung auf die Ausstellung erlutert er in seiner schriftlichen Anfrage an Mies die Intention der Ausstellung, die moderne Architektur nach der dynamisch-funktionellen Seite und weg von Ornament und Profil zu prsentieren.4 Mies bietet Gropius daraufhin an, zwei Modelle nach Wei-mar zu senden: das Modell des Glashochhauses mit dem geschwungenen Grundriss und das horizontal geschichtete Holzmodell seines Brohauses in Eisenbeton. Diese sollten, so der Wunsch Mies, nebeneinander zu einer Platzbildung vereinigt werden. Ich habe das ausprobiert; die Wirkung ist ausgezeichnet und ich glaube auch sie [Gropius] wrden dann verstehen, weshalb das Geschftshaus nur die Horizontal-Gliederung hat.5 Seine schnelle positive Antwort deutet darauf hin, dass Mies die von Gropius initiierte inhaltliche Neuausrichtung des Bauhauses grundstzlich unter-sttzte. Zugleich klingt der abschlieende Satz seines Briefes aber auch wie eine Mahnung an Gropius, der bereits 1919 als Organisator der vom Arbeitsrat fr Kunst in Berlin veranstalteten Ausstellung unbekannter Ar-chitekten die Einsendungen von Mies und Ludwig Hilberseimer abgelehnt hatte:6 Da ich jeden Formalismus welcher Art er auch sei ablehne und

    2 Walter Gropius: Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar, in: Staatliches Bauhaus Weimar 19191923, Weimar/Mnchen o.J., S.15.

    3 Klaus-Jrgen Winkler: Die Architekturausstellungen in Weimar, in: Hellmut Th. Seemann/Thorsten Valk (Hgg.): Klassik und Avantgarde. Das Bauhaus in Weimar 19191925, Gttingen 2009, S.261281. Fr eine differenzierte Erluterung der Rolle der Architektur am Bauhaus vgl.: Berry Bergdoll: Paradoxes of Architecture and Design in and after the Bauhaus, in: Bauhaus 19191933: Workshops for Modernity, New York 2009, S.4161.

    4 Walter Gropius: Brief an Ludwig Mies van der Rohe, 4.Juni 1923. Library of Congress, Washington D.C., The Papers of Mies van der Rohe, Box 1, Folder G.

    5 Ludwig Mies van der Rohe: Brief an Walter Gropius, 14.Juni 1923. Ebd. 6 Siehe Ludwig Hilberseimer: Berliner Architektur der 20er Jahre, Mainz 1967, S.2930.

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    aus dem Wesen der Aufgabe heraus ihre Lsung versuche, so wird nie eine formale Verwandtschaft die einzelnen Arbeiten verbinden.7

    Mies sollte sich in seiner Vorahnung besttigt sehen. Knapp drei Monate spter, kurz nach seinem Besuch der Bauhaus-Ausstellung, drckte er in einem Schreiben an Werner Jakstein seine Verrgerung aus ber das, was er in Weimar gesehen hatte:8

    Am Sonntag, dem 16.September, finden ganz prinzipielle Besprechun-gen der G-Leute hier in Berlin statt. Ich werde diesen Augenblick be-nutzen, um klarzustellen, wo jeder steht, ich werde meinen Standpunkt ganz klar und eindeutig bekannt geben, es wird sich da entscheiden, wer zu uns halten kann, und wer nicht. [] Gerade der wste konstrukti-vistische Formalismus, den ich in Weimar und die dort herrschenden knstlerischen Nebel, haben mich veranlasst, meinen Standpunkt im G-Heft erneut zu formulieren, zumal im ersten Heft ein Teil dessen, was ich geschrieben habe, irrtmlich nicht gebracht worden ist.9

    Tatschlich entpuppt sich die versprochene Klarstellung, die Mies in der zweiten Ausgabe von G unter dem Titel Bauen publiziert, als Beweis fr die scheinbare Unfhigkeit, die Dinge beim Namen zu nennen. Tautologisch fordert er Bauen wieder zu dem zu machen, was es allein sein sollte, nmlich BAUEN.10 Mies findet sich in einer paradoxen Situation: Einer-seits deutet sein resolutes Eintreten gegen den vermuteten Formalismus

    7 Mies van der Rohe: Brief an Gropius (Anm.5).8 Werner Jakstein (18761961) war Baurat der Stadt Altona, der mit zahlreichen Architekten

    wie Mies, J.J.P. Oud und Cornelis van Eesteren in Verbindung stand. Vgl. Olaf Bartels: Archi-tektur als nationale Frage? Die Hansen-Rezeption durch Werner Jakstein und die Altonaer Architektur zwischen 1910 und 1930, in: Ulrich Schwarz (Hg.): Christian Frederik Hansen und die Architektur um 1800, Mnchen 2003, S.18194.

    9 Ludwig Mies van der Rohe, Brief an Werner Jakstein, 13. 9. 1923. Research Papers, Docu-ments and Tape Recordings Related to Mies van der Rohe and the Establishment of the Museum of Modern Arts Mies van der Rohe Archive, compiled by Ludwig Glaeser. Canadian Center of Architecture, Montreal. In Vorbereitung auf die Ausstellung in der Galerie de lEffort Moderne in Paris, die im Oktober 1923 erffnet wurde, schrieb Mies an Theo van Doesburg und wiederholt sein Urteil ber die Bauhausausstellung: ber Weimar werden Sie schon von Richter gehrt haben. Ich frchte, da von dort aus eine konstruktivistische Mode Deutschland wellenartig berschwemmen wird. Man konnte in Weimar sehen, wie leicht das jonglieren [sic] mit konstruktivistischen Formen ist, wenn man nur das Formale anstrebt; dort ist die Form das Ziel, whrend Sie bei unseren Arbeiten das Resultat ist. Mir scheint es auch wichtig nach aussen hin eine scharfe Trennung zwischen konstruktivistischen For-malismus und wirklich konstruktiver Schrfe herbei zu fhren. Ludwig Mies van der Rohe, Brief an Theo van Doesburg, 27. 8. 1923, Library of Congress, Washington D.C., The Papers of Mies van der Rohe, Box 2, Folder V.

    10 Ludwig Mies van der Rohe: Bauen 1923 (Anm.1) o. S. Hervorhebung original.

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    im konstruktivistischen Gewand auf einen fundamentalen Bruch im Pro-jekt der Architektur-Avantgarde der frhen zwanziger Jahre, der Mies als dringlich genug erschien, eine klare Trennung der Geister11 innerhalb der G-Gruppe einzufordern. Andererseits scheint er nicht in der Lage, den vermuteten Bruch an formalen, stilistischen oder programmatischen Merkmalen festzumachen.12

    Im Folgenden wird es darum gehen, die von Mies intendierte Platzbil-dung als mgliche Alternative zum funktionalistisch-konstruktivistischen Paradigma zu deuten, der sich mit der Bauhausausstellung ankndigt. Im Begriff der Platzbildung verdichtet sich ein Geflecht von Diskursen, die grundlegend sind fr die Entwicklung des architektonischen Denkens von Mies und dies zu einem Zeitpunkt als er, wie er selbst spter uerte, begann Architektur zu verstehen.13 Die Entflechtung dieser Diskurse ist die Absicht dieses Artikels.

    Zuerst einmal ist es bemerkenswert, dass Mies nicht den konstruktiv-funktionalen Charakter oder die Materialehrlichkeit seiner Bauten betont, sondern den Begriff des Platzes und damit die Frage nach der Rolle des Urbanen in den Mittelpunkt stellt. Abgesehen von seinen Entwrfen fr die Weienhofsiedlung in Stuttgart (1927) und den Wettbewerb fr eine Neugestaltung des Alexanderplatzes (1929) erscheint Mies auffallend zu-rckhaltend bezglich stdtebaulicher Fragen. Das ist umso verwunder-licher, wenn man bedenkt, dass gerade im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland intensive Debatten zur Frage der Grostadt gefhrt wurden, an denen bereits vor dem Ersten Weltkrieg Architek-ten wie Peter Behrens, August Endell und Bruno Mhring teilnahmen.14 Gleichwohl gibt es Hinweise, die deutlich zeigen, dass Mies sich schon frh fr Fragen der Stadt interessierte. In seiner Privatbibliothek finden sich zentrale Titel zum Thema Stdtebau wie Die einheitliche Blockfront als Raumelement im Stdtebau von Walter Curt Behrendt (1911), Der Stdtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Stdtebau-Ausstellung in Berlin (1911)

    11 Mies van der Rohe: Brief an Jakstein (Anm.9). 12 Zwar drckt Mies in einem spteren Interview seine Enttuschung ber das von Gropius

    entworfenen Direktorenzimmer und dessen Umbau des Jenaer Theaters (1922) aus (diese erschienen ihm als rein dekorativ, wie die Wiener Werksttten), doch ist fraglich, ob sich seine negative Reaktion tatschlich auf einzelne Exponate bezog. Ludwig Mies van der Rohe in einem Interview mit Dirk Lohan. Tonbandaufnahme, CCA (Anm.9).

    13 Ludwig Mies van der Rohe in Peter Blake: A Conversation with Mies, in: Four Great Makers of Modern Architecture: Gropius, Le Corbusier, Mies van der Rohe, Wright, New York 1970, S.101.

    14 Vgl. Jean-Louis Cohen: German Desires of America: Miess Urban Visions, in: Terence Riley/Barry Bergdoll (Hgg.): Mies in Berlin, New York 2001, S.36371.

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    von Werner Hegemann, Platz und Monument von Albert Erich Brinckmann (in der Aus gabe von 1921), Bruno Tauts Auflsung der Stdte (1920) als auch die deutsche bersetzung von Le Corbusiers Urbanisme (1925 im franz-sischen Original erschienen, 1929 in deutscher bersetzung).15 Bereits 1910 partizipiert Mies an einer von der Deutschen Gartenstadtgesellschaft organisierten Reise nach London zur International Town Planning Tagung, auf der Teile der von Hegemann organisierten und vorher bereits in Berlin und Dsseldorf prsentierten Allgemeinen Stdtebau-Ausstellung gezeigt wurden.16 Im Zeitraum 1911/1912 hlt sich Mies mehrmals in der gerade fertiggestellten, ersten deutschen Gartenstadt Dresden-Hellerau auf. Dort besuchte er seine zuknftige Frau Ada Bruhn, die als Tanzschlerin an der Bildungsanstalt fr rhythmische Erziehung von mile Jaques-Dalcroze ein-geschrieben war. Und auch spter, besonders durch seine enge Bekannt-schaft mit Hilberseimer, war Mies ohne Zweifel ber die stdtebaulichen Debatten bestens informiert.

    Die Architekturhistoriker Manfredo Tafuri und Francesco Dal Co haben auf die klaren urbanen Bezge in einigen architektonischen Projekte von Mies hingewiesen. In seinem Hochhaus Friedrichstrae Projekt oder im spteren Seagram Building in New York erkennen sie eine radikal negative Dialektik: Indem die Bauten ihre kritische Distanz zur sie umgebenden Stadt bewahren und sich weder als Projektionsflche noch als Trger von Bedeutungen eignen, fungieren sie als totale Leerstellen inmitten der Ka-kofonie bedeutungsloser grostdtischer Zeichen und Bilder.17 Der Platz ist folglich nicht mehr im traditionellen Sinne als ein umschlossener Ort im stdtischen Gefge zu verstehen, der seine zentrierende Funktion erlangt, indem er durch seine Offenheit Distanz schafft und sich damit als Projek-tionsflche zur Einschreibung symbolischer Bedeutungen anbietet. Auch ist ein Platz hier nicht als Reprsentationsraum oder Bhne zu verstehen, auf dem das ffentliche Leben aufgefhrt bzw. zur Schau gestellt wird. In der Interpretation von Tafuri und Dal Co schafft Mies stattdessen ein radikales Void, das sich gerade nicht als Gegensatz zur mit Bedeutung beladenen, materiellen Stadt versteht. Vielmehr stellen Mies Leerstellen

    15 Siehe Mies van der Rohe Collection. Special Collections, University of Illinois Chicago, Daley Library.

    16 Vgl. Franz Schulze: Mies van der Rohe A Critical Biography, Chicago 1985, S.41; Werner Hegemann: Der Stdtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Stdtebau-Ausstellung in Berlin, Berlin 1911.

    17 Vgl. auch Manfredo Tafuri: The Stage as Virtual City: From Fuchs to the Totaltheater, in: The Sphere and the Labyrinth, Cambridge, Mass. 1987, S.11112; Michael K. Hays: Critical Architecture: Between Culture and Form, in: Perspecta 21, 1981, S.1429.

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    die Limitation der von der historischen Avantgarde aufgezwungenen Dia-lektik von Ordnung und Freiheit, Gesetz und Zufall blo. Gerade im geteilten Bewusstwerden der Unmglichkeit der Wiederherstellung einer sinnvollen Sprache in einer heillos industrialisierten und technisierten Welt erffnen sich Mglichkeiten fr neue Formen von Gemeinsinn und ffentlichkeit.18

    Mein Aufsatz nimmt die Interpretation von Tafuri und Dal Co als Aus-gangspunkt um zu zeigen, dass es Mies in seinen Projekten gerade um die Mglichkeit eines Durchgangs zu einer neuen Sprache geht. Er verortet das Stdtische nicht mehr im klassischen Spannungsfeld zwischen physi-scher Form der Stadt (urbs) und sozialem Raum (civitas). Vielmehr verweist

    Platzbildung auf ein Verstndnis von Architektur als ein dynamisches, mit den Mitteln der formalen Analyse und Reprsentation nicht greifbares Dis-positiv, das die Mglichkeit des Entstehens neuer Formen von ffentlichkeit durch unerwartete Interferenzen von Menschen und Dingen erffnet. Ar-chitektur erscheint nicht als Mittel, um die dynamischen Prozesse der mo-dernen technisierten Welt zu beherrschen oder zu organisieren, sondern sie hilft, eine neue Ordnung zu bauen, wie Mies 1928 notierte, und zwar eine Ordnung, die dem Leben freien Spielraum zu seiner Entfaltung lt.19

    Montage der Erscheinungen

    Die besondere Rolle, die Gropius den Modellen von Mies fr die Bauhaus-Ausstellung zugewiesen hatte, erschliet sich aus der einzigen existieren-den fotografischen Aufnahme, auf der die von Mies intendierte Platzbil-dung sichtbar wird (Abb.1). Besucher, welche die im ersten Obergeschoss des Kunstschulgebudes stattfindende Architekturausstellung besuchten, wurden am Treppenansatz von zwei Ensembles aus Modellen und Zeich-nungen empfangen. Auf der einen Seite erkennt man, auf einem Brett platziert, die Modelle von Mies fr ein Brohaus und das Glashochhaus. Auf dem Bild nicht zu erkennen ist die von Mies in seinem Brief an Gropius er-whnte Fotografie seines Landhauses in Eisenbeton. Auf der anderen Seite flankiert das Hochhausmodell fr den Chicago Tribune Wettbewerb (1922) von Gropius und Adolf Meyer den Eingang zur Ausstellung. Augenscheinlich sollte die Gegenberstellung der beiden vertikalen Modelle den Besucher

    18 Manfredo Tafuri/Francesco Dal Co: Modern Architecture, Vol. 1, London 1986, S.13034.19 Mies van der Rohe: Die Voraussetzungen bauknstlerischen Schaffens [1928], in: Fritz

    Neumeyer: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort, Berlin 1986, S.365.

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    programmatisch auf die Ausstellung einstimmen. Ob sich die Entrstung von Mies ber den wsten konstruktivistischen Formalismus auf die von Gropius implizierte Affinitt der beiden Hochhausmodelle bezieht, ist nicht nachzuweisen, erscheint jedoch nahe liegend. Vergleicht man jedoch die beiden Modelle, die Skelettbauten darstellen, so zeigen sich elementare Unterschiede: Whrend das filigrane Glasmodell von Mies seinen konstruk-tiven Kern sichtbar macht, hnelt das rechteckige Gipsmodell des Chicago Tribune Towers einer geschlossenen Plastik, das weder den konstruktiven noch den materiellen Charakter des Gebudes widerspiegelt.

    Das Nebeneinander der Projekte von Gropius und Mies als Essenz der gesamten Ausstellung wiederholt sich in einer 1923 von der Firma Continen-tal Photo angefertigten Fotomontage, die sehr wahrscheinlich von Gropius selbst in Auftrag gegeben wurde (Abb.2).20 Das Bild kombiniert Aufnahmen von fnf auf der Ausstellung gezeigten Modellen. Im Vordergrund erkennt man einen Teilausschnitt des Brohaus-Modells, dahinter die nach dem Prinzip des Baukastensystems entworfenen Siedlungshuser von Gropius und Frd Forbt (1922), das ebenfalls von Gropius entworfene Brogebu-de des Sommerfeldkonzerns (1922) und dahinter vor weiem Hintergrund

    20 Siehe Klaus-Jrgen Winkler: Bauhaus-Alben 4, Weimar 2009, S.58.

    Abb.1: Ausstellung Internationale Architektur, Bauhausausstellung, Weimar, 1923, Fotografie.

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    die Modelle des Chicago Tribune Towers und des Glashochhauses. Im Stil der von Paul Citroen zur gleichen Zeit produzierten Grostadtmontagen stellt das Bild die moderne Metropole als Durcheinander architektonischer Formen dar. Die Fotomontage scheint jenen Eindruck erwecken zu wollen, den Georg Simmel in seinem Aufsatz ber Die Grostdte und das Geis-tesleben als die rasche Zusammendrngung wechselnder Bilder und als die Unerwartetheit sich aufdrngender Impressionen beschreibt.21

    Dagegen prsentiert Mies mit dem Nebeneinander von Glashochhaus und Brohaus eine klar gegliederte, kalkulierte Komposition von Objekten, Materialien und Farben. Das Grostdtische erscheint bei Mies gerade nicht als Kakophonie der Formen und Stile, die Sinne und Verstand berwltigen,

    21 Georg Simmel: Die Grostdte und das Geistesleben, in: ders.: Aufstze und Abhandlungen 19011908, H.1, Frankfurt a. M. 1995, S.117.

    Abb.2: Modelle der Architekturausstellung Weimar 1923, Fotomontage.

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    sondern als orchestriertes Spiel von Kontrasten auf unterschiedlichen Ebenen: auf Ebene der Form zwischen der Betonung der horizontalen Schichtung des Brohauses mit seinem rechteckigen Grundriss und der vertikalen Ordnung des Hochhauses mit seinem organisch geschwungenen Grundriss; auf der Ebene des Materials zwischen der Soliditt des Eisen-betons und der Leichtigkeit der Glashaut; auf der Ebene der Wahrnehmung zwischen dem dunklen, geschlossen Broblock und der ephemeren Offen-heit des kristallenen Turms.

    Gleichzeitig entpuppt sich diese offenbar eindeutige Dialektik als kom-plexes Spiel von Widersprchen. Der scheinbar rechtwinklige Brohaus-Quader erscheint bei genauerer Betrachtung als ein umgedrehter Pyra-midenstumpf; die horizontale Schichtung flchiger Brstungsstreifen wird unterbrochen von dematerialisierenden Fensterbndern, auf denen sich eine starke Lichtquelle als Reflektion bricht (mglicherweise das Blitzlicht des Fotografen) ein Effekt, der dem scheinbar massigen Baukrper eine ungeahnte Schwerelosigkeit verleiht. Auf der Schwarz-Wei-Aufnahme ist zudem nicht erkennbar, dass das aus Holz gefertigte Modell nicht grau bzw. schwarz, sondern rot lackiert war. Das Glashochhaus wiederum erscheint durch die Betonung der Geschossschichten erstaunlicherweise horizontal gegliedert. Die einzigen Elemente, die die Vertikale betonen, sind die im In-nern des Gebudes als schwarze Linie sichtbaren Sttzen. Auch mutet der

    Abb.3: Ausstellung Internationale Architektur, Bauhausausstellung, Weimar, Detail, 1923, Fotografie.

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    Glasturm durch das von Mies intendierte reiche Spiel von Lichtreflexen22 auf der geschwungenen Vorhangfassade weniger transparent an, als auf dem ersten Blick angenommen.

    Dieses Spiel mit einem mehrdeutig-instabilen Erscheinungsbild war zu dieser Zeit ein zentrales Anliegen seiner Entwrfe. Mies experimentierte mit dem Verhalten der verschiedenen Materialien und Konstruktionen un-ter wechselnden Lichtbedingungen und in unterschiedlichen Medienfor-maten. Beispielsweise zeigt eine 1922 in Bruno Tauts Zeitschrift Frhlicht verffentlichte Fotografie das Glashochhaus-Modell von unten gesehen als opak-schwarzen Monolithen, der sich radikal vom hell-transparenten Baukrper unterscheidet, der auf der Aufnahme der Weimarer Ausstellung zu sehen ist (Abb.3). Paradoxerweise hnelt das schwarze Hochhausmodell besonders wenn man das Bild um 90 dreht dem dunklen Brohaus. Dieses Spiel mit kontingenten Erscheinungsformen setzt sich fort in den unterschiedlichen Darstellungen des Brohauses: Auf der berhmten Koh-lezeichnung, die als Illustration neben dem Brohaus Artikel in der ersten Ausgabe von G verffentlicht ist, erscheint das Brohaus gerade nicht als dunkel geschlossener Block, sondern als hell strahlender Baukrper, der sich von der finsteren, amorphen Stadtsilhouette abhebt (Abb.4).23

    Die Gestaltung von instabilen Kontrast-Analogien als wiederkehrendes

    22 Mies van der Rohe 1922 (Anm.1), S.124.23 Ebd.

    Abb.4: Ludwig Mies van der Rohe, Brohaus, 1923, Kohle und Crayon, Museum of Modern Art, New York.

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    formales Prinzip der Zeichnungen, Fotomontagen und Modelle, die Mies in den frhen zwanziger Jahren anfertigt, unterscheidet sich grundstzlich von der visuellen Rhetorik seiner frheren Fotomontagen wie z. B. sein Pro-jekt fr das Bismarckdenkmal (1910). Hier geht es darum, die projektierten Bauten in eine mglichst realistische Abbildwirklichkeit zu integrieren, die vom Standpunkt eines virtuellen Betrachters ausgeht. Ein Jahrzehnt spter ndert Mies die visuelle Rhetorik seiner Bilder. Anstelle eines Hchstmaes an Realismus geht es ihm um die Erzeugung von Spannungsverhltnissen im Bild: zwischen alt und neu, hell und dunkel, gro und klein, horizontal und vertikal. In seinen groformatigen Kohlezeichnungen des Hochhau-ses Friedrichstrae (1921) und des Brohauses (1923) bilden die strahlend hellen Miesschen Bauten einen Kontrast mit den dunklen Silhouetten der historischen Huserfassaden. Fr die Titelblattzeichnung der dritten Aus-gabe von G wiederholt Mies dieses Motiv: Schematisch-abstrakt hebt sich das in die Hhe schieende Turmhaus, das hier als rechteckiges Feld aus

    Abb.5: Ludwig Mies van der Rohe, Titelblatt G: Zeitschrift fr elementare Gestaltung, 1924, H.3.

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    parallelen Streifen erscheint, von der schwarzen Silhouette eines kleinen, konventionellen Hauses ab (Abb.5).

    Auch seine Modelle zeigt Mies in Verbindung mit Darstellungen traditio-neller Husertypen. Auf der Aufnahme, welche die Platzbildung in Weimar zeigt, erkennt man zwischen Brohaus und Glashochhaus ein weiteres drei-dimensionales Exponat. Hierbei handelt es sich um ein Gipsrelief, das eine Straenfront generischer, mehrgeschossiger Berliner Grnderzeitgebude darstellt. Interessanterweise war dieses Relief keineswegs als eine rein de-korative Beigabe gedacht. In seinem Brief an Gropius 1923 beschrieb Mies es als essentiellen Bestandteil seiner Ensembles. Es taucht auf verschie-denen fotografischen Aufnahmen des Glashochhaus-Modells auf (Abb.6).

    Bei dem Gipsrelief handelt es sich um eine Auftragsarbeit, die Mies von Oswald Herzog, einem expressionistischen Knstler aus dem Umkreis der Novembergruppe und des Arbeitsrats fr Kunst, hat anfertigen lassen.24

    24 Zu Herzog vgl. Spyros Papapetros: Malicious Houses: Animation, Animism, Animosity in German Architecture and Film from Mies to Murnau, in: Grey Room, 2005, H.20, S.2327.

    Abb.6: Ludwig Mies van der Rohe, Glashoch-haus Modell, 1922.

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    Werner Graeff, Mitbegrnder von G und eine Zeit lang Angestellter von Mies, erinnerte sich spter, dass Mies immer um die Schaffung von Kontrasten bemht war. Es sei seine Intention gewesen, die traditionelle Bebauung der Friedrichstrae nicht detailgetreu darzustellen, sondern so, dass die grundstzlichen formalen Merkmale betont wrden. Graeff zufolge sei es Mies darum gegangen, gerade nicht mit Bezug auf den existierenden rumlichen Kontext zu entwerfen. Die Bauten, so Mies, seien in Wirklichkeit immer umgeben von Objekten, die ganz anders seien.25

    Herzogs Gipsminiatur unterstreicht dieses ganz anders, indem sie einen formalen und materiellen Kontrast zu den Haut- und Knochenbauten von Mies bildet. Doch wre es irrefhrend, aus dieser vorstzlichen Kolli-sion von Alt und Neu auf eine lineare Geschichtslogik zu schlieen. Herzogs Relief oder die gezeichneten, meist ins konturlose Schwarz abgleitenden Silhouetten des grnderzeitlichen Berlins sind nicht als Vorgnger einer zuknftigen Architektur, sondern vielmehr als Ruinen zu verstehen: Ruinen sowohl einer unzeitgemen Architektur als auch einer obsoleten urbanen Wahrnehmung. Im Gegensatz zu den urbanen Tabula rasa Visionen Le Corbusiers oder Hilberseimers, in denen die historische Stadt aus dem Bild verschwunden ist, betonen bei Mies gerade die im Bild verbliebenen

    Ruinen der verbliebenen Stadt die Mglichkeit einer potentiell revolutio-nren Jetztzeit.26 Anstatt als Kontrast die Neuartigkeit des Brohauses zu akzentuieren, beunruhigen die schemenhaften aber gleichzeitig vertrau-ten Gebude den Betrachter und fordern ihn auf, einen bestimmten Weg zu gehen.27 Und es ist die Zeitschrift, die als Wegweiser fungiert und dem erwachenden Betrachter ermglicht, sich im neuen Raum zu orientieren.

    25 Ja ich wei noch, Mies sagte: Ja, die meisten machen da Entwrfe und die anschlieenden Bauten, die passen auch zu ihren. Und das will er nicht. Denn in Wirklichkeit, wenn man was zu bauen htte, steht es zwischen Zeug, das ganz anders ist. Werner Graeff, im Interview mit Werner Glaeser, 17.September 1972, Tonbandaufnahme, Mies van der Rohe Research Papers, CCA (Anm.9)

    26 Walter Benjamin bezeichnet mit dem Begriff der Jetztzeit jene Gegenwart des histori-schen Subjekts, die in der revolutionren Unterbrechung der Geschichte als einer bloen Linearitt von Ereignissen auf eine mit ihr objektiv korrespondierende Vorzeit zurckgreift und diese als Antizipation ihres eigenen Zustands entziffert. Heinrich Kaulen: Rettung und Destruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik Walter Benjamins, Tbingen 1987, S.233.

    27 Ich beziehe mich hier mit meiner Formulierung direkt auf Benjamins Versuch, die ge-schichtliche Bedeutung der Fotografie herauszuarbeiten: Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget, Beweisstcke im historischen Proze zu werden. Das macht ihre ver-borgene politische Bedeutung aus, Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmtem Sinne. Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen. Sie beunruhigen den Betrachter; er fhlt: zu ihnen mu er einen bestimmten Weg suchen. Wegweiser beginnen ihm gleichzeitig die illustrierten Zeitungen aufzustellen. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Gesammelte Schriften 1.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhuser, Frankfurt a.M. 1972, S.485.

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    Geschichte ist das, was heute geschieht schrieb Hans Richter in der letzten Ausgabe von G und betonte damit die grundstzliche Einsicht der G-Gruppe, dass Geschichte nicht als lineare Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen sei, sondern dass sich die Vergangenheit erst

    aus dem tiefen und bejahenden Begreifen des Heute erschliet.28 Mies war berzeugt, dass seine eigene Gegenwart grundverschieden von vergan-genen Epochen sei. Gegen den Mangel an historischem Sinn und gegen den Glauben an den ewigen Wert der Baukunst stellt Mies eine vitalisti-sche Definition der Geschichte, die auf der Kontingenz des Lebens grndet:

    Man verkennt die wirklichen Zusammenhnge der Dinge, sowohl in Be-zug auf das Neue als auch in Bezug auf das Alte. Alles, was bisher wur-de, war eng verbunden mit dem Leben, aus dem es hervorwuchs, und ein Wandel der Dinge setzt immer einen Wandel des Lebens voraus.29

    Mies geht es letztendlich nicht um die Form, sondern um die Orchestration eines endlos wandelnden Spiels von Differenzen, die in sich instabil und unauflslich bleiben. Das wird besonders deutlich, wenn er im Medium Fotografie arbeitet. Fr die Fotomontagen des Hochhausprojektes Fried-richstrae greift er auf eine Reihe von technischen Verfahren zurck, die der Fhigkeit des fotografischen Apparates entgegen wirken, eine przise Abbildrealitt zu produzieren. Er dunkelt die im Bild sichtbaren traditionel-len Huserfassaden nach, sodass sich einerseits der starke Kontrast mit dem hellen Glaskrper des Hochhauses verstrkt, andererseits die archi-tektonischen Details an Sichtbarkeit verlieren (Abb.7). Auch verwendet er bewusst Langzeitaufnahmen der belebten Friedrichstrae, auf denen menschliche Figuren als verwischte Schatten dargestellt sind ein ge-spenstischer Effekt, der sich auch auf Fotografien aus dem 19.Jahrhundert beobachten lsst, als die chemo-technischen Voraussetzungen noch keine schnellen Belichtungszeiten zulieen. Da in den frhen zwanziger Jah-ren der technische Entwicklungsstand der Fotografie jedoch lngst soweit fortgeschritten war, dass die Erscheinungen spiegelhaft30 aufgezeichnet werden konnten, handelt es sich hier um eine bewusste Entscheidung von Mies, seine Entwrfe in verwischte und verdunkelte Fotografien zu

    28 G [Hans Richter]: Geschichte ist das, was heute geschieht, in G: Zeitschrift fr elementare Gestaltung, 1926, H.5/6, o.S.

    29 Ludwig Mies van der Rohe: Vortrag, Ort, Datum und Anlass unbekannt, unverffentlichtes Manuskript vom 17.Mrz 1926, in: Neumeyer 1986 (Anm.19), S.311.

    30 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, in: ders. 1972, (Anm.27) S.37677.

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    montieren. Der Unterschied wird deutlich, wenn man beispielsweise die 1927 von Heinz Hajek-Halke produzierte Fotomontage betrachtet (Abb.8), in der das Glashochhaus von Mies aus der 1922 in Bruno Tauts Frhlicht verffentlichten Aufnahme ausgeschnitten und in eine belebte Straen-szene montiert wurde, in der Automobile und Passanten klar konturiert zu erkennen sind.31

    Nun knnte man diese vorstzliche Missachtung technischen Fortschritts als die Vortuschung einer falschen Aura interpretieren, d. h. die Wiederho-lung jener fotografischen Mode nach 1880, die nachtrglich mittels Retusche

    schummrige Tne und knstliche Reflexe ins eigentlich klar detaillierte Bild setzte.32 Stattdessen deutet die Einschreibung von Bewegung und Zeit in den Fotomontagen von Mies eher auf ein alternatives Verstndnis modernen

    31 Das Bild erschien 1927 auf dem Innentitel des populrwissenschaftlichen Magazins Wissen und Fortschritt. Es kndigte den Artikel von einem gewissen Dr. Kurt Dieth zum Thema

    Glasarchitektur, eine verwirklichte Utopie an.32 Benjamin 1972 (Anm.27), S.377.

    Abb.7: Ludwig Mies van der Rohe, Ideenwettbewerb Hochhaus am Bahnhof Friedrich-strae, 1922, Fotomontage, Bauhaus-Archiv Berlin.

  • 85Platzbildung bei Mies van der Rohe

    Wissens, das gerade nicht auf der Verfgbarkeit der Objektwelt fr den ana-lytischen Blick des handelnden Subjektes basiert. Seine Bilder und Bauten tragen eben nicht zur Entschlung der Gegenwart bei, so Walter Benjamin, sondern wirken vielmehr als Schleier, welche die Dingwelt vor dem empi-risch-objektivierenden Blick schtzen. Zugleich verhindert Mies, indem er gegen die Prsentation seiner Architektur als exaktes Abbild arbeitet, die von Benjamin evozierte Mglichkeit einer heilsamen Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch, die z. B. in den detaillierten Stadtaufnahmen Eugne Atgets und spter in der surrealistischen Fotografie zutage tritt. Gerade diese Erfahrung der Entfremdung, so Benjamin, wrde dem Betrachter eine bislang unentdeckte Realitt des Optisch-Unbewussten vor Augen fhren und dem politisch geschulten Blick das Feld freimachen.33

    Fr Mies sind die fotografischen Bildmedien weder Werkzeuge, die dem rational-empirischen Blick die Objektivierung der Welt erleichtern,

    33 Ebd., S.371, 379.

    Abb.8: Heinz Hajek-Halke, Innentitel der Zeitschrift Wissen und Fortschritt, 1927, H.1, Fotomontage

  • Lutz Robbers 86

    noch erffnen diese den Blick auf ein alternatives, bislang ungesichtetes Naturfundament.34 Bildmedien sind fr ihn nicht unbedingt Mittel der Re-prsentation, sondern technische Dispositive zur Schaffung von Prsenz, die es dem modernen Subjekt erlauben, eine Sequenz von Momenten so zu gestalten, da diese ein hohes Ma an Kontingenz zult.35

    G Gestaltung Film

    Ein Schlssel zum besseren Verstndnis von Mies Platzbildungen findet sich in den Diskursen in und um die Zeitschrift G: Material zur elementaren Gestaltung, deren erste Ausgabe im Juli 1923 und damit mehr oder weniger zeitgleich mit der Bauhausausstellung publiziert wurde. Die Zeitschrift war fr Mies nicht blo ein Vehikel zur Verbreitung bereits vorgefasster theore-tischen Ideen. Vielmehr war Mies als ein Hauptmitarbeiter36 aktiv an der Entwicklung und Ausrichtung von G beteiligt. Zudem weist vieles darauf hin, dass der Kontakt mit der G-Gruppe, jener heterogenen Mischung aus ehe-maligen Dadaisten und Expressionisten samt Vertretern des sowjetischen Konstruktivismus und des hollndischen De Stijl, einen entscheidenden Einfluss auf das Denken von Mies hatte.

    Auf den ersten Blick erscheint G als konstruktivistische Zeitschrift.37 Jedoch fehlt ihr im Gegensatz zu anderen Avantgarde Publikationen wie beispielsweise der fast zeitgleich von El Lissitzky und Ilja Ehrenberg he-rausgegebenen Zeitschrift Veshch-Gegenstand-Objet eine klar definierte programmatische Agenda. G war weniger ein Medium fr die Durchsetzung ideologischer Ziele; vielmehr spiegeln gerade die ersten drei Ausgaben, die zwischen Juli 1923 und Juni 1924 erschienen, die Interferenzen verschie-dener, scheinbar konkurrierender intellektueller und knstlerischer Str-mungen, die im Berlin der frhen zwanziger Jahre aufeinander trafen. Hier finden sich Artikel von Ex-Dadaisten wie Hans Richter und Raoul Hausmann, vom sowjetischen Konstruktivisten El Lissitzky und vom Protagonisten der

    34 Vgl. Siegfried Kracauer: Photographie, in: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1963, S.38.

    35 Jean-Franois Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien ber die Zeit, Wien 1989, S.8384.36 Vgl. Hans Richter: Begegnungen von Dada bis heute, Kln 1973, S.54. Siehe auch Raoul

    Hausmann: More on Group G, Art Journal 24, 1965, H.4, S.35052. Zum engeren Kreis der Mitarbeiter zhlten Hans Richter, Theo van Doesburg, Werner Graeff und El Lissitzky.

    37 Wolf Tegethoff: From Obscurity to Maturity: Mies van der Rohes Breakthrough to Modernism, in: Franz Schulze (Hg.): Mies van der Rohe. Critical Essays, New York 1989, S.42.

  • 87Platzbildung bei Mies van der Rohe

    De Stijl Bewegung Theo van Doesburg. Was diese heterogene Gruppe ver-band, die aus so unterschiedlichen Knstlern und Intellektuellen wie Mies, Richter, Graeff, Hausmann, El Lissitzky, van Doesburg, Friedrich Kiesler, Georg Grosz, Adolf Behne und Hans Prinzhorn bestand, war die geteilte berzeugung der Notwendigkeit neue Neigungen und Bedrfnisse und

    neues Leben durch eine neue, affirmative Haltung gegenber der moder-nen Technik zu schaffen.38

    Von den in G behandelten Themen wie Architektur, Malerei, Mode, In-dustriedesign, Fotografie und Stdtebau spielt vor allem der Film eine zentrale Rolle.39 Schon in der ersten, gerade mal vierseitigen Ausgabe sticht das Thema des bewegten Bilds visuell und inhaltlich hervor (Abb.9).

    38 Hans Richter/Werner Graeff: Ewige Wahrheiten, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H.1, o.S.

    39 Tatschlich scheint G als Ersatz fr ein nicht verwirklichtes Filmprojekt entstanden zu sein. Richter und der schwedische Knstler Viking Eggeling experimentierten seit 1920 mit abstrakten Filmen, kmpften jedoch aufgrund ihrer fehlenden Kompetenzen mit technischen Schwierigkeiten. Auf Anraten von van Doesburg investierten Richter und Eggeling das wenige zur Verfgung stehende Geld in die Grndung der Zeitschrift G. Vgl. Richter 1973 (Anm.36), S.189.

    Abb.9: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H.1, Doppelseite Innen.

  • Lutz Robbers 88

    Der Brohaus Artikel von Mies ist umgeben von zwei Beitrgen, die sich dezidiert mit dem Film beschftigen. Illustriert mit einem perforierten Filmstreifen diskutiert Hausmann den optophonetischen Film und die Mglichkeit, mittels des Films ber das Zufllige zu einer neuen Form-verbindlichkeit zu gelangen.40 In Richters Beitrag geht es wiederum um die Suche nach einer neuen Formsprache durch den Film. Begleitet von der schematischen Darstellung eines perforierten Filmstreifens, der ber die Lnge der doppelten Innenseite die Entwicklung des Zusammenspiels abstrakter Rechtecke veranschaulicht, prsentiert Richter in kurzen Wor-ten eine radikale Neudefinition des Films:

    Der Film ist ein Spiel von Lichtverhltnissen. [] Die auftretenden Formen sind de facto Begrenzungen von Vorgngen in verschiedenen Dimensionen (oder von Dimensionen in verschiedener Zeitfolge). Die Linie dient zur Begrenzung bei Flchenvorgngen (als Material der Flchenbegrenzung), die Flche als Begrenzung bei Raumvorgngen. und sind HilfsmittelDas eigentliche Konstruktionsmittel ist das Licht, dessen Intensitt und Menge. [] Der einzelne sinnliche Gehalt der Flche etc. die Form (ob abstrakt oder natrlich) ist vermieden. Die auftretenden Formen sind weder Analogien noch Symbole, noch Schnheitsmittel. Der Film vermittelt in seinem Ablauf (Vorfhrung) ganz eigentlich die Spannungs- und Kontrastverhltnisse des Lichts. [] Es wird versucht, den Film so zu organisieren, da die einzelnen Teile untereinander und zum Ganzen in aktiver Spannung stehen, soda das Ganze in sich geistig beweglich bleibt.41

    Das Wesen des Films liegt weder in seiner Fhigkeit, die Wirklichkeit lebensnah aufzunehmen und wiederzugeben, noch ein illusionistisch-fiktives Spektakel zu produzieren. Die aufblitzenden, sich berlagernden Rechtecke und Linien in Richters Filmen sind nicht als figurative oder ab-strakte Formen zu verstehen, die Bedeutungen transportieren, sich auf eine profilmische Realitt beziehen oder das sthetische Empfinden des Zuschauers reizen. Vielmehr verweisen die sichtbaren Gebilde auf ein ir-reduzibles Ganzes, das nicht als Standbild dargestellt werden kann. Film

    40 Raoul Hausmann: Vom sprechenden Film zur Optophonetik, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H.1, o.S.

    41 Hans Richter: Demonstration des Materials, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H.1, o.S. Hervorhebungen original.

  • 89Platzbildung bei Mies van der Rohe

    ist fr Richter ein spannungsgeladener Vorgang, der nicht kontemplativ oder analytisch gelesen, sondern krperlich und in der Dauer erlebt wird.

    Richters Beitrag ist als Resmee jener filmischen Experimente zu verstehen, mit denen er und der schwedische Knstler Viking Eggeling sich seit 1918 beschftigt hatten. Mittels sequentieller Zeichnungen und Rollenbilder, spter auch mithilfe kinematografischer Aufnahmen, arbei-teten beide intensiv an einer neuen universellen Sprache.42 Dem Modell musikalischer Komposition folgend schufen sie eine Syntax kontrastie-render elementarer Formen, die weder symbolische noch mimetische Verweise auf die Wirklichkeit erlauben, noch als universelle geometri-sche Formen zu verstehen sind. Beispielsweise stellen Richters Fugue (1920) und Eggelings Drei Momente des Horizontal-Vertikalorchesters (1921, Abb.10) Hauptmomente von Vorgngen dar, die in Bewegung gedacht sind.43 Jedoch erst mit Hilfe der kinematografischen Apparatur wurde es mglich, die Bildserien in der Zeit erlebbar zu machen. Die fertig gestell-ten absoluten Filme Richters Rhythmus 21 (1921) und Eggelings Diago-nal Symphonie (1924) veranschaulichen diese neue Sprache. Bedeutung wird hier nicht mehr mittels isolierter Objekte oder Zeichen transportiert,

    42 Richter und Eggeling verfassten 1920 ein achtseitiges, heute verschollenes Pamphlet mit dem Titel Universelle Sprache. Die Grundthesen dieser Schrift, die als konzeptuelle Vorla-ge fr G gelten kann, wurden ein Jahr spter von Richter als Prinzipielles zur Bewegungs-kunst in De Stijl publiziert. Zur Universellen Sprache vgl. Eva Wolf: Von der universellen zur poetischen Sprache, in: Hans Richter (Hg.): Malerei und Film, Frankfurt a.M. 1989, S.1623; Malcolm Turvey: Dada Between Heaven and Hell: Abstraction and Universal Language in the Rhythm Films of Hans Richter, in: October, 2003, H.105, S.1336; Bruce R. Elder: Hans Richter and Viking Eggeling. The Dream of Universal Language and the Birth of the Absolute Film, in: Alexander Graf/Dietrich Scheunemann (Hgg.): Avant-Garde Film, Amsterdam 2007, S.353.

    43 Hans Richter: Prinzipielles zur Bewegungskunst, in: De Stijl IV, 1921, H.7, S.109.

    Abb.10: Viking Eggeling, Drei Momente des Horizontal-Vertikalorchesters, in: De Stijl 5, 1921, H.7.

  • Lutz Robbers 90

    sondern im Spiel der sich in der Zeit entwickelnden Kontrastbeziehungen zwischen den sich wandelnden Dingen produziert. Das Ziel ist dabei nicht die Aufhebung der formalen Kontraste, sondern die Organisation und die Aufrechterhaltung der Spannung zwischen den Elementen, damit das Ganze geistig beweglich bleibt. Rhythmisch organisierte Polaritt wird von Richter und Eggeling zu einem generellen Lebensprinzip, eine neue Form filmischen Denkens, das Eindeutigkeit im Vielfltigen ermglicht.44 Indem der Film der Logik der Reprsentation widerspricht, signalisiert er einen grundstzlichen epistemischen Bruch, der auch in den anderen in G behandelten Disziplinen zutage tritt.45 Film bleibt jedoch das Leitmedium, wie Hausmann bereits 1921 unterstrich: Unsere Kunst ist schon heute der Film! Zugleich Vorgang, Plastik und Bild! Unbertrefflich!46 hnliche Anstze fr eine dynamisch-relationale Dingwelt finden sich in anderen Texten der ersten Ausgabe von G: El Lissitzky spricht vom Gleichgewicht in seinem Prounenraum, das beweglich und elementar sein msse; van Doesburg pldiert fr eine neue Gestaltung, die aus den elementaren Mitteln erwachse; Graeff beschreibt die neue groartigere Technik der Spannungen, der unsichtbaren Bewegungen.47

    Besonders zu unterstreichen ist die Rolle von Adolf Behne, der diese grundlegenden Begriffe und Konzepte in seinem Versuch des Theoreti-sierens der modernen Architektur einflieen lsst. In seinem 1923 fertig gestellten Buch Der moderne Zweckbau bezeichnet er Architektur als eine

    gestaltete Wirklichkeit, welche die ehemals bestehende statische Ordnung durch ein neues, khneres, in weiten Spannungen ausbalanciertes und labiles Gleichgewicht, das unserem Wesen besser entspricht (Polaritt) ersetzt.48 Im Gegensatz zu den Funktionalisten, die Architektur in einem zweckrationalen Sinn als Werkzeug benutzen, bauen die von Behne ge-priesenen Rationalisten Spielrume fr die Entfaltung des eigenen Willens

    44 Ebd. S.110.45 Richter betrachtet den Film als Erziehungsinstrument fr die menschliche Psyche, die mit

    einer gewissen,Denkfhigkeit ausgestattet sei, die aber brach liege. Diese Denkfhigkeit gibt der Seele Machtmittel: Urteilskraft und Aktivitt, d. h. Eigenschaften, die dem gan-zen Menschen in seinem Handeln zugute kommen und fr seine allgemeine Orientierung unentbehrlich sind. Vgl. Hans Richter: Die schlecht trainierte Seele, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1924, H.3, o.S.

    46 Raoul Hausmann: PRsentismus: gegen den Puffkeismus der teutschen Seele, in: De Stijl IV, 1922, H.9, S.138.

    47 El Lissitzky: Prounenraum, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H.1, o.S.; Theo van Doesburg: Zur elementaren Gestaltung, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H.1, o.S; Werner Graeff: Es kommt der neue Ingenier, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H.1, o.S.

    48 Adolf Behne: Der moderne Zweckbau, Frankfurt a. M. 1964 (Originalausgabe 1926), S.41.

  • 91Platzbildung bei Mies van der Rohe

    und zur Selbstbesinnung.49 Auch Behne zeigt eine affirmative Haltung der Technik gegenber, doch macht er eine klare Unterscheidung zur rein rational-funktionalistischen Architektur, indem er den Begriff der Gestalt als das wirkliche Sein voraussetzt.50 Das gestaltende Subjekt ffnet Spiel-rume, nicht indem es einzelne Objekte schafft, sondern indem es die

    Dinge zueinander im Verhltnis betrachtet.51 Bezogen auf die Architektur bedeutet das fr Behne, dass diese erst als lebendige, konkrete Gestalt52 wirken kann, wenn sie in den Kontext der Bewegungen und Rhythmen des urbanen Raumes gesetzt wird. Folgt man Behnes Argumentation, die er in seinem in G publizierten Artikel ber Stdtebau entwickelt, so ist die Gestaltung des urbanen Raumes genau wie fr Richter der Film eine bergreifende, universelle Praxis: Alle Disziplinen elementarer Gestaltung mnden in den Bau der neuen Stadt. 53

    Inmitten dieser Diskurse finden sich die ersten Versuche von Mies, Ar-chitektur im Sinne einer elementaren Gestaltung zu fassen. Dabei sind die begrifflichen Parallelen mit Richter offensichtlich: Film als Spiel von Lichtverhltnissen ist fast identisch mit der Absicht von Mies, mit seinem Glashochhaus ein reiches Spiel von Lichtreflexen zu erzeugen, wie er in seinem 1922 in Frhlicht erschienen Artikel schreibt.54 Das vitalistische Grundargument Film als zeitbasierte Bewegungskunst zu verstehen findet sich auch in der Forderung nach einer Architektur wieder, die Lebendig. Wechselnd. Neu.55 sei, wie Mies es in seinem Artikel Brohaus formuliert. In diesem Sinne erscheinen die Bauten von Mies genau wie die Rechtecke und Linien ( und ) in Richters Filmen als Hilfsmittel, die lebendige Prozesse begrenzen und nur in der Zeit erfahren werden knnen.

    49 Ebd., S.5559.50 Ausdrcklich zitiert Behne Denker wie Paul Tillich, Kurt Riezler und Salomo Friedlaender. In

    Der moderne Zweckbau zitiert er z. B. aus Tillichs System der Wissenschaften nach Gegenstn-den und Methoden (1923) den Satz: Gestalt ist eigentlich das Konkrete, das wirkliche Sein. (Behne 1926 [Anm.48], S.65). Auch bei Riezler erscheint Gestalt als Schlsselbegriff, nicht nur fr den Bereich des knstlerischen Schaffens, sondern auch fr sein politisches Denken um Bereiche wie Geschichte, Nation und Staat (Kurt Riezler: Gestalt und Gesetz, Mnchen 1924). Der expressionistische Autor Friedlaender, der schon frh die anthropozentrische Haltung kritisierte und stattdessen den Mensch als Teil der Dingwelt sah, identifizierte Differenz als grundstzliches Merkmal aller Phnomene. Hier sei angemerkt, dass Fried-laender mit verschiedenen Bekannten von Mies verkehrte (Hannah Hch, Raoul Hausmann, Ludwig Hilberseimer, Viking Eggeling) und seit seinem Artikel Prsentismus: Rede des Erdkaisers an die Menschen (1913) Einfluss auf die sptere Dada Bewegung hatte (Salomo Friedlaender: Schpferische Indifferenz, Mnchen 1918).

    51 Adolf Behne: ber Stdtebau, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H.2, o.S.52 Behne 1926 (Anm.48), S.67.53 Ebd.54 Mies van der Rohe 1922 (Anm.1), S.124.55 Mies van der Rohe: Brohaus 1923 (Anm.1).

  • Lutz Robbers 92

    Alexanderplatz: Spielraum fr neue urbane Lebensformen

    In seinen Arbeiten aus den zwanziger Jahren finden sich lediglich zwei dezidiert stdtebauliche Projekte. Zum einen entwirft Mies den Masterplan fr die Weienhofsiedlung als ein in sich geschlossenes, rhythmisches Gefge von ineinander greifenden, unterschiedlich groen Kuben, das zwar die topographischen Gegebenheiten der Hanglage reagiert, gleichzeitig aber indifferent zum existierenden urbanen Kontext bleibt. Tatschlich suggerieren die ersten Entwurfszeichnungen von 1925 und die Aufnahme des Gipsmodells (Abb.11) gestalterische Parallelen mit den Arbeiten von Eggeling und Richter als mit stdtebaulichen Vorbildern.

    Direkten Bezug auf den stdtischen Platz und den existierenden urba-nen Kontext nimmt dagegen der Beitrag von Mies fr den 1929 von Martin Wagner organisierten Wettbewerb zur Neugestaltung des Berliner Alexan-derplatzes. Wagner forderte die Schaffung eines Weltstadtplatzes, wobei die Durchschleusung des Verkehrs von primrer, die Fragen formaler Gestaltung der umliegenden Bauten hingegen von sekundrer Bedeu-tung waren.56 Insgesamt fnf Straen sollten auf den hufeneisenfrmigen, nach Osten hin geschlossen umbauten Platz einmnden. Der prmierte Vorschlag der Brder Hans und Wassili Luckhardt und Alfons Anker setzt diese Vorgaben przise um: Horizontale Fensterbnder und geschwun-gene Fassaden zeichnen den Fluss des Verkehrs nach und generieren gleichzeitig eine geschlossene Platzanlage (Abb.12). Dagegen verzichtet

    56 Martin Wagner: Formprobleme eines Weltstadtplatzes, in: Das Neue Berlin, H.2, 1929, S.3334.

    Abb.11: Ludwig Mies van der Rohe, Weienhofsiedlung, 1925, Modell (verschollen).

  • 93Platzbildung bei Mies van der Rohe

    Mies in seinem Wettbewerbsbeitrag bewusst auf eine geschlossene Platz-bebauung und orchestriert stattdessen mit insgesamt elf isoliert stehenden Gebuden unterschiedlicher Gre ein Gefge, das gewisse Bezge zur unregelmigen Blockstruktur erlaubt, gleichzeitig aber unabhngig von den Verkehrslinien erscheint eine Missachtung der Wettbewerbsvorgaben, die ihm den letzten Platz einbrachte.57

    Ludwig Hilberseimer verteidigte kurz nach der Wettbewerbsentschei-dung das Projekt von Mies. Seine Kritik richtet sich gegen jene Vorgaben, die mit der intendierten geschlossenen Platzwirkung einen Klassizismus implizieren, jedoch gleichzeitig dem Primat der Funktionalitt des Verkehrs gehorchen. Architektur, so Hilberseimer, werde hier durch den Verkehr vergewaltigt. Mies hingegen habe dieses starre System durchbrochen und den Platz unabhngig von den Verkehrsbahnen, die ihrer Funktion gem verlaufen, allein nach bauknstlerischen Gesichtspunkten zu ge-stalten versucht.58 Auch Wilhelm Lotz unterstreicht gerade die vorstzliche Distanz zum gegebenen Kontext als positive Eigenschaft des Miesschen Entwurfs: Er kennt nicht die zarte Rcksichtnahme auf andere Baulich-keiten und auf vorhandene lineare Bindungen, seine Bauten stehen eigen-willig und kristallklar da. Mies zeige, dass das Stadtbild eben kein aus Schaubildern zusammengestelltes Etwas sei, sondern ein organisches

    57 Vgl. Paul Sigel: Ein Platz. Viele Pltze. Projektionen und Spurensuche am Berliner Alexan-derplatz, in: Arnold Bartetzky/Marina Dmitrieva/Alfrun Kliems (Hgg.): Imaginationen des Urbanen: Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa, Berlin 2009, S, 8894.

    58 Ludwig Hilberseimer: Wrdigung des Projektes Mies van der Rohe, Alexanderplatz, in: Das Neue Berlin, 1929, H.2, S.3940.

    Abb.12: Wassili und Hans Luckhardt/Alfons Anker, Wettbewerbsprojekt Alexanderplatz, 1929.

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    Lebewesen. Das Verbindende, schreibt Lotz in Miessche Manier, zeige sich gerade nicht in der formalistischen Angleichung, sondern in je-ner gemeinsamen, mystischen Entsprechung mit dem Geist der Zeit59.

    59 Wilhelm Lotz: Wettbewerb fr ein Brohaus am Hindenburgplatz in Stuttgart, in: Die Form, H.6, 1929, S.153.

    Abb.13: Ludwig Mies van der Rohe, Neugestaltung des Alexanderplatzes, Fotomontage und Modell, 1929.

  • 95Platzbildung bei Mies van der Rohe

    Interessanterweise verwendet Mies fr jenes lebendige Stadtbild eine Luft-postkarte des Fotografen Wilhelm Niemann.60

    Betrachtet man die in der Zeitschrift Das Neue Berlin abgedruckte Foto-montage eine Luftperspektive des Alexanderplatzes, in die Mies seine verschiedenen Gebudequader eingezeichnet hat so werden die Paral-lelen mit der in 1923 in Weimar intendierten Platzbildung offensichtlich (Abb.13). Um den Verkehrskreisel herum positioniert er in scheinbar freier Komposition die verschiedenen Quader. Das entstehende Spiel mit forma-len Differenzen wird nicht nur durch das kontingente Erscheinungsbild der Bauten kompliziert, deren Glasfassaden zwischen wei und schwarz oszillieren. Zudem provoziert Mies Kontraste mit existierenden Gebuden und urbanen Strukturen. Klar erkennt man die inzwischen zerstrte Geor-genkirche und den Bahnhof Alexanderplatz, der von einem 17-stckigen Hochhaus und einem flacheren, L-frmigen Gebude eingerahmt wird. Besonders ungewhnlich wirkt der im Vordergrund sichtbare typische Berliner Huserblock. Dieser scheint in den Platz vorzudringen, zudem widerspricht der rechteckige Bildausschnitt der perspektivischen Logik des Gesamtbildes.

    Der von Mies vorgeschlagene Platz ist nicht als Lichtung in der chao-tischen Textur der Grostadt zu verstehen, auch ist er kein stdtebauli-ches Mittel zur Schaffung von Ordnung, reprsentativer Gestaltung und Monumentalitt. Die Komposition von Mies ist weder eine rein rational-funktionalistische Anpassung der Stadt an die neuen Verkehrsbedingungen, noch handelt es sich hier um einen Versuch, das Neue mit dem Alten in eine kontextuelle Verbindung zu bringen. Vielmehr ist sein Vorschlag im Lichte der von Mies konstatierten grundlegenden Strukturnderungen des Daseins zu verstehen.61 Die Technifizierung des Lebens und die uns beherrschende Macht der Wirtschaft, so Mies, fhrten unweigerlich dazu, dass der Verkehr ungeheure Dimensionen annehme und mit brutaler Gewalt in den Organismus unserer Stdte eingreife.62 Diese Situation sei grundstzlich neu und in nichts mit de[n] frhere[n] Epochen zu verglei-chen.

    Gleichzeitig ist sich Mies der Tatsache bewusst, dass die uere Gestalt unseres Lebens sich noch keinen neuen Ausdruck zu schaffen vermochte. Sein Vorschlag fr die Neugestaltung des Alexanderplatzes zeigt folglich

    60 Rolf Sachsse: Mies und die Fotografen II. Medium und Moderne als Enigma, in: Helmut Reuter/Birgit Schulte (Hgg.): Mies und das Neue Wohnen, Ostfildern 2008, S.260262.

    61 Mies van der Rohe 1926 (Anm.29), S.315.62 Ebd., S.314316.

  • Lutz Robbers 96

    keine konkrete, realisierbare Zukunftsvision einer neuen Stadt. Auch liest sich die Ansicht nicht als funktionale Komposition eines urbanen Wahrneh-mungsparcours aus Sicht des durch die Stadt fahrenden Automobilisten. Die von Mies entworfene Platzkomposition ist vielmehr als erster Vorbote einer kommenden, noch nicht existierenden Architektur zu verstehen. Sie schrft das Bewusstsein fr die neue Situation, indem sie den fundamen-talen Unterschied zu den alten, lngst erstorbenen Lebensformen63 die bei Mies durch das Bild der historischen Stadt weiterhin prsent blei-ben deutlich macht. In seinen Notizen (1927/1928) vermerkt Mies: Von einer neuen Baukunst wird erst dann die Rede sein knnen, wenn neue Lebensformen sich gebildet haben.64 Seine Bauten stellen somit keine funktionalen oder sthetischen Lsungen dar. Sie sind vielmehr Hilfs-mittel zur Erzeugung von neuen bzw. zur Bewusstmachung von bereits existierenden, aber noch unbewussten Lebensformen. So betrachtet ge-staltet Mies bewusst, was gem Walter Benjamin oder Sigfried Giedion die Ingenieursbauten des 19.Jahrhunderts noch unbewusst leisten: kollektive

    Traumbereiche und Bildphantasien [] an die Schwelle des Erwachens zu fhren und damit den Blick auf das Nchste, fr Zeit und Raum der je gegenwrtigen Geschichte zu schrfen.65

    Gleiches gilt fr die von Mies intendierte Platzbildung: Architektur ist hier kein Instrument zur Durchsetzung funktionalistischer Projekte im stdtischen Raum. Der Platz erscheint bei Mies weder als idealisierte Agora, noch als politischer Reprsentationsraum, noch als Teil der Ver-kehrsinfrastruktur. Auch fungiert er nicht als moderne Leerstelle zur Si-cherung kritischer Distanz. Im Begriff der Platzbildung kristallisiert sich jene Mischung aus lebensphilosophischen und technikaffirmativen Ideen mit einem materialistisch-messianischen Geschichtsbild, wie sie in vielen Texte in G erkennbar wird und fr die Mies ohne Zweifel bereits durch sei-nen Aufenthalt in Dresden-Hellerau in den frhen 1910er Jahren sensibi-lisiert war. Platzbildung impliziert nichts anderes als die Schaffung von Spielrumen, welche die Mglichkeit fr das Entstehen unvorhersehbarer

    Lebensvorgnge66 erffnen, eine Vorstufe zur antizipierten Emergenz einer vllig neuen Architektur. Mit Mies zeigen sich die ersten Umrisse eines

    63 Ebd., S.315.64 Mies van der Rohe: Notizheft, 1927/1928, Blatt 6, in: Neumeyer 1986 (Anm.19), S.330.65 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften 5, hg. von Rolf

    Tiedemann/Hermann Schweppenhuser, Frankfurt a.M. 1972, S.571.66 Mies van der Rohe 1986 (Anm.19), S.362. Im ersten Absatz seines Vortrags argumentiert

    Mies, dass die Baukunst nur von einem geistigen Zentrum aus aufzuschlieen und nur als Lebens vorgang zu begreifen sei.

  • 97Platzbildung bei Mies van der Rohe

    kontingenten Raums im Werden und einer neuen ffentlichkeit, in der un-erwartete Konstellationen zwischen Menschen und Dingen mglich wer-den.67 Und gerade in diesem Vorsto in eine epistemische Terra incognita in der Hoffnung neues Leben und berflu68 zu schaffen, liegt die tiefere Bedeutung von Mies Platzbildung.69

    67 Zur politischen Dimension einer Rekonzeption der Dinge vgl. Bruno Latour: From Real-politik to Dingpolitik or How to Make Things Public, in: Peter Weibel/Bruno Latour (Hgg.): Making Things Public, Cambridge, Mass. 2005, S.431.

    68 Richter/Graeff 1923 (Anm.37), o.S.69 Ich verweise hier auf Jacques Rancire, der das Politische als eine offene, sich jeglicher

    Festschreibung widersetzende Praxis der Divergenz beschreibt. Vgl. Jacques Ranciere: Aux bords du politique, Paris 2004, S.223254.