Philosophie und Alltag - … · im studentischen Alltag nieder und warum überhaupt schiebt man so...

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Ausgabe 02 | 06/2013 kostenlos Philosophie und Alltag Prokrastination und schöne neue Arbeitswelt - was Aufschieben mit Authentizität zu tun hat Schulenstreit John Stuart Mill und Harriet Taylor: Die Gedanken des Philosophen-Paares zu Freiheit und Gleichberechtigung

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1cog!to 06/2013

Ausgabe 01 | 11/2012

kostenlos

PopulärphilosophieDas Konzept Precht - Wie viel und

wessen Populärphilosophie brauchen wir?

Politischer LiberalismusWer ist überzeugender?

John Rawls oder seine Kritiker?

Ausgabe 02 | 06/2013

kostenlos

Philosophie und AlltagProkrastination und schöne neue Arbeitswelt -

was Aufschieben mit Authentizität zu tun hat

SchulenstreitJohn Stuart Mill und Harriet Taylor:

Die Gedanken des Philosophen-Paares

zu Freiheit und Gleichberechtigung

2 cog!to 06/2013

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

hiermit haltet ihr die zweite Ausgabe von Cog!to, der unabhängigen Zeitschrift der Studierendenschaft Philosophie, in Händen. Unsere Leitrubrik trägt die-ses Mal den Titel Philosophie und Alltag. Hier be-schäftigt sich Miguel de la Riva mit dem Phänomen der Prokrastination: Wie schlägt sich das Verhalten im studentischen Alltag nieder und warum überhaupt schiebt man so hartnäckig Dinge auf? Für die Rubrik Schulenstreit konnten wir mehrere Gastautoren und –autorinnen gewinnen, die für uns über Gleichheit und Gleichberechtigung schreiben. Helmut Heid, Ideologiekritiker und ehe-maliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, legt dar, ob Ungleich-heit ungerecht sein muss. Antwort: nicht unbedingt! Zudem skizzieren Ulrike Ackermann und Hans Jörg Schmidt vom John Stuart Mill Institut für Freiheits-forschung, welche Rolle Gleichberechtigung und Freiheit für John Stuart Mill und seine Lebensgefähr-tin Harriet Taylor spielten. Anlässlich des 140. To-destages Mills (8. Mai 2013) und des 155. Todestages Taylors (3. September 2013) zieren die beiden Denker auch den Umschlag des zweiten Hefts. Außerdem freuen wir uns, mit einem Essay von Fabian Heinrich über das Verlangen des Men-schen, sich selbst eine Form zu geben, den Gewin-ner unseres Essaywettbewerbs präsentieren zu dür-fen. Passend zu unserer Leitrubrik Philosophie und Alltag sowie zum Motto der Zeitschrift behandelt der Text das gute, aber auch das schöne (und damit na-türlich auch das wahre) Leben.

Cog!to. Die unabhängige Zeitschrift der Studierendenschaft Philosophie Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München [email protected]

V. i. S. d. P. Lukas Leucht

Herausgeber Fachschaft Philosophie e. V.

Chefredaktion Lukas Leucht, Patrick Lödige

RedaktionNastasja S. Dresler, Dominik Herold, Daniel Hoyer, Bene-dikt Hösl, Simon A. Löfflad, Liv Martschew, Rolf Pfister, Miguel de la Riva, Felicitas Selter, Hannah Sommer, Nejma Tamoudi, Lea Watzinger, Lisa Zacharski, Jakob Zanker, Antonia Zettl

SchlussredaktionMiguel de la Riva, Hannah Sommer, Lea Watzinger, Antonia Zettl

Gastautoren Ulrike Ackermann, Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Nora Hangel, Helmut Heid, Bernulf Kanitscheider, Hans Jörg-Schmidt, Robert Treidl

Interview Fotos Sarah Akgül

Layout ben kollektiv · www.benkollektiv.de · [email protected] Greesberstraße 2, 50668 Köln

Titelbild Mill / Taylor Illustration von ben kollektiv

Bildmaterial vom ben kollektiv

Impressum

Außer auf die vielen weiteren Artikeln könnt ihr euch auf mehrere Interviews freuen. So zum Beispiel mit den Professoren Stephan Hartmann und Hannes Leitgeb in Personenkult. Auch für unsere (hoch-schul)politische Rubrik Parteinahme haben wir Inter-views geführt: Mit Fraktionsmitgliedern von CSU, FDP, Bündnis90/Die Grünen und unserem Dekan Professor Julian Nida-Rümelin (SPD).1 Sicherlich ist Euch mit Blick auf die erste Aus-gabe bereits die Veränderung unseres „Selbstverständ-nisses“ aufgefallen. Inzwischen sind wir nicht mehr die unabhängige Zeitschrift der Studentenschaft Phi-losophie. Damit will ich nicht sagen, dass wir weni-ger unabhängig sind, oder dass wir uns nicht mehr an Philosophen richten; wir sind nun die unabhängige Zeitschrift der Studierendenschaft Philosophie. Trotzdem könnt ihr in Ideenkreis einen satiri-schen Gastartikel von Robert Treidl finden, der kaum ein gutes Haar an der zwar gendersensiblen, seiner Meinung nach aber gedankenlosen Sprache lässt. Auch hier gilt wie für alle Texte in Cog!to: Die Artikel geben nur die Meinung der Autoren wieder, nicht die der Redaktion. Wir hoffen, dass euch die zweite Ausgabe von Cog!to gefällt. Wenn Ihr ebenfalls Interesse dar-an habt, einen Artikel für Cog!to zu schreiben, oder in anderer Weise in der Redaktion mitwirken wollt, mel-det euch einfach unter [email protected]. Selbstverständlich freut sich die Redaktion auch im-mer über Leserbriefe. Nun aber zuerst: viel Spaß beim Lesen!

Für die Cog!to-Redaktion

Lukas Leucht und Patrick Lödige

Editorial

Die Artikel geben die Meinung der Verfasser und nicht der Redaktion wieder: Die Redaktion behält sich das Recht vor, Änderungen und Kürzungen vorzunehmen. Es besteht kein Anspruch auf Veröffentlichung eingereichter Texte.

1 Julian Nida-Rümelin hat die Redaktion gebeten mitzuteilen, dass er die Entwicklung der LMU in den letzten Jahren positiv sieht, nicht nur die seiner Fakultät, wie in der Zusammenstellung der Fotos im Interview ohne Worte der letzten Ausgabe suggeriert wurde.

3cog!to 06/2013

INHALT

S . 05 Kann man gut über gute Politik reden?Wortspielplatz

S. 67 Was ist Bildung für Sie?S. 75 Des Pudels Kern: Wie viel Philosophie steckt in der Politik?S. 83 Polemik in der Bibliothek

parteinahme

S. 55 Friedrich Nietzsche – auf den Spuren eines freien Geistes S. 58 Ist der Tractatus Unsinn?S. 62 Kritik der reinen Unvernunft

ideenkreis

S. 97 Begegnung vor dem Spiegelessay WettbeWerb

S. 09 Autonomie, Authentizität und Arbeitphilosophie und alltag

S. 87 Welche Rolle spielt Religion in unserer säkularen Welt?S. 91 Die kulturellen Bedingungen der KognitionS. 93 Gemessene Daten – oder Erkenntnisse?

blütenlese

S. 17 Schweigen über Gott und die WeltS. 18 Die Rechnerei hat mir Spaß gemacht!S. 25 Erwin Schrödinger und die Interpretation der Quantenmechanik

personenkult

S. 47 Kein Entweder – OderS. 51 Medium Is The Message

schnittmengen

theorie

S. 33 John Stuart Mill und Harriet Taylor – Freiheit und GleichberechtigungS. 38 Ist die Ungleichheit unter den Menschen ungerecht?

schulenstreit

B

Inhalt

4 cog!to 05/2013

WORTSPIELPLATZ

RUBRIK

4 cog!to 06/2013

In Wortspielplatz findet ihr jede Ausgabe eine Kolumne, die das gespro-chene oder geschriebene Wort und seine Verwendung in den Mittelpunkt

stellt. In der letzten Ausgabe wurde die willkürliche Verwendung von „Philosophie“ kritisiert. Dieses Mal setzt sich Lukas Leucht mit dem

Begriff „Politik“ auseinander.

5cog!to 06/2013

Kann man gut über gute Politik reden?Ein Plädoyer dafür, dass wir endlich alle richtig sprechen lernen sollten.

Mich regt es auf, wenn Wörter falsch verwendet wer-

den. Mein Wunsch wäre, dass jeder Mensch mit klar

definierten Wörtern arbeitet. Das ist ein Wunsch, der

den meisten wohl verständlich erscheint, solange

wir explizit Wissenschaft betreiben. Absurd und un-

möglich zu erreichen wird dieses Ziel im alltäglichen

Sprechen. Doch gerade wegen der Absurdität die-

ses Ziels versuche ich mich in diesem Artikel erneut

daran, die alltägliche falsche Verwendung von Wör-

tern als eben solche zu kennzeichnen und eine bes-

sere Alternative vorzuschlagen, damit wir endlich alle

richtig sprechen lernen.

Dabei habe ich natürlich keinen Moment die

Hoffnung, dass eine perfekte Alltagssprache möglich

ist, doch diese bleibt das Ziel.

In diesem Text will ich mich mit dem Wort

„Politik“ beschäftigen. In der letzten Ausgabe habe

ich mich darüber beklagt, dass „Philosophie“ falsch

verwendet wird. Ich bin der Meinung, dass oft „Phi-

losophie“ oder „philosophisch“ gesagt wird, obwohl

„Motto“ und „Einstellung“ oder „hochgeistig“ und

„kompliziert“ gemeint sind.

Wann wird nun das Wort „Politik“ verwendet, obwohl

ein anderes besser angebracht wäre? Lasst mich dazu

ein nicht gänzlich fiktives Beispiel geben. Nehmen

wir einmal an, der oberste Vertreter der Exekutive

(nennen wir ihn B) eines Landes (ab hier A), welches

von vielen als globale Hegemonialmacht bezeichnet

werden würde, ernennt eine neue Botschafterin (sie

heißt C). C soll als oberste Diplomatin in einem Land

(ab hier J) arbeiten, das sich auf das dort stationierte

Militär von A verlässt, da J kaum eigene Streitkräfte

hat und laut Verfassung auch nicht haben darf.

Der Grund dafür, dass C dieses wichtige Amt

bekommen hat, scheint den meisten offensichtlich

deren großzügige Unterstützung des Wahlkampfs

von B zu sein. Diese Praxis ist in A ziemlich üblich. Sie

ist die Tochter eines ehemaligen obersten Vertreters

der Exekutive von A (nennen wir ihn einfach einmal

JFK). Nun liest jemand (nennen wir ihn D) die Nach-

richt über die Benennung von C in der Zeitung (kür-

zen wir sie mit SZ ab) und kommentiert: „Tja, das ist

Politik!“ Und jetzt rege ich mich auf.

Wir sagen „Tja, das ist Politik!“, „Es wäre mal wieder Zeit für bessere Ordnungspolitik!“ oder beschweren uns über „die Politik“. Da-bei meinen wir Unterschiedliches und sagen doch das Gleiche. Der folgende Text ist ein Versuch, die Unterscheidung zwischen „poli-tics“, „policy“ und „polity“ in die deutsche All-tagssprache hinüberzuretten.

Wortspielplatz

Von Lukas Leucht

6 cog!to 06/2013

„Das“ ist nicht „Politik“. Jedenfalls ist „Das“ nicht nur

„Politik“, sondern noch etwas anderes. Ebenso ist

„Politik“ mehr als „Das“. „Das“ und „Politik“ sind nicht

identisch! Der Satz „Das ist Politik“, bezogen auf das

oben skizzierte Beispiel, impliziert, dass Politik im

Kern das Vorgehen ist, mit dem man sich und seinen

Unterstützern machtvolle Positionen sichert.

D scheint also von „Politik“-Verdrossenheit

befallen zu sein und D wird das Verhalten von B nicht

unbedingt gutheißen. Aber aus einem Kommentar

dieser Art meine ich die Überzeugung heraushören

zu können, dass es eben notwendig sei, so zu han-

deln, um erfolgreich Politik zu betreiben. Kurz gesagt:

„Das ist gute Politik!“

Der Satz führt uns hier aber zu einem Wi-

derspruch. Die Botschafterin C ist zuständig für die

Außenpolitik von A in J. C hat aber im Gegensatz zu

professionellen Botschaftern keine große Erfahrung

mit Außenpolitik. C war niemals zuvor Diplomatin. C

spricht nicht die Sprache von J. Viele wichtige Politi-

ker in J sprechen die Sprache

von A nicht besonders gut. A

hat aber ein großes Interes-

se daran, dass die Beziehun-

gen mit J so gut bleiben, wie

sie aktuell sind. J denkt aktu-

ell über Verfassungsänderungen und Remilitarisie-

rung nach. A hat in Js Region wenig andere strate-

gische Partner und würde gerne Hegemonialmacht

bleiben. Ist also die Ernennung von C gute Außenpo-

litik oder wird sie zu guter Außenpolitik führen? Ich

denke nicht. „Das“ ist also keine gute Außenpolitik!

Kann etwas gleichzeitig schlechte Außenpo-

litik, aber gute Politik sein? Nein, wenn die Außen-

politik ein Teilgebiet der Politik ist. Gibt es für die

Aufgaben einer Botschafterin einen besseren Begriff

als „Außenpolitik“? Nein, da Diplomatie ein Teil der

Außenpolitik ist und die Botschaften dem für die Au-

ßenpolitik zuständigen Ministerium von A unterste-

hen. Also müssen wir „Das“ anders beschreiben.

„Politics“ ist nicht gleich „policy“Da bietet sich die in der angelsächsischen Politikwis-

senschaft übliche Unterscheidung zwischen „po-

litics“ und „policy“ an. Dabei steht „politics“ für die

Kunst, etwas durchzusetzen, und „policy“ für das,

was durchgesetzt werden soll (zum Beispiel gute

Außenpolitik). „Politics“ ist der politische Prozess,

„policies“ sind die politischen Inhalte. Diese Abgren-

zung ist nützlich, die Wörter selbst sind für unseren

Zweck aber ungeeignet, da unser (absurdes) Ziel die

Verbesserung der deutschen Alltagssprache ist. Da-

her bietet sich statt „politics“ ein anderer Begriff an:

„Machtpolitik“. Das Vorgehen von B wäre also gute

Machtpolitik, aber schlechte Außenpolitik.

Auch andere Szenarien sind denkbar. Neh-

men wir zum Beispiel an, ein Kollege (X, da nicht

existent) von B entscheidet über das Budget eines

größeren Zusammenschlusses von Staaten (ab hier

EU) und beschließt, die Subventionen für die Land-

wirtschaft zu streichen. Das wäre gute Umweltpo-

litik, da dadurch weniger

Ressourcen verschwendet

würden; gute Wirtschafts-

politik, da dadurch die Prei-

se für die Konsumenten

sänken; gute Haushaltspo-

litik, da dadurch die Staatsausgaben sänken; gute

Entwicklungspolitik, da nicht weiter künstlich billi-

ge Nahrungsmittel exportiert würden. Das wäre al-

les „policy“. Jetzt aber zur Machtpolitik. Machtpo-

litisch wäre das für X keine gute Entscheidung, da

die Landwirte eine der Interessengruppen sind, die

besonders gut organisiert sind, finanziell gut aus-

gestattet sind und sicher wählen werden. Also: „bad

politics“, aber nicht: Schlechte Politik.

Etwas kann aber auch eine gute Politikmaß-

nahme und gute Machtpolitik sein, so in all den Fäl-

len, in denen gute (Wirtschafts-, Haushalts-, Außen-

usw.-)Politik vom Wähler als solche erkannt wird und

die Beliebtheit der verantwortlichen Politiker steigt.

Wortspielplatz

Etwas kann aber auch eine gute Politikmaßnahme und gute

Machtpolitik sein.

7cog!to 06/2013

Von Lukas Leucht

Gibt es ein deutsches Wort für „Polity“ statt „die Politik“?Doch das Wort Politik wird noch auf andere Art

falsch verwendet. So ist oft die Rede von „der Po-

litik“ oder „den Politikern“, die für etwas zuständig

ist. „Die Politik“ ist es auch, der anscheinend teil-

weise der Wille fehlt, bestimmte „policies“ in Kraft

zu setzen. Im Englischen wird diese dritte Verwen-

dung von „Politik“ als „polity“ bezeichnet. „Polity“

sind all die Instanzen, die dafür zuständig sind, „po-

licies“ festzulegen und durchzuführen: Es sind also

die politischen Akteure.

Hier scheint es keinen einzelnen Begriff wie

„polity“ zu geben, der die deutsche Alltagssprache

verbessern könnte. „Die Politik“, die mit „polity“ an-

gesprochen wird und den politischen Willen, der ihr

zugesprochen wird, gibt es jedenfalls nicht. „Die Po-

litik“ wäre hier das Kollektiv aller politischen Akteu-

re, doch dieses Kollektiv hat wie so viele Kollektive

keine eigene Existenz. Es gibt nur politische Indivi-

duen und Institutionen. Daher kann man gleichzei-

tig sprachliche Ungenauigkeit und Ungenauigkeit

im Denken vermeiden, indem man folgenden Satz

beherzigt: „Verstecke dich nicht hinter Abkürzungen

oder Verallgemeinerungen und nenne die verant-

wortlichen Akteure einfach beim Namen!“

Wortspielplatz 7

8 cog!to 06/2013

PHILOSOPHIE UND ALLTAG

RUBRIK

Philosophie und Alltag ist der Name unserer Leitrubrik in der zweiten Ausgabe von Cog!to. Miguel de la Riva widmet seinen Artikel dem

Phänomen Prokrastination: Wie schlägt sich das Verhalten im studen-tischen Alltag nieder und warum überhaupt schiebt man so hartnäckig

Dinge auf?

8 cog!to 06/2013

9cog!to 06/2013

An einer Aufgabe zu scheitern, weil

man prokrastiniert hat, ist ärgerlich.

Oft schon stand man vor der Frage,

warum man nicht früher angefan-

gen hat und oft schon hat man sich

geschworen, nächstes mal nicht die-

selben Fehler zu machen. Warum

aber schiebt man Aufgaben trotz sol-

cher Entschlüsse weiterhin auf? Wo-

rin besteht Prokrastination und war-

um prokrastinieren Menschen?

Eigentlich müsste man an einem Referat arbeiten oder an einer

Hausarbeit schreiben, vom Lernen für nahende Klausuren ganz zu

schweigen – stattdessen aber tut man etwas anderes. Prokrastination

ist ein Verhalten, das ich von mir und anderen nur allzu gut kenne.

Prokrastination ist sogar der Grund dafür, dass ich jetzt diesen Text

schreibe. Eigentlich gäbe es wichtigere Aufgaben zu erledigen;

stattdessen tue ich etwas, dass ich zwar alles andere als überflüssig,

bei ehrlichem Blick aber doch weniger dringlich finde.

Immerhin, ich bin nicht allein. In Umfragen gibt meist eine

Mehrheit der Studierenden an, von Prokrastination ernster betroffen

zu sein. Aber worin eigentlich besteht Prokrastination, und warum

wird prokrastiniert? Hat man schon immer prokrastiniert? In fünf

Thesen versuche ich mich dem Phänomen zu nähern – die ersten

drei sind eine kleine Phänomenologie der Prokrastination, Thesen 4

und 5 versuchen eine theoretischere Würdigung dieses Verhaltens.

Autonomie, Authentizität, Arbeit

Fünf mehr und weniger ernst gemeinte Thesen über Prokrastination1

Philosophie und Alltag

Von Miguel de la Riva

1 Eine frühere Fassung dieses Textes ist zuerst auf dem Blog „Zukunftswerkstatt Hochschule“ am 28.01.13. erschienen (vgl. http://zukunft-hs.de/

prokrastination/). Der Text erscheint hier deutlich überarbeitet.

10 cog!to 06/2013

Prokrastination missversteht, wer

meint, dass sie Haltungen wie

„Was du heute kannst besorgen,

das verschiebe lieber gleich auf

morgen“ oder „Der späte Wurm

entgeht dem frühen Vogel“ ent-

springen würde. Richtig ist, dass

Prokrastinierende Dinge auf-

schieben. Falsch aber wäre anzu-

nehmen, dass sie das tun, weil sie

faul sind.

Prokrastinierende sind

das Gegenteil von faul: Ihre Woh-

nungen sind meist frisch geputzt,

der Kaffee fließt aus erst kürzlich

entkalkten Maschinen, den El-

tern haben sie gestern noch mit

einem Anruf eine kleine Freu-

de gemacht. Sie haben den Ge-

schirrberg runtergespült und ihre

Wäsche nicht nur gewaschen,

sondern auch zum Trocknen auf-

gehangen, gebügelt und ordent-

lich in den Schrank gelegt. Von

besonders hartgesottenen Indi-

viduen dieser Gattung hört man

gar, dass sie, wenn dies und vieles

andere erledigt ist und eigentlich

nichts mehr übrig bliebe, außer

mit der vordergründig wichtigen

Aufgabe anzufangen, dann auch

noch einen Termin beim Zahnarzt

vereinbaren.

Die Liste der Tätigkeiten,

die beim Prokrastinieren getan

wird, ist lang und variiert von Per-

son zu Person. Typischerweise

scheint es sich dabei um Tätigkei-

ten zu handeln, die alles andere

als überflüssig sind und gerade

nicht von Faulheit zeugen. Das

zeigt sich allein schon daran, dass

viele der Tätigkeiten, denen man

beim Prokrastinieren nachgeht,

oft genug selbst Gegenstand von

Prokrastination sind – oft genug

steht das Spülen oder der An-

ruf beim Zahnarzt auch morgen

noch auf der Todoliste. Wer eine

Aufgabe aufschiebt, weil er faul

ist, nunja, der wirft halt den Fern-

seher an, geht einen trinken oder

tut was auch immer ihm oder ihr

Spaß macht und hat dabei auch

Spaß. Faule verbummeln eine

Aufgabe, weil sie sich zu oft für

lustvolle Tätigkeiten entschei-

den. Wer hingegen prokrastiniert

investiert größere und kleinere

Anstrengungen in die Nichter-

ledigung der vordergründigen

Aufgabe – der oder die tut statt-

dessen andere nützliche Dinge,

die in diesem Moment nüchtern

besehen jedoch nachrangig sind.

Prokrastinierende haben nicht

das Problem, den schönen Din-

gen des Lebens zu widerstehen;

sie können sich durchaus zum

Arbeiten entscheiden, nur zu den

Arbeiten nicht, die nun eigentlich

wichtig sind. Prokrastinieren ist

also nicht eine Form der Faulheit,

sondern eine Form des Tätigsein!

Vom Phänomen wird man mehr

verstehen, wenn man es mit Be-

griffen wie vita activa beschreibt,

nicht als Ausdruck von akrasia

betrachtet: Anders als die Faulen

sind sie nicht willensschwach und

erledigen auch unangenehme

Dinge – nur nicht die Richtigen.

Die Anstrengungen, die man beim

Prokrastinieren investiert, zeu-

gen davon, dass man sich genau

darüber im Klaren ist, wie wichtig

die Erledigung der vermiedenen

Aufgabe ist. Wer prokrastiniert,

scheint sich durch nützliche, wenn

auch gerade weniger relevante Tä-

tigkeiten beständig eine passable

Entschuldigung bei der Hand hal-

ten zu wollen, warum man mit der

eigentlich wichtigen Sache nicht

anfängt. Eben daran zeigt sich,

dass Prokrastinierende pflichtbe-

wusst sind – wären sie faul oder

würden sie ihre Aufgaben nicht

ernst nehmen, könnten sie das mit

dem Aufschieben schließlich viel

einfacher und lustvoller haben. Sie

gönnen sich keinen Müßiggang,

wenn sie etwas zu erledigen ha-

ben. Auf morgen verschieben kann

man alles; prokrastinieren jedoch

nur das, wozu man sich auch selbst

in die Pflicht genommen hat.

Darin deutet sich auch

schon eine gewisse Tragik an: Pro-

krastinierende haben das berech-

tigte Selbstbild, tätige, produkti-

ve Personen zu sein – berechtigt

eben durch die Prokrastination. Sie

sind sich im Klaren darüber, dass

sie etwas erledigen müssen und

vergeuden ihre Zeit daher nicht mit

irgendeiner Tätigkeit, sondern mit

Tätigkeiten, die tatsächlich nütz-

lich, in diesem Moment jedoch

nachrangig sind. Durch dieses Ver-

halten aber betrügen sie sich um

die Genüsse, die sie haben könn-

ten, würden sie auf die faule Va-

riante aufschieben. Wäre es nicht

viel schöner, sich mit Freunden an

These 1: Wer prokrastiniert ist

nicht faul, sondern tätig!

These 2: Prokrastinierende sind

pflichtbewusst und nehmen ihnen aufgetra-

gene Aufgaben ernst!

Philosophie und Alltag

11cog!to 06/2013

These 4: Prokrastination ist kein persönliches

Defizit

die Isar zu setzen, anstatt sich da-

bei zu ertappen, die Türe des Kü-

chenschrank zu richten, nur um zu

vermeiden, sich an die Hausarbeit

zu setzen? Schade also für die Pro-

krastinierenden, dass sie nicht faul

sind! Sie leiden nicht an Faulheit,

sondern sind Opfer ihres Pflicht-

bewusstseins – das dann in Rigo-

rismus umzuschlagen droht, wenn

sie sich zum Aufschieben einer

Aufgabe nicht mehr ohne Gewis-

sensbisse etwas Schönes gönnen

können. Insoweit scheitern Pro-

krastinierende nicht nur daran, die

gerade eigentlich wichtige Aufga-

be zu erledigen, sondern oft genug

auch daran, lustvoll faul zu sein:

Wenn sie sich mit Freunden treffen,

bestellen sie doch lieber kein Bier

und gehen vielleicht früher, weil sie

glauben, noch arbeiten zu wollen;

einen freien Abend gibt es für sie

nur gegen das innere Versprechen,

morgen auch wirklich anzufangen.

Insofern läuft man beim Prokrasti-

nieren Gefahr, sich um gehaltvolle

Zeit zu betrügen: Man tut nicht,

was man sich vornahm, aber auch

nicht, was Spaß macht; und wenn

man tut, was ansonsten Spaß ma-

chen würde, dann genießt man es

nicht. Weder leidet man unter Lan-

geweile, noch ist man recht über-

arbeitet.

zusammenzutragen, der gut und

gerne auch den Grundstock einer

stattlichen Magisterarbeit dar-

stellen könnte. Natürlich fehlt mir

die Zeit, all das zu lesen; bei kurz-

fristig zu erstellenden Arbeiten

manchmal sogar genau die Zeit,

die ich gebraucht habe, um all

das anzuhäufen. Der verstriche-

nen Zeit wegen aber konzentriere

ich mich auf das wirklich Wichti-

ge; wenn ich die Frist noch ein-

halten kann und ein angemesse-

nes Ergebnis erziele, habe ich den

wichtigen Teil der Aufgabe sehr

effizient gelöst – nicht trotz, son-

dern weil ich die weniger wichti-

gen Teile der Aufgabe ineffizient

bearbeitet habe.

Wer erwidert, dass es

doch noch viel effizienter wäre,

zuerst den wichtigen Teil der Auf-

gabe zu erledigen und sich da-

nach irgendwelchen Freuden am

Bibliothekskopierer hinzugeben,

verkennt, dass von Erfolg ge-

krönte Prokrastination auf einem

Wechselspiel eines hohen Maß an

Ablenkung und einem hohen Maß

an Konzentration und Effizienz

beruht. Konzentriert sind Prokra-

stinierende nämlich nur, wenn sie

unter Zeitdruck stehen. Sie ken-

nen keine Routine im Arbeiten.

Sie oszillieren zwischen Aufmerk-

samkeitsdefizit und Flow, ihr Ar-

beiten hat ebenso etwas Lahmes

wie Intensives, etwas beinahe bi-

polares.

Daran wird auch schon

deutlich, dass Prokrastination oft

sogar Spaß macht und befriedi-

gend sein kann. Nicht selten hatte

ich – und, wie ich schon mehr-

fach hörte, nicht selten hatten

auch andere – das Gefühl: Heure-

ka! Wenn‘s schon auf die holprige

Weise gut geklappt hat, wie wäre

es erst, wenn man die Sache rich-

tig anfassen würde? Prokrasti-

nation kann insofern das Selbst-

wertgefühl steigern – oder als

Entschuldigung dafür herhalten,

dass man etwas nur mittelmäßig

erledigt hat. Schließlich hatte man

wenig Zeit; und in Relation dazu

sei das Ergebnis beachtlich!

In solchen Momenten

vergisst man jedoch, wie oft man

Prokrastination wegen schon ge-

scheitert ist. Dieses Scheiterns

ist dabei besonders schmerzlich

– nicht nur, weil man seine Zeit

auch lustvoller hätte vergeuden

können, sondern auch, weil die-

ses Scheitern wahrlich banale Ur-

sachen hat und auch durch hohe

Motivation und Pflichtbewusst-

sein nicht verhindert werden

konnte. Banal ist dieses Scheitern,

weil man nicht einem Mangel an

Fähigkeiten, einem Mangel an Zeit

oder sonstigen triftigen Dingen

erlegen ist – sondern schlicht und

einfach zu spät angefangen hat.

Motivation und Pflichtbewusst-

sein andererseits hat man gerade

in den Anstrengungen bewiesen,

die man investiert hat, um weiter-

hin eine passable Entschuldigung

zu haben, noch nicht zu begin-

nen. Man weiß, dass man es hätte

schaffen können, man wollte es

schaffen, hat es aber nicht ge-

schafft. Das ist bitter.

These 3: Prokrastinierende arbeiten effizient!

Ein solches Scheitern wirft bei

Betroffenen – hoffentlich! –

die Frage auf, warum es soweit

kommen konnte: Warum habe

ich prokrastiniert, bis ich keine

Zeit mehr hatte? Diese Frage

suggeriert, dass es hier um ein

Mir scheint es recht offensichtlich:

Wer prokrastiniert arbeitet effizi-

ent. Er oder sie muss es ja auch, da

man durch weniger dringlichere

Tätigkeiten viel Zeit für die eigent-

liche Aufgabe verloren hat. Ich er-

wische mich oft dabei, in der Vor-

bereitung von kürzeren und länge-

ren Aufsätzen einen Literaturberg

Philosophie und Alltag

12 cog!to 06/2013

individuelles, persönliches Defizit gehen würde.

Diese Suggestion wird durch Trainingsangebote und

eine Schwemme an Ratgeberliteratur noch bestärkt;

anscheinend kann man ja lernen, das Vermeiden zu

vermeiden. Oft scheint man etwas zu denken wie: An

Fähigkeiten und Motivation mangelte es mir nicht; ich

wollte es schaffen und wusste auch wie – also muss es

irgendetwas damit zu tun haben, dass ich desire und

belief nicht in entsprechende Handlungen übersetzen

konnte, dass ich willensschwach war. So besehen läge

das Problem darin, dass es mir an Initiative mangelte,

ich meine Ärmel mehr hätte hochkrempeln müssen

oder mir selbst mehr in den sprichwörtlichen Arsch

hätte treten sollen. Hätte ich doch früher angefangen!

Macht man sich solcherlei Selbstanklagen,

ist man in eine naheliegende Falle getappt. Eine

der Tücken bei Prokrastination besteht darin, dass

während der Vermeidung glasklar ist, dass man jetzt

nicht anfangen müsse oder könne; im Nachhinein

aber steht man ungläubig vor dem Scherbenhaufen

und kann nicht nachvollziehen, warum man die Sache

nicht früher in die Hand genommen hat. Die Frage:

Warum habe ich nicht früher angefangen? ist eine

Scheinfrage – auf sie gibt es keine treffende Antwort.

Woran das liegt? Weil die Frage auf ein indi-

viduelles, persönliches Defizit abzielt und suggeriert,

man müsse nun über sich nachdenken und nach ge-

eigneter Kur Ausschau halten – also z.B. einen Rat-

geber kaufen, ein Trainingsangebot aufsuchen oder

sich, wie meistens, mehr Selbstvorwürfe machen, we-

niger lustvolle Freizeit gönnen und noch mehr daran

scheitern, anzufangen. Tatsächlich stellt Prokrastina-

tion aber kein bloß individuelles Phänomen dar und

legt nicht Zeugnis rein persönlicher Defizite ab. Das

würde allein schon durch den Hinweis auf die enor-

me Verbreitung des Phänomens plausibel werden; es

erscheint einfach unwahrscheinlich, dass viele Men-

schen völlig unabhängig voneinander ein bestimmtes

Verhaltensmerkmal zeigen sollten. Die Prokrastinati-

on, die nahezu jeder und jede von sich und Bekannten

kennt, muss auch nichtindividuelle Ursachen haben,

irgendetwas über die Gesellschaft und Umwelt verra-

ten, in der man sie vorfindet.

Psychologische Erklärungsansätze, die nur

Individuen ins Auge fassen, scheinen einige Fragen

offen zu lassen: Warum wird Prokrastination von so

Vielen gleichzeitig gezeigt? Warum wiederholt sie

sich bei Einzelnen so hartnäckig, auch wenn sich

Betroffene schon oft geschworen haben, nächstes Mal

früher zu beginnen und sehr genaue Kenntnis davon

haben, wie sich Prokrastination bei ihnen äußert?

Warum scheinen, wie Studien nahelegen, Studenten,

Freiberufler und Selbstständige stärker betroffen als

andere Berufsgruppen? Warum war Prokrastination

vor 50 Jahren anscheinend kein Thema und gleicht

heute einer Epidemie?

Um Antworten auf diese Fragen geben zu

können, muss man Prokrastination als ein Verhalten

darstellen, dass nicht von prokrastinierenden Indivi-

duen, sondern von prokrastinierten Tätigkeiten sei-

nen Ausgang nimmt. Offenbar ist man weniger Ak-

teur, sondern eher Opfer von Prokrastination. Fragt

man danach, warum Menschen prokrastinieren, dann

müssen, so möchte ich im Folgenden verteidigen,

auch einige Worte über unsere heutige Ausbildungs-

und Arbeitswelt fallen. Prokrastination stellt man

noch zu selten in den Zusammenhang mit der schö-

nen neuen Arbeitswelt, scheint mir.

These 5: Prokrastination verrät viel über

unsere heutige Ausbildungs- und Arbeitswelt – sie inszeniert

Selbstbestimmung, wo keine ist

Einer Antwort darauf, warum prokrastiniert wird und

wie dies mit der Organisation von Ausbildung und Arbeit

zusammenhängen soll, kann man sich durch die Frage

nähern, ob schon immer prokrastiniert worden ist.

Wahrscheinlich kann ich nicht erwarten, dass

man mir uneingeschränkt beipflichtet, wenn ich ver-

mute, dass es schon immer Faulheit gab; ich glaube

aber, dass klarer ist, dass nicht schon immer prokra-

stiniert wurde. Zum Teil liegt das daran, dass Prokra-

stination erst bei Aufgaben möglich scheint, die nicht

überlebensnotwendig sind – es scheint einigerma-

ßen unwahrscheinlich, sich lieber mit der Wäsche

oder der Einrichtung des Hauses zu beschäftigen, als

sich tagelang nicht dazu bequemen zu können, eine

Mahlzeit zu bereiten. Interessanter indes dürfte der

Hinweis darauf sein, dass auch andere Arten von Auf-

gaben nicht prokrastiniert werden können. Ist meine

Aufgabe, am Fließband in der Stunde an fünf Autos

Stoßstangen zu befestigen, dann erfülle ich mein Soll

– oder werde, wenn ich stattdessen lieber zunächst

eine neue Politur für die Karosserie ausprobiere, ent-

lassen. Prokrastination scheint erst da möglich zu

werden, wo man nicht mehr nur die ausführende

Hand der Weisungen eines anderen ist – wo man

mehr oder weniger flexibel in Auswahl und Bearbei-

tung der Aufgaben ist.

Philosophie und Alltag

13cog!to 06/2013

Diese Flexibilität scheint eigentlich etwas schönes zu

sein. Es ist wunderbar und ich möchte nicht missen,

dass man sich an der Uni für Hausarbeiten seine Zeit

frei einteilen kann, selbst ein Thema wählt und frei

entscheidet, wie man es bearbeitet. In vielen späte-

ren Berufsfeldern scheint es heute nicht unähnlich zu

sein, wofür das schillerndste Beispiel wahrscheinlich

die aufblühende Start-Up-Szene abgibt: Man entwik-

kelt eine eigene Idee, man gründet ein kleines Unter-

nehmen, man macht sein Ding auf die eigene Weise.

Solche Flexibilität verlangt von mir aber

auch Eigeninitiative, Identifikation und intrinsische

Motivation dort zu entwickeln, wo früher nur äußere

Sanktion drohte. Am Fließband musste man nur

gehorsam sein und umsetzen, was einem aufgetragen

wurde; nicht verlangt wurde, die Anweisungen auch

selbst gut und sinnig zu finden und mit der eigenen

Person hinter ihnen zu stehen. Das disziplinierende

Moment in diesen Arbeitsverhältnissen bestand in

der Möglichkeit äußerer Sanktion. Habe ich nun die

Möglichkeit, Aufgaben selbst zu wählen und ihre

Bearbeitung frei einzuteilen, kann man nicht mehr

nur deswegen arbeiten, um Sanktionen zu vermeiden

– schließlich ist man ja selbst zu der Instanz

geworden, die Aufgaben erteilt und disziplinierend

wirken müsste. Treffend wird das als „Sein eigener

Chef werden“ beworben; treffend insofern nämlich,

als das Wort „Chef“ gleichzeitig Assoziationen an

Gestaltungsmöglichkeit und Freiheit, aber auch an

das Disziplinieren von Untergebenen (in diesem Fall:

man selbst) weckt. Auch wenn ich flexibel arbeiten

kann oder soll, muss die Arbeit nach wie vor erledigt

werden; drohen mir nicht mehr äußere Sanktionen,

weil ich selbst entscheide, was ich und wie ich es

mache, muss irgend etwas anderes disziplinierend

wirken. Offenbar muss man hier die Arbeit „von

sich aus“ erledigen wollen, intrinsische Motivation

und Eigeninitiative haben. Diese wird, denke ich,

durch Identifikation mit der Arbeit hergestellt –

dadurch, dass man mit seiner Person hinter den

Aufgaben steht oder, besser noch: gestellt wird,

weil man sie selbst wählen muss. Es scheint nur zum

Preis großer kognitiver Dissonanz möglich, selbst

gewählten Aufgaben nachzugehen oder sich für

sie zu entscheiden, wenn man sich nicht mit ihnen

identifiziert oder sie für unsinnig hielte; genauso

scheint es schwierig, sich nicht zu ärgern und es

nicht auch als ein Scheitern der eigenen Person

wahrzunehmen, wenn man solche Aufgaben nicht

erledigt bekommen hat. Viel leichter ist zu ertragen,

wenn man nicht so viele Stoßstangen wie Chef das

wollte montiert hat, als ein Projekt scheitern zu

sehen, in das man sein Herzblut gesteckt hat. Wähle

ich meine Aufgaben selbst aus, ist nicht nur meine

Arbeitskraft, sondern auch meine Person im Spiel.

Solche Arbeitsverhältnisse – in denen

ich Aufgaben selbst wähle und flexibel bearbeite

– gehen daher oft mit der Suggestion von

Selbstverwirklichung einher. Selbstverwirklichung

in einer Arbeit scheint dann möglich zu sein, wenn

ich genau das tun möchte, was die Arbeit von mir

verlangt; wenn ich sozusagen genau der richtige Typ

für diesen Job bin. Wer glaubt, dass er sich in seinem

Studium selbst verwirklicht, schreibt entsprechend

Philosophie und Alltag

14 cog!to 06/2013

eine Hausarbeit nicht nur, weil es die Modulordnung

vorsieht – sondern weil man in dieser Aufgabe auch

seine eigenen Interessen wiederfindet, sich z.B. für

eine Person hält, die gerne forscht und schreibt. Man

schreibt nicht nur gegen eine Sanktion an, sondern

weil es einem auch selbst entsprechen würde. Arbeit

im Modus der Selbstverwirklichung zu erledigen

heißt, seine Person in den Anforderungen der Arbeit

authentisch verkörpert zu sehen, an der Arbeit

man selbst zu werden und in ihr man selbst zu sein.

Solche Arbeitsverhältnisse setzen auf Freiwilligkeit

und Initiative, statt auf Zwang und Gehorsam,

könnte man meinen; auf Selbstbestimmung statt auf

Fremdbestimmung.

Oft genug ist aber genau das nicht der Fall.

Dort, wo die Anforderungen eines Arbeitsverhält-

nisses und die Bedürfnisse einer Person noch nicht

deckungsgleich sind, wo aber dennoch nach Ent-

sprechung und Selbstverwirklichung, nach Authen-

tizität im Arbeiten gesucht wird – dort muss sich die

Person derart verändern, dass sie will, was von ihr

verlangt wird. Sie muss anfangen, auch fremdbe-

stimmte Handlungen als selbst gewollt, selbst ge-

wählt anzusehen.

Oder sie muss prokrastinieren.

Denn wer prokrastiniert, scheint gewisser-

maßen nicht wollen müssen – der oder die möchte

eine bestimmte Aufgabe erledigen, möchte sie aber

nicht erledigen müssen. Was in der Prokrastination

aufrecht erhalten werden soll, ist die Illusion, etwas

wollen zu können. Der Unterschied zwischen wollen

müssen und wollen können scheint darin zu beste-

hen, dass Aufgaben, die man wollen kann, selbstge-

wählt, meiner Person zu entspringen scheinen – hin-

gegen Aufgaben, die man wollen muss, offenbar ein

Moment von Fremdbestimmung tragen. Und was

für eine Fremdbestimmung! Hier geht es nicht mehr

nur darum, mich mit mehr oder weniger Murren zum

Montieren der Stoßstangen zu bewegen; das muss

ich schlicht, das muss ich nicht wollen müssen. Hier

geht es vielmehr darum, mich zu einer Person zu ma-

chen, die die entsprechenden Aufgaben auch selbst

erledigen will; solches Wollen entspringt nicht meiner

Person, sondern soll in meine Person gewissermaßen

eingebaut werden, um disziplinierende Mechanismen

auch bei flexibler Arbeitsweise in Gang zu halten.

Hohe Anforderungen einer Stelle als challenges

wahrzunehmen – das heißt nichts anderes, als an-

zufangen, auch das persönlich zu wollen, was einem

vormals als fremd gegenübertrat. Der gerne von

Oberstufenlehrern und Professoren zum Besten ge-

gebene Satz „Sie sind freiwillig hier“ schöpft seinen

disziplinarischen Beigeschmack aus dem gleichen

Mechanismus. Man könnte ihn in die Frage überset-

zen: „Warum tun sie nicht, wofür Sie sich entschie-

den haben?“ Der Satz gibt in seinem Wortlaut vor,

an Freiwilligkeit zu appellieren; ruft tatsächlich aber

dazu auf, auch die Aspekte eines Arbeits- oder Aus-

bildungsverhältnisses als selbstgewählt anzusehen,

die man sich nicht aussuchen kann und einem nicht

entsprechen.

In der Prokrastination wird die Fiktion auf-

recht erhalten, dass ich die Aufgabe, die ich erledi-

gen muss, auch selbst erledigen will. Prokrastinier-

bar sind anscheinend nur Aufgaben, bei denen das

nicht ganz zutrifft, die aber auch nicht als fremdbe-

stimmt erscheinen sollen.

Das beste Beispiel für solcherlei Aufgaben

sind Leistungsnachweise: Referate, Hausarbeiten,

Klausuren. Ich lese, schreibe und referiere gerne

über Dinge aus meinen Studienfächern. Ich tue es

auch einfach so, in meiner Freizeit; sicherlich gilt

das für fast alle Studierende in den Geisteswissen-

schaften, für viele auch an anderen Fakultäten. Und

natürlich habe ich mich frei zu meinem Studium

entschieden, identifiziere mich mit meinen Fächern,

sehe in dem, was von mir im Studium verlangt wird,

zum Teil auch meine Person verkörpert. Wer kann

schon ernsthaft drei oder fünf Jahre gegen die

Überzeugung der Sinnlosigkeit des entsprechen-

den Fachs anstudieren? Faktisch ist man im Studi-

um aber auch fremdbestimmt; man sucht sich nicht

aus, drittklassige Powerpoint-Skripte reinzupauken,

um nicht an den Einserbremsen in der Multiple-

Choice-Klausur zu scheitern, genauso wenig wie –

zum Glück in Philosophie selten – unklare Essaya-

ufgaben (und nur in diesen Hinsichten wird von „Sie

sind freiwillig hier“ gesprochen). Man prokrastiniert,

weil man auch solche Aufgaben als selbstgewählt

erscheinen lassen möchte – man möchte sie länger

Philosophie und Alltag

15cog!to 06/2013

Weil man versucht, man selbst zu sein, in fremden

Erfordernissen auch die eigene Person wiederzu-

erkennen möchte – und dies auch dort, wo sich

die eigene Person nicht in den Erfordernissen wie-

derfinden lässt. In der Frage: Warum habe ich nicht

früher angefangen? scheint ein Mangel an und ein

Moment von Selbstdisziplinierung hindurch. Pro-

krastination ist das Symptom einer scheiternden

Inkorporation fremder Erfordernisse in die eige-

ne Person; sie wird nötig, wo man fremde Erfor-

dernisse nicht als die eigenen darstellen kann. Im

Lichte dessen scheint Prokrastination alles andere

als ein plumpes, irrationales Verhalten zu sein. Es

geht hier nicht um das wie auch immer geartete

Scheitern einzelner Handlungen, sondern darum,

eine bestimmte Art eines tätigen Leben aufrecht

zu erhalten: Das der Selbstverwirklichung.

Immerhin mag dies doch noch einen gang-

baren Weg eröffnen, Prokrastination zu vermeiden:

Indem man Fremdbestimmung Fremdbestimmung

sein lässt. Nicht mehr nach Entsprechung sucht,

wo keine ist. Leider hört man dann auch auf, zwi-

schen den Deckeln von Seminarmappen am Wah-

ren, Schönen, Guten teilzuhaben. Der Schein der

Selbstverwirklichung, der auch nichtigen Arbeiten

Glanz verlieh, verblasst. In der neuen Arbeitswelt

ist man nur scheinbar paradoxerweise freier, wenn

ich sichtlich fremdbestimmt bin: wenn ich muss,

jedoch nicht wollen muss.

Von Miguel de la Riva. Am liebsten prokrastiniert

er mit Zeitungslesen.

wollen können, sie so spät wie möglich wollen müssen.

Durch das Erledigen von weniger relevanten Tätigkeit

möchte man die Illusion aufrecht erhalten, sich irgend-

wann aus freien Stücken dazu zu entscheiden, die vor-

dergründige Aufgabe anzupacken. In der Prokrastina-

tion sollen insoweit die Grenzen von Autonomie und

Heteronomie, von Selbst- und Fremdbestimmung neu

abgesteckt werden – dahingehend, dass ich mich mög-

lichst weitgehend als autonomen Akteur inszeniere.

Dass mir die Aufgabe nicht ganz persönlich entspricht

und ich mit ihr nicht identisch bin, soll so lange wie

möglich kaschiert werden. Prokrastination – und nicht

nur Faulheit – scheint erst dann erforderlich, wenn man

versucht, eine Entsprechung von Personen und ihrer

Arbeits- oder Ausbildungserfordernissen herzustellen;

wenn sie sich selbst verwirklichen, in ihrer Arbeit ver-

körpert sehen sollen – und das ist erst seit jüngerem

Datum so.

Um das prägnanter auszudrücken: Prokrastina-

tion tritt dort zutage, wo der Versuch, im Arbeiten au-

thentisch zu sein, nicht einem entsprechenden Maß an

Autonomie, an wollen können korrespondiert – wo ich

in die Arbeit die eigene Person einbringen soll, das aber

nicht möglich ist, weil man bestimmte Dinge wollen

muss. In ihr kommt zum Ausdruck, dass Autonomie und

Authentizität in der Arbeit ins falsche Verhältnis gesetzt

sind: Dass man in der Arbeit man selbst sein soll, ohne

dass durch ausreichend Freiräume auch abgesichert

wäre, dass man mit der Person, wie sie ist, in ihr auch

man selbst sein könnte. Prokrastination wurde durch

den Wandel der Arbeitswelt in der Vergangenheit er-

möglicht; es wurde nicht schon immer prokrastiniert.

Das unerhörte Paradox dieses Verhaltens nun

liegt darin, dass man sich durch Prokrastination, die

eigentlich die Fiktion von Autonomie aufrecht erhalten

soll, oft genug völliger Heteronomie ausliefert –

weil man leider irgendwann keine Zeit mehr hat, mit

einem Zahnarztbesuch oder Spülmarathon die Fiktion

des wollen können aufrecht zu erhalten. Irgendwann

ist es eben nötig, auf zwei oder mehr Wochen in den

Vorlesungsskripten zu versinken. Hätte man doch früher

angefangen!

Und damit steht man wieder vor der alten Frage.

Warum hat man nicht früher begonnen? Sind meine

Überlegungen bis hier her richtig, dann ist die Antwort:

Philosophie und Alltag

16 cog!to 05/2013

PERSONENKULT

RUBRIK

In Personenkult findet ihr Interviews mit Professoren unserer Fakultät und anderen interessanten Denkern und Denkerinnen; in dieser Ausgabe mit den Professoren Leitgeb und Hartmann. Außerdem bemüht sich die Redaktion um Artikel zu wichtigen historischen und zeitgenössischen

Persönlichkeiten. Dieses Mal: Erwin Schrödinger.

16 cog!to 06/2013

17cog!to 06/2013

Schweigen über Gott und die Welt

Ein Interview ohne Worte mit Prof. DDr. Hannes Leitgeb

Das Interview führte Lukas Leucht. Fotos: Sarah Akgül.

Letztes Jahr sind Sie von den Studierenden der Philosophie mit dem Preis für gute Lehre ausgezeichnet worden. Was macht Ihre Lehre besonders?

Auf Facebook haben Studierende Ihnen einen Fanclub gewidmet. Die Gruppe nennt sich The Mighty Logician - Official Hannes

Leitgeb Fanclub2. Wie haben Sie reagiert, als Sie davon erfahren haben?

Sie haben Philosophie und Mathematik studiert. Zusammen mit Prof. Hartmann leiten Sie das Mu-

nich Center for Mathematical Philosophy (MCMP). Wie sieht ein mathematischer Philosoph bei der

Arbeit aus?

Wie viele Mitglieder, denken Sie, hat ihr Fanclub offiziell?

Es sind aktuell 39 Mitglieder. Wir haben auch unsere Leser gebeten, sich Fragen an Sie zu überlegen. So sollen wir fragen: Was geschah, als Sie zum ersten

Mal vom Gödelschen Unvollständigkeitssatz erfuhren?

Sind der Glaube an Gott und das berufliche Betreiben der Logik miteinander vereinbar? Ist Ihrer Meinung nach folgen-

de Aussage aus einer ihrer Klausuren wahr? „Es gibt genau einen Gott.“

Personenkult

1

1 Sei sie logisch aufgebaut oder nicht.

2 http://www.facebook.com/ groups/181427561892251/

18

Die Rechnerei hat mir Spaß gemacht!

Ein Interview mit Prof. Stephan Hart-mann über seine Forschung, seine Lehre und das MCMP

18

Das Interview führten Lukas Leucht und Miguel de la Riva

cog!to 06/2013 Personenkult

19cog!to 05/2013

Cog!to: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit ge-

nommen haben für dieses Interview! Seit einem

Semester sind Sie jetzt hier als Professor für Wis-

senschaftstheorie. Damit erübrigt sich eigent-

lich die Frage, ob Sie sich schon eingelebt haben.

Stattdessen: Wie gefällt es Ihnen hier an der LMU?

War die Entscheidung für die LMU die richtige

Entscheidung?

Prof. Hartmann: Vielen Dank! Mir gefällt es

hier ganz ausgezeichnet. Ich bin ja schon seit einem

Semester hier und habe auch vorher schon mal in

München gelebt, Ende der 90er Jahre. Das heißt,

ich kannte die Stadt, wusste was auf mich zukommt

und kannte auch die LMU schon recht gut.

Was mir besonders gefällt, ist die tolle For-

schungsumgebung hier. Es gibt wunderbare Kol-

legen in meinem eigenen Fach, nicht zuletzt am

MCMP, und es gibt eine ganze Reihe von Kolle-

gen in anderen Disziplinen, mit denen wir schon

zusammenarbeiten und mit denen wir vorhaben

noch stärker zusammenzuarbeiten. Das ist für je-

manden, der an Wissenschaftsphilosophie interes-

siert ist, natürlich eine ganz wunderbare Sache. So

gibt es hier in München nicht nur eine ganz ausge-

zeichnete Sozialwissenschaft (z.B. Ökonomie, Poli-

tikwissenschaften, Psychologie), sondern auch eine

hervorragende Mathematik und Naturwissenschaft,

wobei mich dabei v.a. die Physik und Neurowissen-

schaften interessieren. Hier gibt es alles, und es gibt

alles in ganz hervorragender Qualität. Das ist für

mich paradiesisch.

Cog!to: Mit Ihrer Entscheidung für die LMU

sind sie ja auch nach Deutschland zurückgekehrt.

Hat so etwas wie Heimweh überhaupt eine Rolle

gespielt? Vielleicht auch Heimweh nach dem Wis-

senschaftssystem Deutschlands?

Hartmann: Vielleicht nicht so sehr nach dem

Wissenschaftssystem, aber sicher nach Deutsch-

land. Ich bin jetzt neun Jahre im Ausland gewesen

und wollte immer ins Ausland. Ich dachte im Aus-

land ist alles besser. Das stimmt vielleicht auch zum

Teil, weil die analytische Philosophie im angelsäch-

sischen Bereich sehr, sehr stark ist. Ich wollte da

einfach mitspielen und wollte mich da beweisen.

Das hat großen Spaß gemacht, aber ich bin sehr

froh, jetzt zurück zu sein. Und dann noch in einer

so wunderbaren Stadt und an einer so fantastischen

Universität wie der LMU.

Cog!to: Also hat neben der Stadt und der Uni-

versität auch die Erstarkung der analytischen Phi-

losophie eine große Rolle gespielt...

Hartmann: Sicher, ja.

Cog!to: Sie haben in Gießen studiert und dort

auch promoviert. Da würde uns interessieren, wie

der Gießener Student und Doktorand Stephan

Hartmann dazu kommt, sich mit Wissenschafts-

theorie und formaler Logik zu befassen. Wie und

unter welchen Einflüssen ist dieses Interesse ge-

wachsen?

Hartmann: Ja, das ist vielleicht eine längere

Geschichte. Ich habe mich immer sehr für Mathe-

matik und Physik interessiert und mir war klar, ich

werde irgendwann Mathematik oder Physik studie-

ren und vielleicht eine Universitätskarriere anstre-

ben. Ich war nie geisteswissenschaftlich interes-

siert. Aber so gegen Ende der Schulzeit bekam ich

Interesse am Existentialismus; die Fragen, die Leute

mit 16 oder 17 interessieren. Meine Religionslehre-

rin hat mich immer davor gewarnt, ein reiner Fach-

idiot zu werden, der immer nur rechnet. Ich habe

es nicht wirklich geglaubt, aber es hat doch einen

gewissen Einfluss auf mich gehabt, und so habe ich

mich dann entschlossen, in Gießen ein Doppelstu-

dium aufzunehmen. Ich dachte mir: Warum nicht,

ich probiere das mal mit der Philosophie, mache

das für ein paar Jahre, es ist gut für meine Allge-

meinbildung und irgendwann mache ich dann mit

Physik weiter und werde ein richtiger Physiker.

Dann kam es aber so, dass mir die Philoso-

phie immer mehr Spaß gemacht hat und die Phi-

losophen es toll fanden, dass ich den Physik-Hin-

tergrund habe, wohingegen die Physiker mir immer

gesagt haben, dass ich meine Zeit mit der Philoso-

phie vergeude. (lacht) Dann habe ich mein Studium

abgeschlossen mit einem Diplom in Physik und ei-

nem Magister in Philosophie; das hat alles gut ge-

klappt. Dann dachte ich, weil das so gut geklappt

hat, mache ich jetzt auch noch zwei Promotionen.

Das war ein bisschen schwieriger. Ich habe zuerst in

der Physik mit theoretischer Kernphysik angefangen,

bin nach Amerika gegangen und habe dann aber aus

verschiedenen Gründen auf die Quantenoptik um-

gesattelt. Zwischendurch habe ich an meiner Phi-

losophie-Doktorarbeit gearbeitet, was mir sehr viel

Spaß gemacht hat. In der Arbeit ging es um Modelle

in der Wissenschaft, vor allem in der Physik.

19cog!to 06/2013 Personenkult

20 cog!to 06/2013

Es war eine Arbeit im Rahmen der naturalistischen

Wissenschaftsphilosophie. Ich konnte dabei mei-

ne Kenntnisse verschiedener physikalischer Model-

le schön ausspielen und es hat gut geklappt. Dann bin

ich zunehmend skeptisch geworden, dass dieser na-

turalistische Zugang zur Wissenschaftsphilosophie

der richtige Weg ist. Die Idee war immer, man guckt

sich ein bestimmtes Modell an und konfrontiert es mit

philosophischen Positionen zur Methodologie. Ich

dachte, ich kann doch nicht für den Rest meines Le-

bens ein Modell nach dem anderen durchnudeln und

analysieren. Gleichzeitig war ich aber früher immer

sehr skeptisch gewesen, dass formale Zugänge irgend

etwas bringen in der Wissenschaftsphilosophie.

„Feyerabend war mein großer Held und ich habe sehr gern Kuhn gelesen.“

Tatsächlich war auch die formale Philosophie, wie sie

zu der Zeit betrieben wurde, ziemlich weit weg von

der Wissenschaft.

Trotzdem bin ich dann irgendwie in das andere

Lager umgeschwenkt. Ich wurde Assistent in Kons-

tanz und traf an meinem ersten Tag Luc Bovens, der

zu der Zeit in Konstanz Humboldt-Stipendiat war und

mich in ein Gespräch über Wahrscheinlichkeiten ver-

wickelte. Er hatte gerade ein Buch ausgegraben, von

Judea Pearl. Er wusste, oder ich sagte ihm, dass ich

einen Physik-Hintergrund habe, dass ich gerne rech-

ne. Er hat mich dann dazu gebracht, eine reading

group zu diesem Buch zu machen, damit wir uns ge-

meinsam die Theorie der Bayesian Networks aneig-

nen können. Die Rechnerei hat mir Spaß gemacht,

aber ich habe nicht wirklich gesehen, dass das phi-

losophisch etwas bringt. Irgendwann habe ich aber

doch Feuer gefangen und dann ging es los mit den

Bayesian Networks. Das hat mich einige Jahre be-

schäftigt.

Cog!to: Mit Luc Bovens zusammen haben sie

auch ein Buch veröffentlicht1. Welche Früchte hat die

Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie und for-

maler Methoden in diesem Buch gezeigt? Können Sie

da vielleicht ein schönes Beispiel nennen?

Hartmann: In dem Buch geht es zum einen

um die Anwendung wahrscheinlichkeitstheoreti-

1 Boven, Hartmann (2004), Bayesian Epistomology,

Oxford University Press

scher Methoden auf erkenntnistheoretische und

wissenschaftstheoretische Fragen. Das schöns-

te Beispiel aus der Erkenntnistheorie ist vielleicht

das, was wir zur Kohärenztheorie der Rechtferti-

gung gemacht haben. Da ist die Idee, dass es in der

Erkenntnistheorie zwei konkurrierende Ansätze da-

für gibt, wie Rechtfertigung vonstatten geht. Es gibt

den Fundamentalismus – klassischer Rationalismus,

klassischer Empirismus sind fundamentalistische Po-

sitionen. Wir rechtfertigen, indem wir zurückführen

auf irgendetwas Sicheres. Diese Position ist in die

Kritik geraten.

Die Gegenposition ist die kohärentistische Posi-

tion. Die Idee dabei ist, dass wir eine Glaubensmenge

rechtfertigen, indem wir zeigen, dass sie kohärent ist,

dass alles schön zusammenhängt. Ein Beispiel wären

Zeugenaussagen. Wir haben einen Banküberfall und

ein Zeuge berichtet, der Verdächtige wäre mit einem

Peugeot weggefahren. Der zweite Zeuge sagt, der

Verdächtige hätte einen französischen Akzent. Der

dritte Zeuge sagt, der Verdächtige trüge Coco-Chan-

nel-Schuhe. Das ist eine sehr kohärente Aussagen-

menge. Wenn jetzt die drei Angeklagten Pierre, Luigi

und Pawlew sind, dann ist klar, dass Pierre vermut-

lich der Bankräuber war. Kohärenz wird zur Recht-

fertigung genommen, und Kohärenz scheint auch ir-

gendwie mit Wahrheit korreliert zu sein. Irgendwie

möchte man sagen: Unter gewissen Umständen ist

die kohärentere Aussagenmenge diejenige, die nä-

her an der Wahrheit ist. Man kann informell sagen,

„Kohärenz hat etwas damit zu tun, wie eine Aussa-

genmenge zusammenhängt“ und man kann sagen

„unter gewissen Umständen ist Kohärenz wahrheits-

fördernd“, aber das ist alles sehr vage.

Da kann mit formalen Ansätzen viel gemacht

werden – ich kann die Aussagenmenge modellie-

ren, kann Kohärenzmaße finden, die dann mehr oder

weniger intuitiv sind, und ich kann schließlich auch

untersuchen, wie Kohärenz und Wahrheit mitein-

ander korreliert sind. Da gibt es eine Reihe von Un-

möglichkeitstheoremen, die unabhängig vom spe-

zifischen Kohärenzmaß sagen, dass Kohärenz und

Wahrheit nicht direkt miteinander korreliert sind. Mit

dem Wahrscheinlichkeitskalkül habe ich eine forma-

le Maschinerie, die es mir gestattet, sehr präzise über

diese Fragen zu reden.

Personenkult

21cog!to 06/2013

Cog!to: Können Sie uns kurz erklären: Was ist

mathematische Philosophie? Wie bewerten Sie das

Potenzial formaler Methoden in der Philosophie im

Allgemeinen? …

Hartmann: … da wird Sie meine Meinung über-

raschen.

Cog!to: Wenn man Herrn Leitgeb zuhört, hat

man oft den Eindruck: „The Best is Yet to Come.“

Was uns interessiert: Gibt es Ihrer Ansicht nach

philosophische Fragen, bei denen die Anwendung

mathematischer Methoden wenig fruchtbar ist?

Hartmann: Mathematische Philosophie ist die

Anwendung mathematischer Methoden auf philoso-

phische Probleme. Wir interessieren uns für philoso-

phische Fragestellungen, und wir wollen mathemati-

sche Methoden benutzen, um Fortschritt zu machen

in der Philosophie. Die mathematischen Methoden

reichen von Logik über Wahrscheinlichkeitstheorie

bis hin zu Computersimulationen – alles Mögliche.

Wir sind da sehr offen und wir denken, dass diese Of-

fenheit, auch ein großer Vorteil ist. Mein Eindruck in

meiner Feyerabend-Phase war, dass die Leute eine

bestimmte mathematische Methode hatten – de-

duktive Logik – und die auf alles Mögliche angewen-

det haben. Das ist so, als ob sie einen Hammer von

einer bestimmten Größen haben und hauen den auf

Nägel verschiedenster Größe. Jeder Nagel hat sei-

nen Hammer. Inzwischen ist die Toolbox – Mathe-

matik ist für mich einfach eine Toolbox – inzwischen

so groß, da gibt es so viele wunderbare Methoden,

da muss ich mir nur die richtige Methode suchen, die

zu meinem Problem passt.

Es gibt natürlich auch andere philosophische

Methoden. Konzeptuelle Analyse ist immer noch

eine sehr wichtige Sache. Diese Methoden müssen

verbunden werden.

„Ich bin Methodenpluralist, aber ich bewundere mathematische Metho-den, weil die einfach sehr, sehr leis-tungsstark sind.“

Mathematik hat den Vorteil, dass ich gezwungen

werde, ganz präzise das Problem darzulegen. Wenn

ich etwas mathematisch aufschreibe, muss ich meine

Karten auf den Tisch legen, und wenn ich eine Com-

putersimulation machen will, muss ich den Prozess

ganz genau beschreiben. Aber ich mache natürlich

immer irgendwelche Annahmen. Außerdem benut-

ze ich Mathematik auch als Inferenzmaschine. Wenn

ich ein philosophisches Problem auf ein mathemati-

sches Problem abgebildet habe, verwende ich ma-

thematische Methoden – ich löse Gleichungen, oder

mache eine Computersimulationen. Ab dann funk-

tioniert es quasi automatisch. Ich muss dann nicht

mehr nachdenken, was alles aus meinen Annahmen

folgt – die Mathematik macht das für mich.

Aber natürlich müssen die Annahmen auch ge-

rechtfertigt werden. Hier gibt es sicher Grenzen for-

maler Methoden. In meiner Arbeit zur politischen

Philosophie geht es zum Beispiel unter anderem da-

rum, herauszufinden, was aus bestimmten philoso-

phischen Positionen folgt. Da frage ich etwa, ange-

nommen wir sind Utilitaristen, was folgt dann für ein

bestimmtes komplexes ethisches Problem. Ich bin

hier nicht daran interessiert, die betreffenden ethi-

schen Positionen zu verteidigen. Ich sehe das so,

dass es respektable philosophische Positionen gibt

und mithilfe mathematischer Methoden kann ich fra-

gen, was aus denen folgt. Natürlich müssen diese Po-

sitionen irgendwie gerechtfertigt werden; und wenn

es nun irgendwelche starken Argumente gegen den

Utilitarismus gibt, dann ist das natürlich in diesem

Fall auch nicht gut für mich. Als methodologisches

Prinzip würde ich aber sicherlich nicht sagen, dass es

eine Grenze für mathematische Methoden gibt. Da

stimme ich vollkommen mit Hannes Leitgeb über-

ein – das Beste kommt noch (lacht) und wir schauen

einfach mal, was als Nächstes kommt und lassen uns

überraschen.

Cog!to: Einer ihrer Schwerpunkte ist die so-

ziale Epistemologie. Forschung in diesem Bereich

steht oft im Zusammenhang mit der Frage, ob die

Auskunft anderer eine gute Erkenntnisquelle dar-

stellt. Als Student interessiert einen da natürlich,

ob man als Hörer auf das vertrauen kann, was Sie

in einer Vorlesung berichten – und, sollte das der

Fall sein, warum dem so ist.

Hartmann: Die kurze Antwort ist natürlich „Ja“.

(lacht) Sicher ist das, was Andere mir sagen zu ei-

ner bestimmten Fragestellung, relevant für mich. Es

ist klar, dass ich das irgendwie berücksichtigen sollte.

Die Frage ist jetzt, wie ich das berücksichtige.

Die eine Möglichkeit besteht darin zu sagen,

wir sind beide auf der gleichen Stufe, wir sind bei-

de Studenten. Sie haben etwas über Hegel gelesen,

ich habe etwas über Hegel gelesen und wir stimmen

Personenkult

22 cog!to 06/2013

nicht überein – das sollte dazu führen, dass ich mei-

ne Meinung überdenke. Wenn ich Sie als Autorität be-

trachte, scheint es rational zu sein, Ihre Meinung zu

übernehmen und meine Meinung zurückzustellen. In

dieser Situation sind zwei Leute auf derselben Stufe –

peers ist der englische Ausdruck – und haben ganz

unterschiedliche Auffassungen. Sie sagen, der Zah-

lenwert um den es gerade geht ist 10 Millionen, ich

sage 17. Die Frage ist, was dann zu tun ist. Da gibt es

zwei Situationen. Einmal gibt es die Situation, dass ich

einer von den beiden bin. Da scheint es irgendwie ra-

tional zu sein, meine Meinung darüber zu revidieren,

dass wir beide peers sind – ich könnte dann z.B. Ihre

Zuverlässigkeit heruntersetzen. Die andere Möglich-

keit besteht darin, dass ich meine Zuverlässigkeit he-

runtersetze.

Die andere Situation ist, dass wir hier einen Drit-

ten haben, der sich anhört, was wir beide sagen. Und

der stellt jetzt fest, dass wir unterschiedliche Auffas-

sungen haben. Das scheint mir eine andere Situation

zu sein, als wenn ich einer der Beiden bin. Wenn ich

einer der Beiden bin, kann ich einfach sagen: „Sie sind

blöd“. Aber er sieht uns beide, betrachtet uns am An-

fang als peers - wie kann er dann sagen, dass mei-

netwegen ich blöd bin und sie nicht? Wir interessieren

uns dafür, wie Leute umgehen sollen mit disagree-

ment. Das ist eine wichtige Debatte, die gerade in

Amerika hochkocht – ich glaube auch im Zusammen-

hang mit intelligent design. Kann ich etwa bei mei-

ner Meinung bleiben, dass Gott die Welt geschaffen

hat, selbst wenn ein verehrter Kollege die Evolutions-

theorie ganz toll findet? Leute auf der einen Seite der

Debatte sagen, ja, es ist rational – trotz disagreement

– bei meiner Meinung zu bleiben. Und die anderen

sagen, ich muss meine Meinung zumindest anpassen.

Das ist eine ganz, ganz wichtige Frage – und ich den-

ke, dass hier mit formalen Methoden etwas gemacht

werden kann.

Cog!to: Die letzte Ausgabe von Cog!to beschäf-

tigte sich auch mit Berufsperspektiven von Philo-

sophen. Als Philosophiestudent kennt man die Fra-

ge, was man damit denn später machen wolle. Was

antwortet Stephan Hartmann, wenn er in seinem

Bekanntenkreis gefragt wird, welchen Nutzen die

Gesellschaft von bayesianisch orientierter Wissen-

schaftsphilosophie hat.

Hartmann: Ich habe Glück gehabt und habe ei-

nen Job. Ich kann Philosophie beruflich betreiben und

damit machen, was ich will. Das ist schön und ich fin-

de es toll, dass die Gesellschaft sich das leistet. Ich fin-

de auch, dass es wichtig ist, dass ich nicht alles, was

ich mache, gesellschaftlich rechtfertigen muss. Das

ist zum Teil einfach eine Kulturleistung. Gleichzeitig

bin ich aber der Meinung, dass wir natürlich irgendwie

erklären müssen, was wir machen. Es sollte möglich

sein, der Gesellschaft, dem interessierten Laien, zu er-

klären, warum uns bestimmte Fragen interessieren. Da

viele der Fragen, mit denen ich mich befasse, sehr an-

gewandt sind, ist das für mich eher leicht.

Cog!to: Wir haben in Ihrem Lebenslauf gese-

hen, dass sie Stipendiat des Cusanuswerk waren,

das katholische Studierende fördert. Wie sehen sie

das Verhältnis von Religion und Wissenschaft?

Hartmann: Zunächst einmal finde ich Semi-

nare zum Thema Wissenschaft und Religion sehr in-

teressant. Ich habe auch vor, in Zukunft ein Seminar

oder eine Vorlesung zu dieser Thematik anzubieten.

Personenkult

23cog!to 06/2013

Ich denke, dass man dabei viele philosophische Me-

thoden sehr gut üben kann. Argumente zu analysieren

zum Beispiel, indem man die klassischen Gottesbe-

weise durchgeht. Am Ende des Arguments steht dann:

„Gott existiert“. Das zwingt die Leute dazu, sich mit

Argumentationen auseinanderzusetzen und natür-

lich auch die Prämissen zu prüfen. Das, denke ich, ist

ein sehr schönes Thema. Es ist auch ein sehr aktuelles

Thema, weil es natürlich Spannungen zwischen Wis-

senschaft und Religion gibt. Die Wissenschaft erzählt

uns eine Geschichte darüber, wie die Welt entstanden

ist – die Religion erzählt uns eine andere Geschichte.

Was folgt daraus? Mir geht es in solchen Veranstaltun-

gen vor Allem darum, Argumentation zu üben. Mir ist

dabei die vertretene Meinung weniger wichtig als de-

ren Begründung. Ich möchte gute Argumente sehen

und vertrete dann in solchen Seminaren gerne auch

einmal die Gegenposition, einfach um ein bisschen zu

spielen und zu gucken, was da so kommt von den Stu-

denten.

Cog!to: Jetzt schieben wir eine Frage ein, von ei-

nem unserer Leser an Sie. Wir haben über Facebook

dafür geworben, uns Fragen an Sie zu schicken. Die

Leser-Frage ist, ob Sie denken, dass auch an der LMU

mehr zeitgenössische Philosophie gelehrt werden

sollte. Der Leser hat als Beispiel Slavoy Zizek und Ju-

dith Butler genannt. Denken Sie, dass in der mathe-

matischen Philosophie auch zeitgenössische The-

oretiker gelehrt werden sollten; vielleicht in Form

eines Lektürekurses?

Hartmann: Wir haben ein sehr breites Angebot

an der LMU. Wenn ich mir das Vorlesungsverzeichnis

anschaue, dann sehe ich ein Spektrum von

historischen bis zu zeitgenössischen Themen. Meine

Fragestellungen sind alle systematisch orientiert. Ich

fange mit einem Problem an und will dieses Problem

lösen. Wenn bestimmte Autoren dazu etwas zu sagen

haben, ziehe ich diese natürlich zu Rate, aber ich bin

in erster Linie an den Problemen interessiert. Aber

für die Ausbildung sind Lektürekurse natürlich sehr

wichtig und es werden ja auch Lektürekurse zur

zeitgenössischen Philosophie angeboten. Natürlich

können wir jetzt nicht alles anbieten, das hängt auch

von den Interessen der Professoren und Mitarbeiter

ab. Ich denke, Sie können überall immer irgendwelche

Lücken finden. Aber mir wurde gesagt, dass Studenten

gewünschte Lektürekurse auch durch die Fachschaft

eigenständig organisieren können.

Cog!to: ...genau. Das wird durch die Fachschaft

koordiniert.

Hartmann: Also können Lücken selbst gefüllt

werden. Philosophie hat auch viel mit Selbststudium

zu tun. Jeder kann selbstständig lesen oder eine klei-

ne Lesegruppe aufmachen. Ich denke, Eigeninitiative

ist da wichtig. Es gibt viele Möglichkeiten, sich neue

Themen und Autoren zu erschließen.

Cog!to: Die Philosophie, und vor allem die Wis-

senschaftstheorie eignet sich stark dafür, interdis-

ziplinäre Forschung zu betreiben. Haben Sie auch

vor, interdisziplinär zu lehren und Seminare anzu-

bieten, mit Wissenschaftlern anderer Fakultäten?

Hartmann: Ja, das ist sicher eine Option, die

ich mir angucken will und mit Einigen bin ich auch

schon im Gespräch. Man muss bei solchen Lehrver-

anstaltungen aufpassen, dass sie halbwegs homo-

gen sind. Ich habe selbst oft „Philosophie der Phy-

sik“ unterrichtet, und ein Problem dabei ist, dass die

Philosophen zu wenig von Physik verstehen und die

Physiker zu wenig von Philosophie. Man muss versu-

chen, beide auf ein Diskussionsniveau zu heben. Das

ist nicht ganz einfach, insbesondere wenn es an der

Physik oder Mathematik fehlt, aber es ist auf jeden

Fall erstrebenswert. Wir planen auch diverse Lehr-

veranstaltungen zu den Philosophien der einzelnen

Wissenschaften.

Cog!to: Am MCMP gibt es eine Vielzahl von

Projekten. Als Außenstehender lässt sich das nur

schwer überblicken. Vielleicht könnten Sie einen

groben Abriss geben, was sich hinter dem Namen

alles verbirgt? Was ist das Konzept des MCMP?

Hartmann: Das MCMP ist ein Forschungszen-

trum, das aus den beiden Lehrstühlen von Hannes

Leitgeb und mir besteht. Dazu gehören Mitarbeiter,

Postdocs, Doktoranden, die sich mit allen möglichen

Aspekten der mathematischen Philosophie beschäf-

tigen. Manche sind mehr an Grundlagenfragen der

Logik und Mathematik interessiert, andere Leute sind

mehr an den empirischen Wissenschaften interes-

siert. Es gibt hier ein ganz breites Spektrum.

An meinem Lehrstuhl gibt es drei größere Grup-

pen, die von jeweils einem Assistenten geleitet wer-

den. Eine Gruppe zur Philosophie der Physik, eine

Gruppe, die sich mit der Philosophie der Psycho-

logie und Sozialwissenschaften beschäftigt und als

Drittes gibt es eine Gruppe, die mir sehr am Her-

Personenkult

24 cog!to 06/2013

zen liegt, zur Modellbildung und Simulation in der

Philosophie. Dazu wird es einen Kurs geben, der im

Sommersemester losgeht. Einen ganzjährigen Kurs,

also zweisemestrig, der immer stattfinden soll, in

dem die Studenten lernen, Computerprogramme zu

schreiben, um philosophische Probleme zu lösen.

Meine Hoffnung ist, dass Projekte aus diesem Kurs

hervorgehen, die vielleicht auch am MCMP angesie-

delt werden können. Mir ist also ganz wichtig, dass

„Nachschub von unten“ kommt, dass unsere Studen-

ten, sofern sie Interesse an diesen Fragestellungen

haben, sehr gut ausgebildet werden und die entspre-

chenden Methoden lernen.

Cog!to: Sie haben verschiedene Wissenschafts-

systeme kennengelernt. Wie schätzen Sie jetzt die

deutsche Forschung und Lehre ein? Sollte sich in

Deutschland beispielsweise das Lehrdeputat an

die internationale Höhe annähern?

Hartmann: Eine Frage ist, ob stärker zwischen

Forschung und Lehre getrennt werden sollte. Das

traditionelle System in Deutschland ist, dass alle Pro-

fessoren ein bestimmtes Lehrdeputat haben und da-

rüber hinaus ihre Forschung machen und in der Ver-

waltung engagiert sind. Spitzenforscher haben das

gleiche Lehrdeputat wie Professoren, die weniger viel

produzieren und sich vielleicht stärker in der Lehre en-

gagieren wollen. Ich finde, dass es überlegenswert ist,

das zu ändern. Das ist auch eine Entwicklung, die sich

bereits andeutet. Ich denke, dass es für das Grund-

studium nicht nötig ist, dass der Professor selbst ein

aktiver Forscher ist. Im Master-Studium ist das sicher

wichtiger, weil die Themen, die da behandelt werden,

nah an der aktuellen Forschung dran sind. Und selbst-

verständlich ist es wichtig bei der Doktorandenbe-

treuung, dass der Doktorvater oder die Doktormutter

auf dem betreffenden Gebiet forscht. Aber ich könnte

mir durchaus vorstellen, dass man im Bachelor-Studi-

um verstärkt Leute einsetzt, die sich auf die Lehre kon-

zentrieren und ein höheres Lehrdeputat haben, und

andere dann mehr Zeit bekommen, um zu forschen

und sich verstärkt um die Masterstudenten und Dokto-

randen zu kümmern.

Ich finde es allerdings trotzdem wichtig, dass alle

auch im Bachelor-Bereich eingesetzt werden. Ich habe

selbst die Erfahrung gemacht, dass ich viel dabei lerne,

wenn ich Einführungsvorlesungen halte. Es kommen

Das Interview führten Lukas Leucht und Miguel de la Riva.

oft Fragen, mit denen man sich nicht mehr so be-

schäftigt. Ich gebe jetzt und werde auch in Zukunft

die Einführungsvorlesung in die Wissenschaftstheo-

rie geben. Es ist mir wichtig, die Bachelorstudenten

zu erreichen und für mein Fach zu begeistern. Glei-

ches gilt für die Masterstudenten. Dennoch bin ich

mit Leib und Seele auch Forscher.

Cog!to: Bleiben wir noch kurz bei der Lehre.

Die LMU ist jetzt Mitglied bei Cousera, einem An-

bieter von Massive Open Online Courses (MOOCs)

– und damit wird auch ein Kurs über mathemati-

sche Philosophie von Ihnen und Hannes Leitgeb

online angeboten. Können Sie kurz das Konzept

dieses Kurses erklären, damit der Hörer weiß, was

er erwarten kann.

Hartmann: Cousera bietet ein relativ neu-

es Lehr-Konzept an. Professoren unterrichten dabei

online Kurse, die von Allen überall auf der Welt ge-

hört werden können. Die LMU startet jetzt mit vier

Kursen. Einer davon ist unsere Einführung in die ma-

thematische Philosophie, die uns die Möglichkeit

gibt, das, was wir am MCMP machen und wie wir

mathematische Philosophie betreiben, einem großen

Publikum zu präsentieren.

Unser Kurs wird aus acht Einheiten bestehen; acht

Vorlesungen, die jeweils aus ca. zehnminütigen Ein-

heiten bestehen. Am Ende dieser Einheiten gibt es

Testfragen, die das Verständnis überprüfen. Hannes

Leitgeb wird für die ersten vier Folgen verantwortlich

sein, ich für die zweiten vier. Aber wir werden versu-

chen, das ein bisschen aufzulockern, indem wir beide

auch in der jeweils anderen Vorlesung Präsenz zeigen.

Ich bin sehr gespannt, wie unser Kurs wird und wie das

Feedback sein wird. Und ja, schauen wir mal.

Cog!to: Von unserer Seite sind damit alle Fra-

gen geklärt. Wir bedanken uns für das interessante

Interview und Ihre Zeit!

Personenkult

25

Erwin Schrödinger war einer der maßgebenden Physiker des 20. Jahrhunderts, der ein aus-geprägtes Verhältnis zur Philosophie hatte. Die von ihm entdeckte Wellenmechanik stellte sich nicht nur als die fundamentale Theorie des Aufbaus der Materie heraus, sondern gab zu einer dramatischen Veränderung im modernen Naturverständnis Anlass. Einige dieser begrifflichen Umwälzungen sollen im Folgenden thematisiert werden.

Erwin Schrödinger und die Interpretation der Quantenmechanik

Ein tragisches Verhältnis

1. Das Rätsel der Quanten

Keine Theorie der modernen Physik hat so viele

Verständnisschwierigkeiten hervorgerufen wie

die Quantenmechanik (QM), aber keine hat auch

so viele philosophische Anstrengungen aktiviert

wie diese Theorie. Selbst die Relativitätstheorien,

die ja klassische Feldtheorien waren, erschlossen

sich leichter der begrifflichen Durchdringung, ob-

zwar ihr neuartiges Konzept einer dynamischen

Raumzeit nicht gerade leicht eingängig war.

In der QM hingegen hat sich bis zum heuti-

gen Tag ein ganzes Spektrum von Interpretations-

varianten erhalten, die mitnichten zu Ende disku-

tiert sind. In der Deutungsvielfalt der Theorie, wie

25

Von Bernulf Kanitscheider

cog!to 06/2013Personenkult

26 cog!to 06/2013

Ein solcher Kopf wäre heute kaum mehr denkba

r.

sie in den zwei verschieden Formen von

Werner Heisenberg, Max Born und

Pascual Jordan auf der einen Seite

und von Schrödinger auf der anderen

in den 20er Jahren des vorigen Jahr-

hunderts vorgeschlagen wurde, bil-

dete sich schon am Anfang eine deut-

liche Gruppierung heraus. Eine Partei

scharte sich um Niels Bohr und Werner

Heisenberg, die die sogenannte Kopenhage-

ner Deutung begründeten, eine andere um Albert

Einstein, Max von Laue und Erwin Schrödinger,

die dieser Auslegung kritisch gegenüberstanden.

Wenn man die Grundeinstellungen der beiden

Fraktionen mit philosophisch geläufigen Begriffen

holzschnittartig charakterisieren will, kann man

die Kopenhagener als Empiristen, ihre Gegner als

Realisten bezeichnen. Dabei war Schrödinger wohl

derjenige, der sich am meisten philosophische Ge-

danken um das neuartige Quantenkonzept mach-

te, wohl auch deshalb, weil er den am stärksten

ausgeprägten metaphysischen Hintergrund besaß.

So wie vor ihm höchstens Max Planck fühlte er

sich von den in den Quantenprozessen auftre-

tenden Diskontinuitäten - den nichtklassischen

sprunghaften Zustandsänderungen - der atoma-

ren Systeme betroffen, die er weniger als radika-

len Umbruch denn als Ausdruck einer Krise der

Physik ansah. Dies umso mehr, als gerade Schrö-

dinger die QM als reine Wellentheorie konzipiert

hatte. Die Realität bestand für ihn ausschließlich

aus dem Medium kontinuierlicher Wellen. Den dis-

kreten Energieniveaus und unstetigen Übergängen

sprach er keine Existenz zu, weil in der Wellenme-

chanik die diskreten Eigenwerte Eigenfrequenzen

von Wellen sind und keine Energien. Den anschei-

nenden Quantencharakter deutete er als Reso-

nanzphänomen, das nur den Eindruck erweckt, als

ob hier eine Sprunghaftigkeit vorläge. Das Moment

der Unstetigkeit in den Energieübergängen woll-

te Schrödinger höchstens in einer effektiven, aber

nicht fundamentalen Theorie anerkennen. Die QM

galt aber als Kandidat einer grundlegenden Theo-

rie des Aufbaus der Materie. Es zeigte sich ziem-

lich bald, dass sich seine ontologische Intuition der

Stetigkeit aller physikalischen Prozesse nicht völlig

durchhalten ließ. So machte ihn Hendrik Antoon

Lorentz darauf aufmerksam, dass das Wellenpaket,

das ein Teilchen repräsentiert,

mit der Zeit auseinanderläuft

und dieses somit seine indivi-

duelle Existenz verliert.

Dies dokumentiert so-

mit die Tatsache, dass beim

Aufbau der Materie weder

allein das Wellenbild noch

ausschließlich das Teilchen-

bild ausreichen, man also mit der

Dualität der Materie rechnen muss. Die

Quantensprünge,1 die erstmals in dem von Planck

im Jahre 1900 entdeckten Strahlungsgesetz2 auf-

traten, hatte dieser schon als ein Ärgernis und als

ein Zeichen der Gefahr für die Physik bezeichnet,

da Kausalität und Raumzeitlichkeit der Prozesse als

Grundkategorien der physikalischen Beschreibung

nicht mehr gewährleistet seien. Bei allen klassi-

schen Ereignisabläufen lassen sich die Ursächlich-

keit und der Weg des Vorganges in der Raumzeit

angeben. Bei einem Absorptions- oder Emissions-

vorgang, wenn etwa in Bohrs Atommodell von

1913 ein Elektron in einem H-Atom unter Aus-

sendung eines Photons auf eine niedrigere Bahn

springt, ist eine solche Beschreibung nicht mehr

gegeben. Es war gerade Schrödingers Ziel gewe-

sen, mit seiner Wellengleichung und den zuge-

hörigen Randbedingungen den Absorptions- und

Emissionsvorgängen der frühen Quantentheorie

ihre Verständlichkeit wieder zu geben.

1 Es muss als Kuriosum der Umgangssprache der heutigen Medien

angesehen werden, dass sie diesen Ausdruck im Sinne eines enormen

Fortschrittes verwenden, angesichts der Tatsache, dass es sich dabei

gerade um die kleinste physikalisch mögliche Veränderung handelt.

2 Strahlungsgesetze formulieren die Abhängigkeit der von einem

Körper abgestrahlten Energie von der Temperatur des Körpers und von

der Wellenlänge der Strahlung.

26

27

2. Das Dogma der klassischen Messbarkeit

Aber die Entwicklung lief anschließend erst ein-

mal nicht in die von Schrödinger vermutete phi-

losophische Richtung. Im Zentrum der Debatten war

das Messproblem der QM angesiedelt. Bohr domi-

nierte die Diskussion mit seiner Betonung, dass es

im eigentlichen Sinne keine Quantenwelt, sondern

nur eine quantenmechanische Beschreibung gäbe,

d.h. die QM könne nicht ontisch, sondern nur episte-

misch gedeutet werden. Dabei betonte er mit Nach-

druck den klassischen Charakter aller Messgeräte,

bestritt aber den ontologischen Status der Mikrowelt;

aus seiner Sicht gibt es Quantenphänomene, aber

keine autonome Mikrorealität. Dies mutet natürlich

seltsam an, wenn man bedenkt, dass auch die klassi-

schen Messgeräte aus Atomen bestehen müssen, für

die die QM ja gerade die neue Theorie sein sollte.

Verschärft wurden die Gegensätze noch da-

durch, dass Heisenberg explizit die Ungültigkeit des

Kausalgesetzes aussprach und postulierte, dass die

Physik die Aufgabe hat, den Zusammenhang von

Wahrnehmungen zu beschreiben. Mit Blick auf die

früheren Atommodelle bekräftigte er diese empiristi-

sche Deutung, indem er davon sprach, dass die Bahn

eines Elektrons erst durch die Beobachtung entsteht.

Das hat allerdings schon damals die Frage auf den

Plan gerufen, was die Elektronen denn die vergan-

genen Jahrmilliarden in der Geschichte des Univer-

sums gemacht haben.

3. Systemverschränkung und spukhafte Fernwirkung

Die Gegensätzlichkeit in den erkenntnistheore-

tischen Positionen verschärfte sich auch durch

das sogenannte EPR-Argument, mit dem Einstein,

Boris Podolsky und Nathan Rosen die Annahme

der Kopenhagener-Gruppe ad absurdum führen

wollten, dass die Wellenfunktion ψ eine vollstän-

dige Beschreibung der Quantenobjekte bildet. Für

Philosophen ist es eine Genugtuung zu beobach-

ten, wie gerade in diesem Kern der QM die erkennt-

nistheoretische Begrifflichkeit eine Schlüsselrolle

spielt. In immer neuen Gedankenschleifen umkreis-

ten die Physiker das Realitätsproblem der QM. Ein-

stein beharrte für die Physik auf einer Position, die

man später metaphysischen Realismus genannt hat,

wonach die physikalischen Systeme und ihre Geset-

zesstruktur eine vom Beobachter und vom Theore-

tiker unabhängige Existenzweise besitzen. Einstein

hielt diese Einstellung für naturgegeben und unver-

äußerlich. Im EPR-Argument legen die Autoren nun

diesen Realitätsbegriff zu Grunde und konstatieren

folglich die Unvollständigkeit der QM. Hier ist der

zentrale Begriff die Systemverschränkung.

In der späteren Variante des EPR-Argumen-

tes von David Bohm zerfällt ein Spin 0 Teilchen in

zwei Spin ½ Teilchen, deren Zustände wegen der

Unitarität der Wellengleichung streng miteinander

korreliert bleiben, selbst dann, wenn die beiden

Komponenten auf galaktischen Entfernungen ste-

hen. Eine Messung an dem einen Teilchen erlaubt

auf Grund dieser Systemverschränkung eine siche-

re Aussage über den weit entfernten Partner, ohne

diesen im Mindesten zu tangieren. Da in der QM die

Spinoperatoren3 eines Teilchens sich nicht vertau-

schen, gibt es keine Möglichkeit einer vollständigen

Beschreibung.

4. Vedanta und der Schleier der Maya

Schrödinger reagierte ziemlich bald auf die EPR-

Argumentation, stellte aber nicht die Unvoll-

ständigkeit, sondern die Systemverschränkung in

den Mittelpunkt der Diskussion. Er erkannte völ-

lig zu recht, dass das umwälzend Neue in der QM

die Überlagerung von Zuständen bildet, die letzt-

3 Der Spin ist als Eigendrehimpuls eine innere nur quantenmecha-

nisch beschreibbare Eigenschaft von Elementarteilchen, Atomen und

Kernen. Der Spin kann nicht auf eine Bahnbewegung zurückgeführt

werden und besitzt keine klassische Entsprechung. Der dynamischen

Variable Spin ist ein vektorieller Spinoperator zugeordnet.

27cog!to 06/2013Personenkult

cog!to 06/201328

lich alle Systeme umfasst und im Messprozess eine

neue Wirklichkeit schafft, die Mikroobjekt, Messge-

räte und auch den Beobachter einschließt. Der line-

are Charakter der Schrödinger-Gleichung ist es, der

eine Verknüpfung dieser Komponenten der Messa-

nordnung hervorruft, die durch eine Superposition

der Zustände wiedergegeben wird. Nur durch zu-

sätzliche, der QM hinzugefügte Postulate wie Borns

Regel, Bohrs Forderung der klassischen Messbarkeit

oder das Projektionspostulat Johann v. Neumanns

konnte erzwungen werden, dass der Zustand des

Mikrosystems nach der Messung mit einem Vektor

im Hilbertraum4 und einer eindeutigen Zeigerable-

sung wiedergegeben wird.

Anders als Einstein, der heuristisch von ei-

nem robusten klassischen Realismus ausging, war

Schrödinger nicht in erster Linie von dieser Hin-

tergrundmetaphysik motiviert, sondern hing eher

einem spirituellen Idealismus an, zu dem er durch

die hinduistischen Schriften des Vedanta geführt

worden war. Die abendländische wissenschaftliche

Weltauffassung, wie sie durch den vorsokratischen

Rationalisierungs- und Entmythologisierungspro-

zess zustande gekommen war, umfasste aber gera-

de die objektive Erkennbarkeit und Gesetzesartig-

keit der Natur als Kernmomente des Verhältnisses

zur Realität. Sie machte keineswegs von der An-

4 Der Hilbertraum ist ein Vektorraum mit unendlicher Dimensionszahl,

in dem ein inneres Produkt definiert ist und der zur Darstellung

quantenmechanischer Vorgänge dient.

nahme Gebrauch, daß die Wirklichkeit durch den

Schleier der Maya verhüllt sei. Schrödinger war aber

davon durchdrungen, daß die Menschen im Grund

Gefangene ihres Bewusstseins seien, dass die Sub-

jekt-Objekt-Spaltung, oder wie Hegel es nannte,

das unglückliche Bewusstsein, nicht überwunden

werden könne. Durch die bizarren Konsequenzen

der QM war nun die Versuchung vorhanden, die

erkenntnistheoretischen Prinzipien der klassischen

Physik aufzuweichen, um sie zumindest näherungs-

weise an die indische Bewusstseinsmetaphysik her-

anzuführen.

Schrödinger widerstand aber der Verlok-

kung einer rein mentalistischen Deutung des quan-

tenmechanischen Messprozesses, wie sie später

von London und Bauer und dann von Eugene. P.

Wigner propagiert wurde. Schrödinger blieb dabei,

dass innerhalb der Naturwissenschaft die Subjekti-

vität außen vor bleiben müsste, weil das Rätsel des

Bewusstseins von der Wissenschaft ohnehin nicht

gelöst werden könne. Hingegen wehrte er sich,

die Wahrscheinlichkeit als Grundkategorie funda-

mentaler Naturgesetze zu akzeptieren. Er schlug

sich somit in Bezug auf den Indeterminismus und

die probabilistische Deutung der ψ-Funktion auf

die Seite von Einstein. Auch hinsichtlich einer voll-

ständigen Beschreibung der Naturvorgänge in der

Raumzeit wollte er keine Zugeständnisse machen.

Bezüglich des Determinismus und der unstetigen

sprunghaften Veränderung der Zustände bei einer

Messung konnte er sich immerhin auf seine eigene

Gleichung stützen, die zumindest für das nichtbe-

obachtete System eine stetige kausale reversible

Entwicklung des Zustandes eines atomaren Sy-

stems formuliert. Die zufallsabhängige Verände-

rung des Zustandsvektors bei einer Messung, die in

Personenkult

29cog!to 06/2013

der orthodoxen Deutung als akausaler, irreversib-

ler Vorgang erscheint, verstieß aber in zu hohem

Maße gegen seine philosophischen Rahmenkate-

gorien physikalischer Theorien.

Immerhin konnte er darauf hinweisen, dass

nur durch Zusatzpostulate, wie der Bornschen Re-

gel5 oder dem Projektionspostulat6, die nicht von

seiner Wellengleichung ableitbar sind, der stocha-

stische Charakter der QM augenscheinlich wird.

5. Die Universelle Wellenfunktion und das Multiversum

An dieser Stelle hat nun in jüngster Zeit eine An-

schlussdiskussion eingesetzt, die in besonderem

Maße an Schrödingers Zweifeln an der orthodoxen

Deutung der QM anknüpft, wenngleich sie nicht

unbedingt seine metaphysische Intuition umsetzt.

Um diese Wendung zu verstehen, muss man wis-

sen, dass im Jahre 1957 bei John Archibald Wheeler

eine Dissertation angefertigt worden ist, in deren

Mittelpunkt die universelle Geltung von Schrödin-

gers Wellengleichung steht. Hugh Everett III über-

legte sich in seiner Arbeit, was passieren würde,

wenn man diese Gleichung völlig ernst nähme und

sie ohne spezielle Zusatzpostulate für den Messvor-

gang als gültig erachtete. Dann würde auf Grund

des Überlagerungsprinzips das Mikrosystem mit

dem Messgerät und dem Beobachter verschränkt,

es käme keine Reduktion des Wellenpaketes zu-

stande, die verschiedenen Zweige der Wellenfunk-

tion wären alle gleich real.

Wenn man diese Zweige Welten nennt, en-

det man bei der Vielwelten-Interpretation der QM,

die nach den beteiligten Physikern Everett-Wheeler-

Graham-Deutung (EWG) genannt wird.

Dieses wörtliche Verständnis der QM – dar-

um handelt es sich und nicht um eine neue Deutung

– wurde lange Zeit als Kuriosum betrachtet, einmal,

weil in der Physikergemeinde sich Bohr vehement

5 Borns Wahrscheinlichkeitsdeutung der QM besagt, dass das Quadrat

der Wellenfunktion die Wahrscheinlichkeit liefert, ein Teilchen an

einem bestimmten Ort r zu einer Zeit t zu finden.

6 Diese Forderung besagt, dass das Quantensystem bei einer Messung

in den Eigenzustand des gemessenen Operators übergeht.

gegen diese, seiner Komplementaritätsdeutung diametral

entgegengesetzte, Auffassung aussprach, zum anderen

weil der ontologische Aufwand vielen grotesk erschien.

Ockhams Sparsamkeitsforderung war bei den Theoreti-

kern als metatheoretische These fest internalisiert. Mehr

als eine Welt für real zu halten, erschien ihnen als ontologi-

scher Gespensterglaube. Die EWG-Deutung macht jedoch

von einer anderen Sparsamkeit Gebrauch: Sie fordert keine

Zusatzannahmen zur dynamischen Grundgleichung, wel-

che die Entwicklung der Systeme beschreibt. Sie leitet auch

keine neuen empirischen Voraussagen ab, erspart sich

aber die unstetige Akausalität beim Messprozess, indem

sie den Reduktionsvorgang aussetzt. Einen grundlegend

neuen Charakter erhält die Wahrscheinlichkeit. Sie stellt

keine objektive Eigenschaft der Natur dar, sondern bildet

ein subjektives Maß für unser Nichtwissen außerhalb unse-

res eigenen Zweiges der Wellenfunktion des Universums.

Die universelle Wellenfunktion ist nun die eigentliche phy-

sikalische Realität. Der Beobachter ist nicht mehr die letzte

Instanz, welche die Reduktion des Wellenpaketes auf den

Einzelzustand durchführt, sondern er ist selber ein Quan-

tensystem, das mit dem Gesamtsystem korreliert ist.

Bohrs Forderung, dass alle Messungen mit makro-

skopischen Geräten in der Sprache der klassischen Physik

zu erfolgen habe, wird gleichsam auf den Kopf gestellt.

Das Vorhandensein klassischer Objekte ebenso wie das

Auftreten der Wahrscheinlichkeit wird zum abgeleiteten

Theorem. Die Universelle Wellenfunktion (UWF) ist zudem

innerlich reversibel in Einklang mit der Unitarität der Wel-

lengleichung; Irreversibilitäten sind der Tatsache geschul-

det, dass wir als Bewohner eines Zweiges des Multiversums

nicht die volle Realität kennen.

6. Dekohärenz und klassische MakroweltMan macht es sich oft zu leicht, wenn man wissenschafts-

historische Situationen aus der Perspektive der später Ge-

borenen betrachtet: Heute leben wir in einem Zeitalter, in

dem Quantencomputer eine reale Möglichkeit darstellen.

Der Transport makroskopischer Superpositionen lässt sich

technisch realisieren. Mit Hilfe des Dekohärenz–Konzeptes

Personenkult

30 cog!to 06/2013

lässt sich verstehen, warum wir uns in einer scharf

konturierten Makrowelt vorfinden und nicht sämtli-

che Gegenstände der Erfahrungswelt unseparierbar

miteinander verschränkt sind. Zudem sind Argu-

mente aus abstrakten Bereichen wie der String-

theorie vorhanden, so etwa die holographische

Dualität von Juan Maldacena, die für die Unitarität

des Universums sprechen. Damit hat sich die In-

terpretationssituation der QM dramatisch verscho-

ben. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Schrö-

dinger in seiner Spätzeit die Vorstellung der UWF

Revue passieren ließ, ohne sie allerdings ernsthaft,

also im ontologischen Sinne in Betracht zu ziehen.

Er befürchtete, dass durch das Ernstnehmen der

UWF, bei der die physikalische Wirklichkeit eine

Überlagerung aller möglichen Quantenzustände

bildet, die Natur in eine Art Quantensumpf versin-

ken oder zu einer gallertartigen Qualle entarten

würde. Nichts von alledem beobachten wir. Die

Welt unserer Alltagserfahrung besteht aus durch-

aus separierbaren Objekten. Nun, dank der neu-

en Ideen von Dieter Zeh und Wojciech H. Zurek

versteht man heute, warum das so ist und wie der

Verlust von Interferenzen zwischen sich über-

schneidenden Wellenfunktionen erklärt werden

kann. Wissenschaftsphilosophen wie Simon Saun-

ders bemängeln auf der anderen Seite in einem

anachronistisch klingenden Vorwurf, dass Schrö-

dinger seinerzeit seine eigene Wellengleichung

nicht vollinhaltlich ernst nehmen wollte, jene Glei-

chung für die er mit dem Nobelpreis belohnt wor-

den war und die ihm lebenslang Ruhm und Ehre

eingebracht hatte. Aber hier muss man auch den

kulturellen Kontext berücksichtigen. Die Idee ei-

nes Multiversums – und auf nichts anderes läuft

die Theorie der UWF hinaus – gilt bis heute unter

empiristisch und positivistisch eingestellten Natur-

wissenschaftlern als metaphysisch anrüchig, auch

wenn sich die methodischen Kriterien für die Kon-

trolle von Theorien seit den Tagen des Logischen

Empirismus im Wiener Kreis stark liberalisiert ha-

ben. Es ist verständlich, dass sich Schrödinger da-

mals noch nicht auf dieses verminte Gebiet der

vielen Welten begeben wollte. Durch die String-

Landschaften, das inflationäre Szenarium und die

Überlegungen zur Erklärung der Feinabstimmung

unseres lebensbeherbergenden Universums wur-

de der Weg zur Akzeptanz eines Vielwelten-En-

sembles geebnet, wenngleich alle diese Hypothe-

sen in der Wissenschaftlergemeinschaft noch den

Stempel der Extravaganz tragen.

Personenkultcog!to 06/201330

31cog!to 06/2013

7. Schrödingers Vermächtnis

Zuletzt ist zu fragen, ob man in der jüngeren naturwissenschaftlichen

Entwicklung jenem Problem, das Schrödinger für das philosophisch

dringendste gehalten hat, ein Stück näher gekommen ist, nämlich

dem Rätsel das Bewusstseins. So viel ist klar: Aus der realistischen

Deutung der dynamischen Grundgleichung der QM - ohne flankie-

rende Zusatzpostulate für den Messprozess - lässt sich keine spiritua-

listische Ontologie gewinnen. Im Gegenteil, Everetts metaphysische

Heuristik war eher materialistisch und seine erkenntnistheoretische

Einstellung wirklichkeitsnah. Auch wenn wir heute noch nicht genau

wissen, worin das Bewusstsein besteht und warum es überhaupt exi-

stiert, wird man die Lösung nicht in der Physik suchen, sondern eher

in der Neurobiologie. In der Analytischen Philosophie des Geistes

gibt es Ansätze dazu, aber dies wäre ein neues Thema.

Von Bernulf Kanitscheider

Weiterführende Literatur:

Erhard Scheibe: Die Philosophie der Physiker. C. H. Beck

München 2006

Erwin Schrödinger: Meine Weltansicht. Paul Zsolnay Hamburg/

Wien 1963

Bernulf Kanitscheider: Im Innern der Natur. WBG Darmstadt

1996

Zu Bernulf Kanitscheider:

Studium, Promotion und Habilitation an der Universität Inns-bruck, seit 1974 Inhaber des Lehrstuhles für Philosophie der Naturwissenschaften am FB Physik und Zentrum für Philo-sophie der Universität Gießen. Seit 2007 emeritiert. Arbeits-gebiete: Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie, Kos-mologie, Interpretation der Quantenmechanik, Chaostheorie und Selbstorganisation, Naturalismusproblematik und Ethik. Jüngste Monographie: „Natur und Zahl. Die Mathematisie-rung der Welt“. Erscheint bei Springer 2013.

Personenkult

32 cog!to 5/201332

SCHULENSTREIT

RUBRIK

32 cog!to 06/2013

In Schulenstreit beziehen Gastautoren und –autorinnen zu kontroversen Themen Stellung. Dabei kann es sich um nicht zu vereinbarende philosophi-

sche Positionen oder um widerstreitende politische Theorien handeln, so z.B. Liberalismus und Kommunitarismus in der letzten Ausgabe. Dieses Mal hin-

gegen wenden wir uns der Frage zu: Was hat Gleichheit mit Gerechtigkeit und Gleichberechtigung mit Freiheit zu tun?

33cog!to 06/2013

Die höchst moderne Arbeits-, Freundschafts- und Liebesbeziehung von John Stuart Mill (1806-1873) und Harriet Taylor (1807-1858) war eine Provokati-on im viktorianischen England. Doch blieb Taylors Bedeutung für Mills Schaffen in der bisherigen Re-zeptionsgeschichte weitgehend unbeachtet, wenn sie nicht gar als negativ im Sinne eines „schlechten Einflusses“ klassifiziert wurde. Im Beitrag „Frei-heit und Gleichberechtigung“ wird die ungewöhnli-che Werkgenese in zeitweiliger Co-Autorschaft und die gegenseitige Bezugnahme zwischen Taylor und Mill nachgezeichnet und damit ihr wechselseitiger Diskussions- und Schaffensprozess beleuchtet. In den gemeinsam verfassten Werken wie „Über die Freiheit“ (1859) oder dem erst nach Taylors Tod er-schienenen Essay „Die Unterwerfung der Frauen“ (1869) werden Mills gerade auch in der Auseinan-dersetzung mit Harriet Taylor entwickelte, zentra-le Gedanken zur Freiheit besonders deutlich: Die Gleichberechtigung der Geschlechter war für Mill die unbedingte Voraussetzung für die Entfaltung des persönlichen Lebens und die Autonomie des Individuums in einer liberalen Gesellschaft.

John Stuart Mill verdanken wir die Erweiterung des

„alten“ Begriffs der politischen Freiheit. Für die alten

Griechen und Römer erschöpfte sich die Freiheit in

der Demokratie und der Teilhabe ihrer Bürger. Doch

die Französische Revolution 1789 hatte gezeigt, wie

schnell die vorgeblich politische Freiheit in Unfreiheit

und gnadenlosen Terror der Jakobinerherrschaft

umschlagen kann: wenn Individuen sich der Diktatur

eines sogenannten Gemeinwillens des Staates

zu unterwerfen haben. Demgegenüber machte

der ungewöhnliche Ökonom, Philosoph und

debattenfreudige Engländer, zugleich dezidierter

Europäer und Frankreichkenner die individuelle

Freiheit stark und setzte sich später als erster

Parlamentarier für das Frauenwahlrecht und die

Gleichberechtigung der Geschlechter ein – was bis

zum heutigen Tag selbst seinen liberal gesonnenen

Geschlechtsgenossen suspekt geblieben ist.

„Die Emanzipation der Frauen und die Zusammen-

arbeit der Geschlechter sind die zwei großen Verän-

derungen, die die Gesellschaft erneuern werden“,

schrieb John Stuart Mill im Jahr 1869 in einem Brief

an den amerikanischen Journalisten Parke Godwin.

Zu diesem Zeitpunkt war seine Ehefrau, Seelenfreun-

din und Koautorin Harriet Taylor bereits gestorben.

John Stuart Mill und

Harriet Taylor – Freiheit

und GleichberechtigungZwei Vorkämpfer im Streit für eine gesellschaftliche Er-neuerung durch die Emanzipation der Frauen und die

Zusammenarbeit der GeschlechterVon Ulrike Ackermann

und Hans Jörg Schmidt

Schulenstreit

34 cog!to 06/2013

Annähernd dreißig Jahre hatten die beiden aufs Eng-

ste zusammengearbeitet, debattiert, Ideen ausge-

tauscht und weiterentwickelt, sich gestritten und um

ihre Liebe gekämpft. Gemeinsam haben sie Politik,

Gesellschaft, die Wertvorstellungen und den Zeit-

geist nicht nur des viktorianischen Englands, sondern

auch der europäischen Nachbarländer analysiert

und aus dieser Analyse neue Ideen und Denkansätze

entwickelt. Mit seinen journalistischen Artikeln, den

Essays und Büchern sorgte das Paar für erhebliche

Aufregung im zeitgenössischen Diskurs und im öf-

fentlichen Leben. Sahen doch beide in der Gleichbe-

rechtigung der Geschlechter die Voraussetzung für

Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Individuen.

Die Frauenemanzipation war für sie Bedingung und

gleichermaßen Resultat allgemeiner liberaler Prin-

zipien – ein Gedanke, den beide schon verfolgten,

bevor sie zusammenarbeiteten.

1830 lernte John Stuart Mill die schöne, kluge und

wortgewandte Harriet Taylor in einem liberalen Salon

kennen. Sie war damals 23 Jahre alt. Mit achtzehn

Jahren war sie auf Wunsch ihres Vaters mit dem elf

Jahre älteren Londoner Geschäftsmann John Taylor

verheiratet worden. Sie bekam zwei Söhne und im

„Die Emanzipation der Frau-en und die Zusammenarbeit

der Geschlechter sind die zwei großen Veränderungen, die die Gesellschaft erneuern werden“

- John Stuart Mill

Jahr 1831 brachte sie ihre Tochter Helen zur Welt.

Im selben Jahr begann auch ihre Zusammenarbeit

mit John Stuart. Harriet hatte – wie damals üblich –

keinen Zugang zu einer Ausbildung oder Universität

und erwarb sich ihre Bildung im Selbststudium.

Als brillante Denkerin, debattenfreudig und luzide

in ihrer Argumentation, hatte sie einen überaus

modernen Blick auf die Geschlechterverhältnisse.

Aus ihrer Bekanntschaft entwickelte sich als bald

eine intensive Arbeitsbeziehung, Freundschaft

und Liebe – bei formeller Aufrechterhaltung der

Taylor‘schen Ehe, was im viktorianischen England

ein Skandal war. Bösartigster Klatsch begleitete das

Paar auf Schritt und Tritt. Fast noch schlimmer als die

Verletzung der ehelichen Treue galt den Zeitgenos-

sen ein Verhältnis zwischen Mann und Frau auf der

Basis gemeinsamer intellektueller und politischer

Arbeit, die diese Liebesbeziehung prägte. Über die

Jahre verfassten sie gemeinsam Essays über Ehe und

Scheidung und häusliche Gewalt gegen Kinder und

Frauen.

Die Prinzipien der Freiheit, die in dem Schlüssel-

werk des Liberalismus Über die Freiheit formuliert

sind, haben sie in gemeinsamer Arbeit entwickelt.

Schulenstreit

35cog!to 06/2013

stile, ein Kaleidoskop von Lebensmöglichkeiten, die

dann alternativ zur Wahl stehen. Gerade darin liegt

die Voraussetzung für die Produktivität und Innovati-

onskraft einer Gesellschaft. Die Menschen sind nicht

perfekt und begehen ständig Irrtümer. In der Vielfalt

ihrer Lebensexperimente, die sie intersubjektiv tei-

len, lassen sie sich zu Neuem anregen und lernen

voneinander. Erst in diesem Prozess ist es möglich,

die besten Weisen des guten Lebens zu entdecken,

die Lust und Freude zu steigern und Unlust und Leid

zu verringern.

Marktwirtschaft, Privatbesitz, Rechtsstaat und

die Garantie der individuellen Rechte, repräsentati-

ve Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht für alle,

die Gleichberechtigung der

Geschlechter, Toleranz und

Meinungsstreit waren für

Mill und Taylor so essentiell,

weil sie Voraussetzungen für

die Selbstbestimmung des

Individuums sind. Seine persönliche Freiheit muss

sich der Mensch indes immer wieder selbst neu er-

obern, erarbeiten und erfüllen. Von diesem indivi-

duellen Befreiungsprozess aus vormals autoritären

Verstrickungen und überkommenen Rollenvorstel-

lungen profitiert das Gemeinwesen zugunsten einer

freiheitlichen Kultur.

Das Buch über die Unterwerfung der Frauen, das

sich diesen Zusammenhängen widmet, ist 1869, also

nach dem Tod von Harriet Taylor erschienen. Darin

versammelt John Stuart Mill wesentliche Gedanken,

die er mit seiner Frau und später mit deren Tochter

Helen gemeinsam entwickelt hatte. Der von Mill ge-

wählte Titel der Abhandlung führt ein wenig in die

Irre. Denn eigentlich handelt es sich um die Fortset-

zung und grandiose Weiterentwicklung des ersten

Buchs Über die Freiheit. Auch Gedanken aus den

Die Frauenemanzipation war für Mill und Taylor Bedingung und gleichermaßen Resultat allgemeiner

liberaler Prinzipien.

Die freie Entwicklung der Persönlichkeit war ihnen

die Hauptbedingung der Wohlfahrt. Gegen Konfor-

mismus, Gleichförmigkeit und die Tyrannei der öf-

fentlichen Meinung setzten sie die Eigenwilligkeit

des Individuums: seine Freiheit des Denkens, des

Fühlens und des Geschmacks, die Unabhängigkeit

seiner Meinung und Gesinnung, die Freiheit, einen

eigenen Lebensplan zu entwerfen und zu tun, was

uns beliebt, so lange wir niemandem etwas zulei-

de tun oder anderen schaden. Im Individuum, im

selbstbestimmten Bürger sahen John Stuart Mill und

Harriet Taylor die hauptsächliche Innovationskraft

gesellschaftlichen Fortschritts: Individuen machen

Geschichte. Uniformität und Gleichheit bedeuten

hingegen Stillstand der hi-

storischen Entwicklung.

Voraussetzung für die Her-

ausbildung von Individua-

lität und die Praxis eines

eigenen Lebensplans ist die

Freiheit eines jeden, zwischen verschiedenen Op-

tionen unterscheiden und wählen zu können, sich

von anderen zu differenzieren. Die individuellen Le-

bensexperimente sind das Salz der Erde und lassen

die Menschheit fortschreiten. Denn wenn Individuen

sich um ihr eigenes Glück und Wohlergehen küm-

mern, nehmen sie zugleich am gattungsgeschicht-

lichen Fortschritts- und Erkenntnisprozess teil. Sie

produzieren damit ein allgemeines und öffentliches

Wissen über die Möglichkeiten des guten Lebens,

über dessen Varianten auch dann lauthals gestritten

werden kann. Ihre Antriebsquelle ist dabei der eige-

ne Wunsch, selbst ein gelingendes, glückliches Le-

ben führen zu wollen. Indem die Menschen entspre-

chend der Vielfalt der Charaktere und Meinungen ih-

ren eigenen Lebensplan entwerfen und ihm folgen,

schaffen sie überhaupt erst die Pluralität der Lebens-

Die freie Entwicklung der Persön-lichkeit war Mill und Taylor die

Hauptbedingung der Wohlfahrt.

Schulenstreit

36 cog!to 06/2013

Grundsätzen der Politischen Ökonomie sowie aus

den Betrachtungen über die Repräsentative De-

mokratie wurden hier wieder aufgegriffen, neu kon-

stelliert und zugespitzt auf den Zusammenhang von

freiheitlicher Kultur und Geschlechterordnung.

Die jeweils erreichte gesellschaftliche Stellung

der Frau, so Mill in dem Buch, „ist das sicherste und

untrüglichste Merkmal für den Grad der Zivilisation

eines Volkes oder Zeitalters“. Es handelt sich bei die-

sem Werk um eine luzide Zivilisationsgeschichte der

Herrschaft verbunden mit einer Art Geschlechterso-

ziologie. Gezeigt wird darin, dass und wie sich alte

Herrschaftsformen durch Aufbegehren im Laufe der

Jahrhunderte auflösten, die Frauen jedoch vom Frei-

heitsgewinn, der durch diese Höherentwicklung der

Zivilisation erreicht wurde, permanent ausgeschlos-

sen blieben. Denn die Herrschaft der Männer über

die Frauen blieb fortbestehen. Obwohl doch der Mo-

derne die Erkenntnis zu verdanken sei, „dass nur in

der Freiheit der individuellen Wahl das Mittel liegt, für

die verschiedenen Zweige der menschlichen Tätig-

keit die besten Methoden ausfindig zu machen und

jede Beschäftigung in die Hände gelangen zu lassen,

welche dafür am besten befähigt sind“. Gerade diese

Art der Freiheit sei der Motor des gesellschaftlichen

Fortschritts, sorgten doch Konkurrenz und Gewer-

befreiheit dafür, dass die Besten an ihren Platz ge-

langten. Umso anachronistischer sei die fortgesetzte

Unterdrückung der Frauen. Nicht nur in ihrer recht-

losen Situation sahen die Autoren das Übel, sondern

ebenso darin, dass die Frauen einer „Treibhaus-Erzie-

hung zum Wohlergehen und Vergnügen ihrer Her-

ren“ unterworfen waren. Es ging den Verfassern also

nicht nur um die rechtliche Gleichstellung, sondern

um eine Umgestaltung der Geschlechterverhältnis-

se auch und vor allem in moralischer und sozialer

Hinsicht: In der Gewohnheit sahen sie den größten

Feind des Fortschritts. Doch wie etwa die Kinderbe-

treuung jenseits der klassischen Arbeitsteilung der

Geschlechter zu handhaben wäre, darüber hatten

sich Taylor und Mill noch keine konkreten Gedanken

gemacht. „Die einzige Schule einer edleren morali-

schen Gesinnung ist der Verkehr zwischen Gleich-

stehenden.“ Um diesen „Verkehr“ zu ermöglichen,

müssten gesellschaftliche Konventionen, wie sie bei-

spielsweise die viktorianische Familie repräsentierten

– für Mill und die beiden Taylor-Frauen eine „Schule

des Despotismus“ – überholt werden. War auf poli-

tischer Ebene in freien und demokratischen Staaten

das Bürgertum zur Schule in Sachen Gleichheit ge-

worden, hinkten die Verhältnisse im Privat- und All-

tagsleben dieser Entwicklung noch weit hinterher.

Dabei könne, wenn sie sich anders gestaltete, gerade

die Familie eine „Schule aller Tugenden der Freiheit“

werden.

Faszinierend ist der moderne soziologische Blick

auf die Gesellschaft und die feinsinnige Analyse von

Sozialcharakteren und Geschlechterrollen. Mill und

Taylor führten implizit bereits eine Unterscheidung

zwischen dem biologischen (sex) und dem sozi-

alen Geschlecht (gender) ein. Die rein körperlich-

biologischen Unterschiede zwischen Männern und

Frauen waren für sie keine Grundlage, daraus spe-

zifisch maskuline oder feminine Eigenschaften ab-

zuleiten. Diese, so ihre Überzeugung, waren kultu-

relle und soziale Produkte. „Ich halte es“, ist in der

„Frauenschrift“ zu lesen, „bei jedem für Vermessen-

heit, bestimmen zu wollen, was Frauen ihrer natür-

lichen Veranlagung nach sein oder nicht sein, tun

oder nicht tun können.“ Da für Frauen in der Ver-

gangenheit nie die gleichen Ausgangsbedingungen

und Handlungsoptionen wie für Männer bestanden

hätten, die Herausbildung von Fähigkeiten aber an

Erfahrung, das heißt an die Möglichkeit zu wachsen

und sich weiterzuentwickeln, gebunden sei, könne

eine haltbare Aussage über Frauen dazu auch nicht

getroffen werden. Auch Mill merkte zuweilen an,

Frauen seien geeigneter, zum Zwecke des Glücks

beider Geschlechter das Leben zu verschönern und

Männer sollten in der Lage sein, den wirtschaftlichen

Unterhalt für beide aufzubringen. Dennoch machte

er sich letztlich für den Pluralismus der menschli-

chen Potenziale stark, die nicht geschlechtsspezi-

fisch zugeordnet werden können. Die verschiedenen

Komponenten des individuellen Charakters machen

eine Person aus, unabhängig von ihrem biologischen

Geschlecht. Genau diese „Individualität“ ist es, von

der Mill und Taylor in Über die Freiheit sprechen. So

Es ging Mill und Taylor nicht nur um die rechtliche Gleichstellung, sondern um eine Umgestaltung der Geschlechterverhältnisse auch und vor allem in

moralischer und sozialer Hinsicht.

Schulenstreit

37cog!to 06/2013 Schulenstreit

gesehen ist die Gleichberechtigung der Geschlech-

ter die Vorbedingung der individuellen Wahlfreiheit

und Selbstbestimmung. Eine ideale Verbindung der

Geschlechter wäre die gegenseitige Achtung und ein

Wechselspiel von Überlegenheit und Unterlegenheit,

von Führung und Geführtwerden. Mill und Taylor sa-

hen die Ehe als einen Ort der Liebe, Freundschaft

und Seelenverwandtschaft, in der sich Gleiche be-

gegnen, die sich frei gewählt haben, die ihre Bindung

immer wieder freiwillig erneuern, sich gegenseitig zu

mehr Größe anspornen und sich weiterentwickeln.

Diese Gedanken, wohlgemerkt schon vor mehr als

150 Jahren formuliert, sind ungeheuer modern, wie

auch der Briefwechsel zwischen Harriet Taylor und

John Stuart Mill eindrücklich zeigt. Er, der einen we-

sentlichen Bestandteil des ersten Bandes der gerade

im Hamburger Murmann Verlag neu herausgegebe-

nen Auswahlausgabe ausmacht, liest sich wie eine

große moderne Liebesgeschichte, in der beide um

Glück, Freiheit und Gleichberechtigung ringen.

Zu unseren Gastautoren:

Hans Jörg Schmidt ist promovierter Kulturwissenschaftler. Er studierte Germanistik, Politik-wissenschaft, Erziehungswissenschaften und evangelische Theologie so-wie Neue und Neueste Geschichte in Heidelberg, Groningen und Dresden. 2009 übernahm er die Geschäftsführung des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung an der SRH Hochschule Heidelberg. Publikationen sind unter anderem Die deutsche Freiheit (2010) und Kulturgeschichte des Marktes (2011).

Ulrike Ackermann ist promovierte Sozialwissenschaftlerin. Im Jahr 2002 gründete und leitete sie das Europäische Forum an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Als freie Autorin veröffentlichte sie unter anderem die Bücher Welche Freiheit (Hg., 2007), Eros der Freiheit (2008) und Freiheit in der Krise (Hg., 2009). Heute ist sie Professorin in Heidelberg und leitet seit 2009 das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung an der SRH Hoch-schule Heidelberg (www.mill-institut-freiheitsforschung.de).

Zur weiterführenden Lektüre:

Ulrike Ackermann und Hans Jörg

Schmidt (Hg.): John Stuart Mill. Aus-

gewählte Werke, Band I: John Stuart

Mill und Harriet Taylor. Freiheit und

Gleichberechtigung, herausgegeben

und eingeleitet von Ulrike Ackermann,

Hamburg 2012 (Murmann), 640 S.

Ulrike Ackermann und Hans Jörg

Schmidt (Hg.): John Stuart Mill. Aus-

gewählte Werke, Band II: Bildung und

Selbstentfaltung, herausgegeben und

eingeleitet von Hans Jörg Schmidt,

Hamburg 2013 (Murmann), 496 S.

Von Ulrike Ackermann

und Hans Jörg Schmidt

cog!to 06/201338

Die Ungleichheit unter den Menschen ist eine seit sehr langer Zeit viel

und kontrovers diskutierte Tatsache. Unter den Bewertungskriterien,

die unentbehrlich sind, um bestimmte Realisierungsformen dieser Un-

gleichheit bewerten zu können, haben „die Gerechtigkeit“ und „das Leis-

tungsprinzip“ einen herausragenden Stellenwert. Aber sind diese beiden

Prinzipien auch geeignet, zur Regelung der Konflikte zwischen Befür-

wortern und Kritikern strittiger Modalitäten der Ungleichheit beizutra-

gen?1

Dass Menschen sich unterscheiden ist so lange kein Problem, wie Un-

gleichartigkeit nicht mit Ungleichwertigkeit gleichgesetzt und als Vor-

aussetzung für eine entsprechende Ungleichverteilung materieller und

immaterieller Güter angesehen wird. Zu diesen Gütern gehören im Bil-

dungssystem günstige Lerngelegenheiten oder Stipendien; in der ge-

sellschaftlichen Praxis attraktive Positionen oder Partizipationsrechte.

Die Probleme beginnen bereits bei der (selektiven) Thematisierung der

Ungleichheit. Jeder Vergleich setzt die zumindest implizite Bestimmung

der Relevanz der Vergleichsgegenstände voraus. Und Relevanz ist kei-

ne Eigenschaft der Vergleichsobjekte; sie ist Resultat einer interessenge-

steuerten Entscheidung dessen, der den Vergleichszweck definiert und

realisiert. Ob die Geisteskraft eines Menschen wertvoller „ist“ als seine

Körperkraft, ob „das Männliche“ („von Natur“) besser ist als „das Weibli-

che“– das hängt von Wertungen wertender Subjekte ab, auch wenn die

jeweiligen Befürworter dieser Wertung suggerieren, dass „der Wert“ eine

beobachtbare Eigenschaft („der Natur“) des Bewertungsgegenstands sei.

1 Überarbeiteter Teilabdruck eines Beitrags zum Nachschlagewerk

„Schulleitungund Schulentwicklung“ des Raabe-Verlags.

Ist die Ungleichheit unter den Menschen ungerecht?1

38 cog!to 06/2013

Von Helmut Heid

Schulenstreit

Es ist davon auszugehen, dass Interessen im Spiel sind,

wo die Ungleichheit unter den Menschen ein Thema

ist. Besonders deutlich werden diese Interessen dort,

wo Nutznießer bestimmter Realisierungsformen der

Ungleichheit Veranlassung haben, diese Ungleichheit

denen gegenüber zu rechtfertigen, die Gründe da-

für geltend zu machen versuchen, dass und warum

sie genau diese Ungleichheit für ungerecht halten. In

Auseinandersetzungen dieser Art spielt keineswegs

immer die Qualität der Argumente eine Rolle, mit de-

nen Befürworter oder Kritiker ihre Wertschätzung die-

ser Ungleichheit zu rechtfertigen versuchen. Mindes-

tens ebenso wichtig ist dabei auch die vielfältig (bspw.

ökonomisch) bedingte Definitions-Macht, mit der Be-

fürworter wie Kritiker ihre Interessen an den jeweiligen

sozialen Verhältnissen geltend zu machen und durch-

zusetzen versuchen. Das hat Konsequenzen, auf die ich

einzugehen beabsichtige.

Aus der Vielzahl möglicher Kriterien, die un-

entbehrlich sind, um die Erwünschtheit oder Uner-

wünschtheit einer bestimmten Ungleichheit beurteilen

zu können, greife ich diejenigen heraus, die in beson-

ders hohem Ansehen stehen und überdies den An-

schein höchster Objektivität erwecken. Es handelt sich

dabei um das Gerechtigkeits- und das Leistungsprinzip.

Gerechtigkeit als Prinzip der Beurtei-lung und Gestaltung von Ungleichheit

Gerechtigkeit ist immer dann ein Thema, wenn es um

die Kritik oder um die Rechtfertigung

• der Ungleichbehandlung von Menschen,

• der Ungleichbewertung von Handlungen oder

Handlungsergebnissen

• oder der ungleichen Verteilung materieller oder

immaterielle Güter geht.

Gleichbehandlung, Gleichbewertung und Gleich-

verteilung werden in der Regel nur von denen oder

im Namen derer als ungerecht beurteilt, die sich da-

durch benachteiligt fühlen2. Aber auch dabei geht es

um Differenzierung: „Gerechtig-

keit“ meint nämlich (von Grenzfäl-

len abgesehen) nicht: Jedem das

Gleiche – sonst würde man nicht

Gerechtigkeit, sondern Gleichheit

fordern. Gerechtigkeit meint: Jedem das Seine „suum

cuique tribuere“, jedem das, was ihm zukommt oder

2 Vgl. dazu das Gleichnis von den Arbeitern im

Weinberg (Matthäus 20).

auch: jedem das, worauf er ein Anrecht geltend zu

machen vermag. Aber was ist das Seine, worauf hat

er ein Anrecht? Das Gerechtigkeitspostulat ist so lan-

ge inhaltsleer wie es keine Information darüber aus-

weist, was denn nun „das Seine“ ist. Auf diese Frage,

deren Beantwortung das Gerechtigkeitsprinzip zwar

bezweckt, gibt das abstrakte Gerechtigkeitspostulat

selbst dennoch keine Antwort.

Gerecht oder Ungerecht können immer nur

konkrete soziale Zustände oder Verhaltensweisen

sein.Und die Beantwortung der Frage, worin das je

„Seine“ besteht, hat Entscheidungen zur Vorausset-

zung, die in zwei Sorten von Sätzen zum Ausdruck

kommen:

Bei der Be-Wertung bestimmter Erschei-

nungsformen der Ungleichheit spielen also zwei Ur-

teilskomponenten eine Rolle, die, obwohl sie im Ur-

teil nicht getrennt auftreten, aus logischen Gründen

dennoch streng auseinander gehalten werden müs-

sen, und zwar eine deskriptive Komponente und eine

wertende Komponente. Es ist irreführend zu sagen,

dass bestimmte soziale Verhältnisse ungerecht sind;

korrekter wäre: sie werden als ungerecht bewer-

tet. Gerechtigkeit ist kein Objekt und keine Objekt-

eigenschaft, sondern das (substantivierte) Resultat

der Bewertung eines empirisch beobachtbaren Be-

urteilungsgegenstands, hier also einer bestimmten

Realisierungsform sozialer Ungleichheit.

Ausgelöst werden Gerech-

tigkeitsdebatten durch Inter-

essenkonflikte. Damit sind drei

eng verflochtene Probleme an-

gesprochen: 1. Worüber wird

gestritten; 2. warum wird gestritten; 3. wie werden

die Konflikte gelöst?

39cog!to 06/2013

Gerecht oder ungerecht können immer nur konkrete soziale Zustände oder Ver-

haltensweisen sein.

1. in einer Beschreibung der sozialen Verhält-

nisse oder Verhaltensweisen, um deren Rechtfer-

tigung oder Kritik es in der Gerechtigkeitsdebatte

geht – und

2. in der Bestimmung eines (darauf bezogenen,

aber logisch davon unabhängigen und daraus auch

nicht ableitbaren) Beurteilungskriteriums, das un-

entbehrlich ist, um die beschriebenen Verhältnisse

als ungerecht oder als gerecht beurteilen zu

können.

Schulenstreit

cog!to 06/201340

(1.) Gestritten wird darüber, ob und warum be-

stimmte soziale Verhältnisse oder Verhaltensweisen

als gerecht beurteilt zu werden verdienen. Da sozi-

ale Verhältnisse nicht gerecht oder ungerecht „sind“,

sondern nur mit Bezug auf das Gerechtigkeitsprin-

zip so oder anders bewertet werden können, haben

(insbesondere) Befürworter einer sie begünstigen-

den Ungleichheit zahllose Rechtfertigungsstrategien

entwickelt, auf die ich hier nur beispielhaft hinwei-

sen kann: Besonders traditionsreich ist die Strategie,

die jeweils erwünschte Ungleichheit als gott- oder

als naturgegeben zu behaupten und das selektiv (!)

als naturgegeben Postulierte als Norm oder als Un-

abänderlichkeit3 zu behandeln. Abweichungen vom

Erwünschten werden immer noch erstaunlich oft als

„naturwidrig“ beurteilt, obwohl es Naturwidriges ge-

nau genommen gar nicht geben kann; oder positiv

formuliert: alles was der Fall ist, ist mit den Gesetzen

der Natur vereinbar. Auch das noch so Unerwünsch-

te kann nicht gegen „die“ (Gesetze der) Natur versto-

ßen, sondern allenfalls mit erwünschten Zuständen

der Natur unvereinbar sein. Als besonders progres-

siv gilt ferner die Bezugnahme auf gesellschaftliche

Funktionserfordernisse – konkretisiert im „Bedarf

der Gesellschaft an sozialer Ungleichheit“ (Mattern

& Weißhuhn 1980, S. 157; Spranger 1918, S. 217 und

Weinstock 1958, S. 120 f.). Diese Rechtfertigung birgt

die Gefahr, dass sachlich begründungsbedürftige

Differenzierungserfordernisse mit Distinktionsinte-

ressen konfundiert und in Sachzwänge4 verwandelt

werden.

(2.) Gestritten wird vor allem darüber, welche

Personengruppe durch die jeweils strittige Un-

gleichheit in welcher Hinsicht begünstigt und

welche dadurch benachteiligt wird. Für den Ge-

rechtigkeitsdiskurs relevante Begründungen erfol-

gen stets unter Bezugnahme auf die (als gerecht oder

ungerecht bewertete) soziale Realität – also im de-

skriptiven Bereich. Dabei geht es um die („objektiv“)

nach dem Wahrheitskriterium beurteilbare Klärung

3 Damit wird suggeriert, dass die erwünschte Ungleichheit unabänderlich

sei. Unterschiedliche Hautfarben verschiedener Menschen sind naturgege-

ben, aber man kann sie verschieden bewerten und die Ungleichbewertung

dieser Ungleichartigen kann zur Ableitungsvoraussetzung für die Rechtfer-

tigung einer „entsprechenden“ Ungleichbehandlung erklärt werden

4 Sachzwänge sind diese Erfordernisse allenfalls als Konsequenzen

interessengesteuerter Entscheidungen.

des Gegenstands der (Gerechtigkeits-) Bewertung.

Die intersubjektiv überprüfbare Beschreibung und

Erklärung der zu beurteilenden Wirklichkeit ist ein

notwendiger, aber nicht auch schon hinreichender

Bestandteil der wertenden Beurteilung dieser Wirk-

lichkeit. Die Bewertung des Beschriebenen ist eine

auf diese Beschreibung bezogene, aber logisch strikt

davon zu unterscheidende eigene Aktivität, die sich

der Wahr-Falsch-Beurteilung entzieht und auf die

Definitionsmacht dessen verweist, der versucht, sei-

ner Bewertung der strittigen Verhältnisse Geltung zu

verschaffen. Mit dem Wort Gerechtigkeit wird also

die intersubjektiv kontroverse Wertschätzung derje-

nigen Sachverhalte oder Verhaltensweisen ange-

sprochen, durch die ihre Befürworter begünstigt und

ihre Kritiker benachteiligt – und entsprechend von

den einen als gerecht und von den anderen als un-

gerecht bewertet werden.

(3.) Ich unterscheide drei nicht trennscharf

voneinander abgrenzbare Strategien der Konflikt-

„Lösung“: (a) die Anwendung von Macht oder Gewalt,

(b) die kontroverse Argumentation ungleich definiti-

onsmächtiger Kontrahenten und (c) den Versuch, ein

objektives Beurteilungs- und Entscheidungsprinzip

zu etablieren.

(a) Man mag unterstellen, dass die Anwen-

dung purer Macht oder Gewalt kein akzeptables Ver-

fahren der Konfliktregelung sei. Aber dabei sollte

man nicht übersehen, in wie unendlich vielen indi-

rekten, „sanften“, oft schwer durchschaubaren Mo-

dalitäten (soziale, weltanschauliche, ökonomische)

Macht in allen Sektoren gesellschaftlicher Praxis –

auch im so genannten Diskursmodell – zur Geltung

kommt.

(b) Für diejenigen, die von der jeweils beste-

henden Ungleichheit profitieren, stellt sich die Ge-

rechtigkeitsfrage (nur) dann, wenn sie einen Anlass

haben oder herausgefordert werden, ihre Privilegien

denen gegenüber zu rechtfertigen, die als Kritiker ih-

rer Begünstigung in Betracht kommen.

Durch eine strittige Konkretisierungsform der Un-

gleichheit Begünstigte gehören zu denen, die mit

haltbaren und unhaltbaren Argumenten meistens de-

finitionsmächtig darzulegen versuchen, warum sie

selbst durch diese Ungleichheit nicht „unrechtmä-

ßig“ begünstigt sind, und dass alles was nach Privileg

aussehen könnte, mit dem Gerechtigkeits- oder Leis-

tungsprinzip in Einklang stehe. Oder sie versuchen zu

zeigen, dass und warum diejenigen, die sich dadurch

benachteiligt fühlen. „eigentlich“ gar nicht benach-

Schulenstreit

41cog!to 06/2013

teiligt sind – oder dass sie noch stärker benachteiligt

wären, wenn es die strittige Ungleichheit nicht gäbe.

„Perfekter“ noch erscheint die Strategie, eine jewei-

lige soziale oder ökonomische Benachteiligung als

Vorteil (auch) für die Benachteiligten zu interpretie-

ren. Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel aus der

Praxis ist die Aufhebung des Kündigungsschutzes,

um dadurch die Aussichten der Schutzlosen zu erhö-

hen, eine Arbeitsstelle zu finden. Das ist nicht ganz

falsch, aber ganz richtig ist es auch nicht. Denn da-

durch wird für die Betroffenen andererseits das Ri-

siko erhöht, diese Arbeitsstelle wieder zu verlieren,

aber das wird verschwiegen oder verharmlost, wo

einseitig („halbwahr“) die Vorteile der Aufhebung des

Kündigungsschutzes herausgestellt werden. In die-

sen Zusammenhang gehören auch die unterschied-

lichsten Begründungen dafür, dass Heranwachsende

von besonders günstigen Lerngelegenheiten ausge-

schlossen werden (vgl. Bude 2008) mit der wiederum

nicht „ganz“ bzw. „halb“ falschen Moralisierung, die

Betroffenen dürften nicht überfordert werden. Auf-

schlussreich sind aktuell die Argumente, mit denen

der amtierenden Wirtschaftsminister den so genann-

te „Armutsbericht“ der Deutschen Bundesregierung

(Anfang März 2013) korrigiert hat. Hier zeichnet sich

ab, dass zu viele, von partikularen Interessen gesteu-

erte „Tatsachenfeststellungen“ die Verschleierung

jener Tatsachen bezwecken, deren Kenntnis für eine

kompetente Urteilsbildung aber unverzichtbar sind.

Noch einen Schritt weiter gehen Strategien

offensiver Moralisierung: Begünstigte, die ihre Privi-

legien (schon rein logisch) der Benachteiligung vie-

ler anderer verdanken, versichern ihren Kritikern wie

wertvoll und unverzichtbar ihr Beitrag zur Erfüllung

gesellschaftlicher Arbeitsaufgaben doch sei. Wo kä-

men wir hin, wenn der Müll nicht regelmäßig ent-

sorgt würde…

Wo die diversen Versuche erfolglos bleiben,

Benachteiligte mit ihrer (restriktiven) Situation zu

„versöhnen“, greifen Nutznießer gegenwärtig wie-

der mehr zur expliziter Diskriminierung, indem sie

ihren Kritikern vorwerfen, sie seien („ja bloß“) nei-

disch. Der Neid gilt als eine besonders unsympa-

thische Untugend und oft genug als Ausdruck so-

zialer Inkompetenz und intellektueller Schwäche, als

„Krankheit der Seele“ oder als „Störung des Geistes“5.

5 Vgl. z. B. Nusser 1984, Sp. 698 f.; Ignatieff 1989; Ladwig 2000, S. 607;

Desens 2008.

Mit derartigen „Argumenten“ gelingt es ihren Auto-

ren allzu oft, die intersubjektiv nachprüfbaren Argu-

mente, mit denen Kritiker strittiger Ungleichheit ihre

Position begründen, nur noch als Ausdruck dieses

unsympathischen Neids zu diskreditieren und inso-

fern den Geltungsanspruch sachlicher Argumente

moralisch außer Kraft zusetzen.

(c) In den Kontroversen zur Bestimmung

dessen, was gerecht „ist“, kommen genau jene In-

teressen zur Geltung, ohne deren Widersprüchlich-

keit Gerechtigkeit gar kein Thema wäre. Deshalb,

sollte man meinen, sind alle Bestrebungen zu begrü-

ßen, die darauf abzielen, subjektive Interessenver-

strickungen durch die Benennung eines objektiven

Beurteilungskriteriums zu überwinden. Als ein sol-

ches Kriterium genießt das Leistungsprinzip beson-

ders hohes Ansehen.

Das Leistungsprinzip als das Prinzip zur Gewährleistung sozialer (Vertei-lungs-) Gerechtigkeit

Unter den neuzeitlichen Versuchen, für die Bestim-

mung und Gewährleistung der Gerechtigkeit ein ob-

jektives Kriterium zu finden, spielen Bezugnahmen

auf das Leistungsprinzip eine herausragende und all-

gemein anerkannte Rolle. Das Leistungsprinzip soll

alle zuvor praktizierten Prinzipien der Verteilung er-

strebenswerter Güter ersetzen – beispielsweise die

soziale Herkunft oder die Parteizugehörigkeit im

weitesten Sinne. Als ungerecht wird jede Güterver-

teilung beurteilt, die nicht durch Leistungen gerecht-

fertigt werden kann. Damit das Leistungsprinzip sei-

ne Funktion erfüllen kann, müssen Voraussetzungen

erfüllt sein, von denen ich zwei kurz und eine dritte

ausführlich anspreche:

Als Leistung dürften nur Aktivitäten oder Ak-

tivitätseffekte anerkannt werden, die dem Aktivitäts-

subjekt zweifelsfrei zugerechnet werden können. In

der gesellschaftlichen und pädagogischen Praxis,

werden in aller Regel jedoch nur die tatsächlichen

Handlungseffekte ohne Rücksicht darauf als Leistung

anerkannt, wieweit sie sich auf die vom Handelnden

wirklich selbst zu verantwortenden Voraussetzun-

gen und nicht etwa auf die Vielzahl mehr oder weni-

Schulenstreit

cog!to 5/201342

ger günstiger internaler und externaler Handlungs-

gelegenheiten zurückführen lassen. Insofern ist eine

notwendige Bedingung dafür nicht erfüllt, dass das

Leistungsprinzip seine Funktion erfüllt.

Leistung vermag ihre Funktion als Bezugs-

größe für eine gerechte Güterverteilung nur dann

zu erfüllen, wenn sie messbar und das Messergebnis

vergleichbar ist. Aber wie will man „die Leistung“ der

Nachtschwester in der Intensivstation eines Kran-

kenhauses mit „der Leistung“ eines Lyrikers, Soft-

wareentwicklers, Maurers, Fußballspielers (man mag

sie je untereinander in eine Rangreihe bringen kön-

nen) vergleichen?

Um sich auf die Leistung eines Menschen be-

ziehen zu können, muss man wissen, was Leistung

ist. – Leistung ist kein beobachtbares Verhalten, keine

aus diesem Verhalten ableitbare Größe und auch kei-

ne Eigenschaft eines Verhaltens, sondern das Resul-

tat der Beurteilung eines Verhaltens. Zu Leistungen

„werden“ Handlungen (rechnen, sägen, heilen, töten,

demonstrieren) dadurch, dass sie als Leistungen be-

wertet werden. Viele meinen, dass von Leistung dort

gesprochen werden könne, wo jemand sich beson-

ders anstrengt oder wo jemand etwas besonders er-

folgreich tut. Aber damit sind drei Probleme verbun-

den: Erstens handelt es sich dabei um Anstrengung

und Erfolg und nicht auch schon um Leistung. Zwei-

tens: gibt es weder eine Anstrengung noch einen

Tätigkeitserfolg an und für sich. Anstrengen kann

man sich nur bei einer inhaltlich bestimmbaren Tä-

tigkeit. Drittens: Wenn Fleiß und Erfolg als Leistun-

gen gelten, dann muss alles Leistung „sein“, was mit

Fleiß und Erfolg getan wird – der Versicherungsbe-

trug ebenso wie die Schmerzlinderung. Denn Versi-

cherungsbetrüger wie Krankenschwestern strengen

sich an und sind „entsprechend“ erfolgreich. Damit

wird der Leistungsbegriff relativiert auf eine Norm,

ohne die es die Bewertung einer Handlung als Leis-

tung nicht gibt und auf die Entscheidung der Person

oder Instanz, die das für die Leistungsbewertung

unentbehrliche Bewertungskriterium maßgeblich

bestimmt. Diejenigen, die sich der Geltung und An-

wendung dieser Norm (kritiklos) unterwerfen oder

nicht widersetzen, wirken indirekt an der Geltung

dieser Norm mit.

Auch derjenige, der sich weigert, die Anord-

nung oder Erwartung dessen zu befolgen, der seine

herausgehobene Position – wie er behaupten mag:

– seiner (unproblematisierten) Leistung „verdankt“,

leistet etwas– freilich bezogen auf eine andere Norm.

Die Welt war immer schon und ist immer noch vol-

ler Beispiele dafür, dass der Widerstand gegen Hand-

lungsaufträge jeweiliger Autoritäten in anderen kul-

turellen oder zeitlichen Kontexten als herausragende

Leistung gewürdigt worden ist, und zwar in allen Sek-

toren gesellschaftlicher Praxis. Der Widerstand ge-

gen eine Zumutung kann auch in scheinbar banalen

Fällen existenzbedrohend sein.

Obwohl völlig unterschiedliche Handlun-

gen dadurch zu Leistungen „werden“ können, dass

sie mit Bezug auf einen Gütemaßstab6 als Leistun-

gen beurteilt werden, wird Leistung inhaltsleer ge-

fordert oder kritisiert. Diese Inhaltsleere ist aber nicht

funktionslos (vgl. Topitsch 1960). Denn sie appelliert

an die Bereitschaft ihrer Adressaten, dasjenige enga-

giert und selbst zu wollen und zu tun, was sie in ih-

rer (Leistungs-) Sozialisation jeweils als Leistung zu

„sehen“ und zu realisieren gelernt haben, nämlich ei-

nen (fremdbestimmten) Lern- oder Arbeits-„Auftrag“

gewissenhaft zu erfüllen. Heranwachsende erfahren

und lernen in ihrer Leistungssozialisation, was man

besonders gut wissen, können und tun muss, um

als leistungsstark beurteilt zu werden. Als Indikato-

ren für Leistung betrachten Angehörige höher ein-

gestufter sozialer Herkunft vor allem diejenigen In-

halte des Wissens, Wollen und Tuns, die sich eignen,

ihren eigenen sozialen Status zu rechtfertigen. Kinder

niedrig eingestufter sozialer Herkunft lernen eher die

Bereitschaft, die am Sockel der Berufshierarchie an-

fallenden Arbeiten „ohne viel zu fragen“ oder nach-

zudenken gewissenhaft zu erfüllen und den dadurch

definierten niedrigen (Sozial-) Status als gerecht (an-)

zu „erkennen“.

Was als Leistung gilt, ergibt sich nicht aus ir-

gendeiner Verhaltensweise an sich, etwa daraus,

dass jemand „gut“ rechnet oder „schnell“ läuft oder

(in weltanschaulichen Auseinandersetzungen) vie-

le Menschen tötet, sondern das ergibt sich aus der

interpersonal vergleichenden Bewertung konkre-

ter Verhaltensweisen unter Bezugnahme auf ein Be-

wertungs- bzw. Leistungskriterium. Dieses Kriteri-

um hat zwei Komponenten: eine deskriptive, in der

die Inhalte bestimmt werden, ohne die es Leistung

gar nicht gibt, und eine wertende, in der diese Inhal-

te als Leistung ausgezeichnet werden. Die häufig un-

terschlagene normative Komponente eines Beurtei-

6 Dazu Heckhausen 1974, S. 17, S. 39 ff. und Kap. 5 (S. 43 ff.).

cog!to 06/201342

lungskriteriums kann – wie bereits erwähnt – nicht

wahr oder falsch sein, sie kann aber gelten oder nicht

gelten. Die Geltung einer Wertung hängt nicht von

der intersubjektiv prüfbaren Wahrheit eines Argu-

ments, sondern von der sozialen Macht dessen ab,

der bestimmen kann, was als Leistung beurteilt wer-

den soll. Wo es nicht um die intersubjektiv prüfba-

re Wahrheit oder Falschheit eines Arguments, son-

dern um die Geltung einer Bewertung geht, dort wird

das Subjekt der Bewertung und dessen soziale De-

finitions- und Sanktionsmacht ausschlaggebend

wichtig.

Hinsichtlich der sozialen Macht, zu definie-

ren, welches Verhalten als Leistung anerkannt wer-

den soll, sind die Menschen ungleich. Bei der Ent-

stehung dieser Ungleichheit spielen diejenigen, als

nicht leistungsbezogen beurteilten (Sozialisations-)

Faktoren die ausschlaggebende Rolle, die durch das

Leistungsprinzip „eigentlich“ neutralisiert werden

sollen. Dadurch kommt sowohl in der inhaltlichen

Konkretisierung als auch in der praktischen Anwen-

dung des Leistungsprinzips genau diejenige soziale

Ungleichheit zur Geltung, die mit der Programmatik

dieses Prinzips unvereinbar ist. Unter den realen so-

ziostrukturellen Voraussetzungen seiner Geltung

und Anwendung hat das Leistungsprinzip jene

soziale Ungleichheit in sich aufgenommen, die es

zu problematisieren und zu revidieren verspricht.

In der Rede über „die Leistung“ wird der Ein-

druck erweckt, dass es sich dabei um einen subjek-

tunabhängig existierenden Sachverhalt und nicht um

das Resultat einer stets subjektiven Stellungnah-

me zu Sachverhalten handelt. Diese wertende Stel-

lungnahmen kann aus logischen Gründen nicht aus

dem Gegenstand der Stellungnahme, wohl aber aus

den Interessen der Subjekte dieser Stellungnah-

men abgeleitet werden. In dem, was im allgemeinen

mit empiristischem Anschein als Leistung bezeich-

net wird, kommt stets das Interesse dessen zur Gel-

tung, der sich nicht mit der Beschreibung eines Ver-

haltens begnügt – etwa dass jemand schneller läuft

als ein anderer –, sondern der einen von Statusin-

teressen abhängigen Zweck damit verfolgt, dass er

dieses Verhalten auch noch als Leistung qualifiziert.

Diese Qualifizierung einer Verhaltensbesonderheit

wird durch den scheinobjektiven Leistungsbegriff in

die Unbezweifelbarkeit einer Tatsachenfeststellung

verwandelt, die der Statuslegitimierung größeres

Gewicht zu verleihen vermag.

Schulen sind in der Regel rechtlich ver-

pflichtet, leistungsfremde Ursachen der Lerner-

folgsdifferenzierung (z. B. die soziale Herkunft) aus-

zuschließen. Auf die bekannte Tatsache, dass ihnen

das (auch in Deutschland) seit langer Zeit nur sehr

unzureichend gelingt, gehe ich hier nicht ein7. Statt-

dessen interessiert mich die Frage, welchen Beitrag

die „Anwendung“ des Leistungsprinzips bereits im

organisierten Bildungswesen leistet, um die Erzeu-

gung und vor allem die Rechtfertigung sozialer Un-

gleichheit bereits im Bildungssystems zu bewirken,

und zwar ohne gegen das Gerechtigkeitsgebot zu

verstoßen. Mehr noch: Ich vertrete die Ansicht, dass

diejenigen Reformaktivitäten, die die Reduzierung

der sozialen Selektivität des Bildungssystems be-

zwecken, genau diese Selektivität perfektionieren.

Als Leistung werden (nur) solche Aktivitä-

ten an-erkannt, mit denen Lernende im etablierten

Bildungssystem unter den darin „monopolisierten“

Bedingungen selektiv erfolgreich sind. Dabei spie-

len diejenigen Inhalte eine herausragende Rol-

le, die in der herrschenden pädagogischen Praxis

und in der auf Statusdifferenz wert legenden Ge-

sellschaft als Bildung hoch bewertet und als Vor-

aussetzung für sozialen Aufstieg anerkannt werden.

Diejenigen Inhalte aber, die Heranwachsende aus

so genannten bildungsfernen oder „fremdkulturel-

len“ Schichten besonders interessieren, weil sie et-

was mit dem zu tun haben, womit sie in ihrer Le-

benswelt erfolgreich arbeiten können, die können

auch dann als bildungs-, leistungs- und statusirre-

levant bewertet werden, wenn sie für die Betrof-

fenen und deren Lebensgestaltung sowie für die

gesellschaftliche Praxis von herausragender Be-

deutung sind. Die sehr bemerkenswerte Tatsache,

dass auch Schulversager und Studienabbrecher zu

gesellschaftlichen und beruflichen Höchstleistun-

gen fähig sind, ist nicht geeignet, die Feststellung

außer Kraft zu setzen, dass „die“ Bildung und „das“

Bildungssystem sehr viel zur Re-Produktion und vor

allem zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit bei-

tragen. Demgegenüber ist sie jedoch sehr wohl ge-

eignet, die Bedeutung meiner Problematisierung zu

7 Grundlegend z. B. Heintz 1959; Bourdieu & Passeron1971; Dahrendorf

1980; Friedeburg 1989; Kronig 2007; Maaz et al. 2008; Ditton, H. 2010.

43cog!to 06/2013 Schulenstreit

cog!to 06/201344

verdeutlichen: Es hängt nicht an „der“ Bildung, son-

dern an den Interessen, mit der sie apostrophiert und

organisiert wird, welche Funktion sie in Bezug auf die

ungleichwertige Ungleichheit unter den Menschen

erfüllt. Besonders bei Jugendlichen, die (nur mit Be-

zug auf ein von Entscheidungen abhängiges Krite-

rium) als lern- und leistungsschwach klassifiziert

werden, wird (tendenziell) dasjenige überbewertet,

was sie nicht wissen und können, während dasje-

nige unterbewertet wird, was sie tatsächlich wissen

und können. Freilich gibt es gute Gründe, eine ver-

bindliche Basiskompetenz für alle Angehörigen einer

Kultur zu fordern. Aber empirisch bestätigt ist auch

die Feststellung, dass es im etablierten Bildungssys-

tem eine Tendenz gibt, die besonders selektionsef-

fektiven Inhalte, Formen und Erfolgskriterien (auch

innerhalb eines fundamentalen Sachgebiets) des

Unterrichts zu monopolisieren oder zu standardi-

sieren (Bergius 1969 und Undeutsch 1969 sowie be-

reits Schleiermacher 1826/1957, S. 39 und Spran-

ger 1918/1928, S. 214) – und die darin begründete

Erzeugung interindividueller Lernerfolgsdifferen-

zen und sozialer Selektion zu legitimieren: Als gebil-

det und aufstiegsberechtigt wird anerkannt, wer die

durch unendlich viele selektive Entscheidungen kon-

kretisierte Bildung derer nachweisen kann, die ihren

hohen sozialen Status und ihren darin begründeten

Anspruch rechtfertigen, zu definieren was Bildung

und Leistung „sind“.

Welche (praktischen) Schlüsse lassen sich

mit Bezug auf eine bildungs- und gesellschaftspoliti-

sche Maßgabe aus dieser komprimierten und poin-

tierten Analyse des Leistungsprinzips ziehen?

1. 1.Der Streit um „das Leistungsprinzip“ muss auf

die Bewertung der Inhalte jenes Handelns kon-

zentriert werden, das als leistungsrelevant in Be-

tracht gezogen wird.

2. 2.Die Bestimmung des Kriteriums, das unent-

behrlich ist, um eine Handlung als Leistung be-

werten zu können, muss in eine offene, nach-

prüfbare und unabschließbare Kontroverse

überführt werden, in der die interpersonal (kul-

turell und ökonomisch) höchst ungleiche Defi-

nitionsmacht der Diskursteilnehmer zwar nicht

abgeschafft, aber doch problematisiert und zum

Gegenstand eines Metadiskurses gemacht wer-

den kann und sollte.

3. 3.Wer Leistung problematisiert, der muss und

darf damit nicht irgendeiner Anspruchslosigkeit

das Wort reden. Ich bin weit davon entfernt, alles

zu verdächtigen, was inhaltlich als Leistung pos-

tuliert wird. Aber hinweisen möchte ich darauf,

dass Bezugnahmen auf „die Leistung“ geeignet

erscheinen, die Frage nach der Qualität der da-

mit postulierten Inhalte zu erübrigen.

4. 4.Zu dem, was jemanden („wirklich“) interes-

siert8 (Deci & Ryan 1993), was ihn überzeugt, was

er mit der Sinnbestimmung seines Lebens in Ein-

klang zu bringen vermag, dazu muss er nicht ver-

anlasst oder gar gezwungen werden. Das Erfor-

dernis, Menschen zur Leistungsbereitschaft zu

erziehen, ist ein Beweis dafür, dass man ihnen die

Gelegenheit vorenthält an der Bestimmung und

Begründung dessen wesentlich zu partizipieren,

wofür sie sich aus eigener Überzeugung enga-

gieren möchten, weil es ihnen im Kontext ihrer

soziokulturellen Existenz selbst wichtig ist.

5. 5.Ob besondere Realisierungsformen (ande-

re gibt es nicht) sozialer Ungleichheit ungerecht

„sind“, darüber wird zwischen denen, die davon

profitieren sowie denen, die dadurch benachtei-

ligt sind, i.d.R. mit ungleichen „Waffen“ gestrit-

ten. Wissenschaftler könnten es sich zur Auf-

gabe machen, etwas mehr Licht in die sozialen

Strukturen und Prozesse dieser Kontroversen zu

bringen, indem sie sich an der Überprüfung der

Qualität jener Argumente beteiligen, mit denen

Befürworter und Kritiker ihre interessenabhängi-

gen Standpunkte zu rechtfertigen und durchzu-

setzen versuchen.

Von Helmut Heid

8 In einer kritiklosen Unterwerfung unter die jeweiligen Bedürfnisse Ler-

nender läge eine kränkende Missachtung des Anspruchs, den Heranwach-

sende an die Begründung einer Anforderung stellen. Andererseits gilt, dass

die Interessen und Überzeugungen jedes einzelnen Lernenden unterricht-

spraktisch unhintergehbar sind. Sie sind Anknüpfungspunkte und Realisie-

rungsbedingungen einer Erfolg versprechenden Unterrichtspraxis.

Schulenstreit

cog!to 06/2013 45

Literaturhinweise (ausführliche Literaturangaben in der digitalen

Fassung):

- Bourdieu, P. & Passeron, J. –C. (1971): Die Illusion der Chancengleichheit.

Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs.

(Teil II), Stuttgart: Klett

- Dahrendorf, R. (1966): Über den Ursprung der Ungleichheit unter den

Menschen. Tübingen: Mohr – Siebeck

- Ditton, H. (2010): Wieviel Ungleichheit durch Bildung verträgt eine

Demokratie? In: Zeitschrift für Pädagogik, 56, 1, S. 53 – 68

- Heintz, P. (Hg.) (1959): Soziologie der Schule. Sonderheft der Kölner

Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen: Westdeutscher

Verlag

- Peisendörfer, B. (2008): Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit

unerwünscht ist. Frankfurt: Eichborn Verlag

- Schleiermacher, F. (1826/19662): Pädagogische Schriften. Hg. v. Schulze T. &

Weniger, E (1957). Düsseldorf: Verl. Küpper

- Spranger, E. (1918): Das Problem des Aufstiegs. In: Derselbe 19284, Leipzig:

Quelle & Meyer, S. 205 – 226

Zu unserem Gastautor:

Helmut Heid war bis zu seiner Emeritierung Inhaber eines Lehr-stuhls für Pädagogik der Universität Regensburg. Nach seinem Stu-dium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln (1954-1958) und einer Lehrtätigkeit an Wirtschaftsschulen wurde er promoviert und habilitiert. Im Sommer 1969 hat er an der FU in Berlin die Wirtschaftspädagogik vertreten und seit dem WS 1969/70 die Allgemeine Pädagogik an der Univ. Regensburg. Herr Heid war Gastdozent an verschiedenen Hochschulen. Von 1982 bis 1986 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erzie-hungswissenschaft (DGfE) und von 1992 bis 2000 Vorsitzender des Fachausschusses Pädagogik der Deutschen Forschungsgemein-

schaft (DFG). Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wissenschaftstheorie der Erziehungs-wissenschaft; Ideologiekritik bildungspolitischer Programmatik und Wechselbeziehungen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem.

Schulenstreit

46 cog!to 05/2013

SCHNITTMENGENTHEoRIE

RUBRIK

A B

Für Schnittmengentheorie werden Artikel geschrieben, die sich philosophischen Fragen interdisziplinär nähern.

In Medium Is The Message beschreibt Antonia Zettl eine filmische Möglichkeit der philosophischen Erkenntnissuche im Medienzeitalter.

Danach erläutert Hannah Sommer, wie Psychologie und Philosophie mit der vermeintlichen Dichotomie

von Egoismus und Altruismus umgehen.

46 cog!to 06/2013

In seinem Roman „Der grüne Junge“

lässt Dostojewski Werssilow, den

Vater des Protagonisten, über

seinen Traum vom Goldenen

Zeitalter schwärmen: Alle

Menschen begegnen sich

in Liebe und Verbunden-

heit, in vollkommener Ach-

tung für den Anderen und

ohne die Spur von negativen

Absichten. Es lässt sich kein Mo-

tiv der Eigennützigkeit erkennen,

menschliches Verhalten entbehrt jeglicher

egoistischer Züge.

Dies scheint zunächst wie das, als was es

beschrieben wird: ein Traum, losgelöst von der

Realität, ein nicht zu erreichendes Ideal. Doch

genau diese Thematik bildet das Fundament für

eine große Debatte in der Wissenschaft: die über

den Altruismus.

Zwar finden sich auch schon in der Anti-

ke Positionen, die durchaus relevant für die Fra-

ge nach dem Altruismus sind, dennoch nimmt die

Debatte ihren eigentlichen Anfang erst im 19. Jahr-

hundert. Und zwar mit Auguste Comte, dessen Aus-

einandersetzung mit der Thematik als Beginn der

wissenschaftlichen Forschung zum Altruismus gilt.

Comte geht davon aus, dass das menschliche Le-

ben in drei Phasen verläuft: So ist die erste die der

Eigenliebe, es folgt die Liebe zur Familie und letzt-

endlich wird die Eigenliebe dem sozialen Ge-

fühl untergeordnet. Der Altruismus wird

hier als gesellschaftlicher Imperativ be-

schrieben; Comte stellt ihn als Gegen-

satz zum Egoismus dar, was zeigt, dass

die heute gängige Auffassung der An-

tithese von Egoismus und Altruismus,

schon ihren Ursprung in der Definiti-

on Comtes hat.

Der Kontrast kann in Bezug

auf die Ansichten über die menschliche

Natur beispielhaft anhand zweier Positionen

dargestellt werden: So nimmt Hobbes an, dass die

Grundlage der menschlichen Natur der Trieb nach

Selbsterhaltung ist. Demgemäß ist das primäre Mo-

tiv allen menschlichen Handelns der Egoismus. Die

Menschen schließen sich lediglich unter Vertrags-

bildung zu einer Gemeinschaft zusammen, da da-

durch für jeden Einzelnen eine größere Sicherheit

und somit eine bessere Verwirklichung der eigenen

Interessen gegeben ist. Hobbes erkennt zwar an,

dass der Mensch auch altruistische Neigungen hat,

er sieht sie jedoch lediglich als sekundäre, aus dem

Kein Entweder – OderÜber den Altruismus aus der Perspektive der Philosophie und der Psychologie.

Mit dem Thema Altruismus beschäftigt sich sowohl die Philosophie als auch die Psycholo-gie. Dabei unterscheiden sie sich jedoch nicht nur in ihrer Fragestellung, sondern auch in ihren Antworten. Der vorliegende Artikel be-leuchtet die Herangehensweise beider Diszi-plinen an das Thema.

Eine

wiss

ensch

aftliche Debatte über den AltruismusVon Hannah Sommer

cog!to 06/2013 47 Schnittmengentheorie

cog!to 11/2012

Egoismus abgeleitete Phänomene. Letztlich lässt sich demnach

alles auf ein egoistisches Prinzip zurückführen, auch wenn es

zunächst nicht den Anschein hat.

Genau diese Annahme wird als das Altruismus-Paradox

bezeichnet: Selbst solche zuerst eindeutig altruistisch erschei-

nende Handlungen - wie zum Beispiel die Opferung des eigenen

Lebens für einen Anderen – können auf ein egoistisches Prinzip

reduziert werden, bspw. in diesem Fall der Wunsch nach einem

ehrenvollen Ruf der eigenen Person in der Nachwelt.

Im Gegensatz zu Hobbes’ Position steht die ethische

Theorie Kants. Diese besagt, dass dem Menschen aufgrund

seiner Vernunft autonomes Handeln möglich ist. Die Autono-

mie ist Bedingung für das moralische Gesetz, dessen wir uns

bewusst sind. Eben dieses moralische Gesetz ist von einer All-

gemeinheit gekennzeichnet, in der die individuellen, egoisti-

schen Motive keinen Platz finden. Wobei Kant natürlich nicht

leugnen würde, dass der Mensch durchaus seine Maxime durch

egoistisch motivierte Triebfedern bestimmen kann. Doch durch

das moralische Gesetz ist zumindest die Bedingung der Mög-

lichkeit von Altruismus gegeben. Inwiefern diese dann tatsäch-

lich durch eine moralische Willensbestimmung auch verwirk-

licht wird, bleibt offen.

In der Psychologie ist meist nicht die Rede von Altru-

ismus, sondern eher von „prosozialem Verhalten“, da die Psy-

chologie zuallererst eine empirische Wissenschaft ist, die sich

Die Philosophie fragt nach den Bedingun-gen der Möglichkeit von

Altruismus...

Schnittmengentheorie48 cog!to 06/2013

49cog!to 11/2012

vor allem mit dem menschlichen Verhal-

ten befasst. Hierbei ist jedoch problema-

tisch, dass die Motivation für das Han-

deln oft unberücksichtigt bleibt, da sie

sich nicht zwangsläufig konsistent im

Verhalten widerspiegeln muss.

In der Sozialpsychologie wird Al-

truismus als uneigennütziges Verhalten

definiert, das Anderen zu Gute kommt,

unabhängig von den Konsequenzen für

einen selbst. Dass hierbei nicht unbe-

dingt Dispositionen ausschlaggebend

sind, zeigen psychologische Studien aus

den 70er und 80er Jahren des 20. Jahr-

hunderts, die beschreiben, dass das

menschliche Verhalten stark von situati-

ven Faktoren beeinflusst wird. So ist zum

Beispiel das Ergebnis einer Studie von

Darley und Batson (1973), dass die Hilfs-

bereitschaft von Studenten eines Pries-

terseminars um das sechsfache sinkt,

wenn sie sich unter Zeitdruck befinden.

Eine weitere Studie legt nahe, dass die

Bereitschaft zur Hilfeleistung sinkt, wenn

andere Personen anwesend sind, da da-

durch scheinbar die Verantwortlichkeit

des Einzelnen reduziert wird.

Diese psychologischen Studien

betonen im Gegensatz zu den meisten

philosophischen Ansätzen nicht die ur-

sprünglich zugrunde liegende Motiva-

tion, sondern die Wichtigkeit der situ-

ativen Faktoren im Zusammenhang mit

der Frage nach altruistischem Handeln.

Im Gegensatz dazu geht es in der Evo-

lutionspsychologie hauptsächlich um

die Motivation, die in diesem Bereich

selbstverständlich auf die Ebene der

Weitergabe der eigenen Gene reduziert

wird. Aus Sicht der Evolutionspsycho-

logie gibt es verschiedene Erklärungs-

modelle für die Entstehung von Altru-

ismus: So zum Beispiel die Theorie des

reziproken Altruismus. Dieser Terminus

wurde von Robert Trivers (1971) geprägt

und besagt, dass altruistisches Handeln

auf der Erwartung der Wechselseitig-

keit basiert. Nach dieser Argumentation

... dagegen interpretiert die Psychologie beobachtetes

Verhalten.

cog!to 06/2013 49 Schnittmengentheorie

konnte sich der Altruismus deswegen

durchsetzen, da sein Prinzip darauf ba-

siert, dass der Kooperationspart-

ner das Handeln erwidert.

Wenn die Kooperation

wechselseitig funk-

tioniert, profitieren

davon beide Part-

ner und haben da-

durch einen evo-

lutionären Vorteil.

Ein weite-

res Modell ist das der

„Kin-Selection“, das die

Entstehung von Altruismus

als genetisch verursacht betrachtet:

Bedingt durch Verwandtschaft werden

durch den Anderen die eigenen Gene

weiter verbreitet. So lässt sich erklären,

wieso es aus evolutionärer Sicht durch-

aus sinnvoll ist, das eigene Leben für

das eines Verwandten zu opfern.

Wie gezeigt, beschränkt sich die

Psychologie meist auf dasjenige, was

sich empirisch beobachten und evolu-

tionär erklären lässt. Wenn man die Evi-

denz egoistischer Motive anhand der

zahlreichen sich alltäglich ereignenden

Beispiele als empirisch belegbar erach-

tet und die gebräuchliche Verwendung

der Begriffe Egoismus und Altruismus

als Gegensatzpaar akzeptiert, die sug-

geriert, dass es sich um zwei einan-

der ausschließende Prinzipien handelt,

scheint sich die Möglichkeit des Altru-

ismus nur noch schwer durchsetzen zu

können. Doch in der Philosophie geht

es vielmehr um die Bedingungen die-

ser Möglichkeit. So würde beispiels-

weise Kant zwar zugestehen, dass jeder

Mensch naturgemäß nach seiner eige-

nen Glückseligkeit strebt. Doch darüber

hinaus gibt es und erkennen

wir das moralische Gesetz,

durch welches wir befä-

higt sind, vom Eigen-

interesse abzusehen.

Ist mit Kant zumin-

dest die Möglichkeit

des Altruismus ein-

gesehen, lässt sich der

starre begriffliche Ge-

gensatz von Altruismus und

Egoismus auflösen. So führt das

Durchdenken des Egoismus zu Folgen-

dem: Wenn ich, als egoistisch handeln-

der Mensch, ein vernünftiges Wesen

sein soll, muss ich vernünftig handeln.

Eine vernünftige Handlung ist nach Kant

eine Handlung gemäß dem moralischen

Gesetz. Die egoistische Handlung eines

vernünftigen Wesens ist also die altruis-

tische – auf diese Weise fallen Eigeninte-

resse und Altruismus in eins.

Von Hannah Sommer

Weiterführende Literatur:

- Brown, S.L., Brown, R.M., Penner, L.A.,

Moving beyond Self-Interest, Oxford,

2012

- Gilovich, T., Keltner, D., Nisbett, R.E.,

Social Psychology, New York, 2006

- Eckart, A., Explaining Altruism, Frank-

furt, 2008

- Nagel, T. Die Möglichkeit des Altruis-

mus, Berlin, Wien, 2005

... d

ie E

videnz egoistischer M

otive...

cog!to 06/201350 Schnittmengentheorie

51cog!to 06/2013

Medium Is The Message

Filmtrailer – Werkzeuge für das Gelingen einer philosophischen

Werkintention im Medienzeitalter?

Wo man heutzutage Philosophie findet, wie man sich bis zu ihr mithilfe des Trailers durch ei-nen tiefen Sumpf der Viel-falt watet, was wir mit Trailern machen und was für eine Macht sie auf un-sere Rezeption haben.

Wir befinden uns im Medien-

zeitalter. Wir werden überflu-

tet von Informationen aus al-

lerlei Richtungen – die Vielfalt

menschlicher Kommunikations-

wege hat sich innerhalb der letzten

50 Jahre massiv gesteigert, sie ist fast nicht

mehr überschaubar oder gar klar zu unterteilen.

In all dem Wust propagierter Erkenntniswege –

denn selbst der Kauf eines Bikinis wird einem in-

zwischen als die (Er-)Lösung in ein schönes, gu-

tes und glückliches Leben nahe gebracht – fällt

es freilich schwer, philosophisch anspruchsvolle

Botschaften herauszufiltern. Denn, Ja, auch die

Philosophie ist inzwischen aus dem Medium des

Buchdrucks herausgewachsen und hüllt sich nun

in die bunten Kleider des Medienzeitalters. Wo-

bei sich ihr das Gewand des Films wie maßge-

schneidert anzuschmiegen scheint. Selbst wenn

man sich in einer philosophischen Botschaftssu-

che nun auf dieses Medium Film beschränkt (was

dank angesprochener Intermedialität moder-

ner menschlicher Kommunikation auch im Fol-

genden nicht hundertprozentig möglich

sein wird), geht man abermals schnell

in einem Meer von Möglichkeiten

unter. Die Fülle an Filmen wäre

kein Problem für den interes-

sierten Betrachter, wenn die-

ser statt einer begrenzten Le-

bensspanne alle Zeit der Welt

hätte, um sich zum wahren,

guten, damit schönen und un-

terhaltenden Film durchzuse-

hen. „Leider“ steht dem Erste-

Welt-Menschen alles gleich nahe

und offen. Seit Anbeginn der Evolu-

tion des Films auf unserem Planeten, hat

er sich so fleißig vermehrt und verbreitet, dass

man trotz, oder gerade wegen der inzwischen leichten

Zugänglichkeit durch das Internet und andere Quellen

zu dem gleichen Problem der Überflutung zurückkehrt.

Freilich ist auch nicht jeder Film hochphilosophisch, und

erst recht explizieren sich die wenigsten Filme so. Doch

humanistische, allgemein ethische oder auch ontolo-

gische Maßstäbe sind in den meisten Filmen angelegt

und werden (teils unbewusst) vermittelt. Dies wird zum

Beispiel, neben vielen anderen Faktoren, durch die Un-

mittelbarkeit der prosaischen Form einer filmischen Er-

zählweise gewährleistet. Wie genau Film Philosophie

vermittelt, steht allerdings nicht im Fokus dieses Artikels.

Sondern, wie man sich auf der Suche nach einem philo-

sophischen Anspruch im Film heutzutage zurechtfindet.

Worauf es also ankommt, ist der Filter, den wir in einer

Von Antonia Zettl

cog!to 06/2013 51

52 cog!to 06/2013

Vorauswahl anlegen, um die trübe Brühe des uns er-

eilenden Vielfaltstsunamis zu klaren Wassern philoso-

phischer Erkenntnis zu wandeln. Der wohl prägnantes-

te dieser Filter ist der Trailer.

Eine philosophische Botschaft ist nicht nur auf

die Vermittlung durch einen guten Film (oder generell

durch ein zur Wahrheitsvermittlung geeignetes Medi-

um und ein den jeweiligen medialen Maßstäben ent-

sprechend gut realisiertes Werk), sondern inzwischen

besonders auf Publikmachung angewiesen. Filmtrai-

ler machen dies, indem sie die

Fragestellung eines Films auf

eine kurze Zusammenfassung

eindampfen, somit explizie-

ren. Die Antwort auf besag-

te Frage wird bei einem guten

Trailer nicht verraten. Schließ-

lich übernimmt der Film selbst

dann durch seinen immersiven Charakter stellvertre-

tend aber einbindend einen Teil der Reflexion des be-

handelten Problems. Sei es beim Thema Liebe, der Su-

che nach dem Sinn des Lebens, oder Identitätsfindung;

all diese werden je nach Genre unterschiedlich be- und

abgehandelt. Die Botschaft wird also durch die im Trai-

ler angedeutete Frage impliziert

und demnach vom Publikum an-

tizipiert. Der offizielle Trailer zu

„Mr. Nobody“ (Jaco Van Dorma-

el, 2009) zum Beispiel beschreibt

in einigen kurzen, aber präg-

nanten Bildern und Dialogaus-

schnitten die im Film behandel-

te Thematik: die Parallelexistenz verschiedener Welten,

die sich nur Aufgrund des unterschiedlichen Ausgangs

einer Entscheidung auseinander entwickeln. Darauf,

welche Welt nun die reale ist, wo die Schnittstellen

zwischen den Realitäten liegen, sowie das Geheimnis

um den exakten Grund dieser Realitätsspaltung, wird

allerdings nur Neugierde geweckt. Der Trailer fasst also

die Fragestellung von „Mr. Nobody“ zusammen, ohne

Antworten zu geben.

Allerdings ist ein Vorblick auf die Botschaft

nicht die einzig mögliche Funktion des Trailers. Selbst

wenn der gute Trailer eben nicht alles verrät, sondern

nur das Genre eingrenzt und den bestimmten Film

vage vom Rest abzugrenzen versucht, bekommt das

Publikum ziemlich genau, was es erwartet. Die Was-

ser lichten sich, man dringt leichter zum gewünsch-

ten zu vermittelnden Inhalt durch. So weit, so gut. Im

Prinzip ist damit erreicht, was angestrebt war.

Allerdings ist die philosophische Erkenntnis

ein schlüpfriger Fisch, der sich je größer, dem ge-

willten Angler noch besser zu entziehen weiß. Auch

in unserer Trailer-zu-Film Angeltechnik muss für die

wirklich großen Fische deshalb ein besserer Köder

(lies: eine etwas andere Art

von Trailer) angelegt werden.

Welchen Einfluss der Trailer

auf die Botschaft hat, zeigt

sich, wenn er eine Frage ver-

tritt, die das angezogene Pu-

blikum mit falschen Erwar-

tungen lockt, die tatsächliche

Frage des Films aber an genau diese bewusst fälsch-

lich angezogene Gruppierung gerichtet ist. Das wohl

beste Beispiel zur Auswirkung des Verhältnisses von

der antizipierten Filmfrage auf die tatsächliche Film-

frage ist „Fight Club“ (David Fincher, 1999). Der Trailer

spricht durch eine vom Actionfilm geprägte Ästhe-

tik und propagierte Mentali-

tät eine ganz bestimmte Ziel-

gruppe an. Die tatsächliche

Frage des Films trifft dann

wie eine Faust überraschend

auf die Ohren der Zuschau-

er, gerade weil im Vorhinein

nicht darüber gesprochen

wird. Die Botschaft liegt also genau in der Diskre-

panz von Erwartung und realem Twist.

Für die gelungene Umsetzung einer philoso-

phischen Werkintention im Film durch korrekte Bot-

schaftsübermittlung kommt es also nicht nur darauf

an, dass der interessierte Mensch sich mit Hilfe des

Trailers die richtigen Filme aussucht; sondern auch,

dass das richtige Publikum sich mit einer durch den

Trailer bewusst konstituierten Erwartungshaltung auf

den Film einlässt.

Von Antonia Zettl

Schnittmengentheorie

Allerdings ist die philosophi-sche Erkenntnis ein schlüpf-riger Fisch, der sich je größer, dem gewillten Angler noch besser zu entziehen weiß

Eine philosophische Botschaft ist nicht nur auf die Vermittlung durch einen guten Film, son-dern inzwischen besonders auf Publikmachung angewiesen.

53cog!to 06/2013

54 cog!to 05/2013

IDEENKrEIs

rUBrIK

In Ideenkreis können sehr verschiedene Artikel ihren Platz finden: Von wissenschaftlichen Analysen über journalistisch-feuilletonistische Es-says bis hin zu satirischen Darstellung. Was allen Artikeln gemein ist, ist die

Behandlung einer philosophischen oder artverwandten Fragestellung.

54 cog!to 06/2013

55cog!to 06/2013

Vademecum-Vadetecum.

„Es lockt dich meine Art und sprach,

Du folgest mir, du gehst mir nach?

Geh nur dir selber treulich nach: –

so folgst du mir – gemach! gemach!1

Friedrich Nietzsche, der etwas andere Philo-

soph. Oftmals missbraucht und missverstan-

den, wirft man Nietzsche auch heute noch so

einiges Ungeheuerliches vor – z.B. die Popu-

larisierung des Nihilismus. Dabei war gerade

Nietzsche es, der den europäischen Nihilismus

frühzeitig erkannte und gegen ihn ankämpfte.

Nietzsche forderte die Umwertung aller Werte,

die jedoch nicht seiner persönlichen Willkür ge-

schuldet war, sondern der Erkenntnis, dass die

aufrechterhaltenen Werte nicht mehr von Bedeu-

tung erfüllt waren. In einer Zeit der gesellschaft-

lichen und nationalen Umstrukturierung wurden

1 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft .In: Kritische Studienaus-

gabe. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 8.Auflage 2011.Berlin/

New York: de Gruyter, 1999 [Bd.3,], S. 354

viele Traditionen zu Worthülsen. Daher war es

für Nietzsche notwendig „einen neuen sinn in

das sinnlos Gewordene zu legen.“2 Aus dieser

Position heraus, verlautet er auch den oft aus

dem Zusammenhang gerissenen Ausspruch

„Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben

ihn getödtet.“3 Was er damit ausdrücken wollte:

Das Prinzip Gott, der moralische Anker verhakt

sich nicht mehr vollständig im Meeresgrund des

menschlichen Handelns. Gott ist dem mensch-

lichen Denken überdrüssig geworden, der

Mensch hat die auf Gott bezogenen Wirkungs-

felder verbannt. Somit ist die Integrität der Wer-

te und damit auch die derjenigen, die an ihnen

festhalten, bedroht. Die Moral referiert auf nichts

mehr. Was folgt ist eine Verneinung der Welt und

eine Projizierung des Lebens auf ein jenseitiges

Paradies. Doch „[w]enn man das schwerge-

wicht des Lebens nicht ins Leben, sondern

ins »Jenseits« verlegt – ins Nichts –, so hat

man dem Leben überhaupt das schwerge-

2 Nachlass 2. KSA 12, S. 113

3 Die fröhliche Wissenschaft. KSA 3, S. 480

Friedrich Nietzsche – auf den Spuren eines freien Geistes

Warum man ihn neu erfinden muss, um ihm zu folgen.

Ideenkreis

Von Dominik Herold

56 cog!to 06/2013

wicht genommen.“4 Aus dieser Notlage heraus ent-

wickelt Nietzsche den Übermenschen, um dieses

Vakuum sinnvoll zu schließen. Dieser trägt Gott nun

in sich, er hat das schöpferische Prinzip einverleibt.

Anstatt auf ein erfülltes Nachleben zu speku-

lieren, richtet Nietzsche seinen Fokus auf das Dies-

seits. Indem der Mensch seine theogonische Kraft

anerkennt, bereit ist sein Schicksal zu wollen und

die Grausamkeiten des Lebens aushalten, sie nicht

hinzunehmen, sondern anzunehmen und darin zu

erstarken, zeigt er seinen Willen zu Macht. So sagt

Nietzsche: Überall „wo Leben ist, da ist auch Wil-

le: aber nicht Wille zum Leben, sondern […] Wil-

le zur Macht!“5 „Amor fati“ – liebe dein Schicksal.

Das Notwendige des Lebens zu lieben, bedeuten

ihm etwas hinzuzufügen, sodass dieses sich ver-

ändert. Macht über sich selbst und damit über das

Leben zu gewinnen. Der Nihilist dagegen weiß die-

se Lücke nicht zu schließen, der „letzte Mensch“-

wie ihn Nietzsche nennt- hat dieses einst von der

Menschheit erschaffende Prinzip Gott komplett

verloren. Etwas nicht zum Le-

ben gehörig empfinden, ist laut

ihm lebensverneinend und dem

menschlichen Handeln schäd-

lich. Um nun diese dekadent werdende europä-

ische Kultur vom „Wertloswerden der obersten

Werte“6 zu beschützen, lässt er folglich seinen Za-

rathustra auftreten, damit dieser den Prozess der

Neuerfindung der Werte einleitet. Die Werte der

Starken – im Kampf gegen den Nihilismus. Nietz-

sche schafft es jedoch nicht den Prozess zu Ende

zu bringen, der Zeitgeist bemächtigt sich seiner

Aussagen und Nietzsche bleibt partiell im „ressen-

timentgeladenen unvollständigen Nihilismus“7

stecken. Der Übermensch bleibt eine Idee.

4 Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. München 1954, Band

2, S. 1205

5 Also sprach Zarathustra. KSA 4, S. 149

6 Heidegger, Martin: Holzwege. Klostermann, Frankfurt 1994, 223

7 http://www.utb-profile.de/philosophie/friedrichnietzsche/ aufgerufen am

22.02.2013

Doch der Philosoph hinterließ uns eine

Möglichkeit ihm zu folgen, ohne auf seinen

Spuren wandeln zu müssen. Nietzsche lässt

Zarathustra von den drei Verwandlungen er-

zählen und offenbart damit den Zielcharakter

des von ihm ausgelösten Prozesses. „Wie der

Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das

Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe“8, so

müssen wir Menschen das eigene Wertsystem

in dessen ständiger Fluktuation und Entwick-

lungsbedürfitgkeit anpassen.

Nietzsche zeichnet ein dreiteiliges Bild.

Zuvörderst muss der Mensch Leidensfähigkeit

ausbilden, er muss - wider seiner Natur - eine

Erniedrigung gegen die aktuellen Zustände

auszuhalten wissen, gleichwohl er Missstän-

de erkannt hat. Es folgt die Weiterentwicklung

zum Löwen, der gegen die vorherrschenden

bedeutungslosen Wertesysteme rebelliert. In

ihm liegt ein destruktives, chaotisches Ele-

ment, das nur mittelfristig zielführend ist.

„Neue Werte schaffen – das

vermag auch der Löwe noch

nicht: aber Freiheit sich schaf-

fen zu neuem schaffen – das

vermag die Macht des Löwen.“9 Darum be-

darf es einer abschließenden Transformation.

„Ein aus sich rollendes rad, eine erste Bewe-

gung, ein heiliges Ja-sagen“10 – eine Leich-

tigkeit und Losgelöstheit, dass die Dinge ihren

Lauf nehmen, symbolisiert durch die Unschuld

des Kindes. „[D]iese […] dionysische Welt des

Ewig-sich-selber-schaffens, des Ewig-sich-

selber-Zerstörens […]Diese Welt ist der Wille

zur Macht – und nichts außerdem!“11 Akzep-

tiert der Mensch diese an Heraklit erinnernde

Weisheit, schafft er es „die ewige Lust des

Werdens selbst zu sein“12. Dieses laut Nietz-

8 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2,

S. 293-295

9 Ebd.

10 Ebd.

11 Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. München 1954, Band

3, S. 918

12 Nietzsche Friedrich:: Werke in drei Bänden. München 1954, Band

2, S. 1032

Amor fati oder die Bejahung des Lebens

Ideenkreis

57cog!to 06/2013

sche der Welt ureigene Prinzip der zyklischen Wie-

derkehr zu verstehen, nicht zu zerbrechen ist der

abschließende Schritt. Der Sprung ins Wagnis, zur

Realisierung des modernen (Über)Menschen - eine

ewig währende notwendige Entwicklungsreihe.

Ein Balanceakt über dem Abgrund

„Nicht nur sollst du dich pflanzen fort, sondern

hinauf“13 ließ er Zarathustra einst voll der Hoffnung

verlauten. Seit dem vollzog sich über ein gesam-

tes Jahrhundert mitsamt eini-

gen großartigen Veränderun-

gen. Doch nicht überall haben

wir uns auch zielführend wei-

terentwickelt. Fortgepflanzt

hat sich der Mensch, aber was fehlt ist der Seil-

tanz zwischen der alten, überdrüssigen Welt des

Löwen und der neuen zukunftsreifen des Kindes.

Nachdem Nietzsche zwei Drittel des Weges über

den Abgrund tänzelte, hängen wir fest über der

Schlucht zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Dabei sehnen wir uns mehr denn je nach

dem Ziel und dem reinigenden Prozess der Um-

wertung. Es gilt das letzte Drittel zu meistern, sich

diesem anzunehmen. Diesem sollen die freien

Geister nachkommen, nicht alte Wahrheiten ak-

zeptieren, sondern Neue schaffen. Denn wir „frei-

en, sehr freien Geister – wir haben sie noch, die

ganze Noth des Geistes und die ganze spannung

seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil“14,

der sich danach sehnt endlich ausgeschossen zu

werden. In das Ungewisse – in unser Morgen. Ja,

wir freien Geister sind mächtig darüber unseren

Köcher voller Pfeile kraft unserer Geschichte, kraft

des dem Leben innewohnenden Prinzips der ewi-

gen Wiederkehr abzuschießen. Und wir müssen es:

Um die mühsam erkämpfte Freiheit beizubehalten.

13 Ebd. S. 332

14 Ebd. S. 566

In keinem andren sinne will das Wort „freier

Geist“ hier verstanden werden: ein  freige-

wordener Geist, der von sich selber wieder

Besitz ergriffen hat.15 Derjenige der über sich

selbst siegt und damit Frieden schließt in einer

Welt des zerberstenden Krieges. Nietzsche

wollte keine Jüngerscharen, um sich tumultie-

ren sehen. Was ihn erfreut hätte, wären Men-

schen die seine Philosophie bis auf das Kleinste

zerrissen und aus diesen Fetzen etwas Neues

gebaut hätten. „Denn was nicht ist, das kann

nicht wollen; was aber im Da-

sein ist, wie könnte das noch

zum Dasein wollen!“16 Das,

was er hinterlassen und das was

bereits da ist, einzuverleiben,

zu vernichten und neu zu interpretieren - das

ist der Wille zu Macht und vor allem zu sich

selbst! Eben dann wenn sie dem zarathustra-

nischen Prinzip folgen, nicht die Lehre, son-

dern die Leere zu schwängern. Wenn sie den

Mut haben, sich gegen den Meister zu stellen.

Und mit dem gemeinsam gebauten Schiff in

ihr eigenes Abenteuer zu fahren. Denn „[e]nd-

lich dürfen unsere schiffe wieder auslaufen,

auf jede Gefahr hin auslaufen, jede Wag-

niss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das

Meer, unser Meer liegt wieder offen da, viel-

leicht gab es noch niemals ein so »offenes

Meer«.“17 Nun liegt es an uns, das unbekann-

te Terrain von neuem zu befahren und uns

mit dem Rad zu drehen. Denn eines ist sicher:

Egal ob wir stehen bleiben oder nicht, die Welt

dreht sich auch ohne unser Dazutun weiter.

Stagnieren wir und scheuen die Veränderung

sind wir potenzielle Förderer einer neuen Frat-

ze, des alten immer wiederkehrenden Nihilis-

mus. Ob wir wollen oder nicht.

15 Ebd. S. 1118

16 Also sprach Zarathustra. KSA 4, S. 149

17 Die fröhliche Wissenschaft. KSA 3, S. 574

Ideenkreis

Das Notwendige des Lebens zu lieben, bedeuten ihm

etwas hinzuzufügen, sodass dieses sich verändert.

Von Dominik Herold

58 cog!to 06/2013

Was zur metaphysischenLesart des Tractatus einlädtAlle philosophischen Probleme seien, so behauptet

Ludwig Wittgenstein im Vorwort des Tractatus, auf ein

„Mißverständnis der Logik unserer Sprache“ zurückzu-

führen. Um die Philosophie dieser Irrungen und Wir-

rungen zu entledigen, nimmt er eine Analyse unserer

Sprache vor: Indem er die Möglichkeiten des Sagbaren

aufzeigt, werden auch dessen Grenzen deutlich. Das

führt im Ergebnis zu einer harschen Absage an die phi-

Ist der Tractatus Unsinn?

Die Transzendentalität der Logik, oder wieso Ludwig Wittgenstein

Metaphysiker war

Ideenkreis58 cog!to 06/2013

Von Lisa Zacharski

Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philo-

sophicus behauptet die Unmöglichkeit einer

Metaphysik als Wissenschaft; ihre Inhalte sei-

en nicht auszusagen, die Disziplin könne da-

her nichts als (im sprachlichen sinne) unsinni-

ge sätze hervorbringen. Die Aufforderung, mit

der das Werk endet, ist eindeutig: „Wovon man

nicht sprechen kann, darüber muß man schwei-

gen“ – und verurteilt die philosophische Diszi-

plin der Metaphysik zur Untätigkeit. Dennoch

finden sich im Tractatus Anhaltspunkte für

eine metaphysische Lesart des Werkes. Ausge-

hend von der Kantischen Transzendentalphi-

losophie der Kritik der reinen Vernunft können

Parallelen zwischen dieser und Wittgensteins

Frühwerk gezogen werden. Behauptet der Trac-

tatus die Logik als transzendental, so kann das

Werk selbst als Analyse unserer Erkenntnisart,

als Transzendentalphilosophie – und damit als

Metaphysik verstanden werden. Wittgensteins

schrift, mit der er der Philosophie ihre Unsin-

nigkeit austreiben wollte, wäre schließlich selbst

nichts weiter als Unsinn.

59cog!to 06/2013

losophische Tradition: Über metaphysische Inhalte

lässt sich nichts aussagen, alle Sätze dieser Disziplin

sind daher unsinnig – zumindest im sprachlichen

Sinne.

Was lädt bei einem Philosophen, der die-

se Disziplin zum Schweigen verurteilt, dazu ein ihn

selbst als Metaphysiker zu sehen? Ausgehend von

der Behauptung Wittgensteins, dass die Logik tran-

szendental sei (vgl. Tractatus, 6.31), schlage ich eine

Brücke über das Kantische Unternehmen der Kritik

der reinen Vernunft, in dem Kant die Bedingun-

gen und Möglichkeiten menschlichen Erkennens

analysiert. Obwohl sich die Tradition der Analyti-

schen Philosophie, für die Wittgensteins Schriften

wegweisend waren, von dem Denken Kants und

dessen idealistischen Nachfolgern absetzen woll-

te, werde ich aufzeigen, dass der Tractatus Paral-

lelen zur Kantischen Idee einer Transzendentalphi-

losophie aufweist. Ist also dessen Verständnis von

Transzendentalität aufgezeigt, wird uns die Darle-

gung der Unterscheidung Wittgensteins zwischen

sinnvollen und unsinnigen Sätzen im Tractatus

dazu führen, inwiefern die Logik dort als transzen-

dental und dieses Werk selbst als Metaphysik zu

verstehen ist.

Die Transzendental-philosophie Immanuel KantsDie Metaphysik zur Wissenschaft zu erheben, ist

Ziel der Kritik der reinen Vernunft, wofür die Me-

thode unseres Erkennens von wesentlicher Bedeu-

tung ist. Anders als die Naturwissenschaften will

die Metaphysik nicht aufdecken, wie die erfahrba-

re Welt ist. Vielmehr will sie herausfinden, wieso

diese so ist, wie sie ist. Wie ihr Name schon verrät,

geht sie dazu über das Wissen der Physik hinaus;

ihre Gegenstände liegen nicht in der erfahrbaren

Welt. Sollte es uns möglich sein, Erkenntnis über

diese zu gewinnen, müssten wir daher imstande

sein, von der Sinneserfahrung unabhängig zu Wis-

sen zu gelangen. Die Kritik der reinen Vernunft

stellt eine Analyse unseres Erkenntnisvermögens

dar und soll zeigen, ob wir zu solchen Erkenntnis-

sen a priori in der Lage sind.

Erfahrung ist für Erkenntnis wesentlich.

Kant gelangt jedoch zu dem Ergebnis, dass wir

unser Wissen nicht unmittelbar aus der Erfah-

rung schöpfen, diese ist vielmehr selbst von un-

serem Erkenntnisvermögen abhängig. Denn die

Anschauungsformen Raum und Zeit sortieren den

Ansturm der Sinneseindrücke, dem der Mensch je-

derzeit ausgesetzt ist, zu einheitlicher Erfahrung;

alle Wahrnehmung ist deshalb bereits zeitlich und

räumlich geordnet. Die Kategorien unseres Ver-

standes schließlich ermöglichen die Zusammen-

setzung der Erfahrung zu Erkenntnissen über die

Welt. Die Beschaffenheit unseres Erkenntnisver-

mögens ist deshalb eine wesentliche Bedingung

für unser Erkennen; gleichzeitig begrenzt sie des-

sen Möglichkeiten: Denn außerhalb der Anschau-

ungsformen und Kategorien unseres Verstandes

ist uns solches unmöglich. Die Dinge, wie sie an

sich sind, bleiben uns verwehrt – wir sind nicht im-

stande die Wirklichkeit zu erkennen. Die uns allen

zugängliche, objektive Welt ist vielmehr so, wie sie

uns durch die Beschaffenheit unseres Erkenntnis-

vermögens erscheint.

Die einzigen uns möglichen Kenntnisse a

priori betreffen unser Erkenntnisvermögen selbst:

Unabhängig von der Erfahrung und der Beschaf-

fenheit unseres Verstandes können wir nur die

genannten Voraussetzungen unseres Wissens ein-

sehen (selbst die Erkenntnisse der Mathematik und

Physik bedürfen der räumlichen Anschauung (vgl.

KrV B 41). Solche Kenntnisse, die die Art mensch-

lichen Erkennens betreffen, nennt Kant trans-

zendental, die vorgenommene Analyse unseres

Erkenntnisvermögens bezeichnet er als Transzen-

dentalphilosophie. Es wird sich zeigen, dass auch

der Tractatus Aufschluss über unsere epistemi-

schen Möglichkeiten gibt, indem er die Logik un-

serer Sprache analysiert.

Über sprachlichenSinn und UnsinnDem frühen Wittgenstein zufolge, dient Sprache,

einzig und allein der Abbildung der Welt. Er ver-

tritt ein korrespondenztheoretisches Verständnis

von Wahrheit und behauptet eine Aussage genau

dann als wahr, wenn sie mit der objektiven Welt in

gewisser Weise übereinstimmt. Mit einer Klärung

dessen, was Welt bedeutet, eröffnet Wittgenstein

deshalb sein Werk: Die Welt besteht keineswegs

aus einzelnen (logischen) Gegenständen; diese

existieren vielmehr nur in Relationen zu anderen.

Dieses Bestehen – und ebenso das Nichtbeste-

hen – eines sogenannten Sachverhalts bezeich-

net Wittgenstein als Tatsache. Die „Gesamtheit der

Tatsachen“ ist die objektive Welt, diese ihre Struk-

tur nennt er eine logische.

IdeenkreisIdeenkreis

60 cog!to 06/2013

Ein Satz, der in der Korrespondenztheorie

des Tractatus als Wahrheitsträger dient, ist genau

dann wahr, wenn er als Abbild der Welt dient; dazu

muss er deren logische Struktur aufweisen. Das be-

deutet zweierlei: 1) Die im Satz enthaltenen Namen

verweisen auf einen real existierenden, logischen

Gegenstand in der Welt. 2) Die Namen stehen zu-

einander in einer Beziehung, die der Relation der

Dinge in einem möglichen Sachverhalt entspricht.

Erfüllt ein Satz diese Anforderungen kann er als

Abbild der Welt dienen, kann logisches Bild sein.

Hieraus ergibt sich Wittgensteins Defini-

tion von (sprachlichem) Sinn: Er nennt einen Satz

sinnvoll, wenn er einen möglichen Sachverhalt

abbildet; für die Sinnhaftigkeit eines Satzes ist es

irrelevant, ob der Sachverhalt tatsächlich besteht

oder nicht besteht. Erst Wahrheit bzw. Falschheit

von Sätzen sind zu verstehen als Übereinstim-

mung bzw. Nichtübereinstimmung des Satzsin-

nes mit der Welt. Genaugenommen dienen also

in Wittgensteins Korrespondenztheorie nicht Sät-

ze im Allgemeinen, sondern nur sinnvolle Sätze

als Wahrheitsträger, d.h. solche, die der logischen

Struktur der Welt entsprechen.

Da Wittgenstein eine Übereinstimmung

der Struktur der objektiven Welt mit der Logik un-

serer Sprache behauptet, sind wir in der Lage, die

gesamte (logische) Welt sprachlich zu erfassen.

Metaphysische Inhalte hingegen sind per defini-

tionem nicht in der logischen Welt anzutreffen.

Die Disziplin befasst sich überhaupt nicht mit Ge-

genständen der erfahrbaren Realität, die in ihren

Sätzen verwendeten Namen beziehen sich daher

nie auf logische Gegenstände. Sie bilden keinen

Sachverhalt ab und weisen deshalb auch niemals

sprachlichen Sinn auf; die Sätze der Metaphysik

sind somit unsinnig. Dass sich die Philosophie den-

noch seit jeher an dieser Disziplin versucht, liegt

am, im Vorwort angesprochenen, Missverständ-

nis der Logik unserer Sprache: Die Sätze scheinen

zwar eine logische Form zu haben (vgl. Tractatus,

4.1272); dass das Gegenteil der Fall ist, meint Witt-

genstein im Tractatus jedoch endgültig aufgezeigt

haben und verurteilt die Vertreter ihrer Disziplin

deshalb zum Schweigen.

Die Trans-zendentalität der LogikBehauptet der Tractatus die Logik aber als trans-

zendental, spricht das für eine idealistische Lesart

des Werkes: Unsere Sprache hängt nicht von der

Struktur der Welt ab; vielmehr erkennen wir in der

Welt eine logische Struktur allein deshalb, weil un-

sere Sprache sie bereits aufweist. Denn einen Satz

versteht Wittgenstein als die sinnlich wahrnehm-

bare Artikulation des Gedankens (vgl. Tractatus,

3.1): Die logische Struktur, die unsere Sprache auf-

weist, ist also diejenige unseres Denkens. „Wir kön-

nen nichts Unlogisches denken, weil wir sonst un-

logisch denken müssten“, behauptet Wittgenstein

deshalb in Satz 3.03 seines Werkes – nicht logisch

zu denken, ist uns schlicht unmöglich. Kenntnis-

se über die Logik geben also nicht nur Aufschluss

über eine adäquate Verwendungsweise unserer

Sprache, sondern sie erhellen darüber hinaus un-

sere epistemischen Möglichkeiten wie Grenzen.

Die Analyse der Logik unserer Sprache des Trac-

tatus betrifft daher unsere Art der Erkenntnis, wie

die Darlegung der Anschauungsformen und Kate-

gorien des Verstandes in der Kritik der reinen Ver-

nunft. Die Logik kann deshalb als transzendental

und das Werk, das deren Struktur darlegt, als Tran-

szendentalphilosophie verstanden werden.

Wittgenstein will also wie Kant klären, wie

uns Kenntnis über die erfahrbare Welt möglich ist

und zieht zugleich eine Grenze zwischen Erkenn-

barem und Metaphysischem. Im Tractatus wird

diese in der Unterscheidung zwischen sinnvollen

und unsinnigen Sätzen deutlich; Kant vollzieht sie

durch die Einführung des Dinges an sich: Die ob-

jektive Welt, wie sie uns erscheint, ist nicht dieje-

nige der Dinge, wie sie an sich sind. Die Wirklich-

keit bleibt uns vielmehr verschlossen, weil wir nur

durch und im Rahmen unseres Erkenntnisvermö-

gens erkennen können. Ebenso ist nach Wittgen-

stein „[d]er Satz […] ein Modell der Wirklichkeit,

so wie wir sie uns denken“ (Tractatus, 4.01): Die

objektive Welt, die uns allgemeingültige Wahrheit

ermöglicht, ist diejenige, die wir dank unserer logi-

schen Denkstruktur erkennen – ob sie tatsächlich

so ist, bleibt meines Erachtens fraglich.

Die Grenze menschlicher Erkenntnis ist

damit sowohl bei Kant als auch bei Wittgenstein im

Subjekt selbst anzusiedeln: Die Logik als unsere Art

zu denken, dient als einheitliche Beschaffenheit

Ideenkreis

61cog!to 06/2013

unseres Erkenntnisvermögens – genau wie die

Kantischen Anschauungsformen und Kategorien.

Durch sie haben wir Zugang zu einer objektiven

Welt, was Wahrheit im Sinne einer Korrespon-

denztheorie ermöglicht. Beide Werke klären also,

wie objektive Gültigkeit möglich ist, indem sie

Aufschluss über unsere Erkenntnisart geben, d.h.

Transzendentalphilosophie betreiben – behaup-

ten aber nicht notwendig die Wirklichkeit der er-

kennbaren Welt.

Der Tractatus als metaphysisches WerkTrotz der Unmöglichkeit der wissenschaftlichen

Erkennbarkeit metaphysischer Ideen, verfasst

Kant im Anschluss an die Kritik der reinen Ver-

nunft metaphysische Schriften. Zwar schreibt er

der Metaphysik den Status einer objektivierenden

Wissenschaft ab, legitimiert aber zugleich die

Möglichkeit metaphysischer Ideen und räumt

der Disziplin dadurch Raum ein, den sie vor der

vorgenommenen Grenzziehung nicht beanspru-

chen hätte dürfen. Metaphysische Inhalte mö-

gen nicht erkennbar sein, aber zumindest wider-

spruchslos denkbar im Zusammenhang mit der

uns begegnenden Welt der Erscheinungen. Die

Bedeutung dessen lässt sich am Begriff der Frei-

heit kurz verdeutlichen: In der erfahrbaren Welt,

in der Kausalität (eine Kategorie des Verstandes)

vorherrscht, könnte der Mensch nicht wider-

spruchslos als frei gedacht werden, seine Hand-

lungen müssten immer als Folge einer vorher-

gegangenen Ursache verstanden werden. Durch

die Grenze zwischen Welt der Erscheinungen

und Welt der Dinge an sich lässt sich die absolute

Freiheit eines Menschen allerdings denken, näm-

lich als im Bereich der Dinge an sich verortet.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der

Grenze, die Wittgenstein zwischen Erkennbarem

und Metaphysischem zieht. Zwar zieht er die ra-

dikalere Konsequenz, fordert das Schweigen der

Disziplin und zieht sich bekanntlich nach der Ver-

öffentlichung seines Frühwerks zunächst selbst

aus der Philosophie zurück. Wie sein Vorgänger

Kant schafft er durch die Grenzziehung dennoch

Platz für der Möglichkeit der Metaphysik: Ihre

Inhalte sind zwar nicht auszusagen, nicht zu er-

kennen – aber sie können sich in der erfahrbaren

Welt zeigen.

Eine vollkommene Absage will Wittgen-

stein der philosophischen Disziplin also nicht

erteilen. Aber nicht nur im Herzen ist er als Me-

taphysiker zu verstehen: In der Analyse der Lo-

gik unserer Sprache geht er im Tractatus selbst

über die Möglichkeiten des Sagbaren hinaus. Wie

Kants Transzendentalphilosophie dadurch, dass

sie Kenntnisse a priori hervorbringt, im Versuch

die Metaphysik zur Wissenschaftlichkeit zu erhe-

ben, zu ihrem ersten Teile wird (vgl. KrV B XVIII),

begibt sich Wittgenstein in der Erklärung über un-

sere Erkenntnisart auf den Boden der Metaphysik

und damit in den Bereich des nicht sinnvoll Sag-

baren. Diese metaphysische Lesart des Tractatus,

bestätigt sich in seinem vorletzten Satz, durch

den Wittgenstein einräumt: „Meine Sätze erläu-

tern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht,

am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie

– auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist.“ – Im

Versuch die Unmöglichkeit einer Metaphysik als

Wissenschaft darzulegen, bedient sich Wittgen-

stein ihrer selbst. Der Tractatus ist also rein meta-

physisch – und damit als Unsinn zu verstehen.

Zitiert aus:• Wittgenstein,Ludwig:Tractatus logico- philosophicus. Logisch-philosophische

Abhandlung, Frankfurt am Main: edition

suhrkamp, 2003 (nach Sätzen)

• Kant,Immanuel:Kritik der reinen

Vernunft,Hamburg: Felix Meiner

Verlag, 1998 (nach der Akademiea

usgabe)

Von Lisa Zacharski

Ideenkreis

Zitiert aus:• Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-

philosophicus. Logisch-philosophische

Abhandlung, Frankfurt am Main: edition

suhrkamp, 2003 (nach Sätzen)

• Kant, Immanuel: Kritik der reinen

Vernunft,Hamburg: Felix Meiner Verlag,

1998 (nach der Akademieausgabe)

62 cog!to 06/2013

Vorrede

Liebe Leser,1

innen nicht einmal angestaubt entpuppt sich bei nä-

herem Hinsehen manchmal, was äußerlich „[t]ief“ in

den „Brunnen der Vergangenheit“2 gefallen scheint.

So hat sich Immanuel Kant bereits im 18. Jahrhundert

der Aufgabe gewidmet, die Hintergründe und Vor-

wände zu erforschen, die in heutiger Zeit jedes Vor-

spiel zur reinen „Höllenfahrt“ machen (der Philosoph

hat aus seinen theoretischen Studien auch die prak-

tischen Konsequenzen gezogen und niemals gehei-

ratet). Zwei Jahrhunderte der intensiven Forschung

konnten der Frische und Lebendigkeit seiner Schrif-

1 Wer von dieser Aufdringlichkeit beleidigt wird, möge mit Schwung

in die nächste Zeile springen und das Komma um ein Wort nach hinten

versetzen.

2 Thomas Mann: Die Geschichten Jaakobs, erster Satz.

ten nichts anhaben – indes seiner tiefen Einsichten

auch nicht immer teilhaftig werden. Die Kantische

Philosophie hält bei unvoreingenommener Lek-

türe noch immer viele wertvolle Gedanken bereit.

Der Beginn seiner ersten Kritik lautet: „Die

menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal

in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fra-

gen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn

sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst auf-

gegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann,

denn sie übersteigen alles Vermögen der menschli-

chen Vernunft. In diese Verlegenheit gerät sie ohne

ihre Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren

Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich

und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist.“

Doch ab einem gewissen Punkt „stürzt sie

sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen

sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo verborge-

ne Irrtümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber

nicht entdecken kann […]. Der Kampfplatz dieser

Kritik der reinen UnvernunftEin ironischer Kommentar zur Gender-Debatte Von robert Treidl

Ideenkreis

63cog!to 06/2013

endlosen Streitigkeiten heißt nun M e t a p h y s i k .“

Damit ist der entscheidende Punkt berührt. Der

wissenschaftliche Dienst des deutschen Durch-

schnittsbürgers führt dazu aus: „Die Metaphy-

sik (lateinisch metaphysica, von griechisch μετά,

metá, „danach, hinter, jenseits“, und φύσις, phýsis,

„Natur, natürliche Beschaffenheit“) ist eine Grunddis-

ziplin der Philosophie.“3 Während die Physik schon zu

Kants Zeiten auf dem sicheren Weg der Wissenschaft

wandelte und mit den natürlichen biologischen Un-

terschieden zwischen den Geschlechtern (i.  S.  v.

„sex“) gewiss vertraut war, kann dieses Urteil der Me-

taphysik, die sich mit den Fragen befasst, die über

diese Merkmale hinausgehen, auch heute noch nicht

ausgestellt werden. Gleichwohl scheint die Thematik

brisanter geworden zu sein: Gender-Fragen sind Ge-

genstand nicht nur immer neuer wissenschaftlicher

Untersuchungen („Gender-Studies“), sondern auch

unzähliger leidenschaftlicher (bis lächerlicher) Streit-

schriften.

3 Aufgerufen am 12. April 2013.

Sie sind tatsächlich zu einer „nicht abweisbaren Be-

lästigung“ im Alltag geworden, und mittlerweile so-

gar salonfähig.

Transgendentale AnalytikDie Universität zu Köln hat dieses Jahr, ganz in der

Tradition Kants, einen „Leitfaden“ veröffentlicht,

Titel: „ÜberzeuGENDERe Sprache“. Die Schreib-

weise des Titels legt nahe, sofort Drittmittel für

das Forschungs- und Editionsprojekt „Über Zeu-

gen der e-Sprache“ zu beantragen (lol). Doch sei

in der Analytik jeder Spott fern, denn es geschieht

schnell, dass man anderen vorwirft, sie melkten

den Bock, während man selbst doch das Sieb un-

terhält (wie die Alten sagen (wie Kant sagt)4). So

gibt sich etwa ein nicht richtig überleGENDER Ver-

kehrsrechtsexperte des Auto Clubs Europa eine

Blöße, wenn er die neue, geschlechtsneutralisier-

4 KrV A 58/B 83.

Ideenkreis

3 Aufgerufen am 12. April 2013.

64 cog!to 06/2013

te StVO unter dem Gesichtspunkt kritisiert, dass

es ihm vorgekommen sei, als habe der Verkehrs-

minister „kurzerhand einen Studienabbrecher im

Fach Germanistik“ engagiert, um aus Fußgängern

und Rollstuhlfahrern „zu Fuß Gehende“ und „Fah-

rende von Rollstühlen“ zu machen – vermeintlich

nicht sehr konsequent: Polizeibeamte nämlich sei-

en weiterhin Polizeibeamte (SZ vom 27. März 2013).

Der Experte scheint die gebotene Rücksicht auf „Be-

amtinnen“ zu vermissen, doch zeigt der Blick in ein

verlässliches Wörterbuch, dass das Wort „Beamte(r)“

für „Beamtete(r)“ steht, denn „in dieser substantivi-schen anwendung hat sich die alte, gekürzte form des part. praet. beamt für beamtet erhalten“.5 „Be-

amte“ lassen sich also, wie „Studierende“, nicht mehr

‚gendern‘, allenfalls vom Duden, der den besonderen

Hinweis gibt: „Um gehäuftes Auftreten der Doppel-

form Beamtinnen und Beamte zu vermeiden, kann

die Ausweichform Beamtenschaft gewählt werden.“

Mehr Möglichkeiten, der eigenen Sprache aus dem

Weg zu gehen, allerdings mit dem über die Frage des

Stils hinausgehenden Anspruch, das Problem falscher,

d. h. oft unvollständiger, Assoziationen mit Formulierun-

gen im zwar nur generischen, aber doch eindeutigen

Maskulin zu vermeiden, zeigt der erwähnte „Leitfaden

für eine geschlechtersensible und inklusive Sprache“

der Kölner Universität auf: Beidnennung („Studentinnen

und Studenten“), Splitting („Student/inn/en“), Binnen-I

(„StudentInnen“), Gender-Gap („Student_innen“) und

Gender-Sternchen („Student*innen“). Außerdem kann

man neutrale Substantive verwenden („Lehrgut“ o. Ä.).

So weit, so gut.

Transgendentale Dialektik

Die solchen Vorschlägen zu Grunde liegende De-

batte dreht sich um Sinn und Unsinn gender-sensib-

ler Formulierung im Zusammenhang mit einer im-

mer noch unübersehbaren Ungleichbehandlung von

Männdern und Frauen in vielen Bereichen des Le-

bens. Setzt eine allgemeine Bewusstseinsänderung

in Bezug auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten

voraus, dass das Bewusstsein davon, was Sprache

bewirkt, geweckt wird? Hat es der Schwarze leich-

ter als der Neger? Und ist er als Maximalpigmen-

tierter nun vollständig integriert? Zum Zeitvertreib

betrachtet man vielleicht die Kandidaten und wägt

5 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, s. v. Dort

findet man auch das entsprechende Verb „beamten“.

ihre Vorzüge und Nachteile ab. Man betrachtet

etwa das Binnen-I und überlegt, wie es auszuspre-

chen ist. Oder man klagt über die schließlich ma-

nifestierte Differenz der Geschlechter voneinander

im Gender-Gap, bis man in die Diskussion darüber

gerät, ob die Lücke alle nicht eindeutig männli-

chen oder weiblichen Identitäten verneine oder

ihnen doch Entfaltungsspielraum gewähre. Das

Sternchen drückt ja auch viel besser die Vielfalt der

möglichen Ausrichtungen der eigenen Persönlich-

keit aus – sechs, genau genommen. Vielleicht gibt

es bald einen Gender-Kringel („Student°innen“),

der keine hervorgehobene Position kennt und

überdies die Solidarität aller betont. In der eigentli-

chen Frage ist man damit jedoch nicht weiter: Wer

sich aus Prinzip dem Splitting verweigert, lässt sich

kaum vom Sternchen überzeugen, sondern erklärt

seinerseits, dass verzerrte Formulierungen, ge-

schluckt wie Placebos, nur Abhilfe schaffen, wenn

ein beeinflussbares Bewusstsein vorausgesetzt

werden kann. Das aber sei sehr zweifelhaft, wenn

man in einem ausdrücklich ‚gegenderten‘ Text

von „männlichen Studierenden“ liest, wo doch das

Wort „Studenten“ aus Sicht der Vertreter°_*Inn/en

genau in diesem Fall das passende sein müsste:

Sollte da etwa verhindert werden, dass mit „Stu-

denten“ auch Frauen assoziiert werden können?

Und wie ist der Lerneffekt derjenigen zu verstehen,

die zwar regelkonform von „Studentinnen und Stu-

denten“ sprechen (wobei meist gerade die Silbe,

auf die es ankommt, im Gesprächsfluss wieder zu

„-en“ verschliffen wird), aber weiterhin allein von

„Dozenten“, weil in diesem Fall die neue ‚gegen-

derte‘ Form noch nicht so oft und penetrant Ein-

gang ins Gehör gefunden hat, dass sie die alte ver-

drängen konnte? Wahrscheinlich hätten diejenigen

ebenso selbstverständlich andere Benennungen

übernommen (wie es auch bei Anglizismen der Fall

ist). Vielleicht, so fährt der Gender-Gegner fort,

habe es auch seine Vorteile, dass niemand über

die Bedeutung seiner Worte nachdenke, denn die

einsetzende Unterscheidung selbst dort, wo sie

nichts zur Sache tue (und bisher also mit guten

Gründen übergangen worden sei), zementiere die

„Geschlechtsapartheid“6. Statt eine Sprache, die

mit ihrer über lange Zeit gewachsenen Struktur

eine historisch-kulturelle Identität stifte, sinnlos

6 So der Titel eines im Friedrich Jahresheft VII abgedruckten Aufsatzes

von Gisela Breitling, ursprünglich: Kultur im Patriarchat, in: Mechthild

Jansen (Hrsg.): Frauenwiderspruch – Alltag und Politik, Köln 1986.

Ideenkreis

65cog!to 06/2013

zum sterilen Informationsinstrument zu verkrüp-

peln, sei es geboten, souverän mit der Vergangen-

heit umzugehen und ihr, ohne sie zu verleugnen,

eine neue gesellschaftliche Ordnung gegenüber

zu stellen. Sprache verändere sich ohnehin und

werde allmählich die gegenwärtigen sozialen Er-

rungenschaften widerspiegeln. Dass noch großer

Handlungsbedarf an den tatsächlichen Zuständen

bestehe, sei ja unabweisbar. Die Emanzipations-

wut aber macht währenddessen nicht einmal Halt

vor vermeintlichen patriarchalischen Fesseln wie

dem Wörtchen „man“, dessen Wurzel zumindest

geschlechtsneutrale, wenn nicht weibliche Bedeu-

tung zu haben scheint.7 Darf man einem Gerücht,

das dem Autor zu Ohren gekommen ist, Vertrau-

en schenken, haben im Gasteig in München auch

einmal Hinweisschilder mit der Aufschrift „Zu den

Autographinnen und Autographen“ zur entspre-

chenden Ausstellung gelotst.

Immanuel Kant verstand seine dialektischen

Bemühungen zuletzt als Versuch der allgemeinen

Beschwichtigung: Was wir auch sagen – eine Ent-

scheidung im metaphysischen Streit ist weder dog-

matisch noch empirisch zu erzwingen. Sondern

durch Kritik, weiß Kant, der geistige Jungbrunnen.

Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?8

Von robert Treidl

(unter Pseudonym eingereicht)

7 Für „man“ mit weiblichem Hintergrund

s. http:// frauensprache.com/man.htm (abgerufen am 27. April 2013);

zur Ableitung aus lat. „homo“ (mit Parallele zu frz. „on“) s. Deutsches

Wörterbuch von

8 Jacob und Wilhelm Grimm, s.  v.Mit diesem letzten Satz sei noch

einmal der Hinweis auf Thomas Manns Roman verbunden.

Sprache verändert sich ohnehin und wird allmählich die gegenwärtigen sozialen Errungenschaften widerspiegeln

Ideenkreis

66 cog!to 05/2013

PArTEINAHME

rUBrIK

Für Parteinahme führt die redaktion Interviews mit hochschulpolitischen Akteuren und bemüht sich um Artikel zu wichtigen Vorgängen an der Fakultät für Philosophie und der restlichen Universität. In dieser Ausgabe fragt Cog!to Dr. Annette Bulfon (FDP), Oliver Jörg (CsU) und Prof. Dr. Julian Nida-rümelin (sPD): Was ist Bildung für sie? Wichtig ist der redaktion dabei vor allem das

Wechselspiel zwischen Philosophie und Politik.

66 cog!to 06/2013

67cog!to 06/2013

Cog!to: Vielen Dank, dass Sie die Zeit für dieses

Interview gefunden haben. Starten wir mit

einer generellen Frage: Was sollten Ihrer

Meinung nach die Ziele einer gelungenen (Aus)

Bildung sein?

Julian Nida-Rümelin: Darüber habe ich in den

letzten Jahren viel nachgedacht und jetzt das Er-

gebnis in Gestalt eines kleinen Büchleins zur Phi-

losophie humaner Bildung präsentiert1 . In der Tat

scheint es mir eine der Hauptschwächen der ak-

tuellen Bildungsreform zu sein, dass sie – anders

vorausgegangene - nicht von einer philosophisch

begründeten Leitidee getragen sind. Humane Bil-

dung heißt immer den ganzen Menschen in allen

Stadien seiner Entwicklung im Blick zu haben,

nicht nur dessen kognitiven Fähigkeiten. Ästheti-

sche, soziale und ethische Fähigkeiten sind für die

Entwicklung der Persönlichkeit von gleicher Be-

deutung. Die Balance ist doppelt gestört: nicht so

sehr die Aneignung von Wissen, sondern die Ent-

wicklung eigenständiger Urteilskraft sollte im Mit-

telpunkt stehen und Kooperation und Wahrneh-

mungsfähigkeit, die soziale und die ästhetische,

auch die physische Dimension verdienen mehr

Aufmerksamkeit.

Cog!to: Frau Bulfon, Herr Jörg, was ist Bildung

für Sie?

Annette Bulfon: Bildung ist für uns Liberale ein

Bürgerrecht und eröffnet Chancen für persönli-

ches Wachstum und sozialen Aufstieg. Sie ermög-

licht gesellschaftliche Teilhabe und befähigt dazu,

wie Kant es sagt, sich seines eigenen Verstandes

zu bedienen. In einem rohstoffarmen Land wie

Deutschland sind Investitionen in Bildung die

besten Investitionen in unsere Zukunft. Die bil-

dungspolitische Schwerpunktsetzung der FDP ist

übrigens auch im konkreten Regierungshandeln

sichtbar: Bis 2013 investiert der Bund 12 Milliarden

Euro zusätzlich in Bildung und Forschung.

Oliver Jörg: Bildung ist der Schlüssel zu einer ak-

tiven Beteiligung am gesellschaftlichen Leben.

Deshalb sollte sie zum einen die Persönlichkeits-

bildung fördern und junge Menschen zu Mitgestal-

tung und Verantwortungsbereitschaft ermutigen.

Für den Start in ein erfolgreiches Berufsleben brau-

chen sie zum anderen das nötige theoretische wie

praktische Wissen und müssen gelernt haben, wie

sie sich neue Fertigkeiten aneignen können. Weil

lebenslanges Lernen immer wichtiger wird, sollte

gelungene Bildung im besten Falle auch Neugier

und den Wunsch zur Weiterentwicklung wecken

können.

Cog!to: Welche Rolle sollte Politik in der

Bildung spielen?

Nida-Rümelin: Die Schule ist keine Insel, sie ist Teil

der Gesellschaft und die politische Dimension des

Lebens in der Demokratie zu erfassen, muss ein

wichtiges Bildungsziel sein. Dies so zu vermitteln,

dass keine Parteinahme und keine unzulässige

Beeinflussung erfolgen, erfordert ein besonderes

Fingerspitzengefühl und eine gute Lehrerbildung.

Was ist Bildung für Sie? Ein Interview mit den Hochschulpolitikern Annette Bulfon (FDP), Oliver Jörg (CsU) und Julian Nida-rümelin (sPD) über Bildung, die Bologna-reform, die Zukunft der Exzellenzini-tiative und Frauenförderung.

1 Julian Nida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung. edition

Körber-Stiftung (Hamburg) 2013

Parteinahme

Das Interview führten Daniel Hoyer und Lukas Leucht.

68 cog!to 06/2013

Jörg: In der Demokratie gilt: Ohne Bürger ist kein

Staat zu machen. Die Vermittlung von demokra-

tischen Werten und Einstellungen sowie die Er-

mutigung zum Mitmachen und Einmischen sind

deshalb grundlegend für unser Gemeinwesen. Im

Kantschen Sinne (sapere aude!) sollte das gesam-

te Schulleben dazu ermuntern, sich seines eigenen

Verstandes zu bedienen und Urteilsfähigkeit zu

entwickeln. In diesem Sinne beschränkt sich po-

litische Bildung in der Schule auch nicht auf den

Sachunterricht, sondern geht zum Beispiel mit

der Schülervertretung, Mitwirkung der Schülerin-

nen und Schüler am Selbstbild der Schule, an der

schulischen Qualitätsentwicklung, Teilnahme an

Initiativen wie „Schule ohne Rassismus

– Schule mit Courage“ etc. darüber

hinaus.

Bulfon: Die Lehre von der

Politik spielt in der Bildung

eine große Rolle. In seinem

bedeutenden Werk „Vom

Geist der Gesetze“ stellt der

Philosoph und Staatstheo-

retiker der Aufklärung, Mon-

tesquieu, fest, dass Diktaturen

und Monarchien relativ einfache

Staatsformen seien, da sie lediglich die

Demut und den Gehorsam der Bürger benö-

tigen würden. Die republikanische Staatsform sei

die schwierigste, denn sie lebe vom Engagement

der Bürger und sie werde zusammenbrechen,

wenn dieses Engagement verloren gehe. Demo-

kratisches Verständnis muss von jeder Generation

also neu erworben und mit Leben gefüllt werden,

damit die Bundesrepublik Deutschland auch in Zu-

kunft eine gefestigte Demokratie bleibt.

Cog!to: Frau Bulfon, wie sieht ein angemessnes

Verhältnis von Freiheit und Verantwortung

aus?

Bulfon: Der berühmte Physiker Heinz von Förster

hat einmal gesagt: „Freiheit und Verantwortung

gehören zusammen. Nur wer frei ist und immer

auch anders agieren könnte‚ kann verantwortlich

handeln.“ Die Politik muss bei der praktischen Aus-

gestaltung dieses Verhältnisses den Rahmen setzen

und die Einhaltung des Rahmens gewährleisten, so

dass die Freiheit des Einzelnen bei der Freiheit des

Nächsten endet. Daneben kann die Politik den Ein-

klang von Freiheit und Verantwortung auch durch

wertegeleitete Bildung stärken.

Cog!to: Was ist Ihrer Meinung nach ein Erfolg

der Bologna-Reform? Wo braucht es eine

Reform der Reform?

Jörg: Bei den Kernzielen wie Transparenz und in-

ternationale Vergleichbarkeit, Mobilität und Aus-

tausch sowie einem stärkeren Anwendungsbezug

sind viele Fortschritte erreicht worden. Der

Bologna-Prozess – im Sinne einer dyna-

mischen langfristigen Entwicklung–

wird aber auch weiterhin Fragen

nach Veränderung und Verbesse-

rung aufwerfen. Gerade bei der

Studierbarkeit, den gebotenen

Wahlmöglichkeiten und der Prü-

fungsdichte gab es in der jüngs-

ten Vergangenheit Korrekturbe-

darf. Insbesondere auf spezielle

Vorrückerregelungen oder faktisch

zwingend wirkende Modulverknüpfun-

gen soll grundsätzlich verzichtet werden.

Cog!to: Herr Jörg, Sie beklagen öfter die zu

hohen Abbrecherquoten an den bayerischen

Universitäten. Was würden Sie tun, um diesen

Zustand zu ändern? An der LMU wird die

Einführung eines Studium Generale diskutiert.

In den ersten Semestern soll den Studierenden

so die Möglichkeit gegeben werden in

verschiedene Fachbereiche reinzuschauen um

herauszufinden, wo Ihre Stärken liegen. Ist das

der richtige Weg oder präferieren Sie eine

andere Alternative?

Jörg: Um die Studienerfolgsquote zu erhöhen,

müssen wir genauer wissen, wo die Gründe für

die hohen Abbruchquoten liegen. Ich habe des-

halb eine Expertenanhörung im Landtag angeregt.

Dabei sollten wir den gesamten Bildungsweg ins

Auge fassen und bereits nach Verbesserungsmög-

Parteinahme

69cog!to 06/2013

lichkeiten in der Schule fragen. Sicher ist der Über-

gang von Schule zum Studium ein Knackpunkt.

Eine gute Beratung der Abiturientinnen und Abitu-

rienten ist wichtig. Wer sich für ein Studium ent-

scheidet, muss wissen, ob die Anforderungen des

gewählten Faches den eigenen Neigungen ent-

sprechen. Hier mag auch ein freiwilliges Semester

Generale Orientierungshilfe bieten. Entsprechen-

de Angebote begrüße ich. Daneben gibt es an etli-

chen Hochschulen schon gezielte Gegenmaßnah-

men wie Crash- und Brückenkurse, Probestudium,

Mentoring oder Früherkennung von gefährdeten

Studierenden. Erfolgreiche Maßnahmen sollten wir

weiter ausbauen.

Cog!to: Zurück zur Bologna-Reform.

Frau Bulfon, was ist Ihre Meinung zum

aktuellen Stand der Reform?

Buflon: Nach anfänglichen Schwierigkeiten meh-

ren sich in jüngster Zeit die Anzeichen für einen Er-

folg der Reform. So war die studentische Mobilität

noch nie so hoch wie heute und die Studienzeiten

noch nie so kurz wie jetzt. Die Studienabbrecher-

quote geht zurück und der Arbeitsmarkt ist mit den

Absolventen zufrieden.

Dennoch dürfen wir uns nicht zurück-

lehnen, sondern müssen noch an der einen oder

anderen Stellschraube drehen. Die notwendigen

Feinjustierungen betreffen aus meiner Sicht die

Sicherstellung einer hinreichenden Flexibilität für

Studierende bei der Absolvierung der verschie-

denen Module und die weitere Reduzierung der

Prüfungsdichte. Die Studierenden benötigen in

gewissen Bereichen wieder mehr Freiräume, um

dem Humboldtschen Bildungsideal gemäß Zeit zur

Ausbildung der Persönlichkeit zu bekommen.

Cog!to: Frau Bulfon, warum stellt eine verkürzte

Studienzeit einen Erfolg dar?

Bulfon: Kürzere Studienzeiten haben zwei Vortei-

le: mit der Lebenszeit der Studierenden wird sorg-

samer umgegangen und knappe öffentliche Kas-

sen werden geschont.

„Sicher ist der Über-gang von Schule zum Studium ein Knack-punkt. Eine gute Bera-tung der Abiturientin-nen und Abiturienten ist wichtig. Wer sich für ein Studium entschei-det, muss wissen, ob die Anforderungen des gewählten Faches den eigenen Neigungen entsprechen.“- Oliver Jörg

Parteinahme

70 cog!to 06/2013

Cog!to: Sie schätzen die Reform anders ein, Herr

Nida-Rümelin?

Nida-Rümelin: Der Bologna-Prozess ist mit einem

vernünftigen Ziel gestartet, aber dann rasch per-

vertiert worden: Es ist sinnvoll einen gemeinsamen

Europäischen Hochschulraum zu schaffen, der der

Mobilität förderlich ist und in dem Nachbarkulturen

über ein europäisches Auslandsstudium vertraut

werden. Das Maß an Verschulung, die Prüfungs-

dichte, die Nivellierung über alle Fächer, die ausge-

dehnten sog. Kontaktzeiten, das verkürzte Eigen-

studium waren dazu nicht erforderlich und haben

am Ende die Mobilität während des BA-Studiums

nicht gefördert, sondern behindert. Ich habe sehr

frühzeitig eine Reform der Reform gefordert, die

erst Jahre danach meist schamhaft und verschwie-

melt angegangen wurde, nachdem die Proteste der

Studierenden allen deutlich machten, dass da etwas

schief läuft. Wir sind heute deutlich weiter, als vor

diesen Protesten, wichtige Problemzonen bestehen

aber fort: Auslandssemester sollten eine Selbstver-

ständlichkeit schon im BA-Studium sein, die Aner-

kennung ausländischer Studienleistungen in Europa

muss wesentlich vereinfacht werden, der Unter-

schiedlichkeit der Fächerkulturen muss konsequen-

ter Rechnung getragen werden, dem Eigenstudium

muss in den geistes- kultur- und sozialwissenschaft-

lichen Fächern mehr Raum gegeben werden.

Cog!to: Herr Nida-Rümelin, Sie erklären, dass

es sowohl möglich sein soll, ausländische

Leistungen problemlos anzurechnen, als auch,

dass es notwendig ist die Verschiedenheit der

Fächerkulturen stärker zu berücksichtigen.

Aber gerade zwischen diesen beiden Zielen

können sich leicht Konflikte einstellen.

Welchem Ziel gebührt der höhere Rang?

Nida-Rümelin: Bei vernünftiger Handhabung ent-

stehen hier keine Konflikte. Die großzügige Aner-

kennung von Studienleistungen im Ausland, auch

wenn sie nicht den jeweiligen Vorgaben der Mo-

dulhandbücher entsprechen, entspräche dem

Geist eines europäischen Hochschulraums: Res-

pekt vor den unterschiedlichen Bildungskulturen,

aber auch Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit.

„Ich habe sehrfrühzeitig eine Reform der Reform gefordert, die erst Jahre danach meist schamhaft und verschwiemelt ange-gangen wurde, nach-dem die Proteste der Studierenden allen deutlich machten, dass da etwas schief läuft.“- Julian Nida-Rümelin

Parteinahme

71cog!to 06/2013

Cog!to: Das Wissenschaftsministerium lässt den

Universitäten viele Freiräume. Braucht es eine

stärkere Kontrolle durch Ministerium und

Parlament oder mehr Autonomie?

Nida-Rümelin: Die Autonomie von Forschung und

Lehre hat in Deutschland Verfassungsrang, die Poli-

tik darf sich in die Inhalte von Forschung und Lehre

nicht einmischen. Diese Autonomie wird in erster

Linie durch diejenigen realisiert, die Wissenschaft zu

Ihrem Beruf gemacht haben, das kann weder an De-

kane noch an Hochschulleitungen delegiert werden.

Eine enge operative Steuerung der Hochschulent-

wicklung durch Ministerien ist heute nicht mehr zeit-

gemäß und würde die Ministerialbürokratie überfor-

dern. Die Steuerung der Wissenschaftspolitik muss

sich auf die Rahmenbedingungen beschränken.

Bulfon: Hochschulautonomie kennzeichnet die

Verschiebung von Handlungskompetenz und

Handlungsverantwortung weg von der ministeri-

ellen Seite hin zu den Hochschulen selbst. Mit der

Verlagerung des Berufungsrechts und zahlreichen

weiteren gesetzlichen Entbürokratisierungen hat

die FDP im Rahmen von drei Hochschulnovellen

den bayerischen Hochschulen mehr Freiheit ge-

geben. Wir wollen die Hochschulautonomie durch

ein Bayerisches Hochschulfreiheitsgesetz weiter

stärken. Zur Sicherung ihrer Exzellenz und inter-

nationalen Wettbewerbsfähigkeit sollen alle Hoch-

schulen selber über ihr Personal, ihre Finanzen und

Immobilien entscheiden können.

Jörg: Seit 1998 ist die Stärkung der Autonomie und

Eigenverantwortung strategisches Ziel jeder No-

vellierung des Bayerischen Hochschul- und Hoch-

schulpersonalgesetzes. Unsere Erfahrungen im

Hochschulausschuss lassen aber bereits heute im-

mer wieder Problemfelder erkennen, an denen sich

Hochschulautonomie messen lassen muss. Wichtig

ist, dass aktuelle gesellschaftliche Handlungsfelder

und Fragestellungen hinreichend in Forschung und

Lehre aufgegriffen werden und wichtige Lehrange-

bote nicht unter die Räder kommen.

Worauf es mir in diesem Stadium ankommt,

ist klarzustellen, dass eine weitere Kompetenzver-

schiebung weg vom Landtag und damit weg von

den Bürgerinnen und Bürgern hin zu den Hoch-

schulen nicht per se positiv ist und jede Verände-

rung in diesem Bereich einer genauen Prüfung be-

darf.

Cog!to: Aber sollte Forschung nicht unabhängig

sein von gesellschaftlichen Trends?

Jörg: Die Unabhängigkeit der Forschung stelle

ich nicht in Frage. Es sind häufig die Lehrstuhl-

inhaber selbst, die an mich als Vorsitzenden des

Hochschulausschusses herantreten, weil sie um

den Fortbestand ihres Faches fürchten, wenn die

Hochschulleitung eine Neustrukturierung der Mit-

telzuteilung vornehmen will. Geht es dabei zum

Beispiel um Fächer, die wichtige gesellschaftliche

Handlungsfelder betreffen, teile ich die Besorgnis.

Das Beispiel mag illustrieren, dass hochschulau-

tonom getroffene Entscheidungen sich selbstver-

ständlich der öffentlichen Kritik stellen müssen

und eine weitere Verschiebung von Kompetenzen

sehr sorgfältig zu prüfen ist.

Cog!to: Herr Nida-Rümelin, die meisten

Philosophie-Dozenten und auch Philosophie-

Studenten sehen die Situation des Ethik-

Unterrichts an bayerischen Schulen sehr

kritisch. Was wäre Ihr Ansatzpunkt zur Reform?

Nida-Rümelin: Die Situation des Ethikunterrichtes

an bayrischen Schulen ist in der Tat nicht nur kri-

tisch, sondern auch unverantwortlich. Hier werden

Lehrerinnen und Lehrer auf ein Fach vorbereitet,

von dem sie viel zu wenig verstehen, um es sub-

stanziell zu unterrichten. Meine Fakultät hat dar-

auf reagiert und bietet nun ein Studium an, das die

notwendige Qualifikation sicherstellt. Allerdings

können wir niemanden zwingen, dieses Angebot

auch anzunehmen; es gibt einfachere Wege zur

Zulassung als Ethiklehrer.

Die Regelung eines sogenannten Ergän-

zungsfaches ohne Erfordernis eines Studiums hat

im Grund zu einer skandalösen Situation geführt,

dieses anspruchsvolle Fach kann an bayerischen

Schulen, auch an Gymnasien ohne Fachausbildung

Parteinahme

72 cog!to 06/2013

unterrichtet werden. Dabei ist es überhaupt nicht

nachzuvollziehen warum die Ethik als Unterrichts-

fach in Bayern derart stiefmütterlich behandelt

wird.

Bayern schießt hier bundesweit den Vogel

ab. Ich halte es zudem für problematisch, wenn

die Ethiklehrerausbildung von Klerikern, Theolo-

gen oder kirchlichen Einrichtungen geleistet wird,

wie weithin üblich. Diejenigen Schülerinnen und

Schüler, die statt dem Religionsunterricht den

Ethikunterricht wählen, haben dafür ihre Gründe

(das muss keineswegs heißen, dass sie selbst nicht

religiös sind), diese wollen nicht im Ethikunterricht

einen konfessionell geprägten Unterricht erhalten.

In diesem Bereich besteht ein dringender Reform-

bedarf, besonders in Bayern.

Cog!to: Herr Nida-Rümelin, Sie würden also

gerne den Ethikunterricht aufgewertet sehen,

nicht den Religionsunterricht abgewertet. Ist es

überhaupt zu rechtfertigen, dass mit dem

konfessionellen Religionsunterricht den Kirchen

die religiöse Erziehung der Schüler durch

Steuergelder finanziert wird?

Nida-Rümelin: Ja, denn wir leben nicht in ei-

nem laizistischen, sondern in einem Staat, der das

Neutralitätsgebot zu beachten hat. Er darf Kon-

fessionsgemeinschaften und Weltanschauungs-

gemeinschaften fördern, aber er muss alle gleich

behandeln. Es darf also keine Bevorzugung christ-

licher Glaubensgemeinschaften und christlichen

Religionsunterrichtes unter Verweis auf kulturelle

Traditionen geben. Ich bin für einen gemeinsamen,

verpflichtenden, konfessionsungebundenen Ethik-

unterricht, würde aber empfehlen, parallel dazu

konfessionsgebundenen und konfessionsfreien

Religionsunterricht ebenfalls als Pflichtfach anzu-

bieten. Die Religionswissenschaft als konfessions-

ungebundenes Fach hat sich an den Universitäten

etabliert und könnte einen konfessionsungebun-

denen Religionsunterricht neben dem konfessi-

onsgebundenen garantieren.

Cog!to: Die Exzellenzinitiative läuft 2017 aus.

Was soll Ihrer Meinung nach darauf folgen?

Braucht es stärkere Grundfinanzierung oder

mehr wettbewerbsorientierte Gelder für die

Hochschulen?

Bulfon: Die FDP setzt sich sehr dafür ein, das Ko-

operationsverbot im Hochschulbereich zu lockern

und über die Projektförderung hinaus auch die

institutionelle Förderung durch den Bund und so-

mit eine bessere finanzielle Ausstattung der Hoch-

schulen zu ermöglichen. Auf Initiative von Wissen-

schaftsminister Wolfgang Heubisch wurde eine

entsprechende Grundgesetzänderung vom Bun-

deskabinett eingeleitet. Leider blockieren die rot-

grün regierten Länder das Gesetz im Bundesrat.

Abgesehen davon spricht sich die bayerische FDP

dafür aus, die Grundfinanzierung der Hochschulen

zu stärken und das Verhältnis von Grund- zu Dritt-

mitteln neu auszutarieren.

Cog!to: Was genau schwebt Ihnen vor, wenn Sie

von einer neuen Austarierung des Verhältnisses

von Grund- und Drittmitteln sprechen? Ist gegen

private Drittmittel an sich überhaupt etwas

auszusetzen?

Bulfon: Ich halte die Unterscheidung zwischen

privaten Drittmitteln und öffentlichen Drittmitteln

für nicht zielführend. Beide sind auf zeitlich befris-

tete Projekte beschränkt. Der Anteil an Drittmitteln

beträgt in Bayern derzeit etwas mehr als 20 Pro-

zent, wobei davon wiederrum etwa 30 Prozent

aus privaten Quellen stammt. Der Löwenanteil der

Drittmittel kommt von der Deutschen Forschungs-

gemeinschaft und von Programmen der EU, des

Bundes und der Länder. Grundsätzlich begrüße ich

steigende Drittmittel, egal ob privat oder öffent-

lich. Dies hat auch den positiven Effekt, dass die

Hochschulen durch diversifizierte Einkommens-

quellen unabhängiger werden. Dennoch brauchen

die Hochschulen Planungssicherheit durch mehr

Grundmittel. Nur auf diese Weise kann ein stetiger

Lehr- und Forschungsbetrieb inklusive Grundla-

genforschung aufrecht erhalten werden.

Cog!to: Was sollte Ihrer Meinung nach 2017

kommen, Herr Nida-Rümelin?

Parteinahme

73cog!to 06/2013

„Um den Frauenanteil zu erhöhen, kommen deshalb nur Maßnahmen in Betracht, die Frauen und Mänern bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützen.“ - Annette Bulfon

Nida-Rümelin: Die Exzellenzinitiative in ihrer jet-

zigen Form sollte nicht fortgesetzt werden, sie hat

ihre Erfolge durch Profilbildung und neue Koope-

rationen auch zwischen universitärer und auße-

runiversitärer Forschung gehabt, bindet aber auf

die Dauer zu viele Kräfte und produziert zu viele

Verlierer. Der entscheidende Standortnachteil

deutscher Universitäten im Vergleich zu internati-

onalen Spitzenuniversitäten ist die unzureichende

Grundfinanzierung und das ungünstige Betreu-

ungsverhältnis. Darauf muss also der Hauptakzent

gelegt werden. Die Exzellenzinitiative hat zudem

dazu geführt, dass die Lehre gegenüber der For-

schung in manchen Bereichen vernachlässigt wur-

de. Die Tendenz der Entkoppelung von Forschung

und Lehre ist problematisch. Ich empfehle daher

die bisher in der Exzellenzinitiave eingesetzten Mit-

tel weiterhin zur Verfügung zu stellen, aber mit ei-

ner Fokussierung auf die Stärkung der Grundfinan-

zierung und der Lehre an den Universitäten. Auch

hier kann man sich Elemente der Konkurrenz und

Anreize für neue Kooperationen, auch zwischen

universitären und außeruniversitären Einrichtun-

gen, auch zwischen Universitäten gut vorstellen.

Cog!to: Wie würden Sie sich so ein Anreizsystem

vorstellen?

Nida-Rümelin: Ich könnte mir vorstellen, eine

bundesweite Einrichtung zu schaffen, die der

Deutschen Forschungsgemeinschaft vergleich-

bar ist, aber nun nicht Forschung fördert, sondern

Lehre. Diese könnte nicht nur unterschiedliche An-

gebote zur Fortbildung von Hochschullehrerinnen

und –lehrern unterbreiten, sondern auch exzellen-

te Lehre prämieren und dotieren sowie Lehrpro-

gramme mit Vorbildfunktion entwickeln.

Jörg: Verfassungsrechtlich bewegt sich die um-

fangreiche Bundesförderung im Rahmen des

Hochschulpakts und der Exzellenzinitiative auf

dünnem Eis. Ich möchte in diesem Zusammenhang

nicht verschweigen, dass ich einer Aufweichung

des Kooperationsverbotes zurückhaltend gegen-

überstehe. Die klare Trennung von Zuständigkei-

ten war ein Erfolg der Föderalismusreform. Für die

Hochschulen sollen die Länder uneingeschränkt

zuständig bleiben. Auch möchte ich nicht, dass im

Hochschulbau für eine wie auch immer gearte-

te Bundesfinanzierung überregional bedeutender

Vorhaben ein weiteres Länder-Finanzausgleich-

System zu Lasten Bayerns eröffnet wird.

Cog!to: Woran machen Sie fest, dass die

Trennung der Zuständigkeiten bzgl. der

Hochschulen zwischen Bund und Länder ein

Erfolg war?

Jörg: Bildung ist Ländersache. Ich möchte, dass wir

hier in Bayern festlegen, welche Schwerpunkte wir

setzen. Unsere im Bundesländervergleich gute Posi-

tion ist sicher auch ein Ergebnis dieser Schwerpunkt-

setzung. Wir haben nicht nur einige herausragende

Exzellenzuniversitäten, sondern insgesamt eine sehr

gut aufgestellte Hochschullandschaft. Dieses auch in

der Breite hohe Niveau möchte ich durch eine bes-

sere Grundfinanzierung gestärkt wissen. Meine Be-

fürchtung ist, dass der gemeinsame Wettbewerb um

Fördermittel mit anderen, weniger gut aufgestellten

Ländern nicht zugunsten Bayern ausgehen könnte.

Cog!to: An vielen Fakultäten in Deutschland gibt

es kaum weibliche Professoren. Wie erklären Sie

sich das? Sind Quotenregelungen und spezielle

Frauenförderpläne geeignete Maßnahmen oder

schafft positive Diskriminierung nur neue

Ungerechtigkeiten?

Bulfon: Wie in anderen Bereichen, so sind auch ver-

antwortliche Positionen in der Wissenschaft mit ei-

nem hohen Zeitaufwand verbunden. Um den Frauen-

anteil zu erhöhen, kommen deshalb nur Maßnahmen

in Betracht, die Frauen und Männern bei der Verein-

barkeit von Familie und Beruf unterstützen. Eine all-

Parteinahme

74 cog!to 06/2013

gemeine staatlich vorgegebene Quote ist sicherlich

nicht die Lösung, da sie die unterschiedlichen Bedin-

gungen sowohl an den einzelnen Hochschulen als

auch zwischen den verschiedenen Fächern ausblen-

det. Dem Ausbau der Kinderbetreuung an den Hoch-

schulen kommt daher eine entscheidende Rolle zu.

Jörg: Solange der Frauenanteil in der Wissen-

schaft, sei es an unseren Hochschulen oder in den

außeruniversitären Einrichtungen, signifikant nied-

riger ist, halte ich spezielle Förderprogramme für

geboten. Dazu zählen beispielsweise die verschie-

denen Stipendienprogramme im Rahmen des bay-

erischen Programms zur Förderung der Chancen-

gleichheit für Frauen in Forschung und Lehre oder

die Maßnahmen im Rahmen des Nationalen Paktes

für Frauen in MINT-Berufen. Strenge Quotenrege-

lungen gibt es in der Wissenschaft nicht und würde

ich auch nicht für zielführend halten.

Nida-Rümelin: Ich selbst war und bin ein Gegner

von Quoten jeglicher Art, weil dies im Einzelfall

mit Ungerechtigkeiten und mit Fehlsteuerungen

einhergeht. Zugleich aber ist die geringe Zahl von

Frauen in der Professorenschaft völlig inakzep-

tabel. Ich selbst habe durch meine eigene Nach-

wuchsförderung als Lehrstuhlinhaber in Göttingen

und in München gezeigt, dass es auch anders geht.

Die Universitäten haben nicht nur für Frauen, son-

dern auch für Männer dafür zu sorgen, dass Fami-

lienarbeit und wissenschaftliche Karriere vereinbar

sind. Da liegt noch sehr viel im Argen. Die Quali-

fizierungswege in Deutschland bis zu einer Pro-

fessur sind zu lang, und wirken sich speziell gegen

Frauen mit Familienplanung aus.

Cog!to: Die Fakultät für Philosophie hat sich in

ihrem Frauenförderplan dafür ausgesprochen,

dass in einem bestimmten Prozentsatz der

anstehenden Berufungen, die Wahl auf

Frauen fällt. Kommt das nicht faktisch einer

Quote gleich? Wie können Sie das als Dekan

damit vereinen, dass Sie gegen Quoten jeder Art

sind?

Nida-Rümelin: Nein, das ist keine starre Quote,

sondern eine Zielsetzung, die mit der Zielsetzung

der LMU als ganzer und den Zielsetzungen des

Wissenschaftsrates im Übrigen koordiniert ist. Es

ist rechtlich zulässig, bei gleicher Eignung Frauen

zu bevorzugen, von dieser Möglichkeit wird viel zu

selten Gebrauch gemacht. In zwei Berufungsver-

fahren, in denen ich Kommissionsvorsitzender war,

habe ich mich mit Erfolg dafür eingesetzt, dass wir

von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, was im

einen Fall zu einem Listenplatz 1 für eine Frau und

im anderen Fall zu einer rein weiblichen Liste ge-

führt hat.

Cog!to: Vielen Dank Ihnen allen für Ihre Zeit und

das interessante Gespräch!

Das Interview führten

Daniel Hoyer und Lukas Leucht.

Parteinahme

„Ich selbst war und bin ein Gegner von Quoten jegli-cher Art, weil dies im Einzel-fall mit Ungerechtigkeiten und mit Fehlsteuerungen einhergeht.“ - Julian Nida-Rümelin

75cog!to 05/2013

Zu Dr. Annette Bulfon:

Dr. Annette Bulfon ist seit 2008 Mitglied der FDP-Fraktion im Bayerischen Landtag

und Sprecherin für Hochschule, Forschung und frühkindliche Bildung. Sie ist

Kuratoriumsmitglied der LMU und der Hochschule für Politik München. Nach ihrem

Studium der Pharmazie in Mainz absolvierte sie ihre Promotion zum Dr. hum. biol. an

der LMU. Aus ihrer Forschungszeit resultieren Patenterteilungen in Europa, den USA

und Japan. Für die FDP engagiert sie sich seit 2005. Vor ihrem Einzug in den Landtag

war die FDP-Politikerin stellvertretende Vorsitzende im Landesfachausschuss Bildung

der FDP Bayern und hat sich früh mit der Formulierung von liberaler Hochschul- und

Wissenschaftspolitik beschäftigt. Dr. Bulfon ist verheiratet und Mutter von vier Kindern.

Zu Oliver Jörg:

Oliver Jörg (CSU) gehört seit 2008 als Abgeordneter des Stimmkreises Würzburg-Stadt

dem Bayerischen Landtag an. Er ist Vorsitzender des Ausschusses für Hochschule,

Forschung und Kultur im Landtag und hochschulpolitischer Sprecher seiner Fraktion.

In der unterfränkischen CSU leitet er den Arbeitskreis für Hochschule und Kultur. Der

gebürtige Aalener zog 2000 nach Würzburg und beendete hier nach Stationen in

Passau und Linz sein Jurastudium. Während seiner Studienzeit in Passau war er 1996-

97 Vorsitzender des Rings Christlich Demokratischer Studierender (RCDS) Passau und

1997-98 Vorsitzender des RCDS in Bayern. Der 40-Jährige ist verheiratet und hat drei

Kinder.

Zu Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin:

Julian Nida-Rümelin (*1954) entstammt einer Münchner Künstlerfamilie. Er studierte

Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft, wurde in Philosophie bei

Wolfgang Stegmüller promoviert, war dann wissenschaftlicher Assistent in München

und habilitierte dort 1989. Nach einer Gastprofessur in den USA übernahm er erst

einen Lehrstuhl für Ethik in den Bio-Wissenschaften an der Universität Tübingen, dann

für Philosophie an der Universität Göttingen. Anschließend folgte er einem Ruf an

den Lehrstuhl für politische Theorie und Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut

der Ludwig-Maximilians-Universität München, dessen Direktor er von 2004 bis 2007

war. Er wechselte 2009 innerhalb der LMU und wurde zum Ordinarius für Philosophie

und politische Theorie ernannt. Seit 2009 ist er Dekan der Fakultät für Philosophie an

der LMU. Von 1998 bis 2000 war JNR Kulturreferent der Landeshauptstadt München

und von 2001 bis 2002 Staatsminister im ersten Kabinett Schröders. JNR hat bis heute

zahlreiche Bücher verfasst, die sich mit Themen aus der Praktischen Philosophie und

Politischen Theorie befassen. Zuletzt erschienen sind (2013): Kinderphilosophie

(Knauss) und Bildungsphilosophie (Irsiana).

75cog!to 06/2013

76 cog!to 06/201376

Des Pudels Kern: Wie viel Philosophie steckt in der Politik? - Ein Gespräch im Landtag

Das Interview führte Daniel Hoyer

Der satz ist zentral. Ihn anzuzweifeln, bedeutet nichts geringeres, als ins Herz eines der größten Philoso-

phen zu stechen: „Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den staaten oder die heutigen

sogenannten Könige und Gewalthaber sich aufrichtig und gründlich mit Philosophie befassen (…) gibt es

(…) kein Ende des Unheils für die staaten“ (Platon, Politeia, 473 c f.). Begeben wir uns 2500 Jahre weiter in

das Hier und Jetzt, fällt die Beobachtung der politischen Wirklichkeit für den eingefleischten Platoniker er-

nüchternd aus. Weder haben wir einen König, noch regiert dort, wo es noch einen gibt, ein Philosophen-

könig (und folglich wurde das Unheil der staaten auch nicht überwunden, tatsächlich nicht). Doch selbst

in so unplatonischen Zeiten, gibt es philosophische Lichtblicke: Im kleinen Bayern haben sich einige wa-

ckere Philosophen in der Nachfolge gestürzter Monarchen in den Ecken des Landtages gehalten. Wie steht

es dort um die philosophischen Dimensionen der Politik, um den Masterplan, die staaten endgültig von

ihrem Unheil zu befreien? Um die Antwort vorweg zu nehmen: Auch hier wird der Platoniker gesenkten

Hauptes gehen dürfen. statt dessen wird uns dieser streifzug durch die verwachsenen Grenzzäune zwi-

schen Philosophie und Politik in ganz andere Gefilde führen – und zeigen, was philosophisches Fragen

heute noch in der Politik zu suchen hat. Unser Gesprächspartner ist hier nun Dr. sepp Dürr (Die Grünen),

seines Zeichens forschungs- und kulturpolitische sprecher der grünen Landtagsfraktion – und ehemals

Philosophiestudent; mit ihm wollen wir einen Grenzgang wagen. Gibt es philosophische Fragen, die in der

Politik eine rolle spielen?

Parteinahme

77cog!to 06/2013

Cog!to: Kommen Sie in der Politik ab und an auf

philosophische Fragen zurück oder erinnern

Sie sich durch Ihre politische Arbeit an

philosophische Problemstellungen?

Sepp Dürr: Bei der Art und Weise, wie man Proble-

me angeht. Ich versuche die Themen einheitlich zu

durchdenken und immer auch im Blick zu haben,

wo es am Ende hingeht; also kurz gesagt: Schnell-

schüsse liegen mir bei meiner Arbeit eher fern.

Cog!to: Sie sprechen davon, Sachfragen

gewissermaßen vom Ende her zu denken; wenn

wir nun in die Politik sehen und die dortigen

Prozesse philosophisch untersuchen, ergeben

sich folgende Anknüpfungspunkte: Zum einen

methodische Fragen, die den Entscheidungs-

prozess betreffen und zum anderen Fragen über

das Verhältnis von politischer Entscheidung

und Moral. Zum ersten Punkt: Wenn wir uns

kollektive Entscheidungsprozesse ansehen: Was

ist wichtiger: Der Diskurs, der zur Entscheidung

führen soll, oder die Entscheidung selber?

Dürr: Eindeutig der Diskurs, weil er ganz wesent-

lich ist, um Entscheidungen und gesellschaftliche

Veränderungen letztendlich praktisch werden zu

lassen. Das zeigt sich meiner Meinung nach am

besten an Hand der Debatte über die doppel-

te Staatsbürgerschaft: Das Gesetz wurde damals

mit eindeutiger parlamentarischer Mehrheit auf

den Weg gebracht; weil man aber zu wenig in die

Diskussion mit der Bevölkerung gegangen ist, die

diesen Diskurs ganz wesentlich mittragen muss,

haben sich letztlich Komplikationen ergeben –

über die damaligen Kampagnen des hessischen

Ministerpräsidenten hinaus –, die zu den nachträg-

lichen Debatten geführt haben, die wir jetzt füh-

ren müssen. Das zeigt für mich ganz exemplarisch,

dass politische Entscheidungen immer vorbereitet

sein müssen, und zwar durch einen Diskurs mit der

ganzen Bevölkerung.

Cog!to: Auf die Frage nach der Rolle der

Bevölkerung für die Legitimität einer

politischen Entscheidung werden wir später

noch genauer eingehen, jetzt möchte ich aber

zum zweiten Teil der Frage übergehen, nämlich

dem Spannungsverhältnis von Entscheidung

und Moral: Wenn Sie in Ihre Vergangenheit

zurück blicken, erkennen Sie dann Konflikte

zwischen Ihren Moralvorstellungen und den

Entscheidungen, denen man sich verpflichtet

fühlt und wenn ja: Wie sind Sie damit

umgegangen? Dürr: Einen echten Gewissenskonflikt hatte ich

noch nie. Das liegt sicher auch daran, dass bei uns

bayerischen Grünen, zumindest seit ich dabei bin

(1997/98 Anm. d. Red.), alle wesentlichen aktuellen

Grundsatzfragen weitgehend ausdiskutiert sind.

Man muss aber dazusagen: Das betrifft unseren

Zustand als Oppositionspartei. Solange wir nicht

regieren, wird es bei uns kaum strittige Themen ge-

Parteinahme

78 cog!to 06/2013

ben. Das einzige Mal, dass ich nicht mit der Frakti-

on einer Meinung war, betraf unseren Gesetzentwurf

zum Nichtraucherschutz, laut dem auch im Freien

das Rauchen verboten werden sollte – das ging mir

dann zu weit und ich habe nicht mitgestimmt.

Cog!to: Die persönliche Integrität zählt für Sie

also mehr als ein hypothetischer

Fraktionszwang?

Dürr: Sollte es im Vorfeld von Entscheidungen zu

Meinungsverschiedenheiten kommen, überlegt

man es sich aus pragmatischen Gründen oft zwei-

mal, bevor man tatsächlich den Streit sucht und

sich gegen die Fraktionsmehrheit stellt: Denn wenn

man selber eine Entscheidung durchsetzen möch-

te, muss man sich auch der Solidarität der Ande-

ren sicher sein können. Daher wird man im Zweifel

versuchen, die Anderen so weit wie möglich zu un-

terstützen und erst im äußersten Fall dazu überge-

hen, einen offenen Dissens auszutragen. Und in so

einem Fall wird man mit dieser Meinungsverschie-

denheit verantwortungsvoll umgehen müssen und

nicht bloß auf den Eigennutz schauen; so hat dann

auch niemand ein Problem damit.

Max Weber erklärt in seinem Vortrag „Wissen-

schaft als Beruf“, Politik gehöre auf den Markt-

platz, aber nicht in die Universität. Heute hinge-

gen wird immer öfter die „unpolitische“ Haltung

der jungen Leute kritisiert. Hatte Weber Unrecht?

Cog!to: Welche Rolle sollte Politik in der

Bildung spielen?

Dürr: Ich glaube, das Hauptproblem ist kein ko-

gnitives; sondern dass wir stärker für unsere De-

mokratie und die Chancen, die sie bietet, werben

müssen. Ich glaube, hier fehlen bereits in der Schu-

le positive Erfahrungen. Für mich war der Prozess,

in die Politik einzusteigen, ein spiralförmiger Pro-

zess: Ich engagiere mich, davon habe ich etwas,

es macht mir Spaß und darum mache ich wieder

mehr und so weiter. Und genauso denke ich, sollte

es schon in der Schule laufen. Da fehlen einfach

ganz entscheidende demokratische Mitsprache-

möglichkeiten. Und dasselbe gilt fürs Studium:

Die dominierende Politik, also die schwarz-gelbe

Politik und auch davor schon, hat die Studieren-

den systematisch in die Rolle der Konsumenten

gedrückt; man kann aber nicht beides gleichzeitig

sein: Konsument und mündiger Bürger. Entweder

kann man etwas nur hinnehmen oder ablehnen,

bleibt dabei aber immer passiv, oder aber man

kann sich wirklich kritisch zu den Dingen verhalten

und sie mitgestalten.

Cog!to: Wenn Sie davon sprechen, den Leuten

die Politik bereits in der Schule und dann auch

im Studium wieder „schmackhaft“ zu machen,

wo sehen Sie den geeigneten Hebel für eine

solche Veränderung? Sollte man eher

theoretisch vorgehen und bereits in der

Schule ethische und politische Themen

verstärkt behandeln, oder sollte die Devise

„Learning by Doing“ heißen, sodass man die

Menschen schrittweise durch verstärkte

Mitbestimmungsmöglichkeiten an die Politik

praktisch heranführt?

Dürr: Ich setze da auf eine Verbindung von bei-

dem: So wie der Unterricht ganz allgemein mehr

praxisorientiert sein sollte und mehr auf Eigenlern-

prozesse gehen muss, so muss es in der Demokra-

tie auch sein. Natürlich gibt es bei vielen Menschen

Defizite beim Wissen über politische Systeme – ein

Problem, das in der Schule theoretisch angegangen

werden muss. Aber zentral ist auch der praktische

Bezug: Wenn man diese Dinge selber ausprobieren

kann, beispielsweise in didaktischen Rollenspielen,

wobei die Jugendlichen politische Prozesse nach-

spielen können – ich selber habe solche Projekte

in der letzten Legislatur begleitet –, entwickelt sich

automatisch ein besseres Gefühl für die politische

Wirklichkeit. Man kann bei Projekten mit Schülern

nämlich schon beobachten, dass sich im Spiel die-

selben Muster einstellen, die im tatsächlichen Po-

litikleben auch dominieren. Ich erinnere mich da

zum Beispiel an die Zeit der absoluten Mehrheit

der CSU im Landtag. Damals war klar, dass es eine

renitente Opposition gegen das beinahe arrogante

Ausspielen der Mehrheitsverhältnisse im Landtag

geben musste. Und genau denselben Effekt konnte

man in ähnlichen Situationen im Rollenspiel auch

Parteinahme

79cog!to 06/2013

erkennen. Aber was sich ändern muss, geht über

das Spiel hinaus. Die jungen Menschen müssen

auch bei der echten Entscheidungsfindung in der

Schule und der Universität ernst genommen wer-

den, sonst stellt sich der Lerneffekt nicht ein.

Cog!to: Sie sprachen davon, dass eine

Verzahnung von praktischer politischer

Erfahrung und theoretischer Begleitung

besonders wichtig ist. Wie denken Sie, lässt

sich eine solche Verbindung in der Schule am

besten umsetzen? Braucht es dazu womöglich

ganz andere Lehrformate?

Dürr: Es ist gut möglich, dass ich an dieser Stelle

durch mein Studium geschädigt bin! (lacht) Aber

ich gehe davon aus, dass dieses Ineinandergrei-

fen von Theorie und Praxis unabdingbar ist: Praxis

ohne Theorie funktioniert einfach nicht. Im Ideal-

fall sollte die Praxis durch den Lehrenden von the-

oretischen Überlegungen kontinuierlich beglei-

tet werden. Wenn ich beispielsweise in so einem

schulischen Rollenspiel mit den Schülern ein Un-

ternehmen führen soll, dann muss ich auch punk-

tuell Grundkenntnisse über das Wirtschaftsleben

vermitteln, damit das Handeln der Schüler auch

bewusst von Statten geht.

Den Einen ist sie ein schreckgespenst, den An-

deren ein segen: die Gentechnik. Gleichzeitig

ist das ringen um ein adäquates Verhältnis zur

Gentechnik geradezu ein Lehrstück über das

Verhältnis von Politik und Wissenschaft. Wie

geht man in politischer Verantwortung mit ei-

nem hochkomplexen, wissenschaftlichen The-

ma um? Wie sind hier Fortschritt und Verant-

wortung zu vereinbaren?

Cog!to: Politiker sind oft in der unangenehmen

Situation, zu hochkomplexen Themen

Stellung beziehen zu müssen und

Entscheidungen, die für den einfachen

Bürger kaum noch verständlich sind, vertreten

zu müssen. In diesem Rahmen stellen sich zwei

Fragen: Erstens, wie vermittelt man der

Bevölkerung eine solche Entscheidung und

zweitens, wie ist die Rolle der Mehrheitsent-

scheidung hier einzustufen? Wie geht man also

Parteinahme

„Da [in der Schule] fehlen ein-fach ganz entscheidende de-mokratische Mitsprachemög-lichkeiten. Und dasselbe gilt fürs Studium.“

80 cog!to 06/2013

mit Situationen um, in denen die Bevölkerungs-

mehrheit nicht optimal über eine Thema aufge-

klärt ist und dementsprechend eigentlich keine

vernünftige Entscheidungsgrundlage hat?

Dürr: Der Knackpunkt hier dürfte wohl der sein,

dass politische Fragen nicht wissenschaftlich ent-

schieden werden können, sondern eben politisch.

Cog!to: Aber wie kann eine solche Entschei-

dung vernünftig getroffen werden, wenn das

Thema ohne den notwendigen wissenschaft-

lichen Hintergrund gar nicht sinnvoll erfasst

werden kann?

Dürr: Gegen die wissenschaftliche Erforschung

von Problemfeldern wie der Gentechnik ist auch

gar nichts einzuwenden; nur die Diskussion hat

sich ja auf den Einsatz der Gentechnik bezogen.

Und dieser Diskurs ist dann ein politischer, in dem

auch politische und nicht wissenschaftliche Mei-

nungen ausgetauscht werden, die ein jeder für sich

haben kann. Eine Entscheidung über das Thema ist

also keine wissenschaftlich fundierte, sondern eine

wertefundierte Entscheidung. Dass bei solchen

politischen Fragen keine wissenschaftlich eindeu-

tigen Entscheidungen getroffen werden, hat sich

ja schon gezeigt, indem Platon mit seiner Idee der

Philosophenherrschaft praktisch gescheitert ist.

Und das gleiche Scheitern sieht man nun bei den

Fachleutekabinetten im heutigen Europa, zum Bei-

spiel in Italien unter Mario Monti. Denn auch un-

ter den besten Fachleuten werden in der Politik

Werte-Entscheidungen getroffen. Und an welchen

Werten orientieren sie sich, als an ihren eigenen?

Und so war auch die ganze Gentechnik-Diskussi-

on bei uns letztlich keine wissenschaftliche. Viel

schlimmer ist noch, dass sie pseudo-wissenschaft-

lich geführt wurde: Da haben Wissenschaftler über

politische Themen diskutiert, in diesem Fall woll-

ten uns Biochemiker etwas über den Welthunger

erzählen – über Themen also, von denen sie gar

keine Ahnung hatten. Das heißt es war eine grund-

legend schiefe Argumentation, in der man die The-

menfelder sauber hätte trennen müssen.

Cog!to: Damit aber geht ein anderes Problem

einher: Sie sagten, dass die politische Ent-

scheidung der Anwendung von Technik eine

wertefundierte ist. Die Erforschung der Konse-

quenzen einer solchen Anwendung ist aber nur

wissenschaftlich möglich. Nun muss aber die

Entscheidung über eine mögliche Anwendung

einer neuen Technologie auch die Konsequen-

zen derselben berücksichtigen, was nur auf

wissenschaftlicher Grundlage möglich ist.

Würden Sie dann sagen, dass eine politische

Entscheidungen, die ohne Kenntnis dieser wis

senschaftlichen Grundlagen getroffen wurde,

noch eine vernünftige Entscheidung war?

Dürr: Hier gilt meiner Meinung nach die Devise:

„Wenn ich nichts gewiss weiß, bin ich gut beraten,

wenn ich zur Vorsicht neige.“ Eine solche Entschei-

dung ist dann durchaus vernünftig, weil sie mit

der mangelnden Gewissheit verantwortungsvoll

umgeht. Ich kann natürlich auch politisch mit der

Devise „Auf in den Fortschritt“ gut argumentieren;

man hat seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts

fest geglaubt, dass man gut beraten sei, wenn man

dem wissenschaftlich-technologischen Fortschritt

blind hinterher läuft. Nur daran gibt es mittlerweile

erhebliche Zweifel. Wenn das Wissen bescheiden

ist, dann sollte ich meine politischen Entscheidun-

gen daran anpassen.

Politik erschien den meisten Menschen entwe-

der als abgekartetes Intrigenspiel oder besten-

falls noch als weltfremdes Herumdiskutieren

„da oben“; seit stuttgart 21 spätestens sollte die-

ses Bild passé sein. Aber wie funktioniert nun so

etwas genau, ein „politisches Leben“, noch dazu

als Beruf?

Cog!to: Im Kern der Frage geht es also darum,

welche Voraussetzungen man für ein Leben als

Politiker mitbringen sollte.

Dürr: Es gibt nur eine Voraussetzung, nämlich ein

politisches Interesse.

„Denn auch unter den besten Fachleuten werden in der Poli-tik Werte-Entscheidungen ge-troffen.“

Parteinahme

81cog!to 06/2013

Cog!to: Das können wir mit Max Weber etwas

konkretisieren: Er nennt zwei verschiedenen

Formen des Umgangs mit politischen Entschei-

dungen, nämlich die Gesinnungs- und die Ver-

antwortungsethik und stellt dabei für ein Leben

als Politiker letztere in den Vordergrund.

Wie würden Sie entscheiden?

Dürr: Ich halte diese Unterscheidung für nicht so

relevant. Wenn ich meinen politischen Alltag be-

trachte, dann erkenne ich die unterschiedlichsten

Politikertypen, die alle gute Arbeit leisten, unabhän-

gig von dieser Unterscheidung. Viel wichtiger ist das

politische Interesse einer Person. Die Unterschiede

bei der ethischen Herangehensweise sind statt-

dessen ein ganz entscheidendes Motiv für die Ini-

tiierung eines politischen Diskurses und daher halte

ich es für sinnvoll, dass man hier auch eine gewisse

Diversität hat.

Cog!to: Das heißt, die Art und Weise, wie der

Einzelne seine ethischen und politischen

Überzeugungen strukturiert, ist für die Eignung

als Politiker zweitrangig.

Dürr: Für einen selber ist das natürlich nicht zweit-

rangig, aber für den Politiker als „Typ“ schon.

Cog!to: Gut, dann stelle ich die Frage als Frage

nach Ihrer persönlichen Meinung: Was ist besser

in der Politik: Gesinnungs- oder Verantwor-

tungsethik?

Dürr: Ich bin für beides. Sie kennen ja den alten

Konflikt bei uns zwischen Realos und Fundis, den es

mittlerweile auch nur noch auf dem Papier gibt. Die-

ser Konflikt war mir nie verständlich, weil ich schon

immer der Meinung war, dass man fundamentale

Ziele nur mit realistischen Schritten erreichen kann.

Cog!to: Also können gewissermaßen die ethi-

schen Ziele, die man sich als absolut setzt, nur

gemessen an dem, was möglich ist, überhaupt

erreicht werden.

Dürr: Ja. Alles, was auf dem Weg dahin anfällt, ist

positiv, wenn nur die Richtung stimmt.

Cog!to: Schult politisches Handeln – und die da-

mit einhergehenden abstrakten Fragestellungen

– den Blick fürs Konkrete? Kann ein politischer

Mensch womöglich sogar den praktischen Le-

bensalltag besser meistern als ein unpolitischer

Mensch?

Dürr: Ich denke durch die Ausgestaltung meines

Lebens in der Politik wesentlich zielorientierter. Also

„schön, dass wir darüber gesprochen haben“, ist

nicht mehr mein Motto; mein Handeln muss auch

wirklich einen erkennbaren Erfolg haben.

Cog!to: Sie haben sich intensiv mit dem Thema

Kulturpolitik befasst. Daher stellt sich die

Frage, ob sich Ihr Blick auf die damit verbunde-

nen Themenfelder durch Ihre politische Ausei-

nandersetzung mit ihnen in irgendeiner Weise

verändert hat?

Dürr: Ja, und zwar, dass mir die unterschiedlichen

Funktionen, die Kunst und Kultur in unserer Ge-

sellschaft spielen, insbesondere im vorpolitischen

Raum, stärker ins Auge stechen.

Cog!to: Was meinen Sie mit dem „vorpolitischen

Raum“?

Dürr: Dass die Art und Weise, wie wir die Welt se-

hen und uns selber bestimmten Gruppen zuordnen,

auch kulturelle Fragen sind. Genauer: Dass das kul-

turelle Fragen sind, die auch politische Konsequen-

zen haben. Zum Beispiel, dass Gender-Fragen oder

wie wir traditionell in Deutschland „Macht“ verste-

hen, oder, dass gerade in Bayern die Identifikation

mit dem eigenen Land eine so große Rolle spielt –

das sind alles indirekt politisch wirksame Fragen, die

aber in der Kultur wurzeln.

Cog!to: Wenn Sie also aus den beiden eben

besprochenen Fragen ein Fazit ziehen müssten,

können Sie dann Parallelen ziehen zwischen

dem durch die Politik geschärften Blick auf die

Wirklichkeit auf der einen und dem durch die

Kultur geschärften Blick auf die Wirklichkeit auf

der anderen Seite?

Dürr: Ich denke, weil Kunst und Kultur eine iden-

tifikatorische Funktion haben, also dass sich durch

eine gemeinsame Kultur Gruppenzugehörigkeiten

herausbilden, kann man auch an ihr sich verändern-

de gesellschaftliche Tendenzen ablesen. Und ge-

nau das geht durch die Politik natürlich auch. Daher

sehe ich da sehr wohl gewisse Parallelen.

Parteinahme

82 cog!to 06/2013

Cog!to: „Leben und leben lassen“ - Diesen Sinn-

spruch weist Ihre Homepage als Ihr Motto aus.

Wie gestaltet sich dabei das Verhältnis des Poli-

tiker, dessen Job gewissermaßen das „Leben

der anderen“ ist, zum Bürger, dessen Leben

doch nur das seinige ist? Um es etwas präzi-

ser zu formulieren: Wie gehen Sie mit dieser

Doppelrolle als Politiker, der gestaltet, und als

Bürger, dessen Leben dem Rahmen nach

gestaltet wird, um?

Dürr: Normalerweise ist es möglich, beide Rollen

unter einen Hut zu bringen: Wenn ich eine Ent-

scheidung getroffen habe, die ich für richtig halte,

dann ist es mir auch möglich, die unangenehmen

Konsequenzen daraus in Kauf zu nehmen.

Cog!to: Damit vertreten Sie eine Position die

der von Jean-Jacques Rousseau sehr ähnelt.

Vergleichen wir dieses Konzept einer Verbin-

dung der Rollen als Politiker und Bürger nun

mit einem Gegenentwurf nach Gerald Gaus:

Diesem zufolge ist der öffentliche Raum, in

dem der Politiker immer Zwangshandlungen

gegenüber dem Bürger vornimmt, strikt vom

privaten Raum des Bürgers, der diesem Zwang

ausgesetzt ist, zu trennen. Inwiefern würden

Sie diesen Gegenentwurf kritisieren?

Dürr: Die letzte Finanzkrise und auch der bevorste-

hende Klimawandel zeigen uns, dass wir dringend

auf vielen Gebieten des Lebens bessere Regeln

brauchen. Aber gleichzeitig zeigt sich uns, dass wir

als Politiker diese Regeln nicht alleine aufstellen

können; wir müssen sie im Diskurs und im Kon-

sens mit der Bevölkerung erarbeiten. Das heißt, wir

müssen für uns alle gemeinsam Regeln finden, wie

wir alle verträglich zusammen leben können. Und

das geht nur mit allen zusammen: Einseitige Ent-

scheidungen lassen sich nicht umsetzen.

Cog!to: Womit wir den Kreis zum Anfang des

Gesprächs geschlossen hätten. Vielen Dank für

Ihre Zeit.

Das Interview führte

Daniel Hoyer

„Wir müssen für uns alle ge-meinsam Regeln finden, wie wir alle verträglich zusam-men leben können. Und das geht nur mit allen zusammen: Einseitige Entscheidungenlassen sich nicht umsetzen.“

Parteinahme

83cog!to 06/2013

Am 13. November des letzten semesters fand wieder die – inzwischen schon fast Traditi-on gewordene – Bibliotheksnacht der Fach-schaft Philosophie statt. Thema war diesmal „Meine Lieblingspolemik“, was ein bisschen schwung in den sonst doch leisen, konzen-trierten und argumentativen Umgang in der Bibliothek brachte. Christine Bratu, Martin rechenauer, Gregor Oliver staudinger und Peter Adamson stellten ihre Favoriten vor.

Die vier Vortragenden redeten sich mächtig in

Rage und zeigten, dass der Streit um die Wahrheit

doch bisweilen den kühlen Verstand verlässt. Den

Anfang machte Christine Bratu mit Richard Ror-

tys Aufsatz „Der Vorrang der Demokratie vor der

Philosophie“. Allein als Philosophin über Rorty zu

sprechen ist nicht ohne – er ist ein zeitgenössi-

scher Denker, der sehr polarisiert, vielen gilt er

gar als Nestbeschmutzer. Er ist wohl eine der um-

strittensten Persönlichkeiten, die sich in unserem

Fach tummeln. Frau Bratu legt Rortys Thesen dar

– dass es moralisch richtig sei, keine Philosophie

zu betreiben und praktische Philosophie nur eine

Entschuldigung sei, um Probleme nicht zu lösen.

Anders als beim gepflegten Austausch von Argu-

menten richtet sich die Kritik an Rorty oftmals auch

gegen ihn persönlich, doch Frau Bratu bleibt nah

am Text und sachlich – so sachlich man eben po-

lemisch sein kann. Immerhin spricht Rorty der Phi-

losophie ihren Deutungsanspruch und ihre Exis-

tenzberechtigung ab und hat trotzdem Lehrstühle

inne – das dürfe nicht sein, sei widersprüchlich

und inkonsequent, wird ihm vorgeworfen. So je-

mand dürfe sich nicht Philosoph nennen und nicht

dieses Fach lehren.

Frau Bratu zeichnet seine Thesen und Ar-

gumente nach, wie Rorty darauf dringt, veraltete

Begriffe wie den der Wahrheit, der Objektivität

oder des menschlichen Subjekts fallen zu lassen -

sie gehören seiner Ansicht nach in die Mottenkis-

te philosophischer Begriffe der Vergangenheit. An

ihnen weiter zu forschen und auf ihren Begriffen

neue Systeme aufbauen zu wollen, hält Rorty für

verfehlt und naiv. Auch lehnt er einen normativen

Anspruch der Philosophie ab – und interessiert

sich nur für pragmatische Aspekte einer lebens-

weltlichen Praxis. Im Bereich des Politischen hat

sich im Westen nun mal das politische System der

liberalen Demokratie herausgebildet, das die Men-

schenrechte sichert. So kann dies durchaus als das

unterstützenswerteste System gelten, da es sich

bewährt, jedoch nicht weil es „gut“ oder „gerecht“

ist - für andere Kulturkreise mag anderes gelten.

Der Philosophie spricht Rorty ihr Deutungspoten-

tial über moralische Normen ab. Die Demokratie

Polemik in der Bibliothek Die vierte Nacht im Lesesaal

Parteinahme

von Lea Watzinger

Die Demokratie habe Vorrang vor der Philosophie, ja man könnte gar sagen,

beide hätten nichts miteinander zu tun und bedürften einander nicht,

meint Rorty.

84 cog!to 06/2013

habe Vorrang vor der Philosophie, ja man könnte

gar sagen, beide hätten nichts miteinander zu tun

und bedürften einander nicht. Die liberale Demo-

kratie benötige keine philosophische Rechtferti-

gung meint er, wenn dann eher ein kollektives Nar-

rativ, das aus kulturrelevanten Prosatexten besteht,

wie z.B. dem Kommunistischen Manifest oder auch

Onkel Toms Hütte. Philosophische Luftschlösser

führen an den wichtigen Fragen und Problemen

der Welt vorbei und es wäre richtig, die Philosophie

sein zu lassen.

Auch Fußball hat sich in unserem Kulturkreis bewährt Herr Rechenauer stellt Hartmut Essers

Aufsatz „Der Doppelpaß als soziales System“ vor.

In diesem seziert der Autor genüsslich den Dop-

pelpass – ein Phänomen, das wir gemeinhin aus

dem Fußball kennen, das aber durchaus auch in

anderen Ballsportarten zu beobachten ist. Esser ist

Professor in Mannheim und bekannt für sein Mo-

dell der soziologischen Erklärung. Damit wendet er

sich gegen die Systemtheorie, die soziale Phäno-

mene lediglich beschreiben will. In seinem Aufsatz

führt er die Anwendung einer systemtheoretischen

Perspektive ins Lächerliche: Phänomene von einer

Komplexität wie der Doppelpass beim Fußball kön-

nen nicht mit hergebrachten Methoden der Sozio-

logie analysiert werden, er muss als abgeschlos-

senes System gesehen werden, als Ganzheit, die

aus Teilen besteht und sich selbst ständig repro-

duziert. Erst das Konzept der Autopoiesis macht

das Verständnis des Doppelpasses möglich. Man

muss sich entfernen von alten Terminologien und

Vorstellungen, wie der einer starken Subjektzent-

rierung oder eines Aktionismus. Der immer noch

weithin verbreitete Glaube, „Spieler“ würden „han-

deln“, „Tore schießen“, und den „Sieg anstreben“

stammt aus einer anderen Zeit. In vorzivilisatori-

schen Gesellschaft war es möglich, Fußballspiele

in ihrer vollen Länge in solche verkürzten Begriff zu

fassen.

Esser stellt die Systemtheorie dar als eine,

die das selbstverständliche in komplizierte Wor-

te fasst, etwa in dem er zu Erkenntnissen kommt,

wie „damit ein Doppelpaß existieren kann, muss es

ihn erst einmal geben“ oder „erst ein Doppelpaß

ist – ganz radikal systemtheoretisch gedacht – ein

Doppelpaß“.

Wie steht es um den Sinn von Doppelpäs-

sen? Hier muss man laut Esser mit der Systemtheo-

rie zu dem Schluss kommen. Dass der Doppelpass

ein sinnprozessierendes soziales System par excel-

lence ist. Er weist nach, dass Doppelpässe nicht

misslingen können. Herr Rechenauer reißt das

Publikum mit in seiner sichtlichen Freude darüber,

wie Esser die Systemtheorie zerlegt. Er lässt wirk-

lich kein gutes Haar an dieser Theorie, die immer-

hin die soziologische Theorie und Sozialphiloso-

phie gehörig durcheinander gewirbelt, verändert

und revolutioniert hat.

Es folgte Herr Staudinger über mensch-

liche Abgründe und Neigungen, die sich im Film

Fight Club offenbaren. Er bricht eine Lanze für

die Philosophie des Films als einem unterschätz-

ten Medium, das jedoch über uns Menschen viel

transportieren kann. Er verteilte Handzettel mit der

Schlüsselszene des Films, die die Aura von Geheim-

dokumenten hatten, die schon viel herumgereicht

wurden. In der Szene wird deutlich, wie die Männer

im Fight Club sich selbst spüren wollen, sich nicht

unterordnen und ihre eigene Gemeinschaft bilden,

wie sie wettern gegen die Welt, die für sie keine an-

gemessenen Plätze hat und sie unterschätzt. Herr

Staudingers Vortrag wird zum haptischen Erlebnis

und wer den Film kennt (und davon kann man ja

bei diesem Klassiker fast schon ausgehen), fühlt

sich nicht mehr in der sonst so ruhigen Bibliothek,

sondern ahnt sich gleich im Fight Club.

Der Abend verläuft jedoch friedlich, auch

wenn es weiter um die Polemik in der Philosophie

geht. Herr Adamson bittet, auf Englisch zu spre-

chen zu dürfen, da die Bibliotheksnacht für ihn ein

Freizeitvergnügen und keine Arbeit sei. Er spricht

über den Ewigkeitsstreit in der Spätantike, in dem

Philoponos (490-575) mit seiner Abhandlung „Über

die Ewigkeit der Welt gegen Aristoteles“ federfüh-

rend war. Adamson erwähnt auch die arabische

Tradition, z.B. al-Kindi (800-873) und al-Ghazali

(12. Jahrhundert).

Aristoteles prägte das Nachdenken über

die Beschaffenheit des Universums fundamental,

er wurde von der Antike ins Mittelalter transfe-

riert und galt als der Philosoph. Zweifel an seinen

Thesen wurden bis ins Mittelalter wenig geäußert.

In Fragen um die Beschaffenheit des Universums

und die Unendlichkeit prägte er die Auffassung,

Parteinahme

85cog!to 06/2013

dass das Universum ewig, unendlich und immer

gleich sei. Obwohl bereits Platons Timaios-Dialog

zu anderen Schlüsse führen könnte, wurde diese

Position postuliert, da Aristoteles als solche Auto-

rität galt, die nicht irren konnte. Es wurde versucht,

beide als übereinstimmend zu lesen, wogegen sich

Philoponos wandte. Er schrieb zwei Abhandlun-

gen, „Über die Ewigkeit der Welt gegen Proklos“,

und „Über die Ewigkeit der Welt gegen Aristote-

les“, in denen er eben gegen die Unendlichkeit des

Universums argumentiert. Die Überlieferungslage

ist verwirrend. Da seine Position keine vom christ-

lichen Mittelalter als überliefernswert anerkannte

ist, existiert seine zweite Schrift nur aus Überset-

zungen von Simplikios, der wie Philoponos eben-

falls Schüle von Ammonios war und später selbst

Philosophielehrer wurde. Simplikios greift Philop-

onos stark an und macht seine Thesen nieder, wes-

wegen der von ihm überlieferte Text mit einiger

Vorsicht zu genießen ist.

Im arabisch-persischen Raum ist Al-Kindi

der erste, der die griechische Philosophie und Ge-

danken bearbeitet und übersetzt. In seiner Schrift

„Über die erste Philosophie“ versucht er eine is-

lamische Theologie philosophisch zu fundieren.

Er promotet quasi die griechische Philosophie;

Adamson nennt ihn den PR-Mann für Aristoteles

im Arabischen. Al-Kindi sucht nach so viel Überein-

stimmung mit Aristoteles Philosophie wie mög-

lich. Al-Ghazali, einer der wichtigsten islamischen

Theologen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhun-

derts (er ist im Gründungsjahr Münchens geboren),

wittert in der griechischen Philosophie wiederum

eher eine Gefahr für den Glauben. Der Streit um

die Frage, ob das Universum unendlich und ewig

ist oder endlich und erschaffen, ist bei weitem zu

keinem Ende gekommen

Der Streit um die Frage, ob das Universum

unendlich und ewig ist oder endlich und erschaf-

fen, ist bei weitem zu keinem Ende gekommen.

Die Frage ist eine Spiegelung der jeweiligen Zeit,

es mischen sich philosophische und theologische

Interessen und Erkenntnisse, politische Wirren und

Strömungen. „Falsches“ kann einen den Kopf kos-

ten, was opportunistische Äußerungen befördert.

Philoponos argumentiert als Aristoteles-Kenner

und Christ, der jedoch beim „Heiden“ Ammonios

studiert hat, Simplikios greift Philoponos als un-

gebildeten Grammatikalisten und Platon-Missver-

steher an, al-Kindi will die griechische Philosophie

und ihre christliche Lesartin seine Sprache und in

seinem Kulturraum bekannt machen, nimmt da-

mit einige Vereinfachungen in Kauf und will seinen

Glauben stützen. Die Schriftenlage ist vielschich-

tig und verwirrend, da Texte hin- und herüber-

setzt wurden und meist, um eigene Positionen zu

bestärken. Die Autoren griffen einander harsch an

und ließen kein gutes Haar am anderen und ande-

ren Interpretationen, immer mit der Verteidigung,

der Wahrheit zu dienen.

Abschließend zur Bibliotheksnacht gab es in der

Bibliothek (!) Wein und Brot, immerhin teilt sich

die Philosophie die Räumlichkeiten mit der christ-

lichen Theologie. Studierende, die nicht an der

Veranstaltung teilnahmen, sondern zum Arbeiten

da waren, schauten reichlich verdutzt. Die heitere

Veranstaltung fand ihren Abschluss im alten Simpl,

wie schon so oft, und machte Lust auf die nächste

Runde im nächsten Semester.

Von Lea Watzinger

Literatur zum nach- und weiterlesen:

- Esser, Hartmut, Der Doppelpaß als soziales Sys-

tem, in: Zeitschrift für Soziologie 20/2 (1991)

- Rorty, Richard, Der Vorrang der Demokratie vor

der Philosophie, in: ders. (Hg), Solidarität oder

Objektivität? Drei philosophische Essays, 1988.

- Podcasts zur Philosophiegeschichte von

Prof. Dr. Peter Adamson:

http://www.historyofphilosophy.net

- J. Philoponus, Against Aristotle on the Eternity

of the World, 1987

Der Streit um die Frage, ob das Uni-versum unendlich und ewig ist oder endlich und erschaffen, ist bei wei-

tem zu keinem Ende gekommen.

Parteinahme

Der fiese streit um Wahrheit und Wahrheitsanspruch ist wahrlich kein moderner.

86 cog!to 05/2013

BLÜTENLESE

RUBRIK

In Blütenlese finden sich Artikel zu wissenschaftlichen Arbeiten der Studierenden und Promovierenden der Münchner Philosophie, aber auch Rezensionen von Fachbüchern sowie philosophischen Neuerscheinun-

gen. Zudem berichtet die Redaktion über Konferenzen, Podiumsdiskussi-onen und Vorträge in unserem Fach. In dieser Ausgabe schreibt

Lea Watzinger über das Thema ihrer Magisterarbeit: Habermas’ Position zur Religion.

Du hast Lust, für uns über deine Abschlussarbeit oder Dissertation zu schreiben? Dann melde dich doch

unter: [email protected].

86 cog!to 06/2013

87cog!to 06/2013

In den vergangenen Wochen haben sich viele Diskussionen um den Rückzug Papst Benedikts von seinem Amt und die eventuelle Neuausrich-tung der katholischen Kirche durch Papst Fran-ziskus gedreht: Fragen um Kirche und Glauben füllten die Medien und beschäftigten sogar die weltliche Öffentlichkeit. Welche Rolle spielt die Religion noch in Deutschland und in der Welt? Ist die Religion die Stütze der Moral, die den Zusammenhalt der Menschen schafft? Die Rolle der Religion in der demokra-tischen, modernen Gesellschaft muss neu be-leuchtet werden. Jürgen Habermas hat hier eine hochinteressante zeitgenössische Position ent-wickelt, die zwischen Liberalismus, postmeta-physischem Denken und der Anerkennung der Relevanz religiöser Argumente changiert.

Kann unser Staat, der sich zur Religionsfreiheit be-

kennt und auf die Menschenrechte beruft, über-

haupt aus sich heraus verbindliche normative Ori-

entierung geben, oder braucht er dazu helfende

Institutionen und Lehren, wie die Religion? Welche

Rolle dürfen religiöse Positionen im politischen

Prozess (noch) spielen?

Diese Fragen sind relevant für unser Selbst-

verständnis als Staatsbürgerinnen und Staatsbür-

ger – religiöse wie auch nicht-religiöse. Sie werden

nicht nur von theologischer Seite diskutiert, son-

dern auch in der Soziologie, Politologie und Phi-

losophie und aus gegebenem Anlass auch in der

Öffentlichkeit. Dazu hat Jürgen Habermas keinen

unerheblichen theoretischen Beitrag geleistet. Ha-

bermas ist ein Denker, der sich mit vielen Themen

befasst hat, doch an erster Stelle steht bei ihm das

Politische, die Frage nach einer gerechten Ge-

sellschaft. Er steht in der Tradition der Frankfurter

Schule, die mit ihrer Kritik an der Moderne, an den

modernen Sozialverhältnissen und gesellschaft-

lichen Strukturen eine Erneuerung in der Philo-

sophie und Sozialwissenschaft betreibt – dieses

Projekt führt er weiter. Seine Schriften zu Öffent-

lichkeit, demokratischen Verfahren und kommuni-

kativer Rationalität haben viele nationale wie inter-

nationale Debatten in verschiedenen Disziplinen

ausgelöst. Im letzten Jahrzehnt tritt noch ein wei-

terer Interessenschwerpunkt hinzu – die Rolle von

Religion in einer Gesellschaft, die sich einerseits

als säkular versteht und andererseits verschiedene

religiöse Formen in sich vereint.

Habermas hat in den letzten Jahren und

Jahrzehnten viel darüber gearbeitet, wie sich

eine normative Moderne begründen lässt, welche

Rolle das Sakrale spielt und in welchem Verhält-

nis der säkulare Staat zur Religion steht. Er ist ein

Grenzgänger zwischen Philosophie, politischer

Theorie und Soziologie, der viele verschiedene

Themenfelder vereint: Er betreibt praktische und

theoretische Philosophie, nimmt am tagespoli-

tischen Geschehen teil und bringt in öffentliche

Diskussionen seinen intellektuellen Standpunkt

ein. Habermas ist nicht nur ein Schreibtischden-

ker, sondern nah am gesellschaftlichen Zeitge-

schehen. Im letzten Jahrzehnt haben seine Dis-

kussion mit Joseph Ratzinger, der zu diesem Zeit-

punkt der Vorsitzende der Glaubenskongregation

und damit katholischer Cheftheologe war, auch

außerhalb der akademischen Welt Aufsehen er-

regt. Die Beiden sprachen über den Stellenwert

der Vernunft und die Motivationsgründe für mo-

Welche Rolle spielt Religion in unserer säkularen Welt?Jürgen Habermas räumt religiösen Argumenten neuen Raum ein

Blütenlese

Von Lea Watzinger

88 cog!to 06/2013

ralisches, solidarisches Handeln. Auch seine Rede

zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen

Buchhandelst ein reges Echo hervorgerufen.1

Die postsäkulare GesellschaftHabermas diagnostiziert eine Gesellschaft, die er

selbst „postsäkular“ nennt, in der sich gegenläufi-

ge, die Religion und Religiosität betreffende Ent-

wicklungen vollziehen. Die europäische, vor allem

auch die deutsche Erfahrung des abnehmenden

religiösen Einflusses auf die Menschen und die

Gesellschaft ist möglicherweise eine Art Sonder-

weg.2 Die liberale Demokratie muss angemessene

Umgangsformen mit ihren re-

ligiösen Mitgliedern finden, die

politisch aktiv und präsent sein

wollen. In einer Demokratie sol-

len politische Entscheidungen

im Diskurs aller Bürgerinnen und

Bürger auf vernünftigen Grund-

lagen getroffen werden. Aus li-

beraler Sicht spielen in diesem

öffentlichen Diskurs nur politische Belange eine

Rolle, nicht aber persönliche Einstellungen und

Prägungen wie Religion oder Glaube. Habermas

setzt dem entgegen, dass auch religiöse Argumen-

te einen Platz im Diskurs haben müssen. Zum ei-

nen, weil diese Einstellungen oft etwas zu sagen

haben, gerade wenn es um ethische Fragen geht,

und dieses semantische Potential in der moder-

nen Gesellschaft eine rare Ressource ist und sonst

droht, verloren zu gehen. Zum anderen, weil reli-

giöse BürgerInnen nicht ausgeschlossen werden

dürfen und es ein Gebot der Fairness ist, ihre Argu-

mente ebenfalls zu hören. Im politischen Diskurs

zählen jedoch nur vernünftige Argumente in einer

Sprache, die jeder versteht. In diese „säkulare Spra-

che“ (Habermas) müssen alle Positionen übersetzt

werden.

Es ist eine Stärke von Habermas Ansatz,

den Begriff der Religion nicht zu definieren – ob-

wohl gerade in den Sozialwissenschaften oftmals

ebensolche Definitionen gemacht und gefordert

werden.

1 Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.), Friedenspreis

des Deutschen Buchhandels 2001. Ansprachen aus Anlass der

Verleihung, Frankfurt am Main 2001.

2 In vielen Ländern weltweit stellt sich die Situation ganz anders dar: Zum

Beispiel in den USA und einigen Ländern Lateinamerikas, in denen von

schwach in der Bevölkerung verankerten Kirchen keine Rede sein kein.

Er behält den Fokus seiner Überlegungen aus-

schließlich auf der Diskurssituation, es geht nicht

darum, welche religiösen Überzeugungen Men-

schen haben, sondern dass sie ethische Werte

aus vorpolitischen Quellen beziehen. Religion in-

teressiert ihn nur in einem sehr allgemeinen Sinn

als Phänomen, das neben dem Staat das Zugehö-

rigkeitsgefühl von Menschen beansprucht, eine

Quelle, aus der Menschen „Sinn“ beziehen. Reli-

gion spielt in der Politik eine große Rolle, es gibt

viele Verbindungen und Bezüge. Dies lässt sich

zum Beispiel an den Debatten über Kopftuch und

Kruzifix an Schulen, über die Rolle muslimischer

Menschen in Deutschland und

Europa, an der institutionel-

len Verankerung der Kirchen in

Ethikkommissionen oder dem

staatlichen Einzug der Kirchen-

steuer und vielem mehr beob-

achten.

Viele politische Konflikte

drehen sich um das angemes-

sene Verhältnis von Religion und Staat, doch gibt

es auch religiöse Bezüge, die kaum thematisiert

werden. Rund 80% der Weltbevölkerung sind An-

hängerInnen eines Glaubens; Religion ist eine

„Konstante des Politischen“:3 Die Frage, ob Reli-

gion als ein Grundbegriff des Politischen unum-

gänglich und unleugbar ist, ist jedoch in der Wis-

senschaft nicht unumstritten; so weckt ein Pochen

auf die Wichtigkeit der Einbeziehung der Religion

in politikwissenschaftlichen Arbeiten schnell den

Verdacht, unzeitgemäß oder gar rückschrittlich

zu sein. Im Denken des Liberalismus, der vorherr-

schenden und prägenden modernen politischen

Theorie, finden sich die Religion und die Religio-

sität der BürgerInnen nur noch im Privaten. Das

Säkularisierungsparadigma wurde zur gängigen

Lehrmeinung über das Verhältnis von Politik und

Religion: Es geht davon aus, dass die Religiosität

der Menschen mit zunehmender Modernisierung

abnehmen wird und Religion demzufolge ein hi-

storisches Phänomen ist.4

3 Stein, Tine, Religion, in: Politische Theorie 2004, S. 328.

4 John Rawls stellt das moralisch Richtige über das Gute, Habermas

entwickelt den Gedanken des nachmetaphysischen Denkens; beide

versuchen eine moralisch richtige, gerechte Gesellschaft allein

vernünftig zu begründen.

Blütenlese

Es ist eine Stärke von Habermas Ansatz, den Begriff der Religion nicht zu

definieren – obwohl gerade in den Sozialwissenschaften oftmals ebensolche Definitionen gemacht

und gefordert werden.

1 Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.), Friedenspreis

des Deutschen Buchhandels 2001. Ansprachen aus Anlass der

Verleihung, Frankfurt am Main 2001.

2 In vielen Ländern weltweit stellt sich die Situation ganz anders dar: Zum

Beispiel in den USA und einigen Ländern Lateinamerikas, in denen von

schwach in der Bevölkerung verankerten Kirchen keine Rede sein kein.

89cog!to 06/2013

Die Trennung von Staat und Kirche in Europa war

eine historische politische Errungenschaft, doch

muss heute nicht mehr diese Trennung begrün-

det, sondern ein vernünftiges Verhältnis zwischen

eigentlich säkularen Gesellschaften und ihren ver-

schieden religiös – oder nicht-religiös – einge-

stellten Bürgerinnen und Bürgern gedacht werden.

Für Habermas sind Fragen des Politischen zentral Was Habermas antreibt, ist eine Theorie der

Demokratie. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem

Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft

und dem Phänomen der politischen Öffentlichkeit.

In einer modernen Gesellschaft, in der die Freiheit

und die Gleichheit der Menschen politisch umge-

setzt sind, müssen alle am politischen Geschehen,

an Meinungsbildung und Entscheidungsfindung,

beteiligt sein. Institutionell sind die Freiheit und

Gleichheit aller BürgerInnen verankert, doch die

Widersprüchlichkeiten und Pathologien, die die

Moderne geschaffen hat, bedrohen das politische

Miteinander, da sie zu System- und Sachzwängen

führen, die Politik und Gesellschaft immer mehr

steuern. Die Wirtschaft entfaltet stetig wachsende

Wirkungsmacht und Einfluss, sie wird zur moder-

nen Handlungslogik. Habermas spricht von einer

„Kolonialisierung der Lebenswelt“.5 Das Leben der

Menschen passt sich immer mehr Markt- und Or-

ganisationsimperativen an, wobei ihre Freiheit ver-

loren geht; so wird das Leben zu einer bloßen Il-

lusion von Freiheit. Mit dem

Impetus, einer solchen nega-

tiven Sichtweise zu entkom-

men und einen praktischen

Ausweg vorzuschlagen, ent-

wickelt Habermas seine poli-

tische Theorie. In dieser kommt der Öffentlichkeit

eine wichtige Rolle zu, die sich in Medien, aber auch

im persönlichen Austausch artikuliert. „Der Zustand

einer Demokratie lässt sich am Herzschlag ihrer po-

litischen Öffentlichkeit abhorchen“.6

Die Demokratie ist die einzige vernünfti-

ge Praxis zur politischen Gestaltung, da in ihr nor-

mative Grundsätze kommunikativ gewonnen und

realisiert werden können. Der Rechtsstaat schützt

nicht nur kommunikative Freiheiten, sondern bringt

5 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns II, S. 522.

6 Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, S. 25.

sie zur Geltung, ohne die Gegebenheit von Institu-

tionen und Recht zu übersehen. Es besteht ein un-

auflöslicher Zusammenhang zwischen der Idee der

Menschenrechte, der Souveränität des Volkes und

deren Umsetzung im Diskurs.7

Das Recht kann „ohne religiöse oder meta-

physische Rückendeckung“ seine „sozial-integrati-

ve Wirkung“ nur dadurch bewahren, dass sich die

Bürgerinnen und Bürger, die daran gebunden sind,

in ihrer Gesamtheit als vernünftige UrheberInnen

dieser Normen verstehen können.8

Im Diskurs werden also legitime, verbindli-

che Regeln geschaffen, man einigt sich auf mora-

lische Normen. Diese lassen sich in einer solchen

„Diskursethik“ nicht mehr – wie beispielsweise in

der Philosophie der Antike bei Aristoteles – von ei-

nem absoluten Guten, einem summum bonum,

ableiten.

Für eine Diskurstheorie der Moral ist die

Unterscheidung zwischen partikularen ethischen

Fragen des guten Lebens und einer allgemeinen,

für alle geltenden Moral zentral, wie Habermas be-

tont. Beide unterscheiden sich in ihren Geltungs-

ansprüchen. Ethische Werte beziehen sich auf

individuelle Lebensformen und Überzeugungen,

auf das für das Individuum Gute, das eben je nach

Person unterschiedlich sein und bewertet werden

kann. Moralische Normen hingegen erheben ei-

nen allgemeinen Geltungsanspruch, sie erlangen

ihre Gültigkeit durch ihre argumentative Festigung

im Diskurs.9 Der Begriff der Moral bezieht sich auf

die Normen des richtigen Han-

delns, die dann universell gültig

sind, wenn sie diskursiv gebildet

wurden, das heißt, wenn alle Be-

troffenen als Teilnehmende am

Diskurs zustimmen könnten.10

Habermas Diskursethik verzich-

tet auf Letztbegründung und metaphysischen Gel-

tungsanspruch, selbst der oben erwähnte Grund-

satz, dass alle zustimmen können müssen, besitzt

keinen solchen letztbegründenden Anspruch.11

Habermas besteht jedoch auf der universellen Gül-

7 Vgl. ebd., S. 758f.

8 Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurs-

theorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 51f.

9 Vgl. Forst, Diskursethik , in: Brunkhorst, Kreide, Lafont (Hg), Haber-

mas-Handbuch 2009,S. 306.

10 Vgl. Habermas, Jürgen, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 12.

11 Vgl. Forst, Diskursethik, S. 307.

Blütenlese

Es besteht ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen der Idee der Menschenrechte, der

Souveränität des Volkes und deren Umsetzung im Diskurs.

90 cog!to 06/2013

tigkeit der diskursiv errungenen, vernünftigen Nor-

men. Im Diskurs werden die Normen zwar ausdis-

kutiert und formuliert, doch dass sie auch befolgt

werden, ist ein soziales Phänomen und erfordert

„entgegenkommende Lebensformen“.12 Damit alle

Betroffenen den diskursiv gewonnen moralischen

Einsichten zustimmen können, müssen die Nor-

men universal gültig sein: Im Diskurs sind nur ver-

nünftige Argumente zugelassen, die allen zugäng-

lich sind. So kristallisieren sich kulturübergreifen-

de, allgemein strukturierte Normen heraus.

Die neue Rolle der Religion bei Habermas Die Rolle der Religion bestimmt Habermas

in seiner Diskurstheorie und seinem nachmeta-

physischen Denken nun neu, was durchaus kein

unproblematischer, doch ein nachvollziehbarer

Schritt ist. Habermas legt dar, dass die postsäkula-

re Gesellschaft ihr Verhältnis zu religiösen Bürge-

rinnen und Bürgern neu bestimmen muss.

Religiöse Argumente können Werte und

semantische Potentiale bergen, auf die ein Staat

nicht verzichten sollte, denn es ist nicht leicht für

ihn, seine Bürgerinnen und Bürger selbstständig zu

politischer Partizipation und gesellschaftlicher Soli-

darität zu motivieren.

Um diese Potentiale im säkularen Kontext

nutzbar zu machen, müssen sie in eine vernünftige

Sprache übersetzt werden, die alle Menschen ver-

stehen und nachvollziehen können. Habermas plä-

diert dafür, dass die Philosophie von der Religion et-

was lernen könne, doch dürfe sie nicht hinter schon

Erreichtes zurückfallen. Er spricht sich für vernünf-

tige Diskurse aus und sucht nach Wegen, metaphy-

sische Reste zu integrieren, ohne die Vernunft zu

vernachlässigen. Habermas postuliert entschieden

ein Überwinden des metaphysischen Denkens.13

12 Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 25.

13 „Mit dem Begriff ›nachmetaphysisches Denken‹ kennzeichnet Ha-

Es ergeben sich nicht unerhebliche Spannungen

und Fragen aus Habermas Schriften. Einerseits

pocht er vehement auf eine Überwindung der Me-

taphysik und des metaphysischen Denkens, was

auch religiöses Denken einschließt. Andererseits

lässt er Platz für die semantischen Potentiale re-

ligiöser Argumente, gesteht ihnen Relevanz und

Geltungsanspruch zu und weist auf die gemein-

same Entstehungsgeschichte von Vernunft und

Glauben hin, um deren Unterschiede zu betonen.

Wird er nun seinem Anspruch des „Nachmeta-

physischen“ gerecht oder bedeutet seine neuer-

liche Aufwertung der Religion eher einen Rück-

schritt hin zu metaphysischem Denken?

Habermas gelingt die Synthese aus sei-

nen verschiedenen philosophischen Implika-

tionen. Er verschließt nicht die Augen vor Ver-

änderungen und denkt seine Theorie weiter.

Als Denker der modernen Demokratie im

Sinne einer politischen Emanzipation der Menschen,

macht er den Abschied von einer absoluten Wahrheit

und einem Begriff des Guten unumgänglich.

Im politischen Diskurs können moralische

Normen einer Gesellschaft festgelegt und formu-

liert werden, doch entstehen diese aus der Beteili-

gung verschiedener Standpunkte heraus und nicht

aus der Orientierung an etwas Höherem. Trotzdem

benötigt die Moderne ein Sicherungsnetz, welches

zu einem Teil religiöse Vorstellungen bieten kön-

nen. In der „zerknirschten Moderne“14 kann Religi-

on ein ethischer Anker sein und eine Stütze für mo-

ralische Normen bieten, die im Diskurs verhandelt

werden.

bermas Weisen des Philosophierens, die heute einzig noch möglich

sind. Dabei verwendet er ihn in zweierlei Hinsicht, einmal als kritisch-

negativen Gegenbegriff zu einer diagnostizierten ›Rückkehr zur Meta-

physik‹, zum anderen als positive Umschreibung für ein nach der Me-

taphysik noch mögliches philosophisches Denken, das den Anspruch

einer umfassenden Realität nicht aufgibt.“ Lohmann, Georg, Nachme-

taphysisches Denken, , in:  Brunkhorst, Kreide, Lafont  (Hg), Haber-

mas-Handbuch 2009, S. 356.

14 Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, S. 113.

Blütenlese

Von Lea Watzinger

91cog!to 06/2013

In seiner 2009 mit dem Hegel-Preis ausge-zeichneten Untersuchung „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ stellt Michael Tomasello Darwins Überle-gungen über den Ursprung unserer kogni-tiven Fähigkeiten in Frage und eröffnet neue Wege der Betrachtung.

Zweifel an der Evolutionstheorie aus Gründen feh-

lender Überzeugungskraft sind in unserer Gesell-

schaft gegenwärtig ebenso unvorstellbar wie ihre

Ablehnung mangels Verträglichkeit mit dem be-

stehenden Weltbild. Für den Einzelnen erscheint

die Theorie absolut plausibel und unmittelbar

nachvollziehbar. Auch der theologische Diskurs

hat sich längst daran gemacht, die das Menschen-

geschlecht vermeintlich kränkenden Aussagen mit

ihrer Vorstellung einer göttlichen Schöpfung zu

vereinbaren. Und doch bleiben ihre Thesen belieb-

tes Instrument atheistischer Argumentationen.

Führende Wissenschaftler neigen dazu, das Phäno-

men des Geistes restlos aus ma-

teriellen Umständen abzuleiten. Ungeachtet etwaiger existenti-

eller Implikationen werden die

Aussagen gemeinhin jedoch nicht

nur für selbstverständlich genom-

men, sondern gar leichtfertig zur Begründung der

menschlichen Denkfähigkeit herangezogen. In sei-

ner Untersuchung Die kulturelle Entwicklung des

menschlichen Denkens erklärt Michael Tomasello,

warum das universal einsetzbare Erklärungsprinzip

von Mutation und Selektion jedoch nicht hinreicht,

um den Funktionsmechanismus unserer mensch-

lichen Kernkompetenzen zu ergründen. Damit

schließt er eine kaum wahrgenommene Erklä-

rungslücke. Nicht indem er demonstrativ auf eine

metaphysische Ebene ausweicht, stattdessen führt

er ein anderes, paralleles, jedoch nicht reduzieren-

des Entwicklungsmoment ein: Die hintergründige,

aber eklatante Schwierigkeit einer Beschreibung

unserer kognitiven Fähigkeiten und damit verbun-

denen Reaktionen mittels der Erklärungsstrategie

nach Darwin, also der Annahme einer rein phy-

logenetischen, sprich stammesgeschichtlichen

Entwicklung dieser Merkmale, besteht in der feh-

lenden Berücksichtigung ihres Zeithorizontes. Für

die körperliche Entwicklung des modernen Men-

schen steht seit dem Auftauchen des ersten Men-

schenaffen vor etwa 33-35 Millionen Jahren ein

langer Zeitraum zur Verfügung. Der Beginn der

Ausprägung kognitiver Fertigkeiten ist jedoch erst

vor etwa 250000 Jahren anzusetzen, im unwahr-

scheinlicheren und frühesten Fall vor 6 Millionen

Jahren mit dem Niveau eines Vormenschentypus,

der aber auf vernachlässigbarer, tierähnlicher Ebe-

ne operierte. Diese verhältnismäßig kurze Zeit-

spanne kann laut Tomasello nicht ausreichen, um

die komplexen menschlichen geistigen Fähigkeiten

mittels der evolutionären Prozesse von Mutation

und Selektion zu erklären. Für die Verbreitung ei-

ner erfolgreichen neuartigen Vari-

ante in einer Population sind tau-

sende Generationen erforderlich.

Darum lehnt Tomasello die so-

genannte Modularitätstheorie ab,

die für jedes geistige Vermögen

ein genetisch basiertes Modul fordert. Anstelle von

evolutionsbiologischen Adaptionen sieht er nur die

Möglichkeit einer gesamten, übergreifenden An-

passung, nämlich die der kulturellen Evolution bzw.

Soziogenese. Dabei bleiben die phylogenetischen

Veränderungen natürlich als Voraussetzungen un-

abdingbar. Um zu verstehen, warum Menschen-

affen in kultureller Umgebung nicht zu menschli-

chen Fähigkeiten und Verhalten gelangen, darf die

kulturelle Evolution nicht als alleinige Erklärung

der höheren Kognition angenommen werden. Eine

vorausgegangene stammesgeschichtliche, durch-

aus durch Selektionsmechanismen bedingte Ent-

wicklung muss das Fundament für die Möglichkeit

Die kulturellen Bedingungen der KognitionWo die Evolutionstheorie an ihre Grenzen stößt.

Blütenlese

Von Nastasja Dresler

Führende Wissenschaftler nei-gen dazu, das Phänomen des Geistes restlos aus materiellen

Umständen abzuleiten.

92 cog!to 06/2013

gegenwärtiger intellektueller Komplexität gelegt

haben. Was den Menschen vom Menschenaffen

mitunter in basaler kognitiver Hinsicht unterschei-

det und für eine kulturell motivierte Entwicklung

ausschlaggebend gewesen sein könnte, ist sein

Verständnis seines Gegenübers als intentionaler

Akteur und die Voraussage seines Verhaltens. Der

Andere wird als Gleichgesinnter und potentiel-

ler Kooperationspartner identifiziert. Der Unter-

schied zwischen der menschlichen Sozialität und

dem Verständnis der Affen für ihre Artgenossen

ist ein gradueller, aber signifikanter. In der soge-

nannten Soziogenese wird diese außerordentli-

che und überdurchschnittliche Primatenfähigkeit

in eine kulturell basierte Kognition transformiert: Das Können zum produktiven Miteinander ist ent-

scheidend, denn Angehörige einer Gemeinschaft

steigern ihre Überlebenschancen, indem sie auf

den Wissensschatz ihrer Artgenossen zurück-

greifen können und nicht erst neue, eigene Mit-

tel und Wege zur Lebensbewältigung erproben

müssen. Durch das unmittelbare Anknüpfen an

bereits vorhandenes Wissen entstehen schneller

neue Innovationen, so dass es zu einer exponen-

tiellen Akkumulation von Errungenschaften und

Fortschritt über Generationen hinweg kommt. To-

masello bezeichnet diesen Prozess als „Wagenhe-

bereffekt“. Zuverlässig stabilisiert werden die Ide-

en durch gezielten Unterricht, Imitationsvermögen

und wechselseitiges Abstimmen. Die größeren und

umfassenderen Veränderungen beruhen somit da-

rauf, dass meist eine Gruppe von Individuen an ein

bestehendes Ergebnis anknüpft und dieses modi-

fiziert. Tomasello unterscheidet zwei höhere kog-

nitive Bereiche, auf denen diese in ihrer Komple-

xität menschenspezifischen Fertigkeiten realisiert

werden: Sprache und Mathematik. Jede in einem

Stamm oder Volk überlieferte Sprache hat ihr eige-

nes Inventar an Symbolen und Konstruktionen, das

in universalen Strukturen menschlicher Kognition

und organischer Kommunikationsfähigkeit grün-

det. Auch die Mathematik beruht auf dem univer-

sal menschlichen Sinn für Quantität, ihr Gebrauch

richtet sich jedoch nach dem verschiedenen Be-

darf. Primitivere Kulturen begnügen sich mit ein-

fachem Zählen, während westliche Zivilisationen

komplizierte Messverfahren entwickelt haben. Auf

der Mikroebene betrachtet, sind Soziogenese und

Kulturgeschichte als eine Abfolge von unendlich

vielen Ontogenesen, also Individualentwicklun-

gen aufzufassen, wonach Individuen auf eine vor-

strukturierte Welt treffen, diese internalisieren und

schließlich an ihr teilhaben und in diese eingreifen.

In den ersten drei Jahren ihrer Entwicklung imitie-

ren Kinder eifrig. Nach einem kreativen Schub den-

ken sie ab dem Alter von vier/fünf Jahren jedoch

selbstregulierter und motivieren im idealtypischen

Fall den soziogenetisch erwirkten Fortschritt der

Menschheit.

Mit all seinen Überlegungen spricht To-

masello aus der Rolle eines Naturwissenschaftlers,

nicht jedoch eines Naturalisten: Er untersucht den

Einfluss sozialer bzw. kultureller Tätigkeit auf die

menschliche Kognition, einem ehemals den Geis-

teswissenschaften vorbehaltenen Gegenstand,

mittels einer naturwissenschaftlichen Technik,

ohne dabei jedoch reduktionistisch vorzugehen.

Die Welt des Geistigen entwickelt sich dank ihrer

Eigendynamik und wird nicht aus ihrer natürlichen

Grundlage abgeleitet. Natürlich lässt sein Ansatz

viele Fragen offen. Gerade die abstrakte, nur sche-

menhafte Bestimmung vieler Merkmale, insbeson-

dere die unbestimmten Differenzierungen von der

Gradualität eines Phänomens wie die zwischen

menschlichen und äffischen Fähigkeiten trägt

nicht dazu bei, die beschriebene Erklärungslücke

vollends zu schließen. Vielleicht ist die Forschung

auch gar nicht in der Lage, dies in concreto zu leis-

ten. Tomasellos Beitrag ist für den Diskurs trotzdem

von beträchtlicher Bedeutung. Er liefert ein mögli-

cherweise zentrales Puzzlestück, an welches, ganz

im Sinne seiner Theorie von der kulturellen Evolu-

tion, die Forschergemeinschaft zum Zwecke einer

Annäherung an ein besseres Verständnis unseres

Wesens anstücken kann.

Von Nastasja Dresler

Blütenlese

Literatur:

Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Den-

kens (Titel kursiv), 2002, Suhrkamp, Frankfurt am Main

93cog!to 06/2013

Gemessene Daten – oder Erkenntnisse?Im interdisziplinären „Tutzinger Diskurs“ beschäf-tigten sich junge WissenschaftlerInnen zusammen mit JournalistInnen mit der Frage, was gute Wissen-schaft ausmacht.

Was sind die Grundlagen

„guter“ Wissenschaft? Mit 22

Nachwuchswissenschaftle-

rInnen aus den Disziplinen

der Philosophie, den Natur-

und Lebenswissenschaften,

der Soziologie sowie einigen

Wissenschaftsjournalist-

innen haben wir uns über

fünf Monate hinweg drei Mal

je drei Tage getroffen, um uns

dieser Frage zu widmen. Da-

bei stand jeweils ein Thema

aus den Lebenswissenschaf-

ten im Vordergrund – wie die

synthetische Biologie, bei der

Lebewesen am Reißbrett ent-

worfen werden sollen, oder

die Verbesserung von kogni-

tiven Fähigkeiten, dem so ge-

nannten Neuroenhancement.

Die Idee zum Projekt hatten Wis-

senschaftsjournalistInnen, für die

sich die Frage nach der „guten

Wissenschaft“ in letzter Zeit oft

gestellt hatte. Mit der Akademie

für politische Bildung in Tutzing

fand der Diskurs ein gastfreund-

fremde) Tun wie auch Ergebnisse

kritisch zu hinterfragen. Hierzu

braucht Wissenschaft ihre Frei-

räume.

Über die dokumentierte

Publikation hinaus ermöglichte

die Konzeption des Projekts einen

Prozess, der im universitären All-

tag eine Sondersituation darstellt.

Denn schon beim ersten Zusam-

mentreffen wurde deutlich, dass

die Thematik der synthetischen

Biologie vor allem dazu diente,

die Perspektive und den Erkennt-

nisausschnitt der anderen For-

schenden wahrzunehmen, um

überhaupt wechselseitige Diskus-

sion zu ermöglichen. Obwohl alle

Beteiligten Interesse am interdis-

ziplinären Arbeiten hatten (was

Voraussetzung für die Teilnahme

war), trafen sehr unterschiedliche

Welten aufeinander. Der Prozess

ein wechselseitiges Verständ-

nis zu entwickeln, war jedoch

für alle bereichernd. Der Begriff

„Leben“, kann beispielsweise aus

biologischer Sicht durch Fakto-

ren wie Reproduktionsfähigkeit,

liches Dach, zur Finanzierung

wurden über das BMBF Dritt-

mittel eingeworben. Ziel war es,

den „Stand der Wissenschaft“

aus Sicht von Nachwuchswis-

senschaftlern zu reflektieren und

in einer Abschlusspublikation zu

dokumentieren. Heraus kam ein

Memorandum, das sich teilwei-

se mit dem derzeitigen Konsens

guter wissenschaftlicher Praxis

überschneidet, aber auch über

diesen hinausgeht. Angetrieben

von den oft eigenen, negativen

Erfahrungen aus der Welt der

Wissenschaft diskutierten wir im

Plenum und erarbeiteten in klei-

nen Teams die Themen, die uns

unter den Nägeln brannten – wie

ethische und demokratietheore-

tische Grundlagen der Bildung

guter WissenschaftlerInnen oder

der Kommerzialisierung von For-

schung. Wir versuchten, nicht

nur Problemfelder, sondern auch

Lösungswege aufzuzeigen. Zen-

traler Aspekt war immer, dass

Forschung die innere und äußere

Freiheit braucht, das eigene (und

Blütenlese

Dr. Nora Hangel und Hinnerk Feldwisch-Drentrup

94 cog!to 06/2013

Entwicklung, Wachstum und Metabolismus opera-

tionalisiert werden. Während dieser Begriff in den

Sozialwissenschaften im jeweiligen Kontext immer

wieder neue Bedeutungsinhalte mit

sich bringt, fühlten sich die Philo-

sophInnen gefordert, den Begriff

unter den neuen technischen Be-

dingungen, welche die scheinbare

Herstellung von Leben ermöglicht,

neu zu untersuchen. Welche Be-

deutungsinhalte von „Leben“ sind

entscheidend, um beispielswei-

se die normativ relevanten Fragen

diskutieren zu können? Welche unterschiedlichen

Qualitäten und Faktoren von Leben bzw. Leben-

digkeit sind normativ signifikant, um verbindliche

Sätze zur Handlungsorientierung im Umgang mit

synthetischem Leben zu formulieren? Oder sind

normative Fragestellungen hier gänzlich verfehlt?

Wie verhalten sich die Forschungsfreiheit und die

Ziele der Lebenswissenschaften zu Interessen der

Gesellschaft und was bedeutet das für die Hand-

lungsverantwortung von Forschenden?

Konstruktive ReibungÜber die Auseinandersetzung mit der syntheti-

schen Biologie oder dem Neuroenhancement

ermöglichte der Tutzinger Diskurs, die innerhalb

der eigenen Disziplin erworbenen Kenntnisse

und Kompetenzen einzubringen, und gleichzei-

tig die eigenen interdisziplinären Kompetenzen

zu erweitern. Er stellte zudem eine Situation her,

in der die Dynamiken, die auch in der Forschungs-

gemeinschaft spürbar sind, in unserem kleineren

Raum wahrnehmbar wurden. Neben der notwen-

digen Kooperation, um in Diskussionen zu einem

Konsens zu kommen – oder auch im Dissens zu

bleiben – gab es beispielsweise wiederholte Dis-

kussionen darüber, welche Disziplinen zur „Wis-

senschaft“ zählen. Unterschiedliche Auffassun-

gen darüber, welche Begriffe sinnvoll oder für die

Diskussion nicht dienlich seien: „Freiheit ist für die

Physik ein leerer Begriff“, sowie die Herangehens-

weise, wie man zur Beantwortung der gestellten

Fragestellung vorgeht, ja die Fragestellung selbst,

kurz alle Fragen, die unter Bedingungen der An-

erkennung in der Wissenschaft diskutiert wer-

den, schwangen bis zuletzt mit. Hier lässt sich

feststellen, dass die Reibung, die durch die

verschiedenen Hintergründe

der Teilnehmenden entstand,

konstruktiv war: da, wo es heiß

wurde, war es tatsächlich inte-

ressant.

Dies spiegelt sich im

vorgestellten Memorandum

zum Beispiel darin, dass durch-

gehend Wert darauf gelegt

wird, die Reflexionsfähigkeit

der einzelnen Wissenschaften zu fördern und

besser auszubilden – beginnend schon in der

Schule. Außerdem soll die metrische Evaluati-

on von Wissenschaft zwar ihren berechtigten

Platz erhalten, andererseits aber aus jenen

Bereichen gedrängt werden, in denen Origi-

nalität und Innovation über den bestehenden

Kanon hinausweisen und die Gefahr besteht,

dass kontroverse Meinungen durch konserva-

tive Systeme der Begutachtung eingeschränkt

werden. Zudem entstand das wachsende Be-

dürfnis nach interdisziplinärem Austausch

schon zu Beginn des Studiums. Auch die wis-

senschaftliche Methode – also der Weg, wie

ein bestimmter Forschungsgegenstand erar-

beitet und erforscht wird – blieb bis zuletzt

Diskussionsgegenstand. Denn während in den

geisteswissenschaftlichen Disziplinen die For-

schung auch darin besteht, das Themenfeld zu

bearbeiten, um es genauer einzugrenzen und

neue Zusammenhänge zu erkennen, ist der

Erkenntnisgewinn in den Naturwissenschaften

oft ein anderer. Hier gilt es, durch empirische

Datengewinnung, Laboruntersuchungen oder

Feldforschung abgeleitete Erkenntnisse zu ge-

nerieren

Lenkung der Aufmerksamkeit Im Rahmen des Diskurses stellten sich die be-

kannten ethischen Fragestellungen, die sich

durch die Frage nach der guten Wissenschaft

in den Lebenswissenschaften direkt ergeben

– da letztere unser Menschenbild und die Fra-

Blütenlese

Hier lässt sich feststellen, dass die Reibung, die durch die verschiedenen Hinter-

gründe der Teilnehmenden entstand, konstruktiv war:

da, wo es heiß wurde, war es tatsächlich interessant.

95cog!to 06/2013

ge, wie wir leben wollen, direkt mitbestimmen.

Beim Thema „Neuroenhancement“ stellte sich

erst durch die Diskussion mit ExpertInnen auf

dem Gebiet heraus, dass dieses Thema von Sei-

ten der Ethik stark problematisiert wird, wäh-

rend es sich naturwissenschaftlich betrachtet

eher um heiße Luft handelt – da es sich streng

gesehen bei Neuroenhancement um ferne

Zukunftsmusik handelt. Durch den journalis-

tischen Hintergrund einiger Teilnehmenden

war daher auch die mediale Vermittlung von

Wissenschaft ein wichtiger Faktor. Durch die

Vermeidung unrealistischer

Zielsetzungen und haltloser

Versprechungen durch For-

schende sollen Hypes vermie-

den werden, welche das öffent-

liche Interesse auf eigentlich

irrelevante Nebenschauplätze

lenken kann – während die

eigentlich wichtigen Fragen

nicht beachtet werden. Warum

geisteswissenschaftliche The-

men und Problemstellungen

durch den Wissenschaftsjournalismus weni-

ger vertreten sind als naturwissenschaftliche

müssen sich nicht zuletzt die Geisteswissen-

Zu Dr. Nora Hangel:

Nora Hangel ist Mitarbeiterin im Exzellenzcluster der Uni-versität Konstanz. Zuvor war sie Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien. Frau Hangel studierte Philosophie und Genderfor-schung in Salzburg, Graz,

Wien sowie Montclair (NJ, USA) und ist Traine-rin und Coach in der Erwachsenenbildung. Sie wurde mit einer Arbeit über die Bedingungen für Verantwortung in der Praktischen Philo-sophie promoviert. Ihre gegenwärtigen For-schungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wissenschaftsforschung sowie der Ethik und der angewandten Ethik.

Zu Hinnerk Feldwisch-Drentrup:

Hinnerk Feldwisch-Drentrup studierte Neuroinforma-tik und Physik in München (LMU) sowie den Universi-täten Bonn, Edinburgh und Freiburg. Anschließend ar-beitete er an der Universität Freiburg an neurowissen-

schaftlichen Forschungsprojekten, wobei er auch Aufgaben im Bereich Presse- und Öffent-lichkeitsarbeit übernahm. Inzwischen ist er als freier Wissenschaftsjournalist tätig.

schaftlerInnen selbst fragen. Dieser kommt je-

doch eine zentrale Rolle zu, denn mediale Auf-

merksamkeit und öffentliches Interesse sind

nicht unbeteiligt an Politik – wie auch der For-

schungsförderung, die über die Kriterien der

Mittelvergabe die Basis für gute Wissenschaft

fördern oder vernachlässigen kann.

Im Laufe der verschiedenen Treffen erweiterte

sich das Erkenntnisinteresse im Tutzinger Dis-

kurs auf die Methodologie, Wissenschaftsthe-

orie, die Schnittstelle zwischen Gesellschaft

und Wissenschaft, bis hin zu transdisziplinären

Fragen wie die Technikfolgen-

abschätzung.

Für uns alle war es ein

spannendes Erlebnis, gerade

im Austausch mit den ande-

ren Disziplinen. Wir planen, es

in Form eines Blogs auf www.

gute-wissenschaft.de interak-

tiv fortzusetzen – und freuen

uns nicht nur über Rückmel-

dungen zum Memorandum

(http://tutzinger-diskurs.de/

gute-wissenschaft/gute-wissenschaft/), son-

dern auch über Beiträge von Eurer Seite, was

für Euch „gute Wissenschaft“ ausmacht.

Von Dr. Nora Hangel und Hinnerk Feldwisch-Drentrup

Blütenlese

Im Laufe der verschiedenen Treffen erweiterte sich das Er-kenntnisinteresse im Tutzinger

Diskurs auf die Methodolo-gie, Wissenschaftstheorie, die Schnittstelle zwischen Gesell-schaft und Wissenschaft, bis

hin zu transdisziplinären Fragen wie die Technikfolgen-

abschätzung.

96 cog!to 05/2013

GEWINNERESSAY WETTBEWERB

RUBRIK

96 cog!to 06/2013

In unserer ersten Ausgabe hatten wir einen Essay Wettbewerb ausge-schrieben. Hier könnt ihr nun den Sieger-Essay von Fabian Heinrich lesen.

Passend zu unserer Leitrubrik Philosophie und Alltag sowie zum Motto der Zeitschrift behandelt der Text das gute, aber auch das schöne (und

damit natürlich auch das wahre) Leben. Die Redaktion wünscht Euch viel Spaß beim Lesen und leitet Fragen an den Autoren gerne weiter.

97cog!to 06/2013

Begegnung vor dem Spiegel - oder die Frage nach der moralischen Pflicht, sich selbst eine Form zu geben.

Was ist der Mensch? Auf diese Frage lässt sich nach Immanuel Kant alle philosophische Überlegung über den Menschen zurückfüh-ren. In der moralischen Selbstbestimmung geht der Mensch über sich hinaus, wird au-tonom, und gibt sich selbst eine Form. Moral und Schönheit stehen dabei in einem engen Zusammenhang, der unsere gesamte Kultur-geschichte durchzieht - das Schöne, Wahre und Gute bildete schon für Platon eine Einheit. Die Ethik zeigt uns: Gutsein kann der Mensch lernen. Doch wenn das Gute das Schöne ist, können wir dann lernen schön zu sein?

1. Der Mensch - ein Ästhet?

Es ist so charakteristisch für den Menschen, sich

einen Spiegel erfunden zu haben!

Der Blick in den Spiegel, den wir täglich

am Morgen und am Abend vollziehen, hat etwas

Bezeichnendes: Er führt uns selbst vor Augen und

versichert uns damit zugleich unserer menschli-

Essay Wettbewerb

Von Fabian Heinrich

„Aber der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter.“Goethe: Die Wahlverwandtschaften

„Was uns an der sichtbaren Schönheit ent-zückt, ist ewig nur die unsichtbare.“ Marie von Ebner-Eschenbach, Aphorismen

98 cog!to 06/2013

Nun kann man behaupten, die Form des

Menschen existiere doch ohnehin schon. Es

bedürfe keines Hinzutuns durch den Menschen,

um eine Form zu bekommen. Dies mag zunächst

richtig sein, aber die Form des Menschen existiert

etwa in der Weise, in der für Kant Raum und Zeit

existieren: Sie ist a priori notwendig. Es ist uns

nicht denkbar, den Menschen ohne seine Form zu

denken. Ein Mensch gänzlich ohne Form (im Sinne

von ohne linearer Körperbegrenzung) wäre für uns

ganz irrelevant, da er nicht im Spektrum unserer

Wahrnehmungsmöglichkeiten läge. Würde man

davon absehen, so müsste dem oben erwähnten

Einwand Recht gegeben werden. Doch hier ist die

Rede nicht von der dem Menschen durch Geburt

gegebenen Form, seiner Abgrenzung zur Umwelt,

sondern hier ist die Rede von jener Form, in der

der Mensch das ihm bloß Gegebene einzig und

allein durch seinen Willen ergänzt und ausbaut; die

Kultivierung seiner Form durch seine Freiheit.

Es war Immanuel Kant, der als erster so

ausdrücklich in der Grundlegung zur Metaphysik

der Sitten formuliert hat, dass es des Menschen

Pflicht sei, seine eigenen Talente und Fähigkeiten

auszubauen, zumindest sie nicht verwahrlosen zu

lassen (Maxime der Selbstverwahrlosung). Der

Mensch würde sich selbst widersprechen, wenn er

seine Naturanlagen verrosten ließe, „denn als ein vernünftiges Wesen will er notwendig, dass alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich

und gegeben sind“2. Natürlich könne ein Mensch

mit der eigenen Maxime leben, dass er seine

Naturgaben nicht zur Vollkommenheit bringen

möchte, aber als Vernunftwesen kann er unmöglich

wollen, dass dieses ein allgemeines Naturgesetz

werde. Genau darin läge der Selbstwiderspruch

und ein moralischer Verstoß. Die Art, auf diese

Weise sein Leben zu führen, ist also durchaus

denkbar, aber eben nicht widerspruchslos denkbar

und gehört damit für Immanuel Kant zu den

„unvollkommenen Pflichten“.

2 GMS AA 04: 423. 13-16

chen Eigenart, uns zu etwas in Relation zu setzen.

In diesem Falle zu uns selbst, was uns jener Eigen-

schaft versichert, durch die wir uns von unseren

tierischen Weltmitbewohnern am meisten unter-

scheiden: Der (ästhetischen) Selbstreflexion.

Der Mensch geht offensichtlich davon aus,

seinen Lebensraum nie alleine zu betreten, und was

kommt ihm da gelegener als ein Spiegel? Hier kann

er sich seines äußerlichen Wirkens auf seine Artge-

nossen versichern. Das Bild, das er sich am Morgen

vor dem Spiegel gibt, ist jenes Bild, das der Mensch

sich selbst gibt, und es ist jenes Bild von sich, dass

er in den öffentlichen Raum tragen will, mit dem er

anderen gegenübertreten will. Wir entscheiden uns

bewusst dazu, wie wir die Haare tragen wollen, mit

welchen Farben wir unsere Haut bedecken wollen

und welchen Geruch wir versprühen wollen. In all

diesen Handlungen tun wir etwas, was die Tiere

nie tun: Wir gehen über unsere natürliche, natur-

gegebene Form hinaus. Wir tun das nicht nur mit

unserer Äußerlichkeit, sondern auch mit unseren

körperlichen Fähigkeiten. Unsere Bedingung zur

verbalen Kommunikation mit anderen, die Stim-

me und ihr spezifischer Ton, der uns gegeben ist,

werden ausgefeilt und verfeinert, ja sogar geprobt.

Gibt es Vögel, die ihren Gesang proben? Gibt es

Hunde, die ihr Bellen perfektionieren wollen? Wir

können das nicht annehmen! Die naturgegebene

Fähigkeit der Tiere zur Lautäußerung wird so ein-

gesetzt, wie sie naturgegeben wurde, aber sie wird

nicht - wie beim Menschen - geprobt oder nach

den persönlichen Neigungen ausgefeilt. So kommt

es, dass Menschen sogar bereit sind, viel Geld dafür

bezahlen, zu sehen oder zu hören, wenn jemand

besonders gut war in der Perfektion seiner natürli-

chen Fähigkeiten: In Theater, Oper oder Ballett ist

uns dieses Bedürfnis bares Geld Wert. Ein Bedürf-

nis, das bei den Tieren nicht vorhanden ist. Was

tun wir also vor dem Spiegel? Wir versichern uns

des Menschseins und perfektionieren unsere äu-

ßere Form.1

1 Hellmuth Plessner fragt ganz zu recht, warum ausgerechnet die

Tätigkeit, die die Selbstreflexion anderen vor Augen führt, nämlich

die Schauspielkunst, so selten zu einem Thema der philosophischen

Betrachtung wurde. Siehe: Plessner: Zur Anthropologie des

Schauspielers, in: Ders.: Mit anderen Augen, Stuttgart 1982.

Essay Wettbewerb

99cog!to 05/2013 99cog!to 06/2013Essay Wettbewerb

100 cog!to 06/2013 Essay Wettbewerb

Doch ist mit dieser Pflicht zur Selbstverwirk-

lichung denn nur das gemeint, was etwa die Bal-

letttänzerin vor dem Spiegel tut, die Sängerin vor

dem Publikum oder der Mathematiker in täglichem

Selbsttraining seines Gehirns tut? Die Perfektion ih-

rer Fähigkeit, Körpereigenschaften einzusetzen und

maximal auszubauen? Es ist kaum vorzustellen, dass

Kant dabei auch im Sinn hatte, seine Äußerlichkeit

zu perfektionieren, zumindest ist davon nirgends

explizit die Rede.

Doch man muss, so meine ich, diese ver-

meintlich unwichtige - zunächst im allerwahrsten

Sinne des Wortes - oberflächliche Komponente in

diesen Kontext der Selbstpflicht mit einbeziehen,

wenn man der Kantischen Ethik und Ästhetik ganz

gerecht werden möchte. Innere Form und äußere

Form gehören untrennbar zueinander. Und davon

wusste auch Kant. Von diesem Aufzeigen des Zu-

sammenhangs der Schönheit durch die Innerlich-

keit und der Äußerlichkeit einer Person, davon soll

dieser Essay handeln.3

2.Der gute Mensch - ein schöner Mensch?

Unsere allgemeine und über alle Zeiten hinweg

feststellbare Vorstellung, dass das Schöne und das

Gute zusammengehören, ja, dass ein guter Mensch,

ein schöner Mensch sein muss, und dass man sich

einen schlechten Menschen zumindest als nicht

schön denken möchte, zeigt eine - das müssen

wir uns eingestehen - wahrlich kindliche Naivität

der Menschen an. Aber ob naiv oder nicht, dies sei

dahingestellt, denn: Diese Naivität gehört ganz of-

fensichtlich zu uns Menschen! Und sie durchzieht

unsere Kultur belegbar von den alten Griechen bei

Platon, die Renaissance, über die Märchen der Ro-

mantik bis zum heutigen Tage hindurch, an dem

einem schönen Politiker durchaus moralische Vor-

schusslorbeeren zugesprochen werden.4 Wir seh-

3 Freilich hat Kant trennscharf unterschieden: In einem logischen Urteil

dürfe demnach kein Platz für Gefühle sein und in einem Urteil über etwas

Schönes helfe uns die reine Logik oder moralische Bedenken allein nicht

weiter; Moralisches und Ästhetisches muss also getrennt werden. Doch

geht es hier nicht so sehr darum, einen Gegenstand zu beurteilen, son-

dern um die Frage, wie eine Person Schönheit nach außen tragen kann.

nen uns also offensichtlich danach, dass die Guten

die Schönen sind - auch wenn wir insgeheim wissen

müssen, dass wir da zu viel erwarten. In dieser Hin-

sicht muss man sagen, dass die ästhetische Moder-

ne ein gewaltiges Erbe angekratzt hat - wenn auch

nicht ganz zu Fall gebracht hat, denn die Überzeu-

gung, dass Hässlichkeit etwas ästhetisch Wertvol-

les sei, tritt erst hier wirkungsvoll auf den Plan. Die

verzogenen Gesichter Ernst Ludwig Kirchners oder

die ausgelöschten Gesichter Francis Bacons hätten

dem Renaissancemenschen wohl nicht nur wenig

getaugt, er hätte sie sehr wahrscheinlich gar nicht

recht verstehen können. Erst durch die ästhetische

Brille der Moderne sprechen wir auch der Hässlich-

keit moralische Qualität zu.

Für Kant stellt der Mensch als Gegenstand

zur Beurteilung etwas Schönem (zusammen mit

dem Kunstwerk und dem Ekelhaften) eine Aus-

nahme dar. Die bekannte Unterteilung, die Kant

zur Beurteilung eines schönen Gegenstandes vor-

nimmt, nämlich die der „freien“ und „anhängenden“

Schönheit wird beim Menschen sozusagen sus-

pendiert. Wir können nach Kant vom Menschsein

des Menschen gar nicht absehen und ihn als bloße

Form betrachten, so wie es eine Bedingung wäre,

zu einem Urteil über freie Schönheit zu kommen.

So wie der Botaniker zur Beurteilung einer Blume

vom biologischen Zweck absehen muss, ihn quasi

ausklammert und vor den Begriff Blume stellt um

so zu einem Urteil freier Schönheit zu gelangen, so

kann der Mensch nie zu einem solchen Gegenstan-

de werden. Die Schönheit ist ihm so grundsätzlich

immanent, dass sie nicht abstrahiert werden kann,

denn der Mensch hat seinen Zweck in sich selbst.

So erklärt uns Kant in der Kritik der Urt-

heilskraft: „Nur das, was den Zweck seiner Exis-tenz in sich selbst hat, der Mensch, der sich durch Vernunft seine Zwecke selbst bestimmen, oder, wo er sie von der äußeren Wahrnehmung her-nehmen muss, doch mit wesentlichen und all-gemeinen Zwecken zusammenhalten, und die Zusammenstimmung mit jenen alsdann auch

4 Die Affäre des Freiherrn zu Guttenberg zeigte dies so eindringlich,

indem ein nahezu unbekannter Politiker aufgrund seines äußerlichen

Auftretens in den Himmel gepriesen wurde, um dann, nach dem Auf-

decken seiner moralischen Desintegrität den gesamten Weg wieder

nach unten zu fallen. (Ein ähnliches Muster lässt sich dabei an all den

anderen Fällen der letzten Jahre studieren, sei es im Falle Wulffs, Chat-

zimarkakis oder Koch-Mehrin.)

101cog!to 06/2013

ästhetisch beurteilen kann: dieser Mensch ist also eines Ideals der Schönheit, so wie die Menschheit in seiner Person, als Intelligenz, des Ideals der Vollkommenheit, unter allen Gegenständen in der Welt allein fähig.“ 5

Hier haben wir es nun ausdrücklich und von

höchster Stelle gehört: Was den Menschen dazu

befähigt, zu einem solchen Ideal der Schönheit zu

werden, ist seine Eigenschaft, sich durch Vernunft seine Zwecke selbst zu bestimmen.

Allerdings müssen wir hier pedantisch werden: Der

Mensch ist dazu unter allen Gegenständen als ein-

ziger fähig. Heißt das denn, dass er es automatisch

schon immer ist? Hätte Kant dann nicht vom den

Wörtchen fähig sein absehen müssen und statt-

dessen nur von einem Ist sprechen sollen? Zu etwas

fähig sein, heißt doch letztlich, die Möglichkeit zu

etwas zu haben, also etwas, für das ich etwas tun

muss, zu dessen Zwecke und endgültigen Erfüllung

ich handeln muss. So verstanden bedarf es etwas

Hinzutun des Menschen, um zum Ideal der Schön-

heit aufzusteigen. Oder anders gesagt: Ohne eige-

nes und individuelles Handeln ist die Schönheit des

Menschen nicht so leicht zu haben.

Was ist nun bis hierher daraus gewonnen?

Nun, zunächst einmal nicht viel mehr als die Fest-

stellung, dass der Mensch an sich doch erst mal gar

nicht so schön sein kann, wie zunächst angenom-

men. Er muss offensichtlich durch bestimmtes Han-

deln über sich selbst hinaus gehen und sich so seine

eigene Form geben. Kann der Mensch tatsächlich

auf diese Weise zur Schönheit gelangen?

Bleiben wir dazu beim §17 der Analytik des

Schönen, der uns dazu weiteren Aufschluss gibt.

Kant fährt hier fort:

„Der sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen,

die den Menschen innerlich beherrschen, kann

zwar nur aus der Erfahrung genommen werden;

aber ihre Verbindung mit allem dem, was unsere

Vernunft mit dem Sittlich-Guten in der Idee der

höchsten Zweckmäßigkeit verknüpft, die Seelen-

güte, oder Reinigkeit, oder Stärke oder Ruhe, usw.

in körperlicher Äußerung (als Wirkung des In-

nern) gleichsam sichtbar zu machen: dazu gehö-

ren reine Ideen der Vernunft und große Macht der

Einbildungskraft in demjenigen vereint, welcher

sie nur beurteilen, vielmehr noch, wer sie darstel-

len will.“6

5 KdU AA 05: 233. 10-18

6 KdU AA 05: 235. 17-25

Die Rede ist hier von Darstellung! Um den Aus-

druck unserer sittlichen Ideen sichtbar zu machen,

sie darzustellen, brauchen wir Vernunft und Ein-

bildungskraft. Vorsichtig anders gesagt: Seine sitt-

lichen Ideen zum Ausdruck zu bringen, bedeutet

Arbeit an sich selbst.

Worin kann solche Arbeit bestehen? Da-

mit muss wohl gemeint sein, zunächst seine inne-

re moralische Integrität selbst zu gestalten. Ohne

sittliche Ideen in uns selber, können wir auch keine

sittlichen Ideen zum Ausdruck bringen. Die Arbeit

an sich selbst bedeutet hier also genauer genom-

men erst mal Arbeit in sich selbst. Erst dann, wenn

wir in uns selbst schlüssige und kohärente Wesen

sind, uns ein eigenes Sittengesetz gegeben haben,

können wir uns als in der Lage betrachten, diese

auch nach außen zu tragen, und damit: Schönheit

darzustellen.

Liegen wir mit dieser Vermutung richtig?

Lässt sich dies wirklich aus Kants Werken herausle-

sen? Um weiteren Aufschluss darüber zu erhalten,

müssen wir ein anderes Werk Kants bemühen, in

dem er sich explizit dazu äußert. Die Rede ist nun

von seiner Anthropologie in pragmatischer Hin-

sicht. Im §69 des zweiten Buches des ersten Teils

über das Gefühl der Lust und Unlust, schreibt

Kant unter der bereits vielsagenden Überschrift

Der Geschmack enthält eine Tendenz zur äu-

ßeren Beförderung der Moralität etwas, das des

guten Verständnis halber hier in voller Länge wie-

dergegeben werden muss:

„Der Geschmack (gleichsam als formaler Sinn) geht auf Mitteilung seines Gefühls der Lust oder Unlust an andere und enthält eine Empfäng-

Essay Wettbewerb

102 cog!to 06/2013 Essay Wettbewerb

lichkeit, durch diese Mitteilung selbst mit Lust affiziert, ein Wohlgefallen (complacentia) daran gemeinschaftlich mit anderen (gesellschaftlich) zu empfinden. Nun ist das Wohlgefallen, was nicht bloß für das empfindende Subjekt, sondern auch für jeden anderen, d.i. als allgemeingültig betrachtet werden kann, weil es Notwendigkeit (dieses Wohlgefallens), mithin ein Prinzip dessel-ben a priori enthalten muss, um als ein solches gedacht werden zu können, ein Wohlgefallen an der Übereinstimmung mit der Lust des Subjekts mit dem Gefühl jedes anderen nach einem allge-meinen Gesetz, welches aus der allgemeinen Ge-setzgebung des Fühlenden, mithin aus der Ver-nunft entspringen muss: d.i. die Wahl nach die-sem Wohlgefallen steht der Form nach unter dem Prinzip der Pflicht. Also hat der ideale Geschmack eine Tendenz zur äußeren Beförderung der Mo-ralität. - Den Menschen für seine gesellschaftli-che Lage gesittet zu machen, will zwar nicht ganz so viel sagen, als ihn sittlich-gut (moralisch) zu bilden, aber bereitet doch durch die Bestrebung in dieser Lage anderen wohlzugefallen (beliebt oder bewundert zu werden) dazu vor. - Auf die-se Weise könnte man den Geschmack Moralität in der äußeren Erscheinung nennen; obzwar dieser Ausdruck, nach dem Buchstaben genommen, ei-nen Widerspruch enthält; denn Gesittetsein ent-hält doch den Anschein oder Anstand vom Sitt-lichguten und selbst einen Grad davon, nämlich die Neigung auch schon in dem Schein desselben einen Wert zu setzen.“7

Was bedeutet das alles? Hier hat uns Kant

nun eine ganze Menge gesagt. Versuchen wir das

Wichtigste zu zergliedern:

1.Der Geschmack und das Wohlgefallen an selbi-gem ist ein Mittel des Menschen zur Kommunika-tion mit anderen, er ist gesellschaftsbildend.

2.Dieses Wohlgefallen enthält ein Prinzip a priori, es ist nicht empirisch.

3.Es entspringt der allgemeinen Gesetzgebung des Fühlenden, aus seiner Vernunft, es ist also autonom.

4.Es steht unter dem Prinzip der Pflicht 5.Der gute Geschmack macht uns nicht moralisch, sondern bereitet uns darauf vor.

Wie können wir das alles anders verstehen,

als eine Aufforderung Kants, die Pflicht gegenüber

sich selbst wahrzunehmen und seine Äußerlichkeit

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durch Innerlichkeit zu kultivieren? Es scheint nahe-

zu wie ein Appel an die gute Form, den guten Ge-

schmack, den guten Ton und den guten Umgang

mit anderen, kurz gesagt: an Stilfragen! Oder sagen

wir es doch ganz frei heraus: Der kantische Mensch

muss Stil haben!

3. Ein guter Anfang

Im Prinzip ist nun die im Titel dieses Essays formu-

lierte Frage beantwortet. Nach all dem, was wir

bis an dieser Stelle von Kant gehört haben, müs-

sen wir sagen, dass es eine moralische Pflicht gibt,

sich selbst eine Form zu geben. Wir haben damit

die Möglichkeit, unsere eigene Moral nach außen

zu tragen, Sittlichkeit anzuzeigen und dadurch ein

schöner Mensch zu werden. Allerdings sei auch ge-

sagt - und das wird oben im Punkt 5. deutlich: Wir

brauchen gar nicht erst anzunehmen, dass unser

guter Geschmack allein uns moralisch macht, son-

dern er - mit Kant gesagt - bereitet uns auf das Mo-

ralischsein lediglich vor. Und das ist doch ein ganz

guter Anfang! Geschmack ist so gesehen eine Vor-

stufe zum Moralischsein und wir haben Kraft un-

serer menschlichen Vernunft alle Mittel zur Hand,

weitere Stufen zu erklimmen. Der Geschmack hilft

uns, ebnet uns den Weg zur Moral. Aber um das

Wichtigste kommt keiner herum: Die Arbeit daran

müssen wir selbst erledigen!

Und was ist nun eigentlich mit dem Spie-

gel? Nun, der Mensch braucht ihn doch so gese-

hen eigentlich gar nicht. Zwar ist es schicklich und

durchaus ratsam - und schon gleich eine reine Höf-

lichkeit gegenüber anderen - auf seine Äußerlich-

keit zu achten; aber für die tatsächliche Schönheit

erfordert es doch erst mal einen inneren Spiegel!

4. Der schöne, gute Mensch: Ein tätiges Wesen

In einem bekannten Bühnenstück Georg Büchners

hadert dessen Hauptfigur, Leonce, mit der entsetz-

lichen Langeweile seines Daseins. Er beklagt sich

Tag ein, Tag aus, darüber, dass es ihm nicht gelingt

seine Existenz sinnvoll zu meistern, dass ihn keine

sinnvolle Tätigkeit interessiere. So lamentiert er re-

signiert vor sich hin:

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Verwendete Literatur:

Büchner, Georg: Leonce und Lena, Stuttgart 1952

Gerhardt, Volker: Individualität. Das Element der Welt, Berlin 2000

Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1-22 Preussische Akademie der Wissenschaf-ten, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaf-ten zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissen-schaften zu Göttingen. Berlin 1900ff. (Für diesen Essay insbesondere: KdU, GMS, Anth.)

Hellmuth Plessner: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982

Birgit Recki: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, Paderborn 2006

„Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regenschirm in die Hand geben, dass sie sehr rechtlich und sehr nützlich und sehr moralisch würde (...). Oh, wer einmal jemand anders sein

könnte. Nur ne Minute lang.“8

Für unsere Zwecke ist diese Stelle äußert

aufschlussreich, weil sie uns auf so anschauliche

Weise vor Augen führt, was man so gerne sein will,

aber was so leicht nicht zu haben ist, nämlich ein

moralisches Wesen, das seine Moral auch nach au-

ßen anzeigt, sie darstellt. Der Fehler von Leonce

liegt darin, dass er meint, allein durch die Mode, den

Frack, dem Regenschirm, also durch pure Äußerlich-

keit, „moralisch“ zu werden. Darin liegt seine Tragik:

Er, die arme Puppe, wird auf diese Weise niemals

moralisch werden und wird immer den Wunsch ha-

ben, jemand anders zu sein, so lange er nicht zu sich

selbst kommt, sich von innen, durch seine Vernunft

ein Sittengesetz, eine Moral gibt.

Damit wären wir wieder am Anfang an-

gekommen, dem Wunsch danach, dass der gute

Mensch ein schöner Mensch sein soll. Diesem

Wunsch ist, wie so viele andere, auch Büchners Le-

once erlegen.

8 Georg Büchner: Leonce und Lena, 1. Akt, 1. Szene

Hätte Leonce nur, anstatt seine Zeit auf das Lang-

weilen zu verschwenden und sich darin selbst zu

bemitleiden, die Entscheidung getroffen, ein Kant-

Studium zu beginnen - wäre er also tätig geworden

- hätte er einen Weg aus seiner selbstverschulde-

ten Misere eigenständig finden können.

Insofern muss man an dieser Stelle auch dem so

oft gehörten Klassiker der Kant-Kritik den Wind

gehörig aus den Segeln nehmen: Dass Kants Ethik

bloß formalistisch und dem individuell tatsächlich

Handelnden realitätsfern sei.

Denn wie ist das Thema dieses Essays wohl

anders zu verstehen, denn als eine Anleitung Kants

zu einem tätigen, praktischen Lebensvollzug?

Von Fabian Heinrich

Zu Fabian Heinrich:

Fabian Heinrich studierte Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Hamburg. Vor allem beschäftigte er sich mit dem verbindenden Element zwischen den beiden Dis-ziplinen: der Ästhetik. Darüber hinaus interessiert er sich besonders für Ethik, Politik und die Philosophie Immanuel Kants. Seinen Bachelor schloss der Gewinner unseres Essay Wettbewerbs unter der Betreuung von Prof. Dr. Wolfgang Kemp mit einer Arbeit über zeitgenössische Kunstsammler ab. Gerade bereitet er sich auf die Bewerbung für den Master in Philosophie an der LMU vor, wo er voraussichtlich ab Win-tersemester 13/14 studieren wird.

Essay Wettbewerb

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