Philosophie und Alltag - … · im studentischen Alltag nieder und warum überhaupt schiebt man so...
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1cog!to 06/2013
Ausgabe 01 | 11/2012
kostenlos
PopulärphilosophieDas Konzept Precht - Wie viel und
wessen Populärphilosophie brauchen wir?
Politischer LiberalismusWer ist überzeugender?
John Rawls oder seine Kritiker?
Ausgabe 02 | 06/2013
kostenlos
Philosophie und AlltagProkrastination und schöne neue Arbeitswelt -
was Aufschieben mit Authentizität zu tun hat
SchulenstreitJohn Stuart Mill und Harriet Taylor:
Die Gedanken des Philosophen-Paares
zu Freiheit und Gleichberechtigung
2 cog!to 06/2013
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
hiermit haltet ihr die zweite Ausgabe von Cog!to, der unabhängigen Zeitschrift der Studierendenschaft Philosophie, in Händen. Unsere Leitrubrik trägt die-ses Mal den Titel Philosophie und Alltag. Hier be-schäftigt sich Miguel de la Riva mit dem Phänomen der Prokrastination: Wie schlägt sich das Verhalten im studentischen Alltag nieder und warum überhaupt schiebt man so hartnäckig Dinge auf? Für die Rubrik Schulenstreit konnten wir mehrere Gastautoren und –autorinnen gewinnen, die für uns über Gleichheit und Gleichberechtigung schreiben. Helmut Heid, Ideologiekritiker und ehe-maliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, legt dar, ob Ungleich-heit ungerecht sein muss. Antwort: nicht unbedingt! Zudem skizzieren Ulrike Ackermann und Hans Jörg Schmidt vom John Stuart Mill Institut für Freiheits-forschung, welche Rolle Gleichberechtigung und Freiheit für John Stuart Mill und seine Lebensgefähr-tin Harriet Taylor spielten. Anlässlich des 140. To-destages Mills (8. Mai 2013) und des 155. Todestages Taylors (3. September 2013) zieren die beiden Denker auch den Umschlag des zweiten Hefts. Außerdem freuen wir uns, mit einem Essay von Fabian Heinrich über das Verlangen des Men-schen, sich selbst eine Form zu geben, den Gewin-ner unseres Essaywettbewerbs präsentieren zu dür-fen. Passend zu unserer Leitrubrik Philosophie und Alltag sowie zum Motto der Zeitschrift behandelt der Text das gute, aber auch das schöne (und damit na-türlich auch das wahre) Leben.
Cog!to. Die unabhängige Zeitschrift der Studierendenschaft Philosophie Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München [email protected]
V. i. S. d. P. Lukas Leucht
Herausgeber Fachschaft Philosophie e. V.
Chefredaktion Lukas Leucht, Patrick Lödige
RedaktionNastasja S. Dresler, Dominik Herold, Daniel Hoyer, Bene-dikt Hösl, Simon A. Löfflad, Liv Martschew, Rolf Pfister, Miguel de la Riva, Felicitas Selter, Hannah Sommer, Nejma Tamoudi, Lea Watzinger, Lisa Zacharski, Jakob Zanker, Antonia Zettl
SchlussredaktionMiguel de la Riva, Hannah Sommer, Lea Watzinger, Antonia Zettl
Gastautoren Ulrike Ackermann, Hinnerk Feldwisch-Drentrup, Nora Hangel, Helmut Heid, Bernulf Kanitscheider, Hans Jörg-Schmidt, Robert Treidl
Interview Fotos Sarah Akgül
Layout ben kollektiv · www.benkollektiv.de · [email protected] Greesberstraße 2, 50668 Köln
Titelbild Mill / Taylor Illustration von ben kollektiv
Bildmaterial vom ben kollektiv
Impressum
Außer auf die vielen weiteren Artikeln könnt ihr euch auf mehrere Interviews freuen. So zum Beispiel mit den Professoren Stephan Hartmann und Hannes Leitgeb in Personenkult. Auch für unsere (hoch-schul)politische Rubrik Parteinahme haben wir Inter-views geführt: Mit Fraktionsmitgliedern von CSU, FDP, Bündnis90/Die Grünen und unserem Dekan Professor Julian Nida-Rümelin (SPD).1 Sicherlich ist Euch mit Blick auf die erste Aus-gabe bereits die Veränderung unseres „Selbstverständ-nisses“ aufgefallen. Inzwischen sind wir nicht mehr die unabhängige Zeitschrift der Studentenschaft Phi-losophie. Damit will ich nicht sagen, dass wir weni-ger unabhängig sind, oder dass wir uns nicht mehr an Philosophen richten; wir sind nun die unabhängige Zeitschrift der Studierendenschaft Philosophie. Trotzdem könnt ihr in Ideenkreis einen satiri-schen Gastartikel von Robert Treidl finden, der kaum ein gutes Haar an der zwar gendersensiblen, seiner Meinung nach aber gedankenlosen Sprache lässt. Auch hier gilt wie für alle Texte in Cog!to: Die Artikel geben nur die Meinung der Autoren wieder, nicht die der Redaktion. Wir hoffen, dass euch die zweite Ausgabe von Cog!to gefällt. Wenn Ihr ebenfalls Interesse dar-an habt, einen Artikel für Cog!to zu schreiben, oder in anderer Weise in der Redaktion mitwirken wollt, mel-det euch einfach unter [email protected]. Selbstverständlich freut sich die Redaktion auch im-mer über Leserbriefe. Nun aber zuerst: viel Spaß beim Lesen!
Für die Cog!to-Redaktion
Lukas Leucht und Patrick Lödige
Editorial
Die Artikel geben die Meinung der Verfasser und nicht der Redaktion wieder: Die Redaktion behält sich das Recht vor, Änderungen und Kürzungen vorzunehmen. Es besteht kein Anspruch auf Veröffentlichung eingereichter Texte.
1 Julian Nida-Rümelin hat die Redaktion gebeten mitzuteilen, dass er die Entwicklung der LMU in den letzten Jahren positiv sieht, nicht nur die seiner Fakultät, wie in der Zusammenstellung der Fotos im Interview ohne Worte der letzten Ausgabe suggeriert wurde.
3cog!to 06/2013
INHALT
S . 05 Kann man gut über gute Politik reden?Wortspielplatz
S. 67 Was ist Bildung für Sie?S. 75 Des Pudels Kern: Wie viel Philosophie steckt in der Politik?S. 83 Polemik in der Bibliothek
parteinahme
S. 55 Friedrich Nietzsche – auf den Spuren eines freien Geistes S. 58 Ist der Tractatus Unsinn?S. 62 Kritik der reinen Unvernunft
ideenkreis
S. 97 Begegnung vor dem Spiegelessay WettbeWerb
S. 09 Autonomie, Authentizität und Arbeitphilosophie und alltag
S. 87 Welche Rolle spielt Religion in unserer säkularen Welt?S. 91 Die kulturellen Bedingungen der KognitionS. 93 Gemessene Daten – oder Erkenntnisse?
blütenlese
S. 17 Schweigen über Gott und die WeltS. 18 Die Rechnerei hat mir Spaß gemacht!S. 25 Erwin Schrödinger und die Interpretation der Quantenmechanik
personenkult
S. 47 Kein Entweder – OderS. 51 Medium Is The Message
schnittmengen
theorie
S. 33 John Stuart Mill und Harriet Taylor – Freiheit und GleichberechtigungS. 38 Ist die Ungleichheit unter den Menschen ungerecht?
schulenstreit
B
Inhalt
4 cog!to 05/2013
WORTSPIELPLATZ
RUBRIK
4 cog!to 06/2013
In Wortspielplatz findet ihr jede Ausgabe eine Kolumne, die das gespro-chene oder geschriebene Wort und seine Verwendung in den Mittelpunkt
stellt. In der letzten Ausgabe wurde die willkürliche Verwendung von „Philosophie“ kritisiert. Dieses Mal setzt sich Lukas Leucht mit dem
Begriff „Politik“ auseinander.
5cog!to 06/2013
Kann man gut über gute Politik reden?Ein Plädoyer dafür, dass wir endlich alle richtig sprechen lernen sollten.
Mich regt es auf, wenn Wörter falsch verwendet wer-
den. Mein Wunsch wäre, dass jeder Mensch mit klar
definierten Wörtern arbeitet. Das ist ein Wunsch, der
den meisten wohl verständlich erscheint, solange
wir explizit Wissenschaft betreiben. Absurd und un-
möglich zu erreichen wird dieses Ziel im alltäglichen
Sprechen. Doch gerade wegen der Absurdität die-
ses Ziels versuche ich mich in diesem Artikel erneut
daran, die alltägliche falsche Verwendung von Wör-
tern als eben solche zu kennzeichnen und eine bes-
sere Alternative vorzuschlagen, damit wir endlich alle
richtig sprechen lernen.
Dabei habe ich natürlich keinen Moment die
Hoffnung, dass eine perfekte Alltagssprache möglich
ist, doch diese bleibt das Ziel.
In diesem Text will ich mich mit dem Wort
„Politik“ beschäftigen. In der letzten Ausgabe habe
ich mich darüber beklagt, dass „Philosophie“ falsch
verwendet wird. Ich bin der Meinung, dass oft „Phi-
losophie“ oder „philosophisch“ gesagt wird, obwohl
„Motto“ und „Einstellung“ oder „hochgeistig“ und
„kompliziert“ gemeint sind.
Wann wird nun das Wort „Politik“ verwendet, obwohl
ein anderes besser angebracht wäre? Lasst mich dazu
ein nicht gänzlich fiktives Beispiel geben. Nehmen
wir einmal an, der oberste Vertreter der Exekutive
(nennen wir ihn B) eines Landes (ab hier A), welches
von vielen als globale Hegemonialmacht bezeichnet
werden würde, ernennt eine neue Botschafterin (sie
heißt C). C soll als oberste Diplomatin in einem Land
(ab hier J) arbeiten, das sich auf das dort stationierte
Militär von A verlässt, da J kaum eigene Streitkräfte
hat und laut Verfassung auch nicht haben darf.
Der Grund dafür, dass C dieses wichtige Amt
bekommen hat, scheint den meisten offensichtlich
deren großzügige Unterstützung des Wahlkampfs
von B zu sein. Diese Praxis ist in A ziemlich üblich. Sie
ist die Tochter eines ehemaligen obersten Vertreters
der Exekutive von A (nennen wir ihn einfach einmal
JFK). Nun liest jemand (nennen wir ihn D) die Nach-
richt über die Benennung von C in der Zeitung (kür-
zen wir sie mit SZ ab) und kommentiert: „Tja, das ist
Politik!“ Und jetzt rege ich mich auf.
Wir sagen „Tja, das ist Politik!“, „Es wäre mal wieder Zeit für bessere Ordnungspolitik!“ oder beschweren uns über „die Politik“. Da-bei meinen wir Unterschiedliches und sagen doch das Gleiche. Der folgende Text ist ein Versuch, die Unterscheidung zwischen „poli-tics“, „policy“ und „polity“ in die deutsche All-tagssprache hinüberzuretten.
Wortspielplatz
Von Lukas Leucht
6 cog!to 06/2013
„Das“ ist nicht „Politik“. Jedenfalls ist „Das“ nicht nur
„Politik“, sondern noch etwas anderes. Ebenso ist
„Politik“ mehr als „Das“. „Das“ und „Politik“ sind nicht
identisch! Der Satz „Das ist Politik“, bezogen auf das
oben skizzierte Beispiel, impliziert, dass Politik im
Kern das Vorgehen ist, mit dem man sich und seinen
Unterstützern machtvolle Positionen sichert.
D scheint also von „Politik“-Verdrossenheit
befallen zu sein und D wird das Verhalten von B nicht
unbedingt gutheißen. Aber aus einem Kommentar
dieser Art meine ich die Überzeugung heraushören
zu können, dass es eben notwendig sei, so zu han-
deln, um erfolgreich Politik zu betreiben. Kurz gesagt:
„Das ist gute Politik!“
Der Satz führt uns hier aber zu einem Wi-
derspruch. Die Botschafterin C ist zuständig für die
Außenpolitik von A in J. C hat aber im Gegensatz zu
professionellen Botschaftern keine große Erfahrung
mit Außenpolitik. C war niemals zuvor Diplomatin. C
spricht nicht die Sprache von J. Viele wichtige Politi-
ker in J sprechen die Sprache
von A nicht besonders gut. A
hat aber ein großes Interes-
se daran, dass die Beziehun-
gen mit J so gut bleiben, wie
sie aktuell sind. J denkt aktu-
ell über Verfassungsänderungen und Remilitarisie-
rung nach. A hat in Js Region wenig andere strate-
gische Partner und würde gerne Hegemonialmacht
bleiben. Ist also die Ernennung von C gute Außenpo-
litik oder wird sie zu guter Außenpolitik führen? Ich
denke nicht. „Das“ ist also keine gute Außenpolitik!
Kann etwas gleichzeitig schlechte Außenpo-
litik, aber gute Politik sein? Nein, wenn die Außen-
politik ein Teilgebiet der Politik ist. Gibt es für die
Aufgaben einer Botschafterin einen besseren Begriff
als „Außenpolitik“? Nein, da Diplomatie ein Teil der
Außenpolitik ist und die Botschaften dem für die Au-
ßenpolitik zuständigen Ministerium von A unterste-
hen. Also müssen wir „Das“ anders beschreiben.
„Politics“ ist nicht gleich „policy“Da bietet sich die in der angelsächsischen Politikwis-
senschaft übliche Unterscheidung zwischen „po-
litics“ und „policy“ an. Dabei steht „politics“ für die
Kunst, etwas durchzusetzen, und „policy“ für das,
was durchgesetzt werden soll (zum Beispiel gute
Außenpolitik). „Politics“ ist der politische Prozess,
„policies“ sind die politischen Inhalte. Diese Abgren-
zung ist nützlich, die Wörter selbst sind für unseren
Zweck aber ungeeignet, da unser (absurdes) Ziel die
Verbesserung der deutschen Alltagssprache ist. Da-
her bietet sich statt „politics“ ein anderer Begriff an:
„Machtpolitik“. Das Vorgehen von B wäre also gute
Machtpolitik, aber schlechte Außenpolitik.
Auch andere Szenarien sind denkbar. Neh-
men wir zum Beispiel an, ein Kollege (X, da nicht
existent) von B entscheidet über das Budget eines
größeren Zusammenschlusses von Staaten (ab hier
EU) und beschließt, die Subventionen für die Land-
wirtschaft zu streichen. Das wäre gute Umweltpo-
litik, da dadurch weniger
Ressourcen verschwendet
würden; gute Wirtschafts-
politik, da dadurch die Prei-
se für die Konsumenten
sänken; gute Haushaltspo-
litik, da dadurch die Staatsausgaben sänken; gute
Entwicklungspolitik, da nicht weiter künstlich billi-
ge Nahrungsmittel exportiert würden. Das wäre al-
les „policy“. Jetzt aber zur Machtpolitik. Machtpo-
litisch wäre das für X keine gute Entscheidung, da
die Landwirte eine der Interessengruppen sind, die
besonders gut organisiert sind, finanziell gut aus-
gestattet sind und sicher wählen werden. Also: „bad
politics“, aber nicht: Schlechte Politik.
Etwas kann aber auch eine gute Politikmaß-
nahme und gute Machtpolitik sein, so in all den Fäl-
len, in denen gute (Wirtschafts-, Haushalts-, Außen-
usw.-)Politik vom Wähler als solche erkannt wird und
die Beliebtheit der verantwortlichen Politiker steigt.
Wortspielplatz
Etwas kann aber auch eine gute Politikmaßnahme und gute
Machtpolitik sein.
7cog!to 06/2013
Von Lukas Leucht
Gibt es ein deutsches Wort für „Polity“ statt „die Politik“?Doch das Wort Politik wird noch auf andere Art
falsch verwendet. So ist oft die Rede von „der Po-
litik“ oder „den Politikern“, die für etwas zuständig
ist. „Die Politik“ ist es auch, der anscheinend teil-
weise der Wille fehlt, bestimmte „policies“ in Kraft
zu setzen. Im Englischen wird diese dritte Verwen-
dung von „Politik“ als „polity“ bezeichnet. „Polity“
sind all die Instanzen, die dafür zuständig sind, „po-
licies“ festzulegen und durchzuführen: Es sind also
die politischen Akteure.
Hier scheint es keinen einzelnen Begriff wie
„polity“ zu geben, der die deutsche Alltagssprache
verbessern könnte. „Die Politik“, die mit „polity“ an-
gesprochen wird und den politischen Willen, der ihr
zugesprochen wird, gibt es jedenfalls nicht. „Die Po-
litik“ wäre hier das Kollektiv aller politischen Akteu-
re, doch dieses Kollektiv hat wie so viele Kollektive
keine eigene Existenz. Es gibt nur politische Indivi-
duen und Institutionen. Daher kann man gleichzei-
tig sprachliche Ungenauigkeit und Ungenauigkeit
im Denken vermeiden, indem man folgenden Satz
beherzigt: „Verstecke dich nicht hinter Abkürzungen
oder Verallgemeinerungen und nenne die verant-
wortlichen Akteure einfach beim Namen!“
Wortspielplatz 7
8 cog!to 06/2013
PHILOSOPHIE UND ALLTAG
RUBRIK
Philosophie und Alltag ist der Name unserer Leitrubrik in der zweiten Ausgabe von Cog!to. Miguel de la Riva widmet seinen Artikel dem
Phänomen Prokrastination: Wie schlägt sich das Verhalten im studen-tischen Alltag nieder und warum überhaupt schiebt man so hartnäckig
Dinge auf?
8 cog!to 06/2013
9cog!to 06/2013
An einer Aufgabe zu scheitern, weil
man prokrastiniert hat, ist ärgerlich.
Oft schon stand man vor der Frage,
warum man nicht früher angefan-
gen hat und oft schon hat man sich
geschworen, nächstes mal nicht die-
selben Fehler zu machen. Warum
aber schiebt man Aufgaben trotz sol-
cher Entschlüsse weiterhin auf? Wo-
rin besteht Prokrastination und war-
um prokrastinieren Menschen?
Eigentlich müsste man an einem Referat arbeiten oder an einer
Hausarbeit schreiben, vom Lernen für nahende Klausuren ganz zu
schweigen – stattdessen aber tut man etwas anderes. Prokrastination
ist ein Verhalten, das ich von mir und anderen nur allzu gut kenne.
Prokrastination ist sogar der Grund dafür, dass ich jetzt diesen Text
schreibe. Eigentlich gäbe es wichtigere Aufgaben zu erledigen;
stattdessen tue ich etwas, dass ich zwar alles andere als überflüssig,
bei ehrlichem Blick aber doch weniger dringlich finde.
Immerhin, ich bin nicht allein. In Umfragen gibt meist eine
Mehrheit der Studierenden an, von Prokrastination ernster betroffen
zu sein. Aber worin eigentlich besteht Prokrastination, und warum
wird prokrastiniert? Hat man schon immer prokrastiniert? In fünf
Thesen versuche ich mich dem Phänomen zu nähern – die ersten
drei sind eine kleine Phänomenologie der Prokrastination, Thesen 4
und 5 versuchen eine theoretischere Würdigung dieses Verhaltens.
Autonomie, Authentizität, Arbeit
Fünf mehr und weniger ernst gemeinte Thesen über Prokrastination1
Philosophie und Alltag
Von Miguel de la Riva
1 Eine frühere Fassung dieses Textes ist zuerst auf dem Blog „Zukunftswerkstatt Hochschule“ am 28.01.13. erschienen (vgl. http://zukunft-hs.de/
prokrastination/). Der Text erscheint hier deutlich überarbeitet.
10 cog!to 06/2013
Prokrastination missversteht, wer
meint, dass sie Haltungen wie
„Was du heute kannst besorgen,
das verschiebe lieber gleich auf
morgen“ oder „Der späte Wurm
entgeht dem frühen Vogel“ ent-
springen würde. Richtig ist, dass
Prokrastinierende Dinge auf-
schieben. Falsch aber wäre anzu-
nehmen, dass sie das tun, weil sie
faul sind.
Prokrastinierende sind
das Gegenteil von faul: Ihre Woh-
nungen sind meist frisch geputzt,
der Kaffee fließt aus erst kürzlich
entkalkten Maschinen, den El-
tern haben sie gestern noch mit
einem Anruf eine kleine Freu-
de gemacht. Sie haben den Ge-
schirrberg runtergespült und ihre
Wäsche nicht nur gewaschen,
sondern auch zum Trocknen auf-
gehangen, gebügelt und ordent-
lich in den Schrank gelegt. Von
besonders hartgesottenen Indi-
viduen dieser Gattung hört man
gar, dass sie, wenn dies und vieles
andere erledigt ist und eigentlich
nichts mehr übrig bliebe, außer
mit der vordergründig wichtigen
Aufgabe anzufangen, dann auch
noch einen Termin beim Zahnarzt
vereinbaren.
Die Liste der Tätigkeiten,
die beim Prokrastinieren getan
wird, ist lang und variiert von Per-
son zu Person. Typischerweise
scheint es sich dabei um Tätigkei-
ten zu handeln, die alles andere
als überflüssig sind und gerade
nicht von Faulheit zeugen. Das
zeigt sich allein schon daran, dass
viele der Tätigkeiten, denen man
beim Prokrastinieren nachgeht,
oft genug selbst Gegenstand von
Prokrastination sind – oft genug
steht das Spülen oder der An-
ruf beim Zahnarzt auch morgen
noch auf der Todoliste. Wer eine
Aufgabe aufschiebt, weil er faul
ist, nunja, der wirft halt den Fern-
seher an, geht einen trinken oder
tut was auch immer ihm oder ihr
Spaß macht und hat dabei auch
Spaß. Faule verbummeln eine
Aufgabe, weil sie sich zu oft für
lustvolle Tätigkeiten entschei-
den. Wer hingegen prokrastiniert
investiert größere und kleinere
Anstrengungen in die Nichter-
ledigung der vordergründigen
Aufgabe – der oder die tut statt-
dessen andere nützliche Dinge,
die in diesem Moment nüchtern
besehen jedoch nachrangig sind.
Prokrastinierende haben nicht
das Problem, den schönen Din-
gen des Lebens zu widerstehen;
sie können sich durchaus zum
Arbeiten entscheiden, nur zu den
Arbeiten nicht, die nun eigentlich
wichtig sind. Prokrastinieren ist
also nicht eine Form der Faulheit,
sondern eine Form des Tätigsein!
Vom Phänomen wird man mehr
verstehen, wenn man es mit Be-
griffen wie vita activa beschreibt,
nicht als Ausdruck von akrasia
betrachtet: Anders als die Faulen
sind sie nicht willensschwach und
erledigen auch unangenehme
Dinge – nur nicht die Richtigen.
Die Anstrengungen, die man beim
Prokrastinieren investiert, zeu-
gen davon, dass man sich genau
darüber im Klaren ist, wie wichtig
die Erledigung der vermiedenen
Aufgabe ist. Wer prokrastiniert,
scheint sich durch nützliche, wenn
auch gerade weniger relevante Tä-
tigkeiten beständig eine passable
Entschuldigung bei der Hand hal-
ten zu wollen, warum man mit der
eigentlich wichtigen Sache nicht
anfängt. Eben daran zeigt sich,
dass Prokrastinierende pflichtbe-
wusst sind – wären sie faul oder
würden sie ihre Aufgaben nicht
ernst nehmen, könnten sie das mit
dem Aufschieben schließlich viel
einfacher und lustvoller haben. Sie
gönnen sich keinen Müßiggang,
wenn sie etwas zu erledigen ha-
ben. Auf morgen verschieben kann
man alles; prokrastinieren jedoch
nur das, wozu man sich auch selbst
in die Pflicht genommen hat.
Darin deutet sich auch
schon eine gewisse Tragik an: Pro-
krastinierende haben das berech-
tigte Selbstbild, tätige, produkti-
ve Personen zu sein – berechtigt
eben durch die Prokrastination. Sie
sind sich im Klaren darüber, dass
sie etwas erledigen müssen und
vergeuden ihre Zeit daher nicht mit
irgendeiner Tätigkeit, sondern mit
Tätigkeiten, die tatsächlich nütz-
lich, in diesem Moment jedoch
nachrangig sind. Durch dieses Ver-
halten aber betrügen sie sich um
die Genüsse, die sie haben könn-
ten, würden sie auf die faule Va-
riante aufschieben. Wäre es nicht
viel schöner, sich mit Freunden an
These 1: Wer prokrastiniert ist
nicht faul, sondern tätig!
These 2: Prokrastinierende sind
pflichtbewusst und nehmen ihnen aufgetra-
gene Aufgaben ernst!
Philosophie und Alltag
11cog!to 06/2013
These 4: Prokrastination ist kein persönliches
Defizit
die Isar zu setzen, anstatt sich da-
bei zu ertappen, die Türe des Kü-
chenschrank zu richten, nur um zu
vermeiden, sich an die Hausarbeit
zu setzen? Schade also für die Pro-
krastinierenden, dass sie nicht faul
sind! Sie leiden nicht an Faulheit,
sondern sind Opfer ihres Pflicht-
bewusstseins – das dann in Rigo-
rismus umzuschlagen droht, wenn
sie sich zum Aufschieben einer
Aufgabe nicht mehr ohne Gewis-
sensbisse etwas Schönes gönnen
können. Insoweit scheitern Pro-
krastinierende nicht nur daran, die
gerade eigentlich wichtige Aufga-
be zu erledigen, sondern oft genug
auch daran, lustvoll faul zu sein:
Wenn sie sich mit Freunden treffen,
bestellen sie doch lieber kein Bier
und gehen vielleicht früher, weil sie
glauben, noch arbeiten zu wollen;
einen freien Abend gibt es für sie
nur gegen das innere Versprechen,
morgen auch wirklich anzufangen.
Insofern läuft man beim Prokrasti-
nieren Gefahr, sich um gehaltvolle
Zeit zu betrügen: Man tut nicht,
was man sich vornahm, aber auch
nicht, was Spaß macht; und wenn
man tut, was ansonsten Spaß ma-
chen würde, dann genießt man es
nicht. Weder leidet man unter Lan-
geweile, noch ist man recht über-
arbeitet.
zusammenzutragen, der gut und
gerne auch den Grundstock einer
stattlichen Magisterarbeit dar-
stellen könnte. Natürlich fehlt mir
die Zeit, all das zu lesen; bei kurz-
fristig zu erstellenden Arbeiten
manchmal sogar genau die Zeit,
die ich gebraucht habe, um all
das anzuhäufen. Der verstriche-
nen Zeit wegen aber konzentriere
ich mich auf das wirklich Wichti-
ge; wenn ich die Frist noch ein-
halten kann und ein angemesse-
nes Ergebnis erziele, habe ich den
wichtigen Teil der Aufgabe sehr
effizient gelöst – nicht trotz, son-
dern weil ich die weniger wichti-
gen Teile der Aufgabe ineffizient
bearbeitet habe.
Wer erwidert, dass es
doch noch viel effizienter wäre,
zuerst den wichtigen Teil der Auf-
gabe zu erledigen und sich da-
nach irgendwelchen Freuden am
Bibliothekskopierer hinzugeben,
verkennt, dass von Erfolg ge-
krönte Prokrastination auf einem
Wechselspiel eines hohen Maß an
Ablenkung und einem hohen Maß
an Konzentration und Effizienz
beruht. Konzentriert sind Prokra-
stinierende nämlich nur, wenn sie
unter Zeitdruck stehen. Sie ken-
nen keine Routine im Arbeiten.
Sie oszillieren zwischen Aufmerk-
samkeitsdefizit und Flow, ihr Ar-
beiten hat ebenso etwas Lahmes
wie Intensives, etwas beinahe bi-
polares.
Daran wird auch schon
deutlich, dass Prokrastination oft
sogar Spaß macht und befriedi-
gend sein kann. Nicht selten hatte
ich – und, wie ich schon mehr-
fach hörte, nicht selten hatten
auch andere – das Gefühl: Heure-
ka! Wenn‘s schon auf die holprige
Weise gut geklappt hat, wie wäre
es erst, wenn man die Sache rich-
tig anfassen würde? Prokrasti-
nation kann insofern das Selbst-
wertgefühl steigern – oder als
Entschuldigung dafür herhalten,
dass man etwas nur mittelmäßig
erledigt hat. Schließlich hatte man
wenig Zeit; und in Relation dazu
sei das Ergebnis beachtlich!
In solchen Momenten
vergisst man jedoch, wie oft man
Prokrastination wegen schon ge-
scheitert ist. Dieses Scheiterns
ist dabei besonders schmerzlich
– nicht nur, weil man seine Zeit
auch lustvoller hätte vergeuden
können, sondern auch, weil die-
ses Scheitern wahrlich banale Ur-
sachen hat und auch durch hohe
Motivation und Pflichtbewusst-
sein nicht verhindert werden
konnte. Banal ist dieses Scheitern,
weil man nicht einem Mangel an
Fähigkeiten, einem Mangel an Zeit
oder sonstigen triftigen Dingen
erlegen ist – sondern schlicht und
einfach zu spät angefangen hat.
Motivation und Pflichtbewusst-
sein andererseits hat man gerade
in den Anstrengungen bewiesen,
die man investiert hat, um weiter-
hin eine passable Entschuldigung
zu haben, noch nicht zu begin-
nen. Man weiß, dass man es hätte
schaffen können, man wollte es
schaffen, hat es aber nicht ge-
schafft. Das ist bitter.
These 3: Prokrastinierende arbeiten effizient!
Ein solches Scheitern wirft bei
Betroffenen – hoffentlich! –
die Frage auf, warum es soweit
kommen konnte: Warum habe
ich prokrastiniert, bis ich keine
Zeit mehr hatte? Diese Frage
suggeriert, dass es hier um ein
Mir scheint es recht offensichtlich:
Wer prokrastiniert arbeitet effizi-
ent. Er oder sie muss es ja auch, da
man durch weniger dringlichere
Tätigkeiten viel Zeit für die eigent-
liche Aufgabe verloren hat. Ich er-
wische mich oft dabei, in der Vor-
bereitung von kürzeren und länge-
ren Aufsätzen einen Literaturberg
Philosophie und Alltag
12 cog!to 06/2013
individuelles, persönliches Defizit gehen würde.
Diese Suggestion wird durch Trainingsangebote und
eine Schwemme an Ratgeberliteratur noch bestärkt;
anscheinend kann man ja lernen, das Vermeiden zu
vermeiden. Oft scheint man etwas zu denken wie: An
Fähigkeiten und Motivation mangelte es mir nicht; ich
wollte es schaffen und wusste auch wie – also muss es
irgendetwas damit zu tun haben, dass ich desire und
belief nicht in entsprechende Handlungen übersetzen
konnte, dass ich willensschwach war. So besehen läge
das Problem darin, dass es mir an Initiative mangelte,
ich meine Ärmel mehr hätte hochkrempeln müssen
oder mir selbst mehr in den sprichwörtlichen Arsch
hätte treten sollen. Hätte ich doch früher angefangen!
Macht man sich solcherlei Selbstanklagen,
ist man in eine naheliegende Falle getappt. Eine
der Tücken bei Prokrastination besteht darin, dass
während der Vermeidung glasklar ist, dass man jetzt
nicht anfangen müsse oder könne; im Nachhinein
aber steht man ungläubig vor dem Scherbenhaufen
und kann nicht nachvollziehen, warum man die Sache
nicht früher in die Hand genommen hat. Die Frage:
Warum habe ich nicht früher angefangen? ist eine
Scheinfrage – auf sie gibt es keine treffende Antwort.
Woran das liegt? Weil die Frage auf ein indi-
viduelles, persönliches Defizit abzielt und suggeriert,
man müsse nun über sich nachdenken und nach ge-
eigneter Kur Ausschau halten – also z.B. einen Rat-
geber kaufen, ein Trainingsangebot aufsuchen oder
sich, wie meistens, mehr Selbstvorwürfe machen, we-
niger lustvolle Freizeit gönnen und noch mehr daran
scheitern, anzufangen. Tatsächlich stellt Prokrastina-
tion aber kein bloß individuelles Phänomen dar und
legt nicht Zeugnis rein persönlicher Defizite ab. Das
würde allein schon durch den Hinweis auf die enor-
me Verbreitung des Phänomens plausibel werden; es
erscheint einfach unwahrscheinlich, dass viele Men-
schen völlig unabhängig voneinander ein bestimmtes
Verhaltensmerkmal zeigen sollten. Die Prokrastinati-
on, die nahezu jeder und jede von sich und Bekannten
kennt, muss auch nichtindividuelle Ursachen haben,
irgendetwas über die Gesellschaft und Umwelt verra-
ten, in der man sie vorfindet.
Psychologische Erklärungsansätze, die nur
Individuen ins Auge fassen, scheinen einige Fragen
offen zu lassen: Warum wird Prokrastination von so
Vielen gleichzeitig gezeigt? Warum wiederholt sie
sich bei Einzelnen so hartnäckig, auch wenn sich
Betroffene schon oft geschworen haben, nächstes Mal
früher zu beginnen und sehr genaue Kenntnis davon
haben, wie sich Prokrastination bei ihnen äußert?
Warum scheinen, wie Studien nahelegen, Studenten,
Freiberufler und Selbstständige stärker betroffen als
andere Berufsgruppen? Warum war Prokrastination
vor 50 Jahren anscheinend kein Thema und gleicht
heute einer Epidemie?
Um Antworten auf diese Fragen geben zu
können, muss man Prokrastination als ein Verhalten
darstellen, dass nicht von prokrastinierenden Indivi-
duen, sondern von prokrastinierten Tätigkeiten sei-
nen Ausgang nimmt. Offenbar ist man weniger Ak-
teur, sondern eher Opfer von Prokrastination. Fragt
man danach, warum Menschen prokrastinieren, dann
müssen, so möchte ich im Folgenden verteidigen,
auch einige Worte über unsere heutige Ausbildungs-
und Arbeitswelt fallen. Prokrastination stellt man
noch zu selten in den Zusammenhang mit der schö-
nen neuen Arbeitswelt, scheint mir.
These 5: Prokrastination verrät viel über
unsere heutige Ausbildungs- und Arbeitswelt – sie inszeniert
Selbstbestimmung, wo keine ist
Einer Antwort darauf, warum prokrastiniert wird und
wie dies mit der Organisation von Ausbildung und Arbeit
zusammenhängen soll, kann man sich durch die Frage
nähern, ob schon immer prokrastiniert worden ist.
Wahrscheinlich kann ich nicht erwarten, dass
man mir uneingeschränkt beipflichtet, wenn ich ver-
mute, dass es schon immer Faulheit gab; ich glaube
aber, dass klarer ist, dass nicht schon immer prokra-
stiniert wurde. Zum Teil liegt das daran, dass Prokra-
stination erst bei Aufgaben möglich scheint, die nicht
überlebensnotwendig sind – es scheint einigerma-
ßen unwahrscheinlich, sich lieber mit der Wäsche
oder der Einrichtung des Hauses zu beschäftigen, als
sich tagelang nicht dazu bequemen zu können, eine
Mahlzeit zu bereiten. Interessanter indes dürfte der
Hinweis darauf sein, dass auch andere Arten von Auf-
gaben nicht prokrastiniert werden können. Ist meine
Aufgabe, am Fließband in der Stunde an fünf Autos
Stoßstangen zu befestigen, dann erfülle ich mein Soll
– oder werde, wenn ich stattdessen lieber zunächst
eine neue Politur für die Karosserie ausprobiere, ent-
lassen. Prokrastination scheint erst da möglich zu
werden, wo man nicht mehr nur die ausführende
Hand der Weisungen eines anderen ist – wo man
mehr oder weniger flexibel in Auswahl und Bearbei-
tung der Aufgaben ist.
Philosophie und Alltag
13cog!to 06/2013
Diese Flexibilität scheint eigentlich etwas schönes zu
sein. Es ist wunderbar und ich möchte nicht missen,
dass man sich an der Uni für Hausarbeiten seine Zeit
frei einteilen kann, selbst ein Thema wählt und frei
entscheidet, wie man es bearbeitet. In vielen späte-
ren Berufsfeldern scheint es heute nicht unähnlich zu
sein, wofür das schillerndste Beispiel wahrscheinlich
die aufblühende Start-Up-Szene abgibt: Man entwik-
kelt eine eigene Idee, man gründet ein kleines Unter-
nehmen, man macht sein Ding auf die eigene Weise.
Solche Flexibilität verlangt von mir aber
auch Eigeninitiative, Identifikation und intrinsische
Motivation dort zu entwickeln, wo früher nur äußere
Sanktion drohte. Am Fließband musste man nur
gehorsam sein und umsetzen, was einem aufgetragen
wurde; nicht verlangt wurde, die Anweisungen auch
selbst gut und sinnig zu finden und mit der eigenen
Person hinter ihnen zu stehen. Das disziplinierende
Moment in diesen Arbeitsverhältnissen bestand in
der Möglichkeit äußerer Sanktion. Habe ich nun die
Möglichkeit, Aufgaben selbst zu wählen und ihre
Bearbeitung frei einzuteilen, kann man nicht mehr
nur deswegen arbeiten, um Sanktionen zu vermeiden
– schließlich ist man ja selbst zu der Instanz
geworden, die Aufgaben erteilt und disziplinierend
wirken müsste. Treffend wird das als „Sein eigener
Chef werden“ beworben; treffend insofern nämlich,
als das Wort „Chef“ gleichzeitig Assoziationen an
Gestaltungsmöglichkeit und Freiheit, aber auch an
das Disziplinieren von Untergebenen (in diesem Fall:
man selbst) weckt. Auch wenn ich flexibel arbeiten
kann oder soll, muss die Arbeit nach wie vor erledigt
werden; drohen mir nicht mehr äußere Sanktionen,
weil ich selbst entscheide, was ich und wie ich es
mache, muss irgend etwas anderes disziplinierend
wirken. Offenbar muss man hier die Arbeit „von
sich aus“ erledigen wollen, intrinsische Motivation
und Eigeninitiative haben. Diese wird, denke ich,
durch Identifikation mit der Arbeit hergestellt –
dadurch, dass man mit seiner Person hinter den
Aufgaben steht oder, besser noch: gestellt wird,
weil man sie selbst wählen muss. Es scheint nur zum
Preis großer kognitiver Dissonanz möglich, selbst
gewählten Aufgaben nachzugehen oder sich für
sie zu entscheiden, wenn man sich nicht mit ihnen
identifiziert oder sie für unsinnig hielte; genauso
scheint es schwierig, sich nicht zu ärgern und es
nicht auch als ein Scheitern der eigenen Person
wahrzunehmen, wenn man solche Aufgaben nicht
erledigt bekommen hat. Viel leichter ist zu ertragen,
wenn man nicht so viele Stoßstangen wie Chef das
wollte montiert hat, als ein Projekt scheitern zu
sehen, in das man sein Herzblut gesteckt hat. Wähle
ich meine Aufgaben selbst aus, ist nicht nur meine
Arbeitskraft, sondern auch meine Person im Spiel.
Solche Arbeitsverhältnisse – in denen
ich Aufgaben selbst wähle und flexibel bearbeite
– gehen daher oft mit der Suggestion von
Selbstverwirklichung einher. Selbstverwirklichung
in einer Arbeit scheint dann möglich zu sein, wenn
ich genau das tun möchte, was die Arbeit von mir
verlangt; wenn ich sozusagen genau der richtige Typ
für diesen Job bin. Wer glaubt, dass er sich in seinem
Studium selbst verwirklicht, schreibt entsprechend
Philosophie und Alltag
14 cog!to 06/2013
eine Hausarbeit nicht nur, weil es die Modulordnung
vorsieht – sondern weil man in dieser Aufgabe auch
seine eigenen Interessen wiederfindet, sich z.B. für
eine Person hält, die gerne forscht und schreibt. Man
schreibt nicht nur gegen eine Sanktion an, sondern
weil es einem auch selbst entsprechen würde. Arbeit
im Modus der Selbstverwirklichung zu erledigen
heißt, seine Person in den Anforderungen der Arbeit
authentisch verkörpert zu sehen, an der Arbeit
man selbst zu werden und in ihr man selbst zu sein.
Solche Arbeitsverhältnisse setzen auf Freiwilligkeit
und Initiative, statt auf Zwang und Gehorsam,
könnte man meinen; auf Selbstbestimmung statt auf
Fremdbestimmung.
Oft genug ist aber genau das nicht der Fall.
Dort, wo die Anforderungen eines Arbeitsverhält-
nisses und die Bedürfnisse einer Person noch nicht
deckungsgleich sind, wo aber dennoch nach Ent-
sprechung und Selbstverwirklichung, nach Authen-
tizität im Arbeiten gesucht wird – dort muss sich die
Person derart verändern, dass sie will, was von ihr
verlangt wird. Sie muss anfangen, auch fremdbe-
stimmte Handlungen als selbst gewollt, selbst ge-
wählt anzusehen.
Oder sie muss prokrastinieren.
Denn wer prokrastiniert, scheint gewisser-
maßen nicht wollen müssen – der oder die möchte
eine bestimmte Aufgabe erledigen, möchte sie aber
nicht erledigen müssen. Was in der Prokrastination
aufrecht erhalten werden soll, ist die Illusion, etwas
wollen zu können. Der Unterschied zwischen wollen
müssen und wollen können scheint darin zu beste-
hen, dass Aufgaben, die man wollen kann, selbstge-
wählt, meiner Person zu entspringen scheinen – hin-
gegen Aufgaben, die man wollen muss, offenbar ein
Moment von Fremdbestimmung tragen. Und was
für eine Fremdbestimmung! Hier geht es nicht mehr
nur darum, mich mit mehr oder weniger Murren zum
Montieren der Stoßstangen zu bewegen; das muss
ich schlicht, das muss ich nicht wollen müssen. Hier
geht es vielmehr darum, mich zu einer Person zu ma-
chen, die die entsprechenden Aufgaben auch selbst
erledigen will; solches Wollen entspringt nicht meiner
Person, sondern soll in meine Person gewissermaßen
eingebaut werden, um disziplinierende Mechanismen
auch bei flexibler Arbeitsweise in Gang zu halten.
Hohe Anforderungen einer Stelle als challenges
wahrzunehmen – das heißt nichts anderes, als an-
zufangen, auch das persönlich zu wollen, was einem
vormals als fremd gegenübertrat. Der gerne von
Oberstufenlehrern und Professoren zum Besten ge-
gebene Satz „Sie sind freiwillig hier“ schöpft seinen
disziplinarischen Beigeschmack aus dem gleichen
Mechanismus. Man könnte ihn in die Frage überset-
zen: „Warum tun sie nicht, wofür Sie sich entschie-
den haben?“ Der Satz gibt in seinem Wortlaut vor,
an Freiwilligkeit zu appellieren; ruft tatsächlich aber
dazu auf, auch die Aspekte eines Arbeits- oder Aus-
bildungsverhältnisses als selbstgewählt anzusehen,
die man sich nicht aussuchen kann und einem nicht
entsprechen.
In der Prokrastination wird die Fiktion auf-
recht erhalten, dass ich die Aufgabe, die ich erledi-
gen muss, auch selbst erledigen will. Prokrastinier-
bar sind anscheinend nur Aufgaben, bei denen das
nicht ganz zutrifft, die aber auch nicht als fremdbe-
stimmt erscheinen sollen.
Das beste Beispiel für solcherlei Aufgaben
sind Leistungsnachweise: Referate, Hausarbeiten,
Klausuren. Ich lese, schreibe und referiere gerne
über Dinge aus meinen Studienfächern. Ich tue es
auch einfach so, in meiner Freizeit; sicherlich gilt
das für fast alle Studierende in den Geisteswissen-
schaften, für viele auch an anderen Fakultäten. Und
natürlich habe ich mich frei zu meinem Studium
entschieden, identifiziere mich mit meinen Fächern,
sehe in dem, was von mir im Studium verlangt wird,
zum Teil auch meine Person verkörpert. Wer kann
schon ernsthaft drei oder fünf Jahre gegen die
Überzeugung der Sinnlosigkeit des entsprechen-
den Fachs anstudieren? Faktisch ist man im Studi-
um aber auch fremdbestimmt; man sucht sich nicht
aus, drittklassige Powerpoint-Skripte reinzupauken,
um nicht an den Einserbremsen in der Multiple-
Choice-Klausur zu scheitern, genauso wenig wie –
zum Glück in Philosophie selten – unklare Essaya-
ufgaben (und nur in diesen Hinsichten wird von „Sie
sind freiwillig hier“ gesprochen). Man prokrastiniert,
weil man auch solche Aufgaben als selbstgewählt
erscheinen lassen möchte – man möchte sie länger
Philosophie und Alltag
15cog!to 06/2013
Weil man versucht, man selbst zu sein, in fremden
Erfordernissen auch die eigene Person wiederzu-
erkennen möchte – und dies auch dort, wo sich
die eigene Person nicht in den Erfordernissen wie-
derfinden lässt. In der Frage: Warum habe ich nicht
früher angefangen? scheint ein Mangel an und ein
Moment von Selbstdisziplinierung hindurch. Pro-
krastination ist das Symptom einer scheiternden
Inkorporation fremder Erfordernisse in die eige-
ne Person; sie wird nötig, wo man fremde Erfor-
dernisse nicht als die eigenen darstellen kann. Im
Lichte dessen scheint Prokrastination alles andere
als ein plumpes, irrationales Verhalten zu sein. Es
geht hier nicht um das wie auch immer geartete
Scheitern einzelner Handlungen, sondern darum,
eine bestimmte Art eines tätigen Leben aufrecht
zu erhalten: Das der Selbstverwirklichung.
Immerhin mag dies doch noch einen gang-
baren Weg eröffnen, Prokrastination zu vermeiden:
Indem man Fremdbestimmung Fremdbestimmung
sein lässt. Nicht mehr nach Entsprechung sucht,
wo keine ist. Leider hört man dann auch auf, zwi-
schen den Deckeln von Seminarmappen am Wah-
ren, Schönen, Guten teilzuhaben. Der Schein der
Selbstverwirklichung, der auch nichtigen Arbeiten
Glanz verlieh, verblasst. In der neuen Arbeitswelt
ist man nur scheinbar paradoxerweise freier, wenn
ich sichtlich fremdbestimmt bin: wenn ich muss,
jedoch nicht wollen muss.
Von Miguel de la Riva. Am liebsten prokrastiniert
er mit Zeitungslesen.
wollen können, sie so spät wie möglich wollen müssen.
Durch das Erledigen von weniger relevanten Tätigkeit
möchte man die Illusion aufrecht erhalten, sich irgend-
wann aus freien Stücken dazu zu entscheiden, die vor-
dergründige Aufgabe anzupacken. In der Prokrastina-
tion sollen insoweit die Grenzen von Autonomie und
Heteronomie, von Selbst- und Fremdbestimmung neu
abgesteckt werden – dahingehend, dass ich mich mög-
lichst weitgehend als autonomen Akteur inszeniere.
Dass mir die Aufgabe nicht ganz persönlich entspricht
und ich mit ihr nicht identisch bin, soll so lange wie
möglich kaschiert werden. Prokrastination – und nicht
nur Faulheit – scheint erst dann erforderlich, wenn man
versucht, eine Entsprechung von Personen und ihrer
Arbeits- oder Ausbildungserfordernissen herzustellen;
wenn sie sich selbst verwirklichen, in ihrer Arbeit ver-
körpert sehen sollen – und das ist erst seit jüngerem
Datum so.
Um das prägnanter auszudrücken: Prokrastina-
tion tritt dort zutage, wo der Versuch, im Arbeiten au-
thentisch zu sein, nicht einem entsprechenden Maß an
Autonomie, an wollen können korrespondiert – wo ich
in die Arbeit die eigene Person einbringen soll, das aber
nicht möglich ist, weil man bestimmte Dinge wollen
muss. In ihr kommt zum Ausdruck, dass Autonomie und
Authentizität in der Arbeit ins falsche Verhältnis gesetzt
sind: Dass man in der Arbeit man selbst sein soll, ohne
dass durch ausreichend Freiräume auch abgesichert
wäre, dass man mit der Person, wie sie ist, in ihr auch
man selbst sein könnte. Prokrastination wurde durch
den Wandel der Arbeitswelt in der Vergangenheit er-
möglicht; es wurde nicht schon immer prokrastiniert.
Das unerhörte Paradox dieses Verhaltens nun
liegt darin, dass man sich durch Prokrastination, die
eigentlich die Fiktion von Autonomie aufrecht erhalten
soll, oft genug völliger Heteronomie ausliefert –
weil man leider irgendwann keine Zeit mehr hat, mit
einem Zahnarztbesuch oder Spülmarathon die Fiktion
des wollen können aufrecht zu erhalten. Irgendwann
ist es eben nötig, auf zwei oder mehr Wochen in den
Vorlesungsskripten zu versinken. Hätte man doch früher
angefangen!
Und damit steht man wieder vor der alten Frage.
Warum hat man nicht früher begonnen? Sind meine
Überlegungen bis hier her richtig, dann ist die Antwort:
Philosophie und Alltag
16 cog!to 05/2013
PERSONENKULT
RUBRIK
In Personenkult findet ihr Interviews mit Professoren unserer Fakultät und anderen interessanten Denkern und Denkerinnen; in dieser Ausgabe mit den Professoren Leitgeb und Hartmann. Außerdem bemüht sich die Redaktion um Artikel zu wichtigen historischen und zeitgenössischen
Persönlichkeiten. Dieses Mal: Erwin Schrödinger.
16 cog!to 06/2013
17cog!to 06/2013
Schweigen über Gott und die Welt
Ein Interview ohne Worte mit Prof. DDr. Hannes Leitgeb
Das Interview führte Lukas Leucht. Fotos: Sarah Akgül.
Letztes Jahr sind Sie von den Studierenden der Philosophie mit dem Preis für gute Lehre ausgezeichnet worden. Was macht Ihre Lehre besonders?
Auf Facebook haben Studierende Ihnen einen Fanclub gewidmet. Die Gruppe nennt sich The Mighty Logician - Official Hannes
Leitgeb Fanclub2. Wie haben Sie reagiert, als Sie davon erfahren haben?
Sie haben Philosophie und Mathematik studiert. Zusammen mit Prof. Hartmann leiten Sie das Mu-
nich Center for Mathematical Philosophy (MCMP). Wie sieht ein mathematischer Philosoph bei der
Arbeit aus?
Wie viele Mitglieder, denken Sie, hat ihr Fanclub offiziell?
Es sind aktuell 39 Mitglieder. Wir haben auch unsere Leser gebeten, sich Fragen an Sie zu überlegen. So sollen wir fragen: Was geschah, als Sie zum ersten
Mal vom Gödelschen Unvollständigkeitssatz erfuhren?
Sind der Glaube an Gott und das berufliche Betreiben der Logik miteinander vereinbar? Ist Ihrer Meinung nach folgen-
de Aussage aus einer ihrer Klausuren wahr? „Es gibt genau einen Gott.“
Personenkult
1
1 Sei sie logisch aufgebaut oder nicht.
2 http://www.facebook.com/ groups/181427561892251/
18
Die Rechnerei hat mir Spaß gemacht!
Ein Interview mit Prof. Stephan Hart-mann über seine Forschung, seine Lehre und das MCMP
18
Das Interview führten Lukas Leucht und Miguel de la Riva
cog!to 06/2013 Personenkult
19cog!to 05/2013
Cog!to: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit ge-
nommen haben für dieses Interview! Seit einem
Semester sind Sie jetzt hier als Professor für Wis-
senschaftstheorie. Damit erübrigt sich eigent-
lich die Frage, ob Sie sich schon eingelebt haben.
Stattdessen: Wie gefällt es Ihnen hier an der LMU?
War die Entscheidung für die LMU die richtige
Entscheidung?
Prof. Hartmann: Vielen Dank! Mir gefällt es
hier ganz ausgezeichnet. Ich bin ja schon seit einem
Semester hier und habe auch vorher schon mal in
München gelebt, Ende der 90er Jahre. Das heißt,
ich kannte die Stadt, wusste was auf mich zukommt
und kannte auch die LMU schon recht gut.
Was mir besonders gefällt, ist die tolle For-
schungsumgebung hier. Es gibt wunderbare Kol-
legen in meinem eigenen Fach, nicht zuletzt am
MCMP, und es gibt eine ganze Reihe von Kolle-
gen in anderen Disziplinen, mit denen wir schon
zusammenarbeiten und mit denen wir vorhaben
noch stärker zusammenzuarbeiten. Das ist für je-
manden, der an Wissenschaftsphilosophie interes-
siert ist, natürlich eine ganz wunderbare Sache. So
gibt es hier in München nicht nur eine ganz ausge-
zeichnete Sozialwissenschaft (z.B. Ökonomie, Poli-
tikwissenschaften, Psychologie), sondern auch eine
hervorragende Mathematik und Naturwissenschaft,
wobei mich dabei v.a. die Physik und Neurowissen-
schaften interessieren. Hier gibt es alles, und es gibt
alles in ganz hervorragender Qualität. Das ist für
mich paradiesisch.
Cog!to: Mit Ihrer Entscheidung für die LMU
sind sie ja auch nach Deutschland zurückgekehrt.
Hat so etwas wie Heimweh überhaupt eine Rolle
gespielt? Vielleicht auch Heimweh nach dem Wis-
senschaftssystem Deutschlands?
Hartmann: Vielleicht nicht so sehr nach dem
Wissenschaftssystem, aber sicher nach Deutsch-
land. Ich bin jetzt neun Jahre im Ausland gewesen
und wollte immer ins Ausland. Ich dachte im Aus-
land ist alles besser. Das stimmt vielleicht auch zum
Teil, weil die analytische Philosophie im angelsäch-
sischen Bereich sehr, sehr stark ist. Ich wollte da
einfach mitspielen und wollte mich da beweisen.
Das hat großen Spaß gemacht, aber ich bin sehr
froh, jetzt zurück zu sein. Und dann noch in einer
so wunderbaren Stadt und an einer so fantastischen
Universität wie der LMU.
Cog!to: Also hat neben der Stadt und der Uni-
versität auch die Erstarkung der analytischen Phi-
losophie eine große Rolle gespielt...
Hartmann: Sicher, ja.
Cog!to: Sie haben in Gießen studiert und dort
auch promoviert. Da würde uns interessieren, wie
der Gießener Student und Doktorand Stephan
Hartmann dazu kommt, sich mit Wissenschafts-
theorie und formaler Logik zu befassen. Wie und
unter welchen Einflüssen ist dieses Interesse ge-
wachsen?
Hartmann: Ja, das ist vielleicht eine längere
Geschichte. Ich habe mich immer sehr für Mathe-
matik und Physik interessiert und mir war klar, ich
werde irgendwann Mathematik oder Physik studie-
ren und vielleicht eine Universitätskarriere anstre-
ben. Ich war nie geisteswissenschaftlich interes-
siert. Aber so gegen Ende der Schulzeit bekam ich
Interesse am Existentialismus; die Fragen, die Leute
mit 16 oder 17 interessieren. Meine Religionslehre-
rin hat mich immer davor gewarnt, ein reiner Fach-
idiot zu werden, der immer nur rechnet. Ich habe
es nicht wirklich geglaubt, aber es hat doch einen
gewissen Einfluss auf mich gehabt, und so habe ich
mich dann entschlossen, in Gießen ein Doppelstu-
dium aufzunehmen. Ich dachte mir: Warum nicht,
ich probiere das mal mit der Philosophie, mache
das für ein paar Jahre, es ist gut für meine Allge-
meinbildung und irgendwann mache ich dann mit
Physik weiter und werde ein richtiger Physiker.
Dann kam es aber so, dass mir die Philoso-
phie immer mehr Spaß gemacht hat und die Phi-
losophen es toll fanden, dass ich den Physik-Hin-
tergrund habe, wohingegen die Physiker mir immer
gesagt haben, dass ich meine Zeit mit der Philoso-
phie vergeude. (lacht) Dann habe ich mein Studium
abgeschlossen mit einem Diplom in Physik und ei-
nem Magister in Philosophie; das hat alles gut ge-
klappt. Dann dachte ich, weil das so gut geklappt
hat, mache ich jetzt auch noch zwei Promotionen.
Das war ein bisschen schwieriger. Ich habe zuerst in
der Physik mit theoretischer Kernphysik angefangen,
bin nach Amerika gegangen und habe dann aber aus
verschiedenen Gründen auf die Quantenoptik um-
gesattelt. Zwischendurch habe ich an meiner Phi-
losophie-Doktorarbeit gearbeitet, was mir sehr viel
Spaß gemacht hat. In der Arbeit ging es um Modelle
in der Wissenschaft, vor allem in der Physik.
19cog!to 06/2013 Personenkult
20 cog!to 06/2013
Es war eine Arbeit im Rahmen der naturalistischen
Wissenschaftsphilosophie. Ich konnte dabei mei-
ne Kenntnisse verschiedener physikalischer Model-
le schön ausspielen und es hat gut geklappt. Dann bin
ich zunehmend skeptisch geworden, dass dieser na-
turalistische Zugang zur Wissenschaftsphilosophie
der richtige Weg ist. Die Idee war immer, man guckt
sich ein bestimmtes Modell an und konfrontiert es mit
philosophischen Positionen zur Methodologie. Ich
dachte, ich kann doch nicht für den Rest meines Le-
bens ein Modell nach dem anderen durchnudeln und
analysieren. Gleichzeitig war ich aber früher immer
sehr skeptisch gewesen, dass formale Zugänge irgend
etwas bringen in der Wissenschaftsphilosophie.
„Feyerabend war mein großer Held und ich habe sehr gern Kuhn gelesen.“
Tatsächlich war auch die formale Philosophie, wie sie
zu der Zeit betrieben wurde, ziemlich weit weg von
der Wissenschaft.
Trotzdem bin ich dann irgendwie in das andere
Lager umgeschwenkt. Ich wurde Assistent in Kons-
tanz und traf an meinem ersten Tag Luc Bovens, der
zu der Zeit in Konstanz Humboldt-Stipendiat war und
mich in ein Gespräch über Wahrscheinlichkeiten ver-
wickelte. Er hatte gerade ein Buch ausgegraben, von
Judea Pearl. Er wusste, oder ich sagte ihm, dass ich
einen Physik-Hintergrund habe, dass ich gerne rech-
ne. Er hat mich dann dazu gebracht, eine reading
group zu diesem Buch zu machen, damit wir uns ge-
meinsam die Theorie der Bayesian Networks aneig-
nen können. Die Rechnerei hat mir Spaß gemacht,
aber ich habe nicht wirklich gesehen, dass das phi-
losophisch etwas bringt. Irgendwann habe ich aber
doch Feuer gefangen und dann ging es los mit den
Bayesian Networks. Das hat mich einige Jahre be-
schäftigt.
Cog!to: Mit Luc Bovens zusammen haben sie
auch ein Buch veröffentlicht1. Welche Früchte hat die
Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie und for-
maler Methoden in diesem Buch gezeigt? Können Sie
da vielleicht ein schönes Beispiel nennen?
Hartmann: In dem Buch geht es zum einen
um die Anwendung wahrscheinlichkeitstheoreti-
1 Boven, Hartmann (2004), Bayesian Epistomology,
Oxford University Press
scher Methoden auf erkenntnistheoretische und
wissenschaftstheoretische Fragen. Das schöns-
te Beispiel aus der Erkenntnistheorie ist vielleicht
das, was wir zur Kohärenztheorie der Rechtferti-
gung gemacht haben. Da ist die Idee, dass es in der
Erkenntnistheorie zwei konkurrierende Ansätze da-
für gibt, wie Rechtfertigung vonstatten geht. Es gibt
den Fundamentalismus – klassischer Rationalismus,
klassischer Empirismus sind fundamentalistische Po-
sitionen. Wir rechtfertigen, indem wir zurückführen
auf irgendetwas Sicheres. Diese Position ist in die
Kritik geraten.
Die Gegenposition ist die kohärentistische Posi-
tion. Die Idee dabei ist, dass wir eine Glaubensmenge
rechtfertigen, indem wir zeigen, dass sie kohärent ist,
dass alles schön zusammenhängt. Ein Beispiel wären
Zeugenaussagen. Wir haben einen Banküberfall und
ein Zeuge berichtet, der Verdächtige wäre mit einem
Peugeot weggefahren. Der zweite Zeuge sagt, der
Verdächtige hätte einen französischen Akzent. Der
dritte Zeuge sagt, der Verdächtige trüge Coco-Chan-
nel-Schuhe. Das ist eine sehr kohärente Aussagen-
menge. Wenn jetzt die drei Angeklagten Pierre, Luigi
und Pawlew sind, dann ist klar, dass Pierre vermut-
lich der Bankräuber war. Kohärenz wird zur Recht-
fertigung genommen, und Kohärenz scheint auch ir-
gendwie mit Wahrheit korreliert zu sein. Irgendwie
möchte man sagen: Unter gewissen Umständen ist
die kohärentere Aussagenmenge diejenige, die nä-
her an der Wahrheit ist. Man kann informell sagen,
„Kohärenz hat etwas damit zu tun, wie eine Aussa-
genmenge zusammenhängt“ und man kann sagen
„unter gewissen Umständen ist Kohärenz wahrheits-
fördernd“, aber das ist alles sehr vage.
Da kann mit formalen Ansätzen viel gemacht
werden – ich kann die Aussagenmenge modellie-
ren, kann Kohärenzmaße finden, die dann mehr oder
weniger intuitiv sind, und ich kann schließlich auch
untersuchen, wie Kohärenz und Wahrheit mitein-
ander korreliert sind. Da gibt es eine Reihe von Un-
möglichkeitstheoremen, die unabhängig vom spe-
zifischen Kohärenzmaß sagen, dass Kohärenz und
Wahrheit nicht direkt miteinander korreliert sind. Mit
dem Wahrscheinlichkeitskalkül habe ich eine forma-
le Maschinerie, die es mir gestattet, sehr präzise über
diese Fragen zu reden.
Personenkult
21cog!to 06/2013
Cog!to: Können Sie uns kurz erklären: Was ist
mathematische Philosophie? Wie bewerten Sie das
Potenzial formaler Methoden in der Philosophie im
Allgemeinen? …
Hartmann: … da wird Sie meine Meinung über-
raschen.
Cog!to: Wenn man Herrn Leitgeb zuhört, hat
man oft den Eindruck: „The Best is Yet to Come.“
Was uns interessiert: Gibt es Ihrer Ansicht nach
philosophische Fragen, bei denen die Anwendung
mathematischer Methoden wenig fruchtbar ist?
Hartmann: Mathematische Philosophie ist die
Anwendung mathematischer Methoden auf philoso-
phische Probleme. Wir interessieren uns für philoso-
phische Fragestellungen, und wir wollen mathemati-
sche Methoden benutzen, um Fortschritt zu machen
in der Philosophie. Die mathematischen Methoden
reichen von Logik über Wahrscheinlichkeitstheorie
bis hin zu Computersimulationen – alles Mögliche.
Wir sind da sehr offen und wir denken, dass diese Of-
fenheit, auch ein großer Vorteil ist. Mein Eindruck in
meiner Feyerabend-Phase war, dass die Leute eine
bestimmte mathematische Methode hatten – de-
duktive Logik – und die auf alles Mögliche angewen-
det haben. Das ist so, als ob sie einen Hammer von
einer bestimmten Größen haben und hauen den auf
Nägel verschiedenster Größe. Jeder Nagel hat sei-
nen Hammer. Inzwischen ist die Toolbox – Mathe-
matik ist für mich einfach eine Toolbox – inzwischen
so groß, da gibt es so viele wunderbare Methoden,
da muss ich mir nur die richtige Methode suchen, die
zu meinem Problem passt.
Es gibt natürlich auch andere philosophische
Methoden. Konzeptuelle Analyse ist immer noch
eine sehr wichtige Sache. Diese Methoden müssen
verbunden werden.
„Ich bin Methodenpluralist, aber ich bewundere mathematische Metho-den, weil die einfach sehr, sehr leis-tungsstark sind.“
Mathematik hat den Vorteil, dass ich gezwungen
werde, ganz präzise das Problem darzulegen. Wenn
ich etwas mathematisch aufschreibe, muss ich meine
Karten auf den Tisch legen, und wenn ich eine Com-
putersimulation machen will, muss ich den Prozess
ganz genau beschreiben. Aber ich mache natürlich
immer irgendwelche Annahmen. Außerdem benut-
ze ich Mathematik auch als Inferenzmaschine. Wenn
ich ein philosophisches Problem auf ein mathemati-
sches Problem abgebildet habe, verwende ich ma-
thematische Methoden – ich löse Gleichungen, oder
mache eine Computersimulationen. Ab dann funk-
tioniert es quasi automatisch. Ich muss dann nicht
mehr nachdenken, was alles aus meinen Annahmen
folgt – die Mathematik macht das für mich.
Aber natürlich müssen die Annahmen auch ge-
rechtfertigt werden. Hier gibt es sicher Grenzen for-
maler Methoden. In meiner Arbeit zur politischen
Philosophie geht es zum Beispiel unter anderem da-
rum, herauszufinden, was aus bestimmten philoso-
phischen Positionen folgt. Da frage ich etwa, ange-
nommen wir sind Utilitaristen, was folgt dann für ein
bestimmtes komplexes ethisches Problem. Ich bin
hier nicht daran interessiert, die betreffenden ethi-
schen Positionen zu verteidigen. Ich sehe das so,
dass es respektable philosophische Positionen gibt
und mithilfe mathematischer Methoden kann ich fra-
gen, was aus denen folgt. Natürlich müssen diese Po-
sitionen irgendwie gerechtfertigt werden; und wenn
es nun irgendwelche starken Argumente gegen den
Utilitarismus gibt, dann ist das natürlich in diesem
Fall auch nicht gut für mich. Als methodologisches
Prinzip würde ich aber sicherlich nicht sagen, dass es
eine Grenze für mathematische Methoden gibt. Da
stimme ich vollkommen mit Hannes Leitgeb über-
ein – das Beste kommt noch (lacht) und wir schauen
einfach mal, was als Nächstes kommt und lassen uns
überraschen.
Cog!to: Einer ihrer Schwerpunkte ist die so-
ziale Epistemologie. Forschung in diesem Bereich
steht oft im Zusammenhang mit der Frage, ob die
Auskunft anderer eine gute Erkenntnisquelle dar-
stellt. Als Student interessiert einen da natürlich,
ob man als Hörer auf das vertrauen kann, was Sie
in einer Vorlesung berichten – und, sollte das der
Fall sein, warum dem so ist.
Hartmann: Die kurze Antwort ist natürlich „Ja“.
(lacht) Sicher ist das, was Andere mir sagen zu ei-
ner bestimmten Fragestellung, relevant für mich. Es
ist klar, dass ich das irgendwie berücksichtigen sollte.
Die Frage ist jetzt, wie ich das berücksichtige.
Die eine Möglichkeit besteht darin zu sagen,
wir sind beide auf der gleichen Stufe, wir sind bei-
de Studenten. Sie haben etwas über Hegel gelesen,
ich habe etwas über Hegel gelesen und wir stimmen
Personenkult
22 cog!to 06/2013
nicht überein – das sollte dazu führen, dass ich mei-
ne Meinung überdenke. Wenn ich Sie als Autorität be-
trachte, scheint es rational zu sein, Ihre Meinung zu
übernehmen und meine Meinung zurückzustellen. In
dieser Situation sind zwei Leute auf derselben Stufe –
peers ist der englische Ausdruck – und haben ganz
unterschiedliche Auffassungen. Sie sagen, der Zah-
lenwert um den es gerade geht ist 10 Millionen, ich
sage 17. Die Frage ist, was dann zu tun ist. Da gibt es
zwei Situationen. Einmal gibt es die Situation, dass ich
einer von den beiden bin. Da scheint es irgendwie ra-
tional zu sein, meine Meinung darüber zu revidieren,
dass wir beide peers sind – ich könnte dann z.B. Ihre
Zuverlässigkeit heruntersetzen. Die andere Möglich-
keit besteht darin, dass ich meine Zuverlässigkeit he-
runtersetze.
Die andere Situation ist, dass wir hier einen Drit-
ten haben, der sich anhört, was wir beide sagen. Und
der stellt jetzt fest, dass wir unterschiedliche Auffas-
sungen haben. Das scheint mir eine andere Situation
zu sein, als wenn ich einer der Beiden bin. Wenn ich
einer der Beiden bin, kann ich einfach sagen: „Sie sind
blöd“. Aber er sieht uns beide, betrachtet uns am An-
fang als peers - wie kann er dann sagen, dass mei-
netwegen ich blöd bin und sie nicht? Wir interessieren
uns dafür, wie Leute umgehen sollen mit disagree-
ment. Das ist eine wichtige Debatte, die gerade in
Amerika hochkocht – ich glaube auch im Zusammen-
hang mit intelligent design. Kann ich etwa bei mei-
ner Meinung bleiben, dass Gott die Welt geschaffen
hat, selbst wenn ein verehrter Kollege die Evolutions-
theorie ganz toll findet? Leute auf der einen Seite der
Debatte sagen, ja, es ist rational – trotz disagreement
– bei meiner Meinung zu bleiben. Und die anderen
sagen, ich muss meine Meinung zumindest anpassen.
Das ist eine ganz, ganz wichtige Frage – und ich den-
ke, dass hier mit formalen Methoden etwas gemacht
werden kann.
Cog!to: Die letzte Ausgabe von Cog!to beschäf-
tigte sich auch mit Berufsperspektiven von Philo-
sophen. Als Philosophiestudent kennt man die Fra-
ge, was man damit denn später machen wolle. Was
antwortet Stephan Hartmann, wenn er in seinem
Bekanntenkreis gefragt wird, welchen Nutzen die
Gesellschaft von bayesianisch orientierter Wissen-
schaftsphilosophie hat.
Hartmann: Ich habe Glück gehabt und habe ei-
nen Job. Ich kann Philosophie beruflich betreiben und
damit machen, was ich will. Das ist schön und ich fin-
de es toll, dass die Gesellschaft sich das leistet. Ich fin-
de auch, dass es wichtig ist, dass ich nicht alles, was
ich mache, gesellschaftlich rechtfertigen muss. Das
ist zum Teil einfach eine Kulturleistung. Gleichzeitig
bin ich aber der Meinung, dass wir natürlich irgendwie
erklären müssen, was wir machen. Es sollte möglich
sein, der Gesellschaft, dem interessierten Laien, zu er-
klären, warum uns bestimmte Fragen interessieren. Da
viele der Fragen, mit denen ich mich befasse, sehr an-
gewandt sind, ist das für mich eher leicht.
Cog!to: Wir haben in Ihrem Lebenslauf gese-
hen, dass sie Stipendiat des Cusanuswerk waren,
das katholische Studierende fördert. Wie sehen sie
das Verhältnis von Religion und Wissenschaft?
Hartmann: Zunächst einmal finde ich Semi-
nare zum Thema Wissenschaft und Religion sehr in-
teressant. Ich habe auch vor, in Zukunft ein Seminar
oder eine Vorlesung zu dieser Thematik anzubieten.
Personenkult
23cog!to 06/2013
Ich denke, dass man dabei viele philosophische Me-
thoden sehr gut üben kann. Argumente zu analysieren
zum Beispiel, indem man die klassischen Gottesbe-
weise durchgeht. Am Ende des Arguments steht dann:
„Gott existiert“. Das zwingt die Leute dazu, sich mit
Argumentationen auseinanderzusetzen und natür-
lich auch die Prämissen zu prüfen. Das, denke ich, ist
ein sehr schönes Thema. Es ist auch ein sehr aktuelles
Thema, weil es natürlich Spannungen zwischen Wis-
senschaft und Religion gibt. Die Wissenschaft erzählt
uns eine Geschichte darüber, wie die Welt entstanden
ist – die Religion erzählt uns eine andere Geschichte.
Was folgt daraus? Mir geht es in solchen Veranstaltun-
gen vor Allem darum, Argumentation zu üben. Mir ist
dabei die vertretene Meinung weniger wichtig als de-
ren Begründung. Ich möchte gute Argumente sehen
und vertrete dann in solchen Seminaren gerne auch
einmal die Gegenposition, einfach um ein bisschen zu
spielen und zu gucken, was da so kommt von den Stu-
denten.
Cog!to: Jetzt schieben wir eine Frage ein, von ei-
nem unserer Leser an Sie. Wir haben über Facebook
dafür geworben, uns Fragen an Sie zu schicken. Die
Leser-Frage ist, ob Sie denken, dass auch an der LMU
mehr zeitgenössische Philosophie gelehrt werden
sollte. Der Leser hat als Beispiel Slavoy Zizek und Ju-
dith Butler genannt. Denken Sie, dass in der mathe-
matischen Philosophie auch zeitgenössische The-
oretiker gelehrt werden sollten; vielleicht in Form
eines Lektürekurses?
Hartmann: Wir haben ein sehr breites Angebot
an der LMU. Wenn ich mir das Vorlesungsverzeichnis
anschaue, dann sehe ich ein Spektrum von
historischen bis zu zeitgenössischen Themen. Meine
Fragestellungen sind alle systematisch orientiert. Ich
fange mit einem Problem an und will dieses Problem
lösen. Wenn bestimmte Autoren dazu etwas zu sagen
haben, ziehe ich diese natürlich zu Rate, aber ich bin
in erster Linie an den Problemen interessiert. Aber
für die Ausbildung sind Lektürekurse natürlich sehr
wichtig und es werden ja auch Lektürekurse zur
zeitgenössischen Philosophie angeboten. Natürlich
können wir jetzt nicht alles anbieten, das hängt auch
von den Interessen der Professoren und Mitarbeiter
ab. Ich denke, Sie können überall immer irgendwelche
Lücken finden. Aber mir wurde gesagt, dass Studenten
gewünschte Lektürekurse auch durch die Fachschaft
eigenständig organisieren können.
Cog!to: ...genau. Das wird durch die Fachschaft
koordiniert.
Hartmann: Also können Lücken selbst gefüllt
werden. Philosophie hat auch viel mit Selbststudium
zu tun. Jeder kann selbstständig lesen oder eine klei-
ne Lesegruppe aufmachen. Ich denke, Eigeninitiative
ist da wichtig. Es gibt viele Möglichkeiten, sich neue
Themen und Autoren zu erschließen.
Cog!to: Die Philosophie, und vor allem die Wis-
senschaftstheorie eignet sich stark dafür, interdis-
ziplinäre Forschung zu betreiben. Haben Sie auch
vor, interdisziplinär zu lehren und Seminare anzu-
bieten, mit Wissenschaftlern anderer Fakultäten?
Hartmann: Ja, das ist sicher eine Option, die
ich mir angucken will und mit Einigen bin ich auch
schon im Gespräch. Man muss bei solchen Lehrver-
anstaltungen aufpassen, dass sie halbwegs homo-
gen sind. Ich habe selbst oft „Philosophie der Phy-
sik“ unterrichtet, und ein Problem dabei ist, dass die
Philosophen zu wenig von Physik verstehen und die
Physiker zu wenig von Philosophie. Man muss versu-
chen, beide auf ein Diskussionsniveau zu heben. Das
ist nicht ganz einfach, insbesondere wenn es an der
Physik oder Mathematik fehlt, aber es ist auf jeden
Fall erstrebenswert. Wir planen auch diverse Lehr-
veranstaltungen zu den Philosophien der einzelnen
Wissenschaften.
Cog!to: Am MCMP gibt es eine Vielzahl von
Projekten. Als Außenstehender lässt sich das nur
schwer überblicken. Vielleicht könnten Sie einen
groben Abriss geben, was sich hinter dem Namen
alles verbirgt? Was ist das Konzept des MCMP?
Hartmann: Das MCMP ist ein Forschungszen-
trum, das aus den beiden Lehrstühlen von Hannes
Leitgeb und mir besteht. Dazu gehören Mitarbeiter,
Postdocs, Doktoranden, die sich mit allen möglichen
Aspekten der mathematischen Philosophie beschäf-
tigen. Manche sind mehr an Grundlagenfragen der
Logik und Mathematik interessiert, andere Leute sind
mehr an den empirischen Wissenschaften interes-
siert. Es gibt hier ein ganz breites Spektrum.
An meinem Lehrstuhl gibt es drei größere Grup-
pen, die von jeweils einem Assistenten geleitet wer-
den. Eine Gruppe zur Philosophie der Physik, eine
Gruppe, die sich mit der Philosophie der Psycho-
logie und Sozialwissenschaften beschäftigt und als
Drittes gibt es eine Gruppe, die mir sehr am Her-
Personenkult
24 cog!to 06/2013
zen liegt, zur Modellbildung und Simulation in der
Philosophie. Dazu wird es einen Kurs geben, der im
Sommersemester losgeht. Einen ganzjährigen Kurs,
also zweisemestrig, der immer stattfinden soll, in
dem die Studenten lernen, Computerprogramme zu
schreiben, um philosophische Probleme zu lösen.
Meine Hoffnung ist, dass Projekte aus diesem Kurs
hervorgehen, die vielleicht auch am MCMP angesie-
delt werden können. Mir ist also ganz wichtig, dass
„Nachschub von unten“ kommt, dass unsere Studen-
ten, sofern sie Interesse an diesen Fragestellungen
haben, sehr gut ausgebildet werden und die entspre-
chenden Methoden lernen.
Cog!to: Sie haben verschiedene Wissenschafts-
systeme kennengelernt. Wie schätzen Sie jetzt die
deutsche Forschung und Lehre ein? Sollte sich in
Deutschland beispielsweise das Lehrdeputat an
die internationale Höhe annähern?
Hartmann: Eine Frage ist, ob stärker zwischen
Forschung und Lehre getrennt werden sollte. Das
traditionelle System in Deutschland ist, dass alle Pro-
fessoren ein bestimmtes Lehrdeputat haben und da-
rüber hinaus ihre Forschung machen und in der Ver-
waltung engagiert sind. Spitzenforscher haben das
gleiche Lehrdeputat wie Professoren, die weniger viel
produzieren und sich vielleicht stärker in der Lehre en-
gagieren wollen. Ich finde, dass es überlegenswert ist,
das zu ändern. Das ist auch eine Entwicklung, die sich
bereits andeutet. Ich denke, dass es für das Grund-
studium nicht nötig ist, dass der Professor selbst ein
aktiver Forscher ist. Im Master-Studium ist das sicher
wichtiger, weil die Themen, die da behandelt werden,
nah an der aktuellen Forschung dran sind. Und selbst-
verständlich ist es wichtig bei der Doktorandenbe-
treuung, dass der Doktorvater oder die Doktormutter
auf dem betreffenden Gebiet forscht. Aber ich könnte
mir durchaus vorstellen, dass man im Bachelor-Studi-
um verstärkt Leute einsetzt, die sich auf die Lehre kon-
zentrieren und ein höheres Lehrdeputat haben, und
andere dann mehr Zeit bekommen, um zu forschen
und sich verstärkt um die Masterstudenten und Dokto-
randen zu kümmern.
Ich finde es allerdings trotzdem wichtig, dass alle
auch im Bachelor-Bereich eingesetzt werden. Ich habe
selbst die Erfahrung gemacht, dass ich viel dabei lerne,
wenn ich Einführungsvorlesungen halte. Es kommen
Das Interview führten Lukas Leucht und Miguel de la Riva.
oft Fragen, mit denen man sich nicht mehr so be-
schäftigt. Ich gebe jetzt und werde auch in Zukunft
die Einführungsvorlesung in die Wissenschaftstheo-
rie geben. Es ist mir wichtig, die Bachelorstudenten
zu erreichen und für mein Fach zu begeistern. Glei-
ches gilt für die Masterstudenten. Dennoch bin ich
mit Leib und Seele auch Forscher.
Cog!to: Bleiben wir noch kurz bei der Lehre.
Die LMU ist jetzt Mitglied bei Cousera, einem An-
bieter von Massive Open Online Courses (MOOCs)
– und damit wird auch ein Kurs über mathemati-
sche Philosophie von Ihnen und Hannes Leitgeb
online angeboten. Können Sie kurz das Konzept
dieses Kurses erklären, damit der Hörer weiß, was
er erwarten kann.
Hartmann: Cousera bietet ein relativ neu-
es Lehr-Konzept an. Professoren unterrichten dabei
online Kurse, die von Allen überall auf der Welt ge-
hört werden können. Die LMU startet jetzt mit vier
Kursen. Einer davon ist unsere Einführung in die ma-
thematische Philosophie, die uns die Möglichkeit
gibt, das, was wir am MCMP machen und wie wir
mathematische Philosophie betreiben, einem großen
Publikum zu präsentieren.
Unser Kurs wird aus acht Einheiten bestehen; acht
Vorlesungen, die jeweils aus ca. zehnminütigen Ein-
heiten bestehen. Am Ende dieser Einheiten gibt es
Testfragen, die das Verständnis überprüfen. Hannes
Leitgeb wird für die ersten vier Folgen verantwortlich
sein, ich für die zweiten vier. Aber wir werden versu-
chen, das ein bisschen aufzulockern, indem wir beide
auch in der jeweils anderen Vorlesung Präsenz zeigen.
Ich bin sehr gespannt, wie unser Kurs wird und wie das
Feedback sein wird. Und ja, schauen wir mal.
Cog!to: Von unserer Seite sind damit alle Fra-
gen geklärt. Wir bedanken uns für das interessante
Interview und Ihre Zeit!
Personenkult
25
Erwin Schrödinger war einer der maßgebenden Physiker des 20. Jahrhunderts, der ein aus-geprägtes Verhältnis zur Philosophie hatte. Die von ihm entdeckte Wellenmechanik stellte sich nicht nur als die fundamentale Theorie des Aufbaus der Materie heraus, sondern gab zu einer dramatischen Veränderung im modernen Naturverständnis Anlass. Einige dieser begrifflichen Umwälzungen sollen im Folgenden thematisiert werden.
Erwin Schrödinger und die Interpretation der Quantenmechanik
Ein tragisches Verhältnis
1. Das Rätsel der Quanten
Keine Theorie der modernen Physik hat so viele
Verständnisschwierigkeiten hervorgerufen wie
die Quantenmechanik (QM), aber keine hat auch
so viele philosophische Anstrengungen aktiviert
wie diese Theorie. Selbst die Relativitätstheorien,
die ja klassische Feldtheorien waren, erschlossen
sich leichter der begrifflichen Durchdringung, ob-
zwar ihr neuartiges Konzept einer dynamischen
Raumzeit nicht gerade leicht eingängig war.
In der QM hingegen hat sich bis zum heuti-
gen Tag ein ganzes Spektrum von Interpretations-
varianten erhalten, die mitnichten zu Ende disku-
tiert sind. In der Deutungsvielfalt der Theorie, wie
25
Von Bernulf Kanitscheider
cog!to 06/2013Personenkult
26 cog!to 06/2013
Ein solcher Kopf wäre heute kaum mehr denkba
r.
sie in den zwei verschieden Formen von
Werner Heisenberg, Max Born und
Pascual Jordan auf der einen Seite
und von Schrödinger auf der anderen
in den 20er Jahren des vorigen Jahr-
hunderts vorgeschlagen wurde, bil-
dete sich schon am Anfang eine deut-
liche Gruppierung heraus. Eine Partei
scharte sich um Niels Bohr und Werner
Heisenberg, die die sogenannte Kopenhage-
ner Deutung begründeten, eine andere um Albert
Einstein, Max von Laue und Erwin Schrödinger,
die dieser Auslegung kritisch gegenüberstanden.
Wenn man die Grundeinstellungen der beiden
Fraktionen mit philosophisch geläufigen Begriffen
holzschnittartig charakterisieren will, kann man
die Kopenhagener als Empiristen, ihre Gegner als
Realisten bezeichnen. Dabei war Schrödinger wohl
derjenige, der sich am meisten philosophische Ge-
danken um das neuartige Quantenkonzept mach-
te, wohl auch deshalb, weil er den am stärksten
ausgeprägten metaphysischen Hintergrund besaß.
So wie vor ihm höchstens Max Planck fühlte er
sich von den in den Quantenprozessen auftre-
tenden Diskontinuitäten - den nichtklassischen
sprunghaften Zustandsänderungen - der atoma-
ren Systeme betroffen, die er weniger als radika-
len Umbruch denn als Ausdruck einer Krise der
Physik ansah. Dies umso mehr, als gerade Schrö-
dinger die QM als reine Wellentheorie konzipiert
hatte. Die Realität bestand für ihn ausschließlich
aus dem Medium kontinuierlicher Wellen. Den dis-
kreten Energieniveaus und unstetigen Übergängen
sprach er keine Existenz zu, weil in der Wellenme-
chanik die diskreten Eigenwerte Eigenfrequenzen
von Wellen sind und keine Energien. Den anschei-
nenden Quantencharakter deutete er als Reso-
nanzphänomen, das nur den Eindruck erweckt, als
ob hier eine Sprunghaftigkeit vorläge. Das Moment
der Unstetigkeit in den Energieübergängen woll-
te Schrödinger höchstens in einer effektiven, aber
nicht fundamentalen Theorie anerkennen. Die QM
galt aber als Kandidat einer grundlegenden Theo-
rie des Aufbaus der Materie. Es zeigte sich ziem-
lich bald, dass sich seine ontologische Intuition der
Stetigkeit aller physikalischen Prozesse nicht völlig
durchhalten ließ. So machte ihn Hendrik Antoon
Lorentz darauf aufmerksam, dass das Wellenpaket,
das ein Teilchen repräsentiert,
mit der Zeit auseinanderläuft
und dieses somit seine indivi-
duelle Existenz verliert.
Dies dokumentiert so-
mit die Tatsache, dass beim
Aufbau der Materie weder
allein das Wellenbild noch
ausschließlich das Teilchen-
bild ausreichen, man also mit der
Dualität der Materie rechnen muss. Die
Quantensprünge,1 die erstmals in dem von Planck
im Jahre 1900 entdeckten Strahlungsgesetz2 auf-
traten, hatte dieser schon als ein Ärgernis und als
ein Zeichen der Gefahr für die Physik bezeichnet,
da Kausalität und Raumzeitlichkeit der Prozesse als
Grundkategorien der physikalischen Beschreibung
nicht mehr gewährleistet seien. Bei allen klassi-
schen Ereignisabläufen lassen sich die Ursächlich-
keit und der Weg des Vorganges in der Raumzeit
angeben. Bei einem Absorptions- oder Emissions-
vorgang, wenn etwa in Bohrs Atommodell von
1913 ein Elektron in einem H-Atom unter Aus-
sendung eines Photons auf eine niedrigere Bahn
springt, ist eine solche Beschreibung nicht mehr
gegeben. Es war gerade Schrödingers Ziel gewe-
sen, mit seiner Wellengleichung und den zuge-
hörigen Randbedingungen den Absorptions- und
Emissionsvorgängen der frühen Quantentheorie
ihre Verständlichkeit wieder zu geben.
1 Es muss als Kuriosum der Umgangssprache der heutigen Medien
angesehen werden, dass sie diesen Ausdruck im Sinne eines enormen
Fortschrittes verwenden, angesichts der Tatsache, dass es sich dabei
gerade um die kleinste physikalisch mögliche Veränderung handelt.
2 Strahlungsgesetze formulieren die Abhängigkeit der von einem
Körper abgestrahlten Energie von der Temperatur des Körpers und von
der Wellenlänge der Strahlung.
26
27
2. Das Dogma der klassischen Messbarkeit
Aber die Entwicklung lief anschließend erst ein-
mal nicht in die von Schrödinger vermutete phi-
losophische Richtung. Im Zentrum der Debatten war
das Messproblem der QM angesiedelt. Bohr domi-
nierte die Diskussion mit seiner Betonung, dass es
im eigentlichen Sinne keine Quantenwelt, sondern
nur eine quantenmechanische Beschreibung gäbe,
d.h. die QM könne nicht ontisch, sondern nur episte-
misch gedeutet werden. Dabei betonte er mit Nach-
druck den klassischen Charakter aller Messgeräte,
bestritt aber den ontologischen Status der Mikrowelt;
aus seiner Sicht gibt es Quantenphänomene, aber
keine autonome Mikrorealität. Dies mutet natürlich
seltsam an, wenn man bedenkt, dass auch die klassi-
schen Messgeräte aus Atomen bestehen müssen, für
die die QM ja gerade die neue Theorie sein sollte.
Verschärft wurden die Gegensätze noch da-
durch, dass Heisenberg explizit die Ungültigkeit des
Kausalgesetzes aussprach und postulierte, dass die
Physik die Aufgabe hat, den Zusammenhang von
Wahrnehmungen zu beschreiben. Mit Blick auf die
früheren Atommodelle bekräftigte er diese empiristi-
sche Deutung, indem er davon sprach, dass die Bahn
eines Elektrons erst durch die Beobachtung entsteht.
Das hat allerdings schon damals die Frage auf den
Plan gerufen, was die Elektronen denn die vergan-
genen Jahrmilliarden in der Geschichte des Univer-
sums gemacht haben.
3. Systemverschränkung und spukhafte Fernwirkung
Die Gegensätzlichkeit in den erkenntnistheore-
tischen Positionen verschärfte sich auch durch
das sogenannte EPR-Argument, mit dem Einstein,
Boris Podolsky und Nathan Rosen die Annahme
der Kopenhagener-Gruppe ad absurdum führen
wollten, dass die Wellenfunktion ψ eine vollstän-
dige Beschreibung der Quantenobjekte bildet. Für
Philosophen ist es eine Genugtuung zu beobach-
ten, wie gerade in diesem Kern der QM die erkennt-
nistheoretische Begrifflichkeit eine Schlüsselrolle
spielt. In immer neuen Gedankenschleifen umkreis-
ten die Physiker das Realitätsproblem der QM. Ein-
stein beharrte für die Physik auf einer Position, die
man später metaphysischen Realismus genannt hat,
wonach die physikalischen Systeme und ihre Geset-
zesstruktur eine vom Beobachter und vom Theore-
tiker unabhängige Existenzweise besitzen. Einstein
hielt diese Einstellung für naturgegeben und unver-
äußerlich. Im EPR-Argument legen die Autoren nun
diesen Realitätsbegriff zu Grunde und konstatieren
folglich die Unvollständigkeit der QM. Hier ist der
zentrale Begriff die Systemverschränkung.
In der späteren Variante des EPR-Argumen-
tes von David Bohm zerfällt ein Spin 0 Teilchen in
zwei Spin ½ Teilchen, deren Zustände wegen der
Unitarität der Wellengleichung streng miteinander
korreliert bleiben, selbst dann, wenn die beiden
Komponenten auf galaktischen Entfernungen ste-
hen. Eine Messung an dem einen Teilchen erlaubt
auf Grund dieser Systemverschränkung eine siche-
re Aussage über den weit entfernten Partner, ohne
diesen im Mindesten zu tangieren. Da in der QM die
Spinoperatoren3 eines Teilchens sich nicht vertau-
schen, gibt es keine Möglichkeit einer vollständigen
Beschreibung.
4. Vedanta und der Schleier der Maya
Schrödinger reagierte ziemlich bald auf die EPR-
Argumentation, stellte aber nicht die Unvoll-
ständigkeit, sondern die Systemverschränkung in
den Mittelpunkt der Diskussion. Er erkannte völ-
lig zu recht, dass das umwälzend Neue in der QM
die Überlagerung von Zuständen bildet, die letzt-
3 Der Spin ist als Eigendrehimpuls eine innere nur quantenmecha-
nisch beschreibbare Eigenschaft von Elementarteilchen, Atomen und
Kernen. Der Spin kann nicht auf eine Bahnbewegung zurückgeführt
werden und besitzt keine klassische Entsprechung. Der dynamischen
Variable Spin ist ein vektorieller Spinoperator zugeordnet.
27cog!to 06/2013Personenkult
cog!to 06/201328
lich alle Systeme umfasst und im Messprozess eine
neue Wirklichkeit schafft, die Mikroobjekt, Messge-
räte und auch den Beobachter einschließt. Der line-
are Charakter der Schrödinger-Gleichung ist es, der
eine Verknüpfung dieser Komponenten der Messa-
nordnung hervorruft, die durch eine Superposition
der Zustände wiedergegeben wird. Nur durch zu-
sätzliche, der QM hinzugefügte Postulate wie Borns
Regel, Bohrs Forderung der klassischen Messbarkeit
oder das Projektionspostulat Johann v. Neumanns
konnte erzwungen werden, dass der Zustand des
Mikrosystems nach der Messung mit einem Vektor
im Hilbertraum4 und einer eindeutigen Zeigerable-
sung wiedergegeben wird.
Anders als Einstein, der heuristisch von ei-
nem robusten klassischen Realismus ausging, war
Schrödinger nicht in erster Linie von dieser Hin-
tergrundmetaphysik motiviert, sondern hing eher
einem spirituellen Idealismus an, zu dem er durch
die hinduistischen Schriften des Vedanta geführt
worden war. Die abendländische wissenschaftliche
Weltauffassung, wie sie durch den vorsokratischen
Rationalisierungs- und Entmythologisierungspro-
zess zustande gekommen war, umfasste aber gera-
de die objektive Erkennbarkeit und Gesetzesartig-
keit der Natur als Kernmomente des Verhältnisses
zur Realität. Sie machte keineswegs von der An-
4 Der Hilbertraum ist ein Vektorraum mit unendlicher Dimensionszahl,
in dem ein inneres Produkt definiert ist und der zur Darstellung
quantenmechanischer Vorgänge dient.
nahme Gebrauch, daß die Wirklichkeit durch den
Schleier der Maya verhüllt sei. Schrödinger war aber
davon durchdrungen, daß die Menschen im Grund
Gefangene ihres Bewusstseins seien, dass die Sub-
jekt-Objekt-Spaltung, oder wie Hegel es nannte,
das unglückliche Bewusstsein, nicht überwunden
werden könne. Durch die bizarren Konsequenzen
der QM war nun die Versuchung vorhanden, die
erkenntnistheoretischen Prinzipien der klassischen
Physik aufzuweichen, um sie zumindest näherungs-
weise an die indische Bewusstseinsmetaphysik her-
anzuführen.
Schrödinger widerstand aber der Verlok-
kung einer rein mentalistischen Deutung des quan-
tenmechanischen Messprozesses, wie sie später
von London und Bauer und dann von Eugene. P.
Wigner propagiert wurde. Schrödinger blieb dabei,
dass innerhalb der Naturwissenschaft die Subjekti-
vität außen vor bleiben müsste, weil das Rätsel des
Bewusstseins von der Wissenschaft ohnehin nicht
gelöst werden könne. Hingegen wehrte er sich,
die Wahrscheinlichkeit als Grundkategorie funda-
mentaler Naturgesetze zu akzeptieren. Er schlug
sich somit in Bezug auf den Indeterminismus und
die probabilistische Deutung der ψ-Funktion auf
die Seite von Einstein. Auch hinsichtlich einer voll-
ständigen Beschreibung der Naturvorgänge in der
Raumzeit wollte er keine Zugeständnisse machen.
Bezüglich des Determinismus und der unstetigen
sprunghaften Veränderung der Zustände bei einer
Messung konnte er sich immerhin auf seine eigene
Gleichung stützen, die zumindest für das nichtbe-
obachtete System eine stetige kausale reversible
Entwicklung des Zustandes eines atomaren Sy-
stems formuliert. Die zufallsabhängige Verände-
rung des Zustandsvektors bei einer Messung, die in
Personenkult
29cog!to 06/2013
der orthodoxen Deutung als akausaler, irreversib-
ler Vorgang erscheint, verstieß aber in zu hohem
Maße gegen seine philosophischen Rahmenkate-
gorien physikalischer Theorien.
Immerhin konnte er darauf hinweisen, dass
nur durch Zusatzpostulate, wie der Bornschen Re-
gel5 oder dem Projektionspostulat6, die nicht von
seiner Wellengleichung ableitbar sind, der stocha-
stische Charakter der QM augenscheinlich wird.
5. Die Universelle Wellenfunktion und das Multiversum
An dieser Stelle hat nun in jüngster Zeit eine An-
schlussdiskussion eingesetzt, die in besonderem
Maße an Schrödingers Zweifeln an der orthodoxen
Deutung der QM anknüpft, wenngleich sie nicht
unbedingt seine metaphysische Intuition umsetzt.
Um diese Wendung zu verstehen, muss man wis-
sen, dass im Jahre 1957 bei John Archibald Wheeler
eine Dissertation angefertigt worden ist, in deren
Mittelpunkt die universelle Geltung von Schrödin-
gers Wellengleichung steht. Hugh Everett III über-
legte sich in seiner Arbeit, was passieren würde,
wenn man diese Gleichung völlig ernst nähme und
sie ohne spezielle Zusatzpostulate für den Messvor-
gang als gültig erachtete. Dann würde auf Grund
des Überlagerungsprinzips das Mikrosystem mit
dem Messgerät und dem Beobachter verschränkt,
es käme keine Reduktion des Wellenpaketes zu-
stande, die verschiedenen Zweige der Wellenfunk-
tion wären alle gleich real.
Wenn man diese Zweige Welten nennt, en-
det man bei der Vielwelten-Interpretation der QM,
die nach den beteiligten Physikern Everett-Wheeler-
Graham-Deutung (EWG) genannt wird.
Dieses wörtliche Verständnis der QM – dar-
um handelt es sich und nicht um eine neue Deutung
– wurde lange Zeit als Kuriosum betrachtet, einmal,
weil in der Physikergemeinde sich Bohr vehement
5 Borns Wahrscheinlichkeitsdeutung der QM besagt, dass das Quadrat
der Wellenfunktion die Wahrscheinlichkeit liefert, ein Teilchen an
einem bestimmten Ort r zu einer Zeit t zu finden.
6 Diese Forderung besagt, dass das Quantensystem bei einer Messung
in den Eigenzustand des gemessenen Operators übergeht.
gegen diese, seiner Komplementaritätsdeutung diametral
entgegengesetzte, Auffassung aussprach, zum anderen
weil der ontologische Aufwand vielen grotesk erschien.
Ockhams Sparsamkeitsforderung war bei den Theoreti-
kern als metatheoretische These fest internalisiert. Mehr
als eine Welt für real zu halten, erschien ihnen als ontologi-
scher Gespensterglaube. Die EWG-Deutung macht jedoch
von einer anderen Sparsamkeit Gebrauch: Sie fordert keine
Zusatzannahmen zur dynamischen Grundgleichung, wel-
che die Entwicklung der Systeme beschreibt. Sie leitet auch
keine neuen empirischen Voraussagen ab, erspart sich
aber die unstetige Akausalität beim Messprozess, indem
sie den Reduktionsvorgang aussetzt. Einen grundlegend
neuen Charakter erhält die Wahrscheinlichkeit. Sie stellt
keine objektive Eigenschaft der Natur dar, sondern bildet
ein subjektives Maß für unser Nichtwissen außerhalb unse-
res eigenen Zweiges der Wellenfunktion des Universums.
Die universelle Wellenfunktion ist nun die eigentliche phy-
sikalische Realität. Der Beobachter ist nicht mehr die letzte
Instanz, welche die Reduktion des Wellenpaketes auf den
Einzelzustand durchführt, sondern er ist selber ein Quan-
tensystem, das mit dem Gesamtsystem korreliert ist.
Bohrs Forderung, dass alle Messungen mit makro-
skopischen Geräten in der Sprache der klassischen Physik
zu erfolgen habe, wird gleichsam auf den Kopf gestellt.
Das Vorhandensein klassischer Objekte ebenso wie das
Auftreten der Wahrscheinlichkeit wird zum abgeleiteten
Theorem. Die Universelle Wellenfunktion (UWF) ist zudem
innerlich reversibel in Einklang mit der Unitarität der Wel-
lengleichung; Irreversibilitäten sind der Tatsache geschul-
det, dass wir als Bewohner eines Zweiges des Multiversums
nicht die volle Realität kennen.
6. Dekohärenz und klassische MakroweltMan macht es sich oft zu leicht, wenn man wissenschafts-
historische Situationen aus der Perspektive der später Ge-
borenen betrachtet: Heute leben wir in einem Zeitalter, in
dem Quantencomputer eine reale Möglichkeit darstellen.
Der Transport makroskopischer Superpositionen lässt sich
technisch realisieren. Mit Hilfe des Dekohärenz–Konzeptes
Personenkult
30 cog!to 06/2013
lässt sich verstehen, warum wir uns in einer scharf
konturierten Makrowelt vorfinden und nicht sämtli-
che Gegenstände der Erfahrungswelt unseparierbar
miteinander verschränkt sind. Zudem sind Argu-
mente aus abstrakten Bereichen wie der String-
theorie vorhanden, so etwa die holographische
Dualität von Juan Maldacena, die für die Unitarität
des Universums sprechen. Damit hat sich die In-
terpretationssituation der QM dramatisch verscho-
ben. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Schrö-
dinger in seiner Spätzeit die Vorstellung der UWF
Revue passieren ließ, ohne sie allerdings ernsthaft,
also im ontologischen Sinne in Betracht zu ziehen.
Er befürchtete, dass durch das Ernstnehmen der
UWF, bei der die physikalische Wirklichkeit eine
Überlagerung aller möglichen Quantenzustände
bildet, die Natur in eine Art Quantensumpf versin-
ken oder zu einer gallertartigen Qualle entarten
würde. Nichts von alledem beobachten wir. Die
Welt unserer Alltagserfahrung besteht aus durch-
aus separierbaren Objekten. Nun, dank der neu-
en Ideen von Dieter Zeh und Wojciech H. Zurek
versteht man heute, warum das so ist und wie der
Verlust von Interferenzen zwischen sich über-
schneidenden Wellenfunktionen erklärt werden
kann. Wissenschaftsphilosophen wie Simon Saun-
ders bemängeln auf der anderen Seite in einem
anachronistisch klingenden Vorwurf, dass Schrö-
dinger seinerzeit seine eigene Wellengleichung
nicht vollinhaltlich ernst nehmen wollte, jene Glei-
chung für die er mit dem Nobelpreis belohnt wor-
den war und die ihm lebenslang Ruhm und Ehre
eingebracht hatte. Aber hier muss man auch den
kulturellen Kontext berücksichtigen. Die Idee ei-
nes Multiversums – und auf nichts anderes läuft
die Theorie der UWF hinaus – gilt bis heute unter
empiristisch und positivistisch eingestellten Natur-
wissenschaftlern als metaphysisch anrüchig, auch
wenn sich die methodischen Kriterien für die Kon-
trolle von Theorien seit den Tagen des Logischen
Empirismus im Wiener Kreis stark liberalisiert ha-
ben. Es ist verständlich, dass sich Schrödinger da-
mals noch nicht auf dieses verminte Gebiet der
vielen Welten begeben wollte. Durch die String-
Landschaften, das inflationäre Szenarium und die
Überlegungen zur Erklärung der Feinabstimmung
unseres lebensbeherbergenden Universums wur-
de der Weg zur Akzeptanz eines Vielwelten-En-
sembles geebnet, wenngleich alle diese Hypothe-
sen in der Wissenschaftlergemeinschaft noch den
Stempel der Extravaganz tragen.
Personenkultcog!to 06/201330
31cog!to 06/2013
7. Schrödingers Vermächtnis
Zuletzt ist zu fragen, ob man in der jüngeren naturwissenschaftlichen
Entwicklung jenem Problem, das Schrödinger für das philosophisch
dringendste gehalten hat, ein Stück näher gekommen ist, nämlich
dem Rätsel das Bewusstseins. So viel ist klar: Aus der realistischen
Deutung der dynamischen Grundgleichung der QM - ohne flankie-
rende Zusatzpostulate für den Messprozess - lässt sich keine spiritua-
listische Ontologie gewinnen. Im Gegenteil, Everetts metaphysische
Heuristik war eher materialistisch und seine erkenntnistheoretische
Einstellung wirklichkeitsnah. Auch wenn wir heute noch nicht genau
wissen, worin das Bewusstsein besteht und warum es überhaupt exi-
stiert, wird man die Lösung nicht in der Physik suchen, sondern eher
in der Neurobiologie. In der Analytischen Philosophie des Geistes
gibt es Ansätze dazu, aber dies wäre ein neues Thema.
Von Bernulf Kanitscheider
Weiterführende Literatur:
Erhard Scheibe: Die Philosophie der Physiker. C. H. Beck
München 2006
Erwin Schrödinger: Meine Weltansicht. Paul Zsolnay Hamburg/
Wien 1963
Bernulf Kanitscheider: Im Innern der Natur. WBG Darmstadt
1996
Zu Bernulf Kanitscheider:
Studium, Promotion und Habilitation an der Universität Inns-bruck, seit 1974 Inhaber des Lehrstuhles für Philosophie der Naturwissenschaften am FB Physik und Zentrum für Philo-sophie der Universität Gießen. Seit 2007 emeritiert. Arbeits-gebiete: Wissenschaftstheorie und Naturphilosophie, Kos-mologie, Interpretation der Quantenmechanik, Chaostheorie und Selbstorganisation, Naturalismusproblematik und Ethik. Jüngste Monographie: „Natur und Zahl. Die Mathematisie-rung der Welt“. Erscheint bei Springer 2013.
Personenkult
32 cog!to 5/201332
SCHULENSTREIT
RUBRIK
32 cog!to 06/2013
In Schulenstreit beziehen Gastautoren und –autorinnen zu kontroversen Themen Stellung. Dabei kann es sich um nicht zu vereinbarende philosophi-
sche Positionen oder um widerstreitende politische Theorien handeln, so z.B. Liberalismus und Kommunitarismus in der letzten Ausgabe. Dieses Mal hin-
gegen wenden wir uns der Frage zu: Was hat Gleichheit mit Gerechtigkeit und Gleichberechtigung mit Freiheit zu tun?
33cog!to 06/2013
Die höchst moderne Arbeits-, Freundschafts- und Liebesbeziehung von John Stuart Mill (1806-1873) und Harriet Taylor (1807-1858) war eine Provokati-on im viktorianischen England. Doch blieb Taylors Bedeutung für Mills Schaffen in der bisherigen Re-zeptionsgeschichte weitgehend unbeachtet, wenn sie nicht gar als negativ im Sinne eines „schlechten Einflusses“ klassifiziert wurde. Im Beitrag „Frei-heit und Gleichberechtigung“ wird die ungewöhnli-che Werkgenese in zeitweiliger Co-Autorschaft und die gegenseitige Bezugnahme zwischen Taylor und Mill nachgezeichnet und damit ihr wechselseitiger Diskussions- und Schaffensprozess beleuchtet. In den gemeinsam verfassten Werken wie „Über die Freiheit“ (1859) oder dem erst nach Taylors Tod er-schienenen Essay „Die Unterwerfung der Frauen“ (1869) werden Mills gerade auch in der Auseinan-dersetzung mit Harriet Taylor entwickelte, zentra-le Gedanken zur Freiheit besonders deutlich: Die Gleichberechtigung der Geschlechter war für Mill die unbedingte Voraussetzung für die Entfaltung des persönlichen Lebens und die Autonomie des Individuums in einer liberalen Gesellschaft.
John Stuart Mill verdanken wir die Erweiterung des
„alten“ Begriffs der politischen Freiheit. Für die alten
Griechen und Römer erschöpfte sich die Freiheit in
der Demokratie und der Teilhabe ihrer Bürger. Doch
die Französische Revolution 1789 hatte gezeigt, wie
schnell die vorgeblich politische Freiheit in Unfreiheit
und gnadenlosen Terror der Jakobinerherrschaft
umschlagen kann: wenn Individuen sich der Diktatur
eines sogenannten Gemeinwillens des Staates
zu unterwerfen haben. Demgegenüber machte
der ungewöhnliche Ökonom, Philosoph und
debattenfreudige Engländer, zugleich dezidierter
Europäer und Frankreichkenner die individuelle
Freiheit stark und setzte sich später als erster
Parlamentarier für das Frauenwahlrecht und die
Gleichberechtigung der Geschlechter ein – was bis
zum heutigen Tag selbst seinen liberal gesonnenen
Geschlechtsgenossen suspekt geblieben ist.
„Die Emanzipation der Frauen und die Zusammen-
arbeit der Geschlechter sind die zwei großen Verän-
derungen, die die Gesellschaft erneuern werden“,
schrieb John Stuart Mill im Jahr 1869 in einem Brief
an den amerikanischen Journalisten Parke Godwin.
Zu diesem Zeitpunkt war seine Ehefrau, Seelenfreun-
din und Koautorin Harriet Taylor bereits gestorben.
John Stuart Mill und
Harriet Taylor – Freiheit
und GleichberechtigungZwei Vorkämpfer im Streit für eine gesellschaftliche Er-neuerung durch die Emanzipation der Frauen und die
Zusammenarbeit der GeschlechterVon Ulrike Ackermann
und Hans Jörg Schmidt
Schulenstreit
34 cog!to 06/2013
Annähernd dreißig Jahre hatten die beiden aufs Eng-
ste zusammengearbeitet, debattiert, Ideen ausge-
tauscht und weiterentwickelt, sich gestritten und um
ihre Liebe gekämpft. Gemeinsam haben sie Politik,
Gesellschaft, die Wertvorstellungen und den Zeit-
geist nicht nur des viktorianischen Englands, sondern
auch der europäischen Nachbarländer analysiert
und aus dieser Analyse neue Ideen und Denkansätze
entwickelt. Mit seinen journalistischen Artikeln, den
Essays und Büchern sorgte das Paar für erhebliche
Aufregung im zeitgenössischen Diskurs und im öf-
fentlichen Leben. Sahen doch beide in der Gleichbe-
rechtigung der Geschlechter die Voraussetzung für
Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Individuen.
Die Frauenemanzipation war für sie Bedingung und
gleichermaßen Resultat allgemeiner liberaler Prin-
zipien – ein Gedanke, den beide schon verfolgten,
bevor sie zusammenarbeiteten.
1830 lernte John Stuart Mill die schöne, kluge und
wortgewandte Harriet Taylor in einem liberalen Salon
kennen. Sie war damals 23 Jahre alt. Mit achtzehn
Jahren war sie auf Wunsch ihres Vaters mit dem elf
Jahre älteren Londoner Geschäftsmann John Taylor
verheiratet worden. Sie bekam zwei Söhne und im
„Die Emanzipation der Frau-en und die Zusammenarbeit
der Geschlechter sind die zwei großen Veränderungen, die die Gesellschaft erneuern werden“
- John Stuart Mill
Jahr 1831 brachte sie ihre Tochter Helen zur Welt.
Im selben Jahr begann auch ihre Zusammenarbeit
mit John Stuart. Harriet hatte – wie damals üblich –
keinen Zugang zu einer Ausbildung oder Universität
und erwarb sich ihre Bildung im Selbststudium.
Als brillante Denkerin, debattenfreudig und luzide
in ihrer Argumentation, hatte sie einen überaus
modernen Blick auf die Geschlechterverhältnisse.
Aus ihrer Bekanntschaft entwickelte sich als bald
eine intensive Arbeitsbeziehung, Freundschaft
und Liebe – bei formeller Aufrechterhaltung der
Taylor‘schen Ehe, was im viktorianischen England
ein Skandal war. Bösartigster Klatsch begleitete das
Paar auf Schritt und Tritt. Fast noch schlimmer als die
Verletzung der ehelichen Treue galt den Zeitgenos-
sen ein Verhältnis zwischen Mann und Frau auf der
Basis gemeinsamer intellektueller und politischer
Arbeit, die diese Liebesbeziehung prägte. Über die
Jahre verfassten sie gemeinsam Essays über Ehe und
Scheidung und häusliche Gewalt gegen Kinder und
Frauen.
Die Prinzipien der Freiheit, die in dem Schlüssel-
werk des Liberalismus Über die Freiheit formuliert
sind, haben sie in gemeinsamer Arbeit entwickelt.
Schulenstreit
35cog!to 06/2013
stile, ein Kaleidoskop von Lebensmöglichkeiten, die
dann alternativ zur Wahl stehen. Gerade darin liegt
die Voraussetzung für die Produktivität und Innovati-
onskraft einer Gesellschaft. Die Menschen sind nicht
perfekt und begehen ständig Irrtümer. In der Vielfalt
ihrer Lebensexperimente, die sie intersubjektiv tei-
len, lassen sie sich zu Neuem anregen und lernen
voneinander. Erst in diesem Prozess ist es möglich,
die besten Weisen des guten Lebens zu entdecken,
die Lust und Freude zu steigern und Unlust und Leid
zu verringern.
Marktwirtschaft, Privatbesitz, Rechtsstaat und
die Garantie der individuellen Rechte, repräsentati-
ve Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht für alle,
die Gleichberechtigung der
Geschlechter, Toleranz und
Meinungsstreit waren für
Mill und Taylor so essentiell,
weil sie Voraussetzungen für
die Selbstbestimmung des
Individuums sind. Seine persönliche Freiheit muss
sich der Mensch indes immer wieder selbst neu er-
obern, erarbeiten und erfüllen. Von diesem indivi-
duellen Befreiungsprozess aus vormals autoritären
Verstrickungen und überkommenen Rollenvorstel-
lungen profitiert das Gemeinwesen zugunsten einer
freiheitlichen Kultur.
Das Buch über die Unterwerfung der Frauen, das
sich diesen Zusammenhängen widmet, ist 1869, also
nach dem Tod von Harriet Taylor erschienen. Darin
versammelt John Stuart Mill wesentliche Gedanken,
die er mit seiner Frau und später mit deren Tochter
Helen gemeinsam entwickelt hatte. Der von Mill ge-
wählte Titel der Abhandlung führt ein wenig in die
Irre. Denn eigentlich handelt es sich um die Fortset-
zung und grandiose Weiterentwicklung des ersten
Buchs Über die Freiheit. Auch Gedanken aus den
Die Frauenemanzipation war für Mill und Taylor Bedingung und gleichermaßen Resultat allgemeiner
liberaler Prinzipien.
Die freie Entwicklung der Persönlichkeit war ihnen
die Hauptbedingung der Wohlfahrt. Gegen Konfor-
mismus, Gleichförmigkeit und die Tyrannei der öf-
fentlichen Meinung setzten sie die Eigenwilligkeit
des Individuums: seine Freiheit des Denkens, des
Fühlens und des Geschmacks, die Unabhängigkeit
seiner Meinung und Gesinnung, die Freiheit, einen
eigenen Lebensplan zu entwerfen und zu tun, was
uns beliebt, so lange wir niemandem etwas zulei-
de tun oder anderen schaden. Im Individuum, im
selbstbestimmten Bürger sahen John Stuart Mill und
Harriet Taylor die hauptsächliche Innovationskraft
gesellschaftlichen Fortschritts: Individuen machen
Geschichte. Uniformität und Gleichheit bedeuten
hingegen Stillstand der hi-
storischen Entwicklung.
Voraussetzung für die Her-
ausbildung von Individua-
lität und die Praxis eines
eigenen Lebensplans ist die
Freiheit eines jeden, zwischen verschiedenen Op-
tionen unterscheiden und wählen zu können, sich
von anderen zu differenzieren. Die individuellen Le-
bensexperimente sind das Salz der Erde und lassen
die Menschheit fortschreiten. Denn wenn Individuen
sich um ihr eigenes Glück und Wohlergehen küm-
mern, nehmen sie zugleich am gattungsgeschicht-
lichen Fortschritts- und Erkenntnisprozess teil. Sie
produzieren damit ein allgemeines und öffentliches
Wissen über die Möglichkeiten des guten Lebens,
über dessen Varianten auch dann lauthals gestritten
werden kann. Ihre Antriebsquelle ist dabei der eige-
ne Wunsch, selbst ein gelingendes, glückliches Le-
ben führen zu wollen. Indem die Menschen entspre-
chend der Vielfalt der Charaktere und Meinungen ih-
ren eigenen Lebensplan entwerfen und ihm folgen,
schaffen sie überhaupt erst die Pluralität der Lebens-
Die freie Entwicklung der Persön-lichkeit war Mill und Taylor die
Hauptbedingung der Wohlfahrt.
Schulenstreit
36 cog!to 06/2013
Grundsätzen der Politischen Ökonomie sowie aus
den Betrachtungen über die Repräsentative De-
mokratie wurden hier wieder aufgegriffen, neu kon-
stelliert und zugespitzt auf den Zusammenhang von
freiheitlicher Kultur und Geschlechterordnung.
Die jeweils erreichte gesellschaftliche Stellung
der Frau, so Mill in dem Buch, „ist das sicherste und
untrüglichste Merkmal für den Grad der Zivilisation
eines Volkes oder Zeitalters“. Es handelt sich bei die-
sem Werk um eine luzide Zivilisationsgeschichte der
Herrschaft verbunden mit einer Art Geschlechterso-
ziologie. Gezeigt wird darin, dass und wie sich alte
Herrschaftsformen durch Aufbegehren im Laufe der
Jahrhunderte auflösten, die Frauen jedoch vom Frei-
heitsgewinn, der durch diese Höherentwicklung der
Zivilisation erreicht wurde, permanent ausgeschlos-
sen blieben. Denn die Herrschaft der Männer über
die Frauen blieb fortbestehen. Obwohl doch der Mo-
derne die Erkenntnis zu verdanken sei, „dass nur in
der Freiheit der individuellen Wahl das Mittel liegt, für
die verschiedenen Zweige der menschlichen Tätig-
keit die besten Methoden ausfindig zu machen und
jede Beschäftigung in die Hände gelangen zu lassen,
welche dafür am besten befähigt sind“. Gerade diese
Art der Freiheit sei der Motor des gesellschaftlichen
Fortschritts, sorgten doch Konkurrenz und Gewer-
befreiheit dafür, dass die Besten an ihren Platz ge-
langten. Umso anachronistischer sei die fortgesetzte
Unterdrückung der Frauen. Nicht nur in ihrer recht-
losen Situation sahen die Autoren das Übel, sondern
ebenso darin, dass die Frauen einer „Treibhaus-Erzie-
hung zum Wohlergehen und Vergnügen ihrer Her-
ren“ unterworfen waren. Es ging den Verfassern also
nicht nur um die rechtliche Gleichstellung, sondern
um eine Umgestaltung der Geschlechterverhältnis-
se auch und vor allem in moralischer und sozialer
Hinsicht: In der Gewohnheit sahen sie den größten
Feind des Fortschritts. Doch wie etwa die Kinderbe-
treuung jenseits der klassischen Arbeitsteilung der
Geschlechter zu handhaben wäre, darüber hatten
sich Taylor und Mill noch keine konkreten Gedanken
gemacht. „Die einzige Schule einer edleren morali-
schen Gesinnung ist der Verkehr zwischen Gleich-
stehenden.“ Um diesen „Verkehr“ zu ermöglichen,
müssten gesellschaftliche Konventionen, wie sie bei-
spielsweise die viktorianische Familie repräsentierten
– für Mill und die beiden Taylor-Frauen eine „Schule
des Despotismus“ – überholt werden. War auf poli-
tischer Ebene in freien und demokratischen Staaten
das Bürgertum zur Schule in Sachen Gleichheit ge-
worden, hinkten die Verhältnisse im Privat- und All-
tagsleben dieser Entwicklung noch weit hinterher.
Dabei könne, wenn sie sich anders gestaltete, gerade
die Familie eine „Schule aller Tugenden der Freiheit“
werden.
Faszinierend ist der moderne soziologische Blick
auf die Gesellschaft und die feinsinnige Analyse von
Sozialcharakteren und Geschlechterrollen. Mill und
Taylor führten implizit bereits eine Unterscheidung
zwischen dem biologischen (sex) und dem sozi-
alen Geschlecht (gender) ein. Die rein körperlich-
biologischen Unterschiede zwischen Männern und
Frauen waren für sie keine Grundlage, daraus spe-
zifisch maskuline oder feminine Eigenschaften ab-
zuleiten. Diese, so ihre Überzeugung, waren kultu-
relle und soziale Produkte. „Ich halte es“, ist in der
„Frauenschrift“ zu lesen, „bei jedem für Vermessen-
heit, bestimmen zu wollen, was Frauen ihrer natür-
lichen Veranlagung nach sein oder nicht sein, tun
oder nicht tun können.“ Da für Frauen in der Ver-
gangenheit nie die gleichen Ausgangsbedingungen
und Handlungsoptionen wie für Männer bestanden
hätten, die Herausbildung von Fähigkeiten aber an
Erfahrung, das heißt an die Möglichkeit zu wachsen
und sich weiterzuentwickeln, gebunden sei, könne
eine haltbare Aussage über Frauen dazu auch nicht
getroffen werden. Auch Mill merkte zuweilen an,
Frauen seien geeigneter, zum Zwecke des Glücks
beider Geschlechter das Leben zu verschönern und
Männer sollten in der Lage sein, den wirtschaftlichen
Unterhalt für beide aufzubringen. Dennoch machte
er sich letztlich für den Pluralismus der menschli-
chen Potenziale stark, die nicht geschlechtsspezi-
fisch zugeordnet werden können. Die verschiedenen
Komponenten des individuellen Charakters machen
eine Person aus, unabhängig von ihrem biologischen
Geschlecht. Genau diese „Individualität“ ist es, von
der Mill und Taylor in Über die Freiheit sprechen. So
Es ging Mill und Taylor nicht nur um die rechtliche Gleichstellung, sondern um eine Umgestaltung der Geschlechterverhältnisse auch und vor allem in
moralischer und sozialer Hinsicht.
Schulenstreit
37cog!to 06/2013 Schulenstreit
gesehen ist die Gleichberechtigung der Geschlech-
ter die Vorbedingung der individuellen Wahlfreiheit
und Selbstbestimmung. Eine ideale Verbindung der
Geschlechter wäre die gegenseitige Achtung und ein
Wechselspiel von Überlegenheit und Unterlegenheit,
von Führung und Geführtwerden. Mill und Taylor sa-
hen die Ehe als einen Ort der Liebe, Freundschaft
und Seelenverwandtschaft, in der sich Gleiche be-
gegnen, die sich frei gewählt haben, die ihre Bindung
immer wieder freiwillig erneuern, sich gegenseitig zu
mehr Größe anspornen und sich weiterentwickeln.
Diese Gedanken, wohlgemerkt schon vor mehr als
150 Jahren formuliert, sind ungeheuer modern, wie
auch der Briefwechsel zwischen Harriet Taylor und
John Stuart Mill eindrücklich zeigt. Er, der einen we-
sentlichen Bestandteil des ersten Bandes der gerade
im Hamburger Murmann Verlag neu herausgegebe-
nen Auswahlausgabe ausmacht, liest sich wie eine
große moderne Liebesgeschichte, in der beide um
Glück, Freiheit und Gleichberechtigung ringen.
Zu unseren Gastautoren:
Hans Jörg Schmidt ist promovierter Kulturwissenschaftler. Er studierte Germanistik, Politik-wissenschaft, Erziehungswissenschaften und evangelische Theologie so-wie Neue und Neueste Geschichte in Heidelberg, Groningen und Dresden. 2009 übernahm er die Geschäftsführung des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung an der SRH Hochschule Heidelberg. Publikationen sind unter anderem Die deutsche Freiheit (2010) und Kulturgeschichte des Marktes (2011).
Ulrike Ackermann ist promovierte Sozialwissenschaftlerin. Im Jahr 2002 gründete und leitete sie das Europäische Forum an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Als freie Autorin veröffentlichte sie unter anderem die Bücher Welche Freiheit (Hg., 2007), Eros der Freiheit (2008) und Freiheit in der Krise (Hg., 2009). Heute ist sie Professorin in Heidelberg und leitet seit 2009 das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung an der SRH Hoch-schule Heidelberg (www.mill-institut-freiheitsforschung.de).
Zur weiterführenden Lektüre:
Ulrike Ackermann und Hans Jörg
Schmidt (Hg.): John Stuart Mill. Aus-
gewählte Werke, Band I: John Stuart
Mill und Harriet Taylor. Freiheit und
Gleichberechtigung, herausgegeben
und eingeleitet von Ulrike Ackermann,
Hamburg 2012 (Murmann), 640 S.
Ulrike Ackermann und Hans Jörg
Schmidt (Hg.): John Stuart Mill. Aus-
gewählte Werke, Band II: Bildung und
Selbstentfaltung, herausgegeben und
eingeleitet von Hans Jörg Schmidt,
Hamburg 2013 (Murmann), 496 S.
Von Ulrike Ackermann
und Hans Jörg Schmidt
cog!to 06/201338
Die Ungleichheit unter den Menschen ist eine seit sehr langer Zeit viel
und kontrovers diskutierte Tatsache. Unter den Bewertungskriterien,
die unentbehrlich sind, um bestimmte Realisierungsformen dieser Un-
gleichheit bewerten zu können, haben „die Gerechtigkeit“ und „das Leis-
tungsprinzip“ einen herausragenden Stellenwert. Aber sind diese beiden
Prinzipien auch geeignet, zur Regelung der Konflikte zwischen Befür-
wortern und Kritikern strittiger Modalitäten der Ungleichheit beizutra-
gen?1
Dass Menschen sich unterscheiden ist so lange kein Problem, wie Un-
gleichartigkeit nicht mit Ungleichwertigkeit gleichgesetzt und als Vor-
aussetzung für eine entsprechende Ungleichverteilung materieller und
immaterieller Güter angesehen wird. Zu diesen Gütern gehören im Bil-
dungssystem günstige Lerngelegenheiten oder Stipendien; in der ge-
sellschaftlichen Praxis attraktive Positionen oder Partizipationsrechte.
Die Probleme beginnen bereits bei der (selektiven) Thematisierung der
Ungleichheit. Jeder Vergleich setzt die zumindest implizite Bestimmung
der Relevanz der Vergleichsgegenstände voraus. Und Relevanz ist kei-
ne Eigenschaft der Vergleichsobjekte; sie ist Resultat einer interessenge-
steuerten Entscheidung dessen, der den Vergleichszweck definiert und
realisiert. Ob die Geisteskraft eines Menschen wertvoller „ist“ als seine
Körperkraft, ob „das Männliche“ („von Natur“) besser ist als „das Weibli-
che“– das hängt von Wertungen wertender Subjekte ab, auch wenn die
jeweiligen Befürworter dieser Wertung suggerieren, dass „der Wert“ eine
beobachtbare Eigenschaft („der Natur“) des Bewertungsgegenstands sei.
1 Überarbeiteter Teilabdruck eines Beitrags zum Nachschlagewerk
„Schulleitungund Schulentwicklung“ des Raabe-Verlags.
Ist die Ungleichheit unter den Menschen ungerecht?1
38 cog!to 06/2013
Von Helmut Heid
Schulenstreit
Es ist davon auszugehen, dass Interessen im Spiel sind,
wo die Ungleichheit unter den Menschen ein Thema
ist. Besonders deutlich werden diese Interessen dort,
wo Nutznießer bestimmter Realisierungsformen der
Ungleichheit Veranlassung haben, diese Ungleichheit
denen gegenüber zu rechtfertigen, die Gründe da-
für geltend zu machen versuchen, dass und warum
sie genau diese Ungleichheit für ungerecht halten. In
Auseinandersetzungen dieser Art spielt keineswegs
immer die Qualität der Argumente eine Rolle, mit de-
nen Befürworter oder Kritiker ihre Wertschätzung die-
ser Ungleichheit zu rechtfertigen versuchen. Mindes-
tens ebenso wichtig ist dabei auch die vielfältig (bspw.
ökonomisch) bedingte Definitions-Macht, mit der Be-
fürworter wie Kritiker ihre Interessen an den jeweiligen
sozialen Verhältnissen geltend zu machen und durch-
zusetzen versuchen. Das hat Konsequenzen, auf die ich
einzugehen beabsichtige.
Aus der Vielzahl möglicher Kriterien, die un-
entbehrlich sind, um die Erwünschtheit oder Uner-
wünschtheit einer bestimmten Ungleichheit beurteilen
zu können, greife ich diejenigen heraus, die in beson-
ders hohem Ansehen stehen und überdies den An-
schein höchster Objektivität erwecken. Es handelt sich
dabei um das Gerechtigkeits- und das Leistungsprinzip.
Gerechtigkeit als Prinzip der Beurtei-lung und Gestaltung von Ungleichheit
Gerechtigkeit ist immer dann ein Thema, wenn es um
die Kritik oder um die Rechtfertigung
• der Ungleichbehandlung von Menschen,
• der Ungleichbewertung von Handlungen oder
Handlungsergebnissen
• oder der ungleichen Verteilung materieller oder
immaterielle Güter geht.
Gleichbehandlung, Gleichbewertung und Gleich-
verteilung werden in der Regel nur von denen oder
im Namen derer als ungerecht beurteilt, die sich da-
durch benachteiligt fühlen2. Aber auch dabei geht es
um Differenzierung: „Gerechtig-
keit“ meint nämlich (von Grenzfäl-
len abgesehen) nicht: Jedem das
Gleiche – sonst würde man nicht
Gerechtigkeit, sondern Gleichheit
fordern. Gerechtigkeit meint: Jedem das Seine „suum
cuique tribuere“, jedem das, was ihm zukommt oder
2 Vgl. dazu das Gleichnis von den Arbeitern im
Weinberg (Matthäus 20).
auch: jedem das, worauf er ein Anrecht geltend zu
machen vermag. Aber was ist das Seine, worauf hat
er ein Anrecht? Das Gerechtigkeitspostulat ist so lan-
ge inhaltsleer wie es keine Information darüber aus-
weist, was denn nun „das Seine“ ist. Auf diese Frage,
deren Beantwortung das Gerechtigkeitsprinzip zwar
bezweckt, gibt das abstrakte Gerechtigkeitspostulat
selbst dennoch keine Antwort.
Gerecht oder Ungerecht können immer nur
konkrete soziale Zustände oder Verhaltensweisen
sein.Und die Beantwortung der Frage, worin das je
„Seine“ besteht, hat Entscheidungen zur Vorausset-
zung, die in zwei Sorten von Sätzen zum Ausdruck
kommen:
Bei der Be-Wertung bestimmter Erschei-
nungsformen der Ungleichheit spielen also zwei Ur-
teilskomponenten eine Rolle, die, obwohl sie im Ur-
teil nicht getrennt auftreten, aus logischen Gründen
dennoch streng auseinander gehalten werden müs-
sen, und zwar eine deskriptive Komponente und eine
wertende Komponente. Es ist irreführend zu sagen,
dass bestimmte soziale Verhältnisse ungerecht sind;
korrekter wäre: sie werden als ungerecht bewer-
tet. Gerechtigkeit ist kein Objekt und keine Objekt-
eigenschaft, sondern das (substantivierte) Resultat
der Bewertung eines empirisch beobachtbaren Be-
urteilungsgegenstands, hier also einer bestimmten
Realisierungsform sozialer Ungleichheit.
Ausgelöst werden Gerech-
tigkeitsdebatten durch Inter-
essenkonflikte. Damit sind drei
eng verflochtene Probleme an-
gesprochen: 1. Worüber wird
gestritten; 2. warum wird gestritten; 3. wie werden
die Konflikte gelöst?
39cog!to 06/2013
Gerecht oder ungerecht können immer nur konkrete soziale Zustände oder Ver-
haltensweisen sein.
1. in einer Beschreibung der sozialen Verhält-
nisse oder Verhaltensweisen, um deren Rechtfer-
tigung oder Kritik es in der Gerechtigkeitsdebatte
geht – und
2. in der Bestimmung eines (darauf bezogenen,
aber logisch davon unabhängigen und daraus auch
nicht ableitbaren) Beurteilungskriteriums, das un-
entbehrlich ist, um die beschriebenen Verhältnisse
als ungerecht oder als gerecht beurteilen zu
können.
Schulenstreit
cog!to 06/201340
(1.) Gestritten wird darüber, ob und warum be-
stimmte soziale Verhältnisse oder Verhaltensweisen
als gerecht beurteilt zu werden verdienen. Da sozi-
ale Verhältnisse nicht gerecht oder ungerecht „sind“,
sondern nur mit Bezug auf das Gerechtigkeitsprin-
zip so oder anders bewertet werden können, haben
(insbesondere) Befürworter einer sie begünstigen-
den Ungleichheit zahllose Rechtfertigungsstrategien
entwickelt, auf die ich hier nur beispielhaft hinwei-
sen kann: Besonders traditionsreich ist die Strategie,
die jeweils erwünschte Ungleichheit als gott- oder
als naturgegeben zu behaupten und das selektiv (!)
als naturgegeben Postulierte als Norm oder als Un-
abänderlichkeit3 zu behandeln. Abweichungen vom
Erwünschten werden immer noch erstaunlich oft als
„naturwidrig“ beurteilt, obwohl es Naturwidriges ge-
nau genommen gar nicht geben kann; oder positiv
formuliert: alles was der Fall ist, ist mit den Gesetzen
der Natur vereinbar. Auch das noch so Unerwünsch-
te kann nicht gegen „die“ (Gesetze der) Natur versto-
ßen, sondern allenfalls mit erwünschten Zuständen
der Natur unvereinbar sein. Als besonders progres-
siv gilt ferner die Bezugnahme auf gesellschaftliche
Funktionserfordernisse – konkretisiert im „Bedarf
der Gesellschaft an sozialer Ungleichheit“ (Mattern
& Weißhuhn 1980, S. 157; Spranger 1918, S. 217 und
Weinstock 1958, S. 120 f.). Diese Rechtfertigung birgt
die Gefahr, dass sachlich begründungsbedürftige
Differenzierungserfordernisse mit Distinktionsinte-
ressen konfundiert und in Sachzwänge4 verwandelt
werden.
(2.) Gestritten wird vor allem darüber, welche
Personengruppe durch die jeweils strittige Un-
gleichheit in welcher Hinsicht begünstigt und
welche dadurch benachteiligt wird. Für den Ge-
rechtigkeitsdiskurs relevante Begründungen erfol-
gen stets unter Bezugnahme auf die (als gerecht oder
ungerecht bewertete) soziale Realität – also im de-
skriptiven Bereich. Dabei geht es um die („objektiv“)
nach dem Wahrheitskriterium beurteilbare Klärung
3 Damit wird suggeriert, dass die erwünschte Ungleichheit unabänderlich
sei. Unterschiedliche Hautfarben verschiedener Menschen sind naturgege-
ben, aber man kann sie verschieden bewerten und die Ungleichbewertung
dieser Ungleichartigen kann zur Ableitungsvoraussetzung für die Rechtfer-
tigung einer „entsprechenden“ Ungleichbehandlung erklärt werden
4 Sachzwänge sind diese Erfordernisse allenfalls als Konsequenzen
interessengesteuerter Entscheidungen.
des Gegenstands der (Gerechtigkeits-) Bewertung.
Die intersubjektiv überprüfbare Beschreibung und
Erklärung der zu beurteilenden Wirklichkeit ist ein
notwendiger, aber nicht auch schon hinreichender
Bestandteil der wertenden Beurteilung dieser Wirk-
lichkeit. Die Bewertung des Beschriebenen ist eine
auf diese Beschreibung bezogene, aber logisch strikt
davon zu unterscheidende eigene Aktivität, die sich
der Wahr-Falsch-Beurteilung entzieht und auf die
Definitionsmacht dessen verweist, der versucht, sei-
ner Bewertung der strittigen Verhältnisse Geltung zu
verschaffen. Mit dem Wort Gerechtigkeit wird also
die intersubjektiv kontroverse Wertschätzung derje-
nigen Sachverhalte oder Verhaltensweisen ange-
sprochen, durch die ihre Befürworter begünstigt und
ihre Kritiker benachteiligt – und entsprechend von
den einen als gerecht und von den anderen als un-
gerecht bewertet werden.
(3.) Ich unterscheide drei nicht trennscharf
voneinander abgrenzbare Strategien der Konflikt-
„Lösung“: (a) die Anwendung von Macht oder Gewalt,
(b) die kontroverse Argumentation ungleich definiti-
onsmächtiger Kontrahenten und (c) den Versuch, ein
objektives Beurteilungs- und Entscheidungsprinzip
zu etablieren.
(a) Man mag unterstellen, dass die Anwen-
dung purer Macht oder Gewalt kein akzeptables Ver-
fahren der Konfliktregelung sei. Aber dabei sollte
man nicht übersehen, in wie unendlich vielen indi-
rekten, „sanften“, oft schwer durchschaubaren Mo-
dalitäten (soziale, weltanschauliche, ökonomische)
Macht in allen Sektoren gesellschaftlicher Praxis –
auch im so genannten Diskursmodell – zur Geltung
kommt.
(b) Für diejenigen, die von der jeweils beste-
henden Ungleichheit profitieren, stellt sich die Ge-
rechtigkeitsfrage (nur) dann, wenn sie einen Anlass
haben oder herausgefordert werden, ihre Privilegien
denen gegenüber zu rechtfertigen, die als Kritiker ih-
rer Begünstigung in Betracht kommen.
Durch eine strittige Konkretisierungsform der Un-
gleichheit Begünstigte gehören zu denen, die mit
haltbaren und unhaltbaren Argumenten meistens de-
finitionsmächtig darzulegen versuchen, warum sie
selbst durch diese Ungleichheit nicht „unrechtmä-
ßig“ begünstigt sind, und dass alles was nach Privileg
aussehen könnte, mit dem Gerechtigkeits- oder Leis-
tungsprinzip in Einklang stehe. Oder sie versuchen zu
zeigen, dass und warum diejenigen, die sich dadurch
benachteiligt fühlen. „eigentlich“ gar nicht benach-
Schulenstreit
41cog!to 06/2013
teiligt sind – oder dass sie noch stärker benachteiligt
wären, wenn es die strittige Ungleichheit nicht gäbe.
„Perfekter“ noch erscheint die Strategie, eine jewei-
lige soziale oder ökonomische Benachteiligung als
Vorteil (auch) für die Benachteiligten zu interpretie-
ren. Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel aus der
Praxis ist die Aufhebung des Kündigungsschutzes,
um dadurch die Aussichten der Schutzlosen zu erhö-
hen, eine Arbeitsstelle zu finden. Das ist nicht ganz
falsch, aber ganz richtig ist es auch nicht. Denn da-
durch wird für die Betroffenen andererseits das Ri-
siko erhöht, diese Arbeitsstelle wieder zu verlieren,
aber das wird verschwiegen oder verharmlost, wo
einseitig („halbwahr“) die Vorteile der Aufhebung des
Kündigungsschutzes herausgestellt werden. In die-
sen Zusammenhang gehören auch die unterschied-
lichsten Begründungen dafür, dass Heranwachsende
von besonders günstigen Lerngelegenheiten ausge-
schlossen werden (vgl. Bude 2008) mit der wiederum
nicht „ganz“ bzw. „halb“ falschen Moralisierung, die
Betroffenen dürften nicht überfordert werden. Auf-
schlussreich sind aktuell die Argumente, mit denen
der amtierenden Wirtschaftsminister den so genann-
te „Armutsbericht“ der Deutschen Bundesregierung
(Anfang März 2013) korrigiert hat. Hier zeichnet sich
ab, dass zu viele, von partikularen Interessen gesteu-
erte „Tatsachenfeststellungen“ die Verschleierung
jener Tatsachen bezwecken, deren Kenntnis für eine
kompetente Urteilsbildung aber unverzichtbar sind.
Noch einen Schritt weiter gehen Strategien
offensiver Moralisierung: Begünstigte, die ihre Privi-
legien (schon rein logisch) der Benachteiligung vie-
ler anderer verdanken, versichern ihren Kritikern wie
wertvoll und unverzichtbar ihr Beitrag zur Erfüllung
gesellschaftlicher Arbeitsaufgaben doch sei. Wo kä-
men wir hin, wenn der Müll nicht regelmäßig ent-
sorgt würde…
Wo die diversen Versuche erfolglos bleiben,
Benachteiligte mit ihrer (restriktiven) Situation zu
„versöhnen“, greifen Nutznießer gegenwärtig wie-
der mehr zur expliziter Diskriminierung, indem sie
ihren Kritikern vorwerfen, sie seien („ja bloß“) nei-
disch. Der Neid gilt als eine besonders unsympa-
thische Untugend und oft genug als Ausdruck so-
zialer Inkompetenz und intellektueller Schwäche, als
„Krankheit der Seele“ oder als „Störung des Geistes“5.
5 Vgl. z. B. Nusser 1984, Sp. 698 f.; Ignatieff 1989; Ladwig 2000, S. 607;
Desens 2008.
Mit derartigen „Argumenten“ gelingt es ihren Auto-
ren allzu oft, die intersubjektiv nachprüfbaren Argu-
mente, mit denen Kritiker strittiger Ungleichheit ihre
Position begründen, nur noch als Ausdruck dieses
unsympathischen Neids zu diskreditieren und inso-
fern den Geltungsanspruch sachlicher Argumente
moralisch außer Kraft zusetzen.
(c) In den Kontroversen zur Bestimmung
dessen, was gerecht „ist“, kommen genau jene In-
teressen zur Geltung, ohne deren Widersprüchlich-
keit Gerechtigkeit gar kein Thema wäre. Deshalb,
sollte man meinen, sind alle Bestrebungen zu begrü-
ßen, die darauf abzielen, subjektive Interessenver-
strickungen durch die Benennung eines objektiven
Beurteilungskriteriums zu überwinden. Als ein sol-
ches Kriterium genießt das Leistungsprinzip beson-
ders hohes Ansehen.
Das Leistungsprinzip als das Prinzip zur Gewährleistung sozialer (Vertei-lungs-) Gerechtigkeit
Unter den neuzeitlichen Versuchen, für die Bestim-
mung und Gewährleistung der Gerechtigkeit ein ob-
jektives Kriterium zu finden, spielen Bezugnahmen
auf das Leistungsprinzip eine herausragende und all-
gemein anerkannte Rolle. Das Leistungsprinzip soll
alle zuvor praktizierten Prinzipien der Verteilung er-
strebenswerter Güter ersetzen – beispielsweise die
soziale Herkunft oder die Parteizugehörigkeit im
weitesten Sinne. Als ungerecht wird jede Güterver-
teilung beurteilt, die nicht durch Leistungen gerecht-
fertigt werden kann. Damit das Leistungsprinzip sei-
ne Funktion erfüllen kann, müssen Voraussetzungen
erfüllt sein, von denen ich zwei kurz und eine dritte
ausführlich anspreche:
Als Leistung dürften nur Aktivitäten oder Ak-
tivitätseffekte anerkannt werden, die dem Aktivitäts-
subjekt zweifelsfrei zugerechnet werden können. In
der gesellschaftlichen und pädagogischen Praxis,
werden in aller Regel jedoch nur die tatsächlichen
Handlungseffekte ohne Rücksicht darauf als Leistung
anerkannt, wieweit sie sich auf die vom Handelnden
wirklich selbst zu verantwortenden Voraussetzun-
gen und nicht etwa auf die Vielzahl mehr oder weni-
Schulenstreit
cog!to 5/201342
ger günstiger internaler und externaler Handlungs-
gelegenheiten zurückführen lassen. Insofern ist eine
notwendige Bedingung dafür nicht erfüllt, dass das
Leistungsprinzip seine Funktion erfüllt.
Leistung vermag ihre Funktion als Bezugs-
größe für eine gerechte Güterverteilung nur dann
zu erfüllen, wenn sie messbar und das Messergebnis
vergleichbar ist. Aber wie will man „die Leistung“ der
Nachtschwester in der Intensivstation eines Kran-
kenhauses mit „der Leistung“ eines Lyrikers, Soft-
wareentwicklers, Maurers, Fußballspielers (man mag
sie je untereinander in eine Rangreihe bringen kön-
nen) vergleichen?
Um sich auf die Leistung eines Menschen be-
ziehen zu können, muss man wissen, was Leistung
ist. – Leistung ist kein beobachtbares Verhalten, keine
aus diesem Verhalten ableitbare Größe und auch kei-
ne Eigenschaft eines Verhaltens, sondern das Resul-
tat der Beurteilung eines Verhaltens. Zu Leistungen
„werden“ Handlungen (rechnen, sägen, heilen, töten,
demonstrieren) dadurch, dass sie als Leistungen be-
wertet werden. Viele meinen, dass von Leistung dort
gesprochen werden könne, wo jemand sich beson-
ders anstrengt oder wo jemand etwas besonders er-
folgreich tut. Aber damit sind drei Probleme verbun-
den: Erstens handelt es sich dabei um Anstrengung
und Erfolg und nicht auch schon um Leistung. Zwei-
tens: gibt es weder eine Anstrengung noch einen
Tätigkeitserfolg an und für sich. Anstrengen kann
man sich nur bei einer inhaltlich bestimmbaren Tä-
tigkeit. Drittens: Wenn Fleiß und Erfolg als Leistun-
gen gelten, dann muss alles Leistung „sein“, was mit
Fleiß und Erfolg getan wird – der Versicherungsbe-
trug ebenso wie die Schmerzlinderung. Denn Versi-
cherungsbetrüger wie Krankenschwestern strengen
sich an und sind „entsprechend“ erfolgreich. Damit
wird der Leistungsbegriff relativiert auf eine Norm,
ohne die es die Bewertung einer Handlung als Leis-
tung nicht gibt und auf die Entscheidung der Person
oder Instanz, die das für die Leistungsbewertung
unentbehrliche Bewertungskriterium maßgeblich
bestimmt. Diejenigen, die sich der Geltung und An-
wendung dieser Norm (kritiklos) unterwerfen oder
nicht widersetzen, wirken indirekt an der Geltung
dieser Norm mit.
Auch derjenige, der sich weigert, die Anord-
nung oder Erwartung dessen zu befolgen, der seine
herausgehobene Position – wie er behaupten mag:
– seiner (unproblematisierten) Leistung „verdankt“,
leistet etwas– freilich bezogen auf eine andere Norm.
Die Welt war immer schon und ist immer noch vol-
ler Beispiele dafür, dass der Widerstand gegen Hand-
lungsaufträge jeweiliger Autoritäten in anderen kul-
turellen oder zeitlichen Kontexten als herausragende
Leistung gewürdigt worden ist, und zwar in allen Sek-
toren gesellschaftlicher Praxis. Der Widerstand ge-
gen eine Zumutung kann auch in scheinbar banalen
Fällen existenzbedrohend sein.
Obwohl völlig unterschiedliche Handlun-
gen dadurch zu Leistungen „werden“ können, dass
sie mit Bezug auf einen Gütemaßstab6 als Leistun-
gen beurteilt werden, wird Leistung inhaltsleer ge-
fordert oder kritisiert. Diese Inhaltsleere ist aber nicht
funktionslos (vgl. Topitsch 1960). Denn sie appelliert
an die Bereitschaft ihrer Adressaten, dasjenige enga-
giert und selbst zu wollen und zu tun, was sie in ih-
rer (Leistungs-) Sozialisation jeweils als Leistung zu
„sehen“ und zu realisieren gelernt haben, nämlich ei-
nen (fremdbestimmten) Lern- oder Arbeits-„Auftrag“
gewissenhaft zu erfüllen. Heranwachsende erfahren
und lernen in ihrer Leistungssozialisation, was man
besonders gut wissen, können und tun muss, um
als leistungsstark beurteilt zu werden. Als Indikato-
ren für Leistung betrachten Angehörige höher ein-
gestufter sozialer Herkunft vor allem diejenigen In-
halte des Wissens, Wollen und Tuns, die sich eignen,
ihren eigenen sozialen Status zu rechtfertigen. Kinder
niedrig eingestufter sozialer Herkunft lernen eher die
Bereitschaft, die am Sockel der Berufshierarchie an-
fallenden Arbeiten „ohne viel zu fragen“ oder nach-
zudenken gewissenhaft zu erfüllen und den dadurch
definierten niedrigen (Sozial-) Status als gerecht (an-)
zu „erkennen“.
Was als Leistung gilt, ergibt sich nicht aus ir-
gendeiner Verhaltensweise an sich, etwa daraus,
dass jemand „gut“ rechnet oder „schnell“ läuft oder
(in weltanschaulichen Auseinandersetzungen) vie-
le Menschen tötet, sondern das ergibt sich aus der
interpersonal vergleichenden Bewertung konkre-
ter Verhaltensweisen unter Bezugnahme auf ein Be-
wertungs- bzw. Leistungskriterium. Dieses Kriteri-
um hat zwei Komponenten: eine deskriptive, in der
die Inhalte bestimmt werden, ohne die es Leistung
gar nicht gibt, und eine wertende, in der diese Inhal-
te als Leistung ausgezeichnet werden. Die häufig un-
terschlagene normative Komponente eines Beurtei-
6 Dazu Heckhausen 1974, S. 17, S. 39 ff. und Kap. 5 (S. 43 ff.).
cog!to 06/201342
lungskriteriums kann – wie bereits erwähnt – nicht
wahr oder falsch sein, sie kann aber gelten oder nicht
gelten. Die Geltung einer Wertung hängt nicht von
der intersubjektiv prüfbaren Wahrheit eines Argu-
ments, sondern von der sozialen Macht dessen ab,
der bestimmen kann, was als Leistung beurteilt wer-
den soll. Wo es nicht um die intersubjektiv prüfba-
re Wahrheit oder Falschheit eines Arguments, son-
dern um die Geltung einer Bewertung geht, dort wird
das Subjekt der Bewertung und dessen soziale De-
finitions- und Sanktionsmacht ausschlaggebend
wichtig.
Hinsichtlich der sozialen Macht, zu definie-
ren, welches Verhalten als Leistung anerkannt wer-
den soll, sind die Menschen ungleich. Bei der Ent-
stehung dieser Ungleichheit spielen diejenigen, als
nicht leistungsbezogen beurteilten (Sozialisations-)
Faktoren die ausschlaggebende Rolle, die durch das
Leistungsprinzip „eigentlich“ neutralisiert werden
sollen. Dadurch kommt sowohl in der inhaltlichen
Konkretisierung als auch in der praktischen Anwen-
dung des Leistungsprinzips genau diejenige soziale
Ungleichheit zur Geltung, die mit der Programmatik
dieses Prinzips unvereinbar ist. Unter den realen so-
ziostrukturellen Voraussetzungen seiner Geltung
und Anwendung hat das Leistungsprinzip jene
soziale Ungleichheit in sich aufgenommen, die es
zu problematisieren und zu revidieren verspricht.
In der Rede über „die Leistung“ wird der Ein-
druck erweckt, dass es sich dabei um einen subjek-
tunabhängig existierenden Sachverhalt und nicht um
das Resultat einer stets subjektiven Stellungnah-
me zu Sachverhalten handelt. Diese wertende Stel-
lungnahmen kann aus logischen Gründen nicht aus
dem Gegenstand der Stellungnahme, wohl aber aus
den Interessen der Subjekte dieser Stellungnah-
men abgeleitet werden. In dem, was im allgemeinen
mit empiristischem Anschein als Leistung bezeich-
net wird, kommt stets das Interesse dessen zur Gel-
tung, der sich nicht mit der Beschreibung eines Ver-
haltens begnügt – etwa dass jemand schneller läuft
als ein anderer –, sondern der einen von Statusin-
teressen abhängigen Zweck damit verfolgt, dass er
dieses Verhalten auch noch als Leistung qualifiziert.
Diese Qualifizierung einer Verhaltensbesonderheit
wird durch den scheinobjektiven Leistungsbegriff in
die Unbezweifelbarkeit einer Tatsachenfeststellung
verwandelt, die der Statuslegitimierung größeres
Gewicht zu verleihen vermag.
Schulen sind in der Regel rechtlich ver-
pflichtet, leistungsfremde Ursachen der Lerner-
folgsdifferenzierung (z. B. die soziale Herkunft) aus-
zuschließen. Auf die bekannte Tatsache, dass ihnen
das (auch in Deutschland) seit langer Zeit nur sehr
unzureichend gelingt, gehe ich hier nicht ein7. Statt-
dessen interessiert mich die Frage, welchen Beitrag
die „Anwendung“ des Leistungsprinzips bereits im
organisierten Bildungswesen leistet, um die Erzeu-
gung und vor allem die Rechtfertigung sozialer Un-
gleichheit bereits im Bildungssystems zu bewirken,
und zwar ohne gegen das Gerechtigkeitsgebot zu
verstoßen. Mehr noch: Ich vertrete die Ansicht, dass
diejenigen Reformaktivitäten, die die Reduzierung
der sozialen Selektivität des Bildungssystems be-
zwecken, genau diese Selektivität perfektionieren.
Als Leistung werden (nur) solche Aktivitä-
ten an-erkannt, mit denen Lernende im etablierten
Bildungssystem unter den darin „monopolisierten“
Bedingungen selektiv erfolgreich sind. Dabei spie-
len diejenigen Inhalte eine herausragende Rol-
le, die in der herrschenden pädagogischen Praxis
und in der auf Statusdifferenz wert legenden Ge-
sellschaft als Bildung hoch bewertet und als Vor-
aussetzung für sozialen Aufstieg anerkannt werden.
Diejenigen Inhalte aber, die Heranwachsende aus
so genannten bildungsfernen oder „fremdkulturel-
len“ Schichten besonders interessieren, weil sie et-
was mit dem zu tun haben, womit sie in ihrer Le-
benswelt erfolgreich arbeiten können, die können
auch dann als bildungs-, leistungs- und statusirre-
levant bewertet werden, wenn sie für die Betrof-
fenen und deren Lebensgestaltung sowie für die
gesellschaftliche Praxis von herausragender Be-
deutung sind. Die sehr bemerkenswerte Tatsache,
dass auch Schulversager und Studienabbrecher zu
gesellschaftlichen und beruflichen Höchstleistun-
gen fähig sind, ist nicht geeignet, die Feststellung
außer Kraft zu setzen, dass „die“ Bildung und „das“
Bildungssystem sehr viel zur Re-Produktion und vor
allem zur Rechtfertigung sozialer Ungleichheit bei-
tragen. Demgegenüber ist sie jedoch sehr wohl ge-
eignet, die Bedeutung meiner Problematisierung zu
7 Grundlegend z. B. Heintz 1959; Bourdieu & Passeron1971; Dahrendorf
1980; Friedeburg 1989; Kronig 2007; Maaz et al. 2008; Ditton, H. 2010.
43cog!to 06/2013 Schulenstreit
cog!to 06/201344
verdeutlichen: Es hängt nicht an „der“ Bildung, son-
dern an den Interessen, mit der sie apostrophiert und
organisiert wird, welche Funktion sie in Bezug auf die
ungleichwertige Ungleichheit unter den Menschen
erfüllt. Besonders bei Jugendlichen, die (nur mit Be-
zug auf ein von Entscheidungen abhängiges Krite-
rium) als lern- und leistungsschwach klassifiziert
werden, wird (tendenziell) dasjenige überbewertet,
was sie nicht wissen und können, während dasje-
nige unterbewertet wird, was sie tatsächlich wissen
und können. Freilich gibt es gute Gründe, eine ver-
bindliche Basiskompetenz für alle Angehörigen einer
Kultur zu fordern. Aber empirisch bestätigt ist auch
die Feststellung, dass es im etablierten Bildungssys-
tem eine Tendenz gibt, die besonders selektionsef-
fektiven Inhalte, Formen und Erfolgskriterien (auch
innerhalb eines fundamentalen Sachgebiets) des
Unterrichts zu monopolisieren oder zu standardi-
sieren (Bergius 1969 und Undeutsch 1969 sowie be-
reits Schleiermacher 1826/1957, S. 39 und Spran-
ger 1918/1928, S. 214) – und die darin begründete
Erzeugung interindividueller Lernerfolgsdifferen-
zen und sozialer Selektion zu legitimieren: Als gebil-
det und aufstiegsberechtigt wird anerkannt, wer die
durch unendlich viele selektive Entscheidungen kon-
kretisierte Bildung derer nachweisen kann, die ihren
hohen sozialen Status und ihren darin begründeten
Anspruch rechtfertigen, zu definieren was Bildung
und Leistung „sind“.
Welche (praktischen) Schlüsse lassen sich
mit Bezug auf eine bildungs- und gesellschaftspoliti-
sche Maßgabe aus dieser komprimierten und poin-
tierten Analyse des Leistungsprinzips ziehen?
1. 1.Der Streit um „das Leistungsprinzip“ muss auf
die Bewertung der Inhalte jenes Handelns kon-
zentriert werden, das als leistungsrelevant in Be-
tracht gezogen wird.
2. 2.Die Bestimmung des Kriteriums, das unent-
behrlich ist, um eine Handlung als Leistung be-
werten zu können, muss in eine offene, nach-
prüfbare und unabschließbare Kontroverse
überführt werden, in der die interpersonal (kul-
turell und ökonomisch) höchst ungleiche Defi-
nitionsmacht der Diskursteilnehmer zwar nicht
abgeschafft, aber doch problematisiert und zum
Gegenstand eines Metadiskurses gemacht wer-
den kann und sollte.
3. 3.Wer Leistung problematisiert, der muss und
darf damit nicht irgendeiner Anspruchslosigkeit
das Wort reden. Ich bin weit davon entfernt, alles
zu verdächtigen, was inhaltlich als Leistung pos-
tuliert wird. Aber hinweisen möchte ich darauf,
dass Bezugnahmen auf „die Leistung“ geeignet
erscheinen, die Frage nach der Qualität der da-
mit postulierten Inhalte zu erübrigen.
4. 4.Zu dem, was jemanden („wirklich“) interes-
siert8 (Deci & Ryan 1993), was ihn überzeugt, was
er mit der Sinnbestimmung seines Lebens in Ein-
klang zu bringen vermag, dazu muss er nicht ver-
anlasst oder gar gezwungen werden. Das Erfor-
dernis, Menschen zur Leistungsbereitschaft zu
erziehen, ist ein Beweis dafür, dass man ihnen die
Gelegenheit vorenthält an der Bestimmung und
Begründung dessen wesentlich zu partizipieren,
wofür sie sich aus eigener Überzeugung enga-
gieren möchten, weil es ihnen im Kontext ihrer
soziokulturellen Existenz selbst wichtig ist.
5. 5.Ob besondere Realisierungsformen (ande-
re gibt es nicht) sozialer Ungleichheit ungerecht
„sind“, darüber wird zwischen denen, die davon
profitieren sowie denen, die dadurch benachtei-
ligt sind, i.d.R. mit ungleichen „Waffen“ gestrit-
ten. Wissenschaftler könnten es sich zur Auf-
gabe machen, etwas mehr Licht in die sozialen
Strukturen und Prozesse dieser Kontroversen zu
bringen, indem sie sich an der Überprüfung der
Qualität jener Argumente beteiligen, mit denen
Befürworter und Kritiker ihre interessenabhängi-
gen Standpunkte zu rechtfertigen und durchzu-
setzen versuchen.
Von Helmut Heid
8 In einer kritiklosen Unterwerfung unter die jeweiligen Bedürfnisse Ler-
nender läge eine kränkende Missachtung des Anspruchs, den Heranwach-
sende an die Begründung einer Anforderung stellen. Andererseits gilt, dass
die Interessen und Überzeugungen jedes einzelnen Lernenden unterricht-
spraktisch unhintergehbar sind. Sie sind Anknüpfungspunkte und Realisie-
rungsbedingungen einer Erfolg versprechenden Unterrichtspraxis.
Schulenstreit
cog!to 06/2013 45
Literaturhinweise (ausführliche Literaturangaben in der digitalen
Fassung):
- Bourdieu, P. & Passeron, J. –C. (1971): Die Illusion der Chancengleichheit.
Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs.
(Teil II), Stuttgart: Klett
- Dahrendorf, R. (1966): Über den Ursprung der Ungleichheit unter den
Menschen. Tübingen: Mohr – Siebeck
- Ditton, H. (2010): Wieviel Ungleichheit durch Bildung verträgt eine
Demokratie? In: Zeitschrift für Pädagogik, 56, 1, S. 53 – 68
- Heintz, P. (Hg.) (1959): Soziologie der Schule. Sonderheft der Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen: Westdeutscher
Verlag
- Peisendörfer, B. (2008): Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit
unerwünscht ist. Frankfurt: Eichborn Verlag
- Schleiermacher, F. (1826/19662): Pädagogische Schriften. Hg. v. Schulze T. &
Weniger, E (1957). Düsseldorf: Verl. Küpper
- Spranger, E. (1918): Das Problem des Aufstiegs. In: Derselbe 19284, Leipzig:
Quelle & Meyer, S. 205 – 226
Zu unserem Gastautor:
Helmut Heid war bis zu seiner Emeritierung Inhaber eines Lehr-stuhls für Pädagogik der Universität Regensburg. Nach seinem Stu-dium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln (1954-1958) und einer Lehrtätigkeit an Wirtschaftsschulen wurde er promoviert und habilitiert. Im Sommer 1969 hat er an der FU in Berlin die Wirtschaftspädagogik vertreten und seit dem WS 1969/70 die Allgemeine Pädagogik an der Univ. Regensburg. Herr Heid war Gastdozent an verschiedenen Hochschulen. Von 1982 bis 1986 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erzie-hungswissenschaft (DGfE) und von 1992 bis 2000 Vorsitzender des Fachausschusses Pädagogik der Deutschen Forschungsgemein-
schaft (DFG). Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wissenschaftstheorie der Erziehungs-wissenschaft; Ideologiekritik bildungspolitischer Programmatik und Wechselbeziehungen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem.
Schulenstreit
46 cog!to 05/2013
SCHNITTMENGENTHEoRIE
RUBRIK
A B
Für Schnittmengentheorie werden Artikel geschrieben, die sich philosophischen Fragen interdisziplinär nähern.
In Medium Is The Message beschreibt Antonia Zettl eine filmische Möglichkeit der philosophischen Erkenntnissuche im Medienzeitalter.
Danach erläutert Hannah Sommer, wie Psychologie und Philosophie mit der vermeintlichen Dichotomie
von Egoismus und Altruismus umgehen.
46 cog!to 06/2013
In seinem Roman „Der grüne Junge“
lässt Dostojewski Werssilow, den
Vater des Protagonisten, über
seinen Traum vom Goldenen
Zeitalter schwärmen: Alle
Menschen begegnen sich
in Liebe und Verbunden-
heit, in vollkommener Ach-
tung für den Anderen und
ohne die Spur von negativen
Absichten. Es lässt sich kein Mo-
tiv der Eigennützigkeit erkennen,
menschliches Verhalten entbehrt jeglicher
egoistischer Züge.
Dies scheint zunächst wie das, als was es
beschrieben wird: ein Traum, losgelöst von der
Realität, ein nicht zu erreichendes Ideal. Doch
genau diese Thematik bildet das Fundament für
eine große Debatte in der Wissenschaft: die über
den Altruismus.
Zwar finden sich auch schon in der Anti-
ke Positionen, die durchaus relevant für die Fra-
ge nach dem Altruismus sind, dennoch nimmt die
Debatte ihren eigentlichen Anfang erst im 19. Jahr-
hundert. Und zwar mit Auguste Comte, dessen Aus-
einandersetzung mit der Thematik als Beginn der
wissenschaftlichen Forschung zum Altruismus gilt.
Comte geht davon aus, dass das menschliche Le-
ben in drei Phasen verläuft: So ist die erste die der
Eigenliebe, es folgt die Liebe zur Familie und letzt-
endlich wird die Eigenliebe dem sozialen Ge-
fühl untergeordnet. Der Altruismus wird
hier als gesellschaftlicher Imperativ be-
schrieben; Comte stellt ihn als Gegen-
satz zum Egoismus dar, was zeigt, dass
die heute gängige Auffassung der An-
tithese von Egoismus und Altruismus,
schon ihren Ursprung in der Definiti-
on Comtes hat.
Der Kontrast kann in Bezug
auf die Ansichten über die menschliche
Natur beispielhaft anhand zweier Positionen
dargestellt werden: So nimmt Hobbes an, dass die
Grundlage der menschlichen Natur der Trieb nach
Selbsterhaltung ist. Demgemäß ist das primäre Mo-
tiv allen menschlichen Handelns der Egoismus. Die
Menschen schließen sich lediglich unter Vertrags-
bildung zu einer Gemeinschaft zusammen, da da-
durch für jeden Einzelnen eine größere Sicherheit
und somit eine bessere Verwirklichung der eigenen
Interessen gegeben ist. Hobbes erkennt zwar an,
dass der Mensch auch altruistische Neigungen hat,
er sieht sie jedoch lediglich als sekundäre, aus dem
Kein Entweder – OderÜber den Altruismus aus der Perspektive der Philosophie und der Psychologie.
Mit dem Thema Altruismus beschäftigt sich sowohl die Philosophie als auch die Psycholo-gie. Dabei unterscheiden sie sich jedoch nicht nur in ihrer Fragestellung, sondern auch in ihren Antworten. Der vorliegende Artikel be-leuchtet die Herangehensweise beider Diszi-plinen an das Thema.
Eine
wiss
ensch
aftliche Debatte über den AltruismusVon Hannah Sommer
cog!to 06/2013 47 Schnittmengentheorie
cog!to 11/2012
Egoismus abgeleitete Phänomene. Letztlich lässt sich demnach
alles auf ein egoistisches Prinzip zurückführen, auch wenn es
zunächst nicht den Anschein hat.
Genau diese Annahme wird als das Altruismus-Paradox
bezeichnet: Selbst solche zuerst eindeutig altruistisch erschei-
nende Handlungen - wie zum Beispiel die Opferung des eigenen
Lebens für einen Anderen – können auf ein egoistisches Prinzip
reduziert werden, bspw. in diesem Fall der Wunsch nach einem
ehrenvollen Ruf der eigenen Person in der Nachwelt.
Im Gegensatz zu Hobbes’ Position steht die ethische
Theorie Kants. Diese besagt, dass dem Menschen aufgrund
seiner Vernunft autonomes Handeln möglich ist. Die Autono-
mie ist Bedingung für das moralische Gesetz, dessen wir uns
bewusst sind. Eben dieses moralische Gesetz ist von einer All-
gemeinheit gekennzeichnet, in der die individuellen, egoisti-
schen Motive keinen Platz finden. Wobei Kant natürlich nicht
leugnen würde, dass der Mensch durchaus seine Maxime durch
egoistisch motivierte Triebfedern bestimmen kann. Doch durch
das moralische Gesetz ist zumindest die Bedingung der Mög-
lichkeit von Altruismus gegeben. Inwiefern diese dann tatsäch-
lich durch eine moralische Willensbestimmung auch verwirk-
licht wird, bleibt offen.
In der Psychologie ist meist nicht die Rede von Altru-
ismus, sondern eher von „prosozialem Verhalten“, da die Psy-
chologie zuallererst eine empirische Wissenschaft ist, die sich
Die Philosophie fragt nach den Bedingun-gen der Möglichkeit von
Altruismus...
Schnittmengentheorie48 cog!to 06/2013
49cog!to 11/2012
vor allem mit dem menschlichen Verhal-
ten befasst. Hierbei ist jedoch problema-
tisch, dass die Motivation für das Han-
deln oft unberücksichtigt bleibt, da sie
sich nicht zwangsläufig konsistent im
Verhalten widerspiegeln muss.
In der Sozialpsychologie wird Al-
truismus als uneigennütziges Verhalten
definiert, das Anderen zu Gute kommt,
unabhängig von den Konsequenzen für
einen selbst. Dass hierbei nicht unbe-
dingt Dispositionen ausschlaggebend
sind, zeigen psychologische Studien aus
den 70er und 80er Jahren des 20. Jahr-
hunderts, die beschreiben, dass das
menschliche Verhalten stark von situati-
ven Faktoren beeinflusst wird. So ist zum
Beispiel das Ergebnis einer Studie von
Darley und Batson (1973), dass die Hilfs-
bereitschaft von Studenten eines Pries-
terseminars um das sechsfache sinkt,
wenn sie sich unter Zeitdruck befinden.
Eine weitere Studie legt nahe, dass die
Bereitschaft zur Hilfeleistung sinkt, wenn
andere Personen anwesend sind, da da-
durch scheinbar die Verantwortlichkeit
des Einzelnen reduziert wird.
Diese psychologischen Studien
betonen im Gegensatz zu den meisten
philosophischen Ansätzen nicht die ur-
sprünglich zugrunde liegende Motiva-
tion, sondern die Wichtigkeit der situ-
ativen Faktoren im Zusammenhang mit
der Frage nach altruistischem Handeln.
Im Gegensatz dazu geht es in der Evo-
lutionspsychologie hauptsächlich um
die Motivation, die in diesem Bereich
selbstverständlich auf die Ebene der
Weitergabe der eigenen Gene reduziert
wird. Aus Sicht der Evolutionspsycho-
logie gibt es verschiedene Erklärungs-
modelle für die Entstehung von Altru-
ismus: So zum Beispiel die Theorie des
reziproken Altruismus. Dieser Terminus
wurde von Robert Trivers (1971) geprägt
und besagt, dass altruistisches Handeln
auf der Erwartung der Wechselseitig-
keit basiert. Nach dieser Argumentation
... dagegen interpretiert die Psychologie beobachtetes
Verhalten.
cog!to 06/2013 49 Schnittmengentheorie
konnte sich der Altruismus deswegen
durchsetzen, da sein Prinzip darauf ba-
siert, dass der Kooperationspart-
ner das Handeln erwidert.
Wenn die Kooperation
wechselseitig funk-
tioniert, profitieren
davon beide Part-
ner und haben da-
durch einen evo-
lutionären Vorteil.
Ein weite-
res Modell ist das der
„Kin-Selection“, das die
Entstehung von Altruismus
als genetisch verursacht betrachtet:
Bedingt durch Verwandtschaft werden
durch den Anderen die eigenen Gene
weiter verbreitet. So lässt sich erklären,
wieso es aus evolutionärer Sicht durch-
aus sinnvoll ist, das eigene Leben für
das eines Verwandten zu opfern.
Wie gezeigt, beschränkt sich die
Psychologie meist auf dasjenige, was
sich empirisch beobachten und evolu-
tionär erklären lässt. Wenn man die Evi-
denz egoistischer Motive anhand der
zahlreichen sich alltäglich ereignenden
Beispiele als empirisch belegbar erach-
tet und die gebräuchliche Verwendung
der Begriffe Egoismus und Altruismus
als Gegensatzpaar akzeptiert, die sug-
geriert, dass es sich um zwei einan-
der ausschließende Prinzipien handelt,
scheint sich die Möglichkeit des Altru-
ismus nur noch schwer durchsetzen zu
können. Doch in der Philosophie geht
es vielmehr um die Bedingungen die-
ser Möglichkeit. So würde beispiels-
weise Kant zwar zugestehen, dass jeder
Mensch naturgemäß nach seiner eige-
nen Glückseligkeit strebt. Doch darüber
hinaus gibt es und erkennen
wir das moralische Gesetz,
durch welches wir befä-
higt sind, vom Eigen-
interesse abzusehen.
Ist mit Kant zumin-
dest die Möglichkeit
des Altruismus ein-
gesehen, lässt sich der
starre begriffliche Ge-
gensatz von Altruismus und
Egoismus auflösen. So führt das
Durchdenken des Egoismus zu Folgen-
dem: Wenn ich, als egoistisch handeln-
der Mensch, ein vernünftiges Wesen
sein soll, muss ich vernünftig handeln.
Eine vernünftige Handlung ist nach Kant
eine Handlung gemäß dem moralischen
Gesetz. Die egoistische Handlung eines
vernünftigen Wesens ist also die altruis-
tische – auf diese Weise fallen Eigeninte-
resse und Altruismus in eins.
Von Hannah Sommer
Weiterführende Literatur:
- Brown, S.L., Brown, R.M., Penner, L.A.,
Moving beyond Self-Interest, Oxford,
2012
- Gilovich, T., Keltner, D., Nisbett, R.E.,
Social Psychology, New York, 2006
- Eckart, A., Explaining Altruism, Frank-
furt, 2008
- Nagel, T. Die Möglichkeit des Altruis-
mus, Berlin, Wien, 2005
... d
ie E
videnz egoistischer M
otive...
cog!to 06/201350 Schnittmengentheorie
51cog!to 06/2013
Medium Is The Message
Filmtrailer – Werkzeuge für das Gelingen einer philosophischen
Werkintention im Medienzeitalter?
Wo man heutzutage Philosophie findet, wie man sich bis zu ihr mithilfe des Trailers durch ei-nen tiefen Sumpf der Viel-falt watet, was wir mit Trailern machen und was für eine Macht sie auf un-sere Rezeption haben.
Wir befinden uns im Medien-
zeitalter. Wir werden überflu-
tet von Informationen aus al-
lerlei Richtungen – die Vielfalt
menschlicher Kommunikations-
wege hat sich innerhalb der letzten
50 Jahre massiv gesteigert, sie ist fast nicht
mehr überschaubar oder gar klar zu unterteilen.
In all dem Wust propagierter Erkenntniswege –
denn selbst der Kauf eines Bikinis wird einem in-
zwischen als die (Er-)Lösung in ein schönes, gu-
tes und glückliches Leben nahe gebracht – fällt
es freilich schwer, philosophisch anspruchsvolle
Botschaften herauszufiltern. Denn, Ja, auch die
Philosophie ist inzwischen aus dem Medium des
Buchdrucks herausgewachsen und hüllt sich nun
in die bunten Kleider des Medienzeitalters. Wo-
bei sich ihr das Gewand des Films wie maßge-
schneidert anzuschmiegen scheint. Selbst wenn
man sich in einer philosophischen Botschaftssu-
che nun auf dieses Medium Film beschränkt (was
dank angesprochener Intermedialität moder-
ner menschlicher Kommunikation auch im Fol-
genden nicht hundertprozentig möglich
sein wird), geht man abermals schnell
in einem Meer von Möglichkeiten
unter. Die Fülle an Filmen wäre
kein Problem für den interes-
sierten Betrachter, wenn die-
ser statt einer begrenzten Le-
bensspanne alle Zeit der Welt
hätte, um sich zum wahren,
guten, damit schönen und un-
terhaltenden Film durchzuse-
hen. „Leider“ steht dem Erste-
Welt-Menschen alles gleich nahe
und offen. Seit Anbeginn der Evolu-
tion des Films auf unserem Planeten, hat
er sich so fleißig vermehrt und verbreitet, dass
man trotz, oder gerade wegen der inzwischen leichten
Zugänglichkeit durch das Internet und andere Quellen
zu dem gleichen Problem der Überflutung zurückkehrt.
Freilich ist auch nicht jeder Film hochphilosophisch, und
erst recht explizieren sich die wenigsten Filme so. Doch
humanistische, allgemein ethische oder auch ontolo-
gische Maßstäbe sind in den meisten Filmen angelegt
und werden (teils unbewusst) vermittelt. Dies wird zum
Beispiel, neben vielen anderen Faktoren, durch die Un-
mittelbarkeit der prosaischen Form einer filmischen Er-
zählweise gewährleistet. Wie genau Film Philosophie
vermittelt, steht allerdings nicht im Fokus dieses Artikels.
Sondern, wie man sich auf der Suche nach einem philo-
sophischen Anspruch im Film heutzutage zurechtfindet.
Worauf es also ankommt, ist der Filter, den wir in einer
Von Antonia Zettl
cog!to 06/2013 51
52 cog!to 06/2013
Vorauswahl anlegen, um die trübe Brühe des uns er-
eilenden Vielfaltstsunamis zu klaren Wassern philoso-
phischer Erkenntnis zu wandeln. Der wohl prägnantes-
te dieser Filter ist der Trailer.
Eine philosophische Botschaft ist nicht nur auf
die Vermittlung durch einen guten Film (oder generell
durch ein zur Wahrheitsvermittlung geeignetes Medi-
um und ein den jeweiligen medialen Maßstäben ent-
sprechend gut realisiertes Werk), sondern inzwischen
besonders auf Publikmachung angewiesen. Filmtrai-
ler machen dies, indem sie die
Fragestellung eines Films auf
eine kurze Zusammenfassung
eindampfen, somit explizie-
ren. Die Antwort auf besag-
te Frage wird bei einem guten
Trailer nicht verraten. Schließ-
lich übernimmt der Film selbst
dann durch seinen immersiven Charakter stellvertre-
tend aber einbindend einen Teil der Reflexion des be-
handelten Problems. Sei es beim Thema Liebe, der Su-
che nach dem Sinn des Lebens, oder Identitätsfindung;
all diese werden je nach Genre unterschiedlich be- und
abgehandelt. Die Botschaft wird also durch die im Trai-
ler angedeutete Frage impliziert
und demnach vom Publikum an-
tizipiert. Der offizielle Trailer zu
„Mr. Nobody“ (Jaco Van Dorma-
el, 2009) zum Beispiel beschreibt
in einigen kurzen, aber präg-
nanten Bildern und Dialogaus-
schnitten die im Film behandel-
te Thematik: die Parallelexistenz verschiedener Welten,
die sich nur Aufgrund des unterschiedlichen Ausgangs
einer Entscheidung auseinander entwickeln. Darauf,
welche Welt nun die reale ist, wo die Schnittstellen
zwischen den Realitäten liegen, sowie das Geheimnis
um den exakten Grund dieser Realitätsspaltung, wird
allerdings nur Neugierde geweckt. Der Trailer fasst also
die Fragestellung von „Mr. Nobody“ zusammen, ohne
Antworten zu geben.
Allerdings ist ein Vorblick auf die Botschaft
nicht die einzig mögliche Funktion des Trailers. Selbst
wenn der gute Trailer eben nicht alles verrät, sondern
nur das Genre eingrenzt und den bestimmten Film
vage vom Rest abzugrenzen versucht, bekommt das
Publikum ziemlich genau, was es erwartet. Die Was-
ser lichten sich, man dringt leichter zum gewünsch-
ten zu vermittelnden Inhalt durch. So weit, so gut. Im
Prinzip ist damit erreicht, was angestrebt war.
Allerdings ist die philosophische Erkenntnis
ein schlüpfriger Fisch, der sich je größer, dem ge-
willten Angler noch besser zu entziehen weiß. Auch
in unserer Trailer-zu-Film Angeltechnik muss für die
wirklich großen Fische deshalb ein besserer Köder
(lies: eine etwas andere Art
von Trailer) angelegt werden.
Welchen Einfluss der Trailer
auf die Botschaft hat, zeigt
sich, wenn er eine Frage ver-
tritt, die das angezogene Pu-
blikum mit falschen Erwar-
tungen lockt, die tatsächliche
Frage des Films aber an genau diese bewusst fälsch-
lich angezogene Gruppierung gerichtet ist. Das wohl
beste Beispiel zur Auswirkung des Verhältnisses von
der antizipierten Filmfrage auf die tatsächliche Film-
frage ist „Fight Club“ (David Fincher, 1999). Der Trailer
spricht durch eine vom Actionfilm geprägte Ästhe-
tik und propagierte Mentali-
tät eine ganz bestimmte Ziel-
gruppe an. Die tatsächliche
Frage des Films trifft dann
wie eine Faust überraschend
auf die Ohren der Zuschau-
er, gerade weil im Vorhinein
nicht darüber gesprochen
wird. Die Botschaft liegt also genau in der Diskre-
panz von Erwartung und realem Twist.
Für die gelungene Umsetzung einer philoso-
phischen Werkintention im Film durch korrekte Bot-
schaftsübermittlung kommt es also nicht nur darauf
an, dass der interessierte Mensch sich mit Hilfe des
Trailers die richtigen Filme aussucht; sondern auch,
dass das richtige Publikum sich mit einer durch den
Trailer bewusst konstituierten Erwartungshaltung auf
den Film einlässt.
Von Antonia Zettl
Schnittmengentheorie
Allerdings ist die philosophi-sche Erkenntnis ein schlüpf-riger Fisch, der sich je größer, dem gewillten Angler noch besser zu entziehen weiß
Eine philosophische Botschaft ist nicht nur auf die Vermittlung durch einen guten Film, son-dern inzwischen besonders auf Publikmachung angewiesen.
54 cog!to 05/2013
IDEENKrEIs
rUBrIK
In Ideenkreis können sehr verschiedene Artikel ihren Platz finden: Von wissenschaftlichen Analysen über journalistisch-feuilletonistische Es-says bis hin zu satirischen Darstellung. Was allen Artikeln gemein ist, ist die
Behandlung einer philosophischen oder artverwandten Fragestellung.
54 cog!to 06/2013
55cog!to 06/2013
Vademecum-Vadetecum.
„Es lockt dich meine Art und sprach,
Du folgest mir, du gehst mir nach?
Geh nur dir selber treulich nach: –
so folgst du mir – gemach! gemach!1
Friedrich Nietzsche, der etwas andere Philo-
soph. Oftmals missbraucht und missverstan-
den, wirft man Nietzsche auch heute noch so
einiges Ungeheuerliches vor – z.B. die Popu-
larisierung des Nihilismus. Dabei war gerade
Nietzsche es, der den europäischen Nihilismus
frühzeitig erkannte und gegen ihn ankämpfte.
Nietzsche forderte die Umwertung aller Werte,
die jedoch nicht seiner persönlichen Willkür ge-
schuldet war, sondern der Erkenntnis, dass die
aufrechterhaltenen Werte nicht mehr von Bedeu-
tung erfüllt waren. In einer Zeit der gesellschaft-
lichen und nationalen Umstrukturierung wurden
1 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft .In: Kritische Studienaus-
gabe. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 8.Auflage 2011.Berlin/
New York: de Gruyter, 1999 [Bd.3,], S. 354
viele Traditionen zu Worthülsen. Daher war es
für Nietzsche notwendig „einen neuen sinn in
das sinnlos Gewordene zu legen.“2 Aus dieser
Position heraus, verlautet er auch den oft aus
dem Zusammenhang gerissenen Ausspruch
„Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben
ihn getödtet.“3 Was er damit ausdrücken wollte:
Das Prinzip Gott, der moralische Anker verhakt
sich nicht mehr vollständig im Meeresgrund des
menschlichen Handelns. Gott ist dem mensch-
lichen Denken überdrüssig geworden, der
Mensch hat die auf Gott bezogenen Wirkungs-
felder verbannt. Somit ist die Integrität der Wer-
te und damit auch die derjenigen, die an ihnen
festhalten, bedroht. Die Moral referiert auf nichts
mehr. Was folgt ist eine Verneinung der Welt und
eine Projizierung des Lebens auf ein jenseitiges
Paradies. Doch „[w]enn man das schwerge-
wicht des Lebens nicht ins Leben, sondern
ins »Jenseits« verlegt – ins Nichts –, so hat
man dem Leben überhaupt das schwerge-
2 Nachlass 2. KSA 12, S. 113
3 Die fröhliche Wissenschaft. KSA 3, S. 480
Friedrich Nietzsche – auf den Spuren eines freien Geistes
Warum man ihn neu erfinden muss, um ihm zu folgen.
Ideenkreis
Von Dominik Herold
56 cog!to 06/2013
wicht genommen.“4 Aus dieser Notlage heraus ent-
wickelt Nietzsche den Übermenschen, um dieses
Vakuum sinnvoll zu schließen. Dieser trägt Gott nun
in sich, er hat das schöpferische Prinzip einverleibt.
Anstatt auf ein erfülltes Nachleben zu speku-
lieren, richtet Nietzsche seinen Fokus auf das Dies-
seits. Indem der Mensch seine theogonische Kraft
anerkennt, bereit ist sein Schicksal zu wollen und
die Grausamkeiten des Lebens aushalten, sie nicht
hinzunehmen, sondern anzunehmen und darin zu
erstarken, zeigt er seinen Willen zu Macht. So sagt
Nietzsche: Überall „wo Leben ist, da ist auch Wil-
le: aber nicht Wille zum Leben, sondern […] Wil-
le zur Macht!“5 „Amor fati“ – liebe dein Schicksal.
Das Notwendige des Lebens zu lieben, bedeuten
ihm etwas hinzuzufügen, sodass dieses sich ver-
ändert. Macht über sich selbst und damit über das
Leben zu gewinnen. Der Nihilist dagegen weiß die-
se Lücke nicht zu schließen, der „letzte Mensch“-
wie ihn Nietzsche nennt- hat dieses einst von der
Menschheit erschaffende Prinzip Gott komplett
verloren. Etwas nicht zum Le-
ben gehörig empfinden, ist laut
ihm lebensverneinend und dem
menschlichen Handeln schäd-
lich. Um nun diese dekadent werdende europä-
ische Kultur vom „Wertloswerden der obersten
Werte“6 zu beschützen, lässt er folglich seinen Za-
rathustra auftreten, damit dieser den Prozess der
Neuerfindung der Werte einleitet. Die Werte der
Starken – im Kampf gegen den Nihilismus. Nietz-
sche schafft es jedoch nicht den Prozess zu Ende
zu bringen, der Zeitgeist bemächtigt sich seiner
Aussagen und Nietzsche bleibt partiell im „ressen-
timentgeladenen unvollständigen Nihilismus“7
stecken. Der Übermensch bleibt eine Idee.
4 Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. München 1954, Band
2, S. 1205
5 Also sprach Zarathustra. KSA 4, S. 149
6 Heidegger, Martin: Holzwege. Klostermann, Frankfurt 1994, 223
7 http://www.utb-profile.de/philosophie/friedrichnietzsche/ aufgerufen am
22.02.2013
Doch der Philosoph hinterließ uns eine
Möglichkeit ihm zu folgen, ohne auf seinen
Spuren wandeln zu müssen. Nietzsche lässt
Zarathustra von den drei Verwandlungen er-
zählen und offenbart damit den Zielcharakter
des von ihm ausgelösten Prozesses. „Wie der
Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das
Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe“8, so
müssen wir Menschen das eigene Wertsystem
in dessen ständiger Fluktuation und Entwick-
lungsbedürfitgkeit anpassen.
Nietzsche zeichnet ein dreiteiliges Bild.
Zuvörderst muss der Mensch Leidensfähigkeit
ausbilden, er muss - wider seiner Natur - eine
Erniedrigung gegen die aktuellen Zustände
auszuhalten wissen, gleichwohl er Missstän-
de erkannt hat. Es folgt die Weiterentwicklung
zum Löwen, der gegen die vorherrschenden
bedeutungslosen Wertesysteme rebelliert. In
ihm liegt ein destruktives, chaotisches Ele-
ment, das nur mittelfristig zielführend ist.
„Neue Werte schaffen – das
vermag auch der Löwe noch
nicht: aber Freiheit sich schaf-
fen zu neuem schaffen – das
vermag die Macht des Löwen.“9 Darum be-
darf es einer abschließenden Transformation.
„Ein aus sich rollendes rad, eine erste Bewe-
gung, ein heiliges Ja-sagen“10 – eine Leich-
tigkeit und Losgelöstheit, dass die Dinge ihren
Lauf nehmen, symbolisiert durch die Unschuld
des Kindes. „[D]iese […] dionysische Welt des
Ewig-sich-selber-schaffens, des Ewig-sich-
selber-Zerstörens […]Diese Welt ist der Wille
zur Macht – und nichts außerdem!“11 Akzep-
tiert der Mensch diese an Heraklit erinnernde
Weisheit, schafft er es „die ewige Lust des
Werdens selbst zu sein“12. Dieses laut Nietz-
8 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2,
S. 293-295
9 Ebd.
10 Ebd.
11 Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. München 1954, Band
3, S. 918
12 Nietzsche Friedrich:: Werke in drei Bänden. München 1954, Band
2, S. 1032
Amor fati oder die Bejahung des Lebens
Ideenkreis
57cog!to 06/2013
sche der Welt ureigene Prinzip der zyklischen Wie-
derkehr zu verstehen, nicht zu zerbrechen ist der
abschließende Schritt. Der Sprung ins Wagnis, zur
Realisierung des modernen (Über)Menschen - eine
ewig währende notwendige Entwicklungsreihe.
Ein Balanceakt über dem Abgrund
„Nicht nur sollst du dich pflanzen fort, sondern
hinauf“13 ließ er Zarathustra einst voll der Hoffnung
verlauten. Seit dem vollzog sich über ein gesam-
tes Jahrhundert mitsamt eini-
gen großartigen Veränderun-
gen. Doch nicht überall haben
wir uns auch zielführend wei-
terentwickelt. Fortgepflanzt
hat sich der Mensch, aber was fehlt ist der Seil-
tanz zwischen der alten, überdrüssigen Welt des
Löwen und der neuen zukunftsreifen des Kindes.
Nachdem Nietzsche zwei Drittel des Weges über
den Abgrund tänzelte, hängen wir fest über der
Schlucht zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Dabei sehnen wir uns mehr denn je nach
dem Ziel und dem reinigenden Prozess der Um-
wertung. Es gilt das letzte Drittel zu meistern, sich
diesem anzunehmen. Diesem sollen die freien
Geister nachkommen, nicht alte Wahrheiten ak-
zeptieren, sondern Neue schaffen. Denn wir „frei-
en, sehr freien Geister – wir haben sie noch, die
ganze Noth des Geistes und die ganze spannung
seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil“14,
der sich danach sehnt endlich ausgeschossen zu
werden. In das Ungewisse – in unser Morgen. Ja,
wir freien Geister sind mächtig darüber unseren
Köcher voller Pfeile kraft unserer Geschichte, kraft
des dem Leben innewohnenden Prinzips der ewi-
gen Wiederkehr abzuschießen. Und wir müssen es:
Um die mühsam erkämpfte Freiheit beizubehalten.
13 Ebd. S. 332
14 Ebd. S. 566
In keinem andren sinne will das Wort „freier
Geist“ hier verstanden werden: ein freige-
wordener Geist, der von sich selber wieder
Besitz ergriffen hat.15 Derjenige der über sich
selbst siegt und damit Frieden schließt in einer
Welt des zerberstenden Krieges. Nietzsche
wollte keine Jüngerscharen, um sich tumultie-
ren sehen. Was ihn erfreut hätte, wären Men-
schen die seine Philosophie bis auf das Kleinste
zerrissen und aus diesen Fetzen etwas Neues
gebaut hätten. „Denn was nicht ist, das kann
nicht wollen; was aber im Da-
sein ist, wie könnte das noch
zum Dasein wollen!“16 Das,
was er hinterlassen und das was
bereits da ist, einzuverleiben,
zu vernichten und neu zu interpretieren - das
ist der Wille zu Macht und vor allem zu sich
selbst! Eben dann wenn sie dem zarathustra-
nischen Prinzip folgen, nicht die Lehre, son-
dern die Leere zu schwängern. Wenn sie den
Mut haben, sich gegen den Meister zu stellen.
Und mit dem gemeinsam gebauten Schiff in
ihr eigenes Abenteuer zu fahren. Denn „[e]nd-
lich dürfen unsere schiffe wieder auslaufen,
auf jede Gefahr hin auslaufen, jede Wag-
niss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das
Meer, unser Meer liegt wieder offen da, viel-
leicht gab es noch niemals ein so »offenes
Meer«.“17 Nun liegt es an uns, das unbekann-
te Terrain von neuem zu befahren und uns
mit dem Rad zu drehen. Denn eines ist sicher:
Egal ob wir stehen bleiben oder nicht, die Welt
dreht sich auch ohne unser Dazutun weiter.
Stagnieren wir und scheuen die Veränderung
sind wir potenzielle Förderer einer neuen Frat-
ze, des alten immer wiederkehrenden Nihilis-
mus. Ob wir wollen oder nicht.
15 Ebd. S. 1118
16 Also sprach Zarathustra. KSA 4, S. 149
17 Die fröhliche Wissenschaft. KSA 3, S. 574
Ideenkreis
Das Notwendige des Lebens zu lieben, bedeuten ihm
etwas hinzuzufügen, sodass dieses sich verändert.
Von Dominik Herold
58 cog!to 06/2013
Was zur metaphysischenLesart des Tractatus einlädtAlle philosophischen Probleme seien, so behauptet
Ludwig Wittgenstein im Vorwort des Tractatus, auf ein
„Mißverständnis der Logik unserer Sprache“ zurückzu-
führen. Um die Philosophie dieser Irrungen und Wir-
rungen zu entledigen, nimmt er eine Analyse unserer
Sprache vor: Indem er die Möglichkeiten des Sagbaren
aufzeigt, werden auch dessen Grenzen deutlich. Das
führt im Ergebnis zu einer harschen Absage an die phi-
Ist der Tractatus Unsinn?
Die Transzendentalität der Logik, oder wieso Ludwig Wittgenstein
Metaphysiker war
Ideenkreis58 cog!to 06/2013
Von Lisa Zacharski
Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philo-
sophicus behauptet die Unmöglichkeit einer
Metaphysik als Wissenschaft; ihre Inhalte sei-
en nicht auszusagen, die Disziplin könne da-
her nichts als (im sprachlichen sinne) unsinni-
ge sätze hervorbringen. Die Aufforderung, mit
der das Werk endet, ist eindeutig: „Wovon man
nicht sprechen kann, darüber muß man schwei-
gen“ – und verurteilt die philosophische Diszi-
plin der Metaphysik zur Untätigkeit. Dennoch
finden sich im Tractatus Anhaltspunkte für
eine metaphysische Lesart des Werkes. Ausge-
hend von der Kantischen Transzendentalphi-
losophie der Kritik der reinen Vernunft können
Parallelen zwischen dieser und Wittgensteins
Frühwerk gezogen werden. Behauptet der Trac-
tatus die Logik als transzendental, so kann das
Werk selbst als Analyse unserer Erkenntnisart,
als Transzendentalphilosophie – und damit als
Metaphysik verstanden werden. Wittgensteins
schrift, mit der er der Philosophie ihre Unsin-
nigkeit austreiben wollte, wäre schließlich selbst
nichts weiter als Unsinn.
59cog!to 06/2013
losophische Tradition: Über metaphysische Inhalte
lässt sich nichts aussagen, alle Sätze dieser Disziplin
sind daher unsinnig – zumindest im sprachlichen
Sinne.
Was lädt bei einem Philosophen, der die-
se Disziplin zum Schweigen verurteilt, dazu ein ihn
selbst als Metaphysiker zu sehen? Ausgehend von
der Behauptung Wittgensteins, dass die Logik tran-
szendental sei (vgl. Tractatus, 6.31), schlage ich eine
Brücke über das Kantische Unternehmen der Kritik
der reinen Vernunft, in dem Kant die Bedingun-
gen und Möglichkeiten menschlichen Erkennens
analysiert. Obwohl sich die Tradition der Analyti-
schen Philosophie, für die Wittgensteins Schriften
wegweisend waren, von dem Denken Kants und
dessen idealistischen Nachfolgern absetzen woll-
te, werde ich aufzeigen, dass der Tractatus Paral-
lelen zur Kantischen Idee einer Transzendentalphi-
losophie aufweist. Ist also dessen Verständnis von
Transzendentalität aufgezeigt, wird uns die Darle-
gung der Unterscheidung Wittgensteins zwischen
sinnvollen und unsinnigen Sätzen im Tractatus
dazu führen, inwiefern die Logik dort als transzen-
dental und dieses Werk selbst als Metaphysik zu
verstehen ist.
Die Transzendental-philosophie Immanuel KantsDie Metaphysik zur Wissenschaft zu erheben, ist
Ziel der Kritik der reinen Vernunft, wofür die Me-
thode unseres Erkennens von wesentlicher Bedeu-
tung ist. Anders als die Naturwissenschaften will
die Metaphysik nicht aufdecken, wie die erfahrba-
re Welt ist. Vielmehr will sie herausfinden, wieso
diese so ist, wie sie ist. Wie ihr Name schon verrät,
geht sie dazu über das Wissen der Physik hinaus;
ihre Gegenstände liegen nicht in der erfahrbaren
Welt. Sollte es uns möglich sein, Erkenntnis über
diese zu gewinnen, müssten wir daher imstande
sein, von der Sinneserfahrung unabhängig zu Wis-
sen zu gelangen. Die Kritik der reinen Vernunft
stellt eine Analyse unseres Erkenntnisvermögens
dar und soll zeigen, ob wir zu solchen Erkenntnis-
sen a priori in der Lage sind.
Erfahrung ist für Erkenntnis wesentlich.
Kant gelangt jedoch zu dem Ergebnis, dass wir
unser Wissen nicht unmittelbar aus der Erfah-
rung schöpfen, diese ist vielmehr selbst von un-
serem Erkenntnisvermögen abhängig. Denn die
Anschauungsformen Raum und Zeit sortieren den
Ansturm der Sinneseindrücke, dem der Mensch je-
derzeit ausgesetzt ist, zu einheitlicher Erfahrung;
alle Wahrnehmung ist deshalb bereits zeitlich und
räumlich geordnet. Die Kategorien unseres Ver-
standes schließlich ermöglichen die Zusammen-
setzung der Erfahrung zu Erkenntnissen über die
Welt. Die Beschaffenheit unseres Erkenntnisver-
mögens ist deshalb eine wesentliche Bedingung
für unser Erkennen; gleichzeitig begrenzt sie des-
sen Möglichkeiten: Denn außerhalb der Anschau-
ungsformen und Kategorien unseres Verstandes
ist uns solches unmöglich. Die Dinge, wie sie an
sich sind, bleiben uns verwehrt – wir sind nicht im-
stande die Wirklichkeit zu erkennen. Die uns allen
zugängliche, objektive Welt ist vielmehr so, wie sie
uns durch die Beschaffenheit unseres Erkenntnis-
vermögens erscheint.
Die einzigen uns möglichen Kenntnisse a
priori betreffen unser Erkenntnisvermögen selbst:
Unabhängig von der Erfahrung und der Beschaf-
fenheit unseres Verstandes können wir nur die
genannten Voraussetzungen unseres Wissens ein-
sehen (selbst die Erkenntnisse der Mathematik und
Physik bedürfen der räumlichen Anschauung (vgl.
KrV B 41). Solche Kenntnisse, die die Art mensch-
lichen Erkennens betreffen, nennt Kant trans-
zendental, die vorgenommene Analyse unseres
Erkenntnisvermögens bezeichnet er als Transzen-
dentalphilosophie. Es wird sich zeigen, dass auch
der Tractatus Aufschluss über unsere epistemi-
schen Möglichkeiten gibt, indem er die Logik un-
serer Sprache analysiert.
Über sprachlichenSinn und UnsinnDem frühen Wittgenstein zufolge, dient Sprache,
einzig und allein der Abbildung der Welt. Er ver-
tritt ein korrespondenztheoretisches Verständnis
von Wahrheit und behauptet eine Aussage genau
dann als wahr, wenn sie mit der objektiven Welt in
gewisser Weise übereinstimmt. Mit einer Klärung
dessen, was Welt bedeutet, eröffnet Wittgenstein
deshalb sein Werk: Die Welt besteht keineswegs
aus einzelnen (logischen) Gegenständen; diese
existieren vielmehr nur in Relationen zu anderen.
Dieses Bestehen – und ebenso das Nichtbeste-
hen – eines sogenannten Sachverhalts bezeich-
net Wittgenstein als Tatsache. Die „Gesamtheit der
Tatsachen“ ist die objektive Welt, diese ihre Struk-
tur nennt er eine logische.
IdeenkreisIdeenkreis
60 cog!to 06/2013
Ein Satz, der in der Korrespondenztheorie
des Tractatus als Wahrheitsträger dient, ist genau
dann wahr, wenn er als Abbild der Welt dient; dazu
muss er deren logische Struktur aufweisen. Das be-
deutet zweierlei: 1) Die im Satz enthaltenen Namen
verweisen auf einen real existierenden, logischen
Gegenstand in der Welt. 2) Die Namen stehen zu-
einander in einer Beziehung, die der Relation der
Dinge in einem möglichen Sachverhalt entspricht.
Erfüllt ein Satz diese Anforderungen kann er als
Abbild der Welt dienen, kann logisches Bild sein.
Hieraus ergibt sich Wittgensteins Defini-
tion von (sprachlichem) Sinn: Er nennt einen Satz
sinnvoll, wenn er einen möglichen Sachverhalt
abbildet; für die Sinnhaftigkeit eines Satzes ist es
irrelevant, ob der Sachverhalt tatsächlich besteht
oder nicht besteht. Erst Wahrheit bzw. Falschheit
von Sätzen sind zu verstehen als Übereinstim-
mung bzw. Nichtübereinstimmung des Satzsin-
nes mit der Welt. Genaugenommen dienen also
in Wittgensteins Korrespondenztheorie nicht Sät-
ze im Allgemeinen, sondern nur sinnvolle Sätze
als Wahrheitsträger, d.h. solche, die der logischen
Struktur der Welt entsprechen.
Da Wittgenstein eine Übereinstimmung
der Struktur der objektiven Welt mit der Logik un-
serer Sprache behauptet, sind wir in der Lage, die
gesamte (logische) Welt sprachlich zu erfassen.
Metaphysische Inhalte hingegen sind per defini-
tionem nicht in der logischen Welt anzutreffen.
Die Disziplin befasst sich überhaupt nicht mit Ge-
genständen der erfahrbaren Realität, die in ihren
Sätzen verwendeten Namen beziehen sich daher
nie auf logische Gegenstände. Sie bilden keinen
Sachverhalt ab und weisen deshalb auch niemals
sprachlichen Sinn auf; die Sätze der Metaphysik
sind somit unsinnig. Dass sich die Philosophie den-
noch seit jeher an dieser Disziplin versucht, liegt
am, im Vorwort angesprochenen, Missverständ-
nis der Logik unserer Sprache: Die Sätze scheinen
zwar eine logische Form zu haben (vgl. Tractatus,
4.1272); dass das Gegenteil der Fall ist, meint Witt-
genstein im Tractatus jedoch endgültig aufgezeigt
haben und verurteilt die Vertreter ihrer Disziplin
deshalb zum Schweigen.
Die Trans-zendentalität der LogikBehauptet der Tractatus die Logik aber als trans-
zendental, spricht das für eine idealistische Lesart
des Werkes: Unsere Sprache hängt nicht von der
Struktur der Welt ab; vielmehr erkennen wir in der
Welt eine logische Struktur allein deshalb, weil un-
sere Sprache sie bereits aufweist. Denn einen Satz
versteht Wittgenstein als die sinnlich wahrnehm-
bare Artikulation des Gedankens (vgl. Tractatus,
3.1): Die logische Struktur, die unsere Sprache auf-
weist, ist also diejenige unseres Denkens. „Wir kön-
nen nichts Unlogisches denken, weil wir sonst un-
logisch denken müssten“, behauptet Wittgenstein
deshalb in Satz 3.03 seines Werkes – nicht logisch
zu denken, ist uns schlicht unmöglich. Kenntnis-
se über die Logik geben also nicht nur Aufschluss
über eine adäquate Verwendungsweise unserer
Sprache, sondern sie erhellen darüber hinaus un-
sere epistemischen Möglichkeiten wie Grenzen.
Die Analyse der Logik unserer Sprache des Trac-
tatus betrifft daher unsere Art der Erkenntnis, wie
die Darlegung der Anschauungsformen und Kate-
gorien des Verstandes in der Kritik der reinen Ver-
nunft. Die Logik kann deshalb als transzendental
und das Werk, das deren Struktur darlegt, als Tran-
szendentalphilosophie verstanden werden.
Wittgenstein will also wie Kant klären, wie
uns Kenntnis über die erfahrbare Welt möglich ist
und zieht zugleich eine Grenze zwischen Erkenn-
barem und Metaphysischem. Im Tractatus wird
diese in der Unterscheidung zwischen sinnvollen
und unsinnigen Sätzen deutlich; Kant vollzieht sie
durch die Einführung des Dinges an sich: Die ob-
jektive Welt, wie sie uns erscheint, ist nicht dieje-
nige der Dinge, wie sie an sich sind. Die Wirklich-
keit bleibt uns vielmehr verschlossen, weil wir nur
durch und im Rahmen unseres Erkenntnisvermö-
gens erkennen können. Ebenso ist nach Wittgen-
stein „[d]er Satz […] ein Modell der Wirklichkeit,
so wie wir sie uns denken“ (Tractatus, 4.01): Die
objektive Welt, die uns allgemeingültige Wahrheit
ermöglicht, ist diejenige, die wir dank unserer logi-
schen Denkstruktur erkennen – ob sie tatsächlich
so ist, bleibt meines Erachtens fraglich.
Die Grenze menschlicher Erkenntnis ist
damit sowohl bei Kant als auch bei Wittgenstein im
Subjekt selbst anzusiedeln: Die Logik als unsere Art
zu denken, dient als einheitliche Beschaffenheit
Ideenkreis
61cog!to 06/2013
unseres Erkenntnisvermögens – genau wie die
Kantischen Anschauungsformen und Kategorien.
Durch sie haben wir Zugang zu einer objektiven
Welt, was Wahrheit im Sinne einer Korrespon-
denztheorie ermöglicht. Beide Werke klären also,
wie objektive Gültigkeit möglich ist, indem sie
Aufschluss über unsere Erkenntnisart geben, d.h.
Transzendentalphilosophie betreiben – behaup-
ten aber nicht notwendig die Wirklichkeit der er-
kennbaren Welt.
Der Tractatus als metaphysisches WerkTrotz der Unmöglichkeit der wissenschaftlichen
Erkennbarkeit metaphysischer Ideen, verfasst
Kant im Anschluss an die Kritik der reinen Ver-
nunft metaphysische Schriften. Zwar schreibt er
der Metaphysik den Status einer objektivierenden
Wissenschaft ab, legitimiert aber zugleich die
Möglichkeit metaphysischer Ideen und räumt
der Disziplin dadurch Raum ein, den sie vor der
vorgenommenen Grenzziehung nicht beanspru-
chen hätte dürfen. Metaphysische Inhalte mö-
gen nicht erkennbar sein, aber zumindest wider-
spruchslos denkbar im Zusammenhang mit der
uns begegnenden Welt der Erscheinungen. Die
Bedeutung dessen lässt sich am Begriff der Frei-
heit kurz verdeutlichen: In der erfahrbaren Welt,
in der Kausalität (eine Kategorie des Verstandes)
vorherrscht, könnte der Mensch nicht wider-
spruchslos als frei gedacht werden, seine Hand-
lungen müssten immer als Folge einer vorher-
gegangenen Ursache verstanden werden. Durch
die Grenze zwischen Welt der Erscheinungen
und Welt der Dinge an sich lässt sich die absolute
Freiheit eines Menschen allerdings denken, näm-
lich als im Bereich der Dinge an sich verortet.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der
Grenze, die Wittgenstein zwischen Erkennbarem
und Metaphysischem zieht. Zwar zieht er die ra-
dikalere Konsequenz, fordert das Schweigen der
Disziplin und zieht sich bekanntlich nach der Ver-
öffentlichung seines Frühwerks zunächst selbst
aus der Philosophie zurück. Wie sein Vorgänger
Kant schafft er durch die Grenzziehung dennoch
Platz für der Möglichkeit der Metaphysik: Ihre
Inhalte sind zwar nicht auszusagen, nicht zu er-
kennen – aber sie können sich in der erfahrbaren
Welt zeigen.
Eine vollkommene Absage will Wittgen-
stein der philosophischen Disziplin also nicht
erteilen. Aber nicht nur im Herzen ist er als Me-
taphysiker zu verstehen: In der Analyse der Lo-
gik unserer Sprache geht er im Tractatus selbst
über die Möglichkeiten des Sagbaren hinaus. Wie
Kants Transzendentalphilosophie dadurch, dass
sie Kenntnisse a priori hervorbringt, im Versuch
die Metaphysik zur Wissenschaftlichkeit zu erhe-
ben, zu ihrem ersten Teile wird (vgl. KrV B XVIII),
begibt sich Wittgenstein in der Erklärung über un-
sere Erkenntnisart auf den Boden der Metaphysik
und damit in den Bereich des nicht sinnvoll Sag-
baren. Diese metaphysische Lesart des Tractatus,
bestätigt sich in seinem vorletzten Satz, durch
den Wittgenstein einräumt: „Meine Sätze erläu-
tern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht,
am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie
– auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist.“ – Im
Versuch die Unmöglichkeit einer Metaphysik als
Wissenschaft darzulegen, bedient sich Wittgen-
stein ihrer selbst. Der Tractatus ist also rein meta-
physisch – und damit als Unsinn zu verstehen.
Zitiert aus:• Wittgenstein,Ludwig:Tractatus logico- philosophicus. Logisch-philosophische
Abhandlung, Frankfurt am Main: edition
suhrkamp, 2003 (nach Sätzen)
• Kant,Immanuel:Kritik der reinen
Vernunft,Hamburg: Felix Meiner
Verlag, 1998 (nach der Akademiea
usgabe)
Von Lisa Zacharski
Ideenkreis
Zitiert aus:• Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-
philosophicus. Logisch-philosophische
Abhandlung, Frankfurt am Main: edition
suhrkamp, 2003 (nach Sätzen)
• Kant, Immanuel: Kritik der reinen
Vernunft,Hamburg: Felix Meiner Verlag,
1998 (nach der Akademieausgabe)
62 cog!to 06/2013
Vorrede
Liebe Leser,1
innen nicht einmal angestaubt entpuppt sich bei nä-
herem Hinsehen manchmal, was äußerlich „[t]ief“ in
den „Brunnen der Vergangenheit“2 gefallen scheint.
So hat sich Immanuel Kant bereits im 18. Jahrhundert
der Aufgabe gewidmet, die Hintergründe und Vor-
wände zu erforschen, die in heutiger Zeit jedes Vor-
spiel zur reinen „Höllenfahrt“ machen (der Philosoph
hat aus seinen theoretischen Studien auch die prak-
tischen Konsequenzen gezogen und niemals gehei-
ratet). Zwei Jahrhunderte der intensiven Forschung
konnten der Frische und Lebendigkeit seiner Schrif-
1 Wer von dieser Aufdringlichkeit beleidigt wird, möge mit Schwung
in die nächste Zeile springen und das Komma um ein Wort nach hinten
versetzen.
2 Thomas Mann: Die Geschichten Jaakobs, erster Satz.
ten nichts anhaben – indes seiner tiefen Einsichten
auch nicht immer teilhaftig werden. Die Kantische
Philosophie hält bei unvoreingenommener Lek-
türe noch immer viele wertvolle Gedanken bereit.
Der Beginn seiner ersten Kritik lautet: „Die
menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal
in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fra-
gen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn
sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst auf-
gegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann,
denn sie übersteigen alles Vermögen der menschli-
chen Vernunft. In diese Verlegenheit gerät sie ohne
ihre Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren
Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich
und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist.“
Doch ab einem gewissen Punkt „stürzt sie
sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen
sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo verborge-
ne Irrtümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber
nicht entdecken kann […]. Der Kampfplatz dieser
Kritik der reinen UnvernunftEin ironischer Kommentar zur Gender-Debatte Von robert Treidl
Ideenkreis
63cog!to 06/2013
endlosen Streitigkeiten heißt nun M e t a p h y s i k .“
Damit ist der entscheidende Punkt berührt. Der
wissenschaftliche Dienst des deutschen Durch-
schnittsbürgers führt dazu aus: „Die Metaphy-
sik (lateinisch metaphysica, von griechisch μετά,
metá, „danach, hinter, jenseits“, und φύσις, phýsis,
„Natur, natürliche Beschaffenheit“) ist eine Grunddis-
ziplin der Philosophie.“3 Während die Physik schon zu
Kants Zeiten auf dem sicheren Weg der Wissenschaft
wandelte und mit den natürlichen biologischen Un-
terschieden zwischen den Geschlechtern (i. S. v.
„sex“) gewiss vertraut war, kann dieses Urteil der Me-
taphysik, die sich mit den Fragen befasst, die über
diese Merkmale hinausgehen, auch heute noch nicht
ausgestellt werden. Gleichwohl scheint die Thematik
brisanter geworden zu sein: Gender-Fragen sind Ge-
genstand nicht nur immer neuer wissenschaftlicher
Untersuchungen („Gender-Studies“), sondern auch
unzähliger leidenschaftlicher (bis lächerlicher) Streit-
schriften.
3 Aufgerufen am 12. April 2013.
Sie sind tatsächlich zu einer „nicht abweisbaren Be-
lästigung“ im Alltag geworden, und mittlerweile so-
gar salonfähig.
Transgendentale AnalytikDie Universität zu Köln hat dieses Jahr, ganz in der
Tradition Kants, einen „Leitfaden“ veröffentlicht,
Titel: „ÜberzeuGENDERe Sprache“. Die Schreib-
weise des Titels legt nahe, sofort Drittmittel für
das Forschungs- und Editionsprojekt „Über Zeu-
gen der e-Sprache“ zu beantragen (lol). Doch sei
in der Analytik jeder Spott fern, denn es geschieht
schnell, dass man anderen vorwirft, sie melkten
den Bock, während man selbst doch das Sieb un-
terhält (wie die Alten sagen (wie Kant sagt)4). So
gibt sich etwa ein nicht richtig überleGENDER Ver-
kehrsrechtsexperte des Auto Clubs Europa eine
Blöße, wenn er die neue, geschlechtsneutralisier-
4 KrV A 58/B 83.
Ideenkreis
3 Aufgerufen am 12. April 2013.
64 cog!to 06/2013
te StVO unter dem Gesichtspunkt kritisiert, dass
es ihm vorgekommen sei, als habe der Verkehrs-
minister „kurzerhand einen Studienabbrecher im
Fach Germanistik“ engagiert, um aus Fußgängern
und Rollstuhlfahrern „zu Fuß Gehende“ und „Fah-
rende von Rollstühlen“ zu machen – vermeintlich
nicht sehr konsequent: Polizeibeamte nämlich sei-
en weiterhin Polizeibeamte (SZ vom 27. März 2013).
Der Experte scheint die gebotene Rücksicht auf „Be-
amtinnen“ zu vermissen, doch zeigt der Blick in ein
verlässliches Wörterbuch, dass das Wort „Beamte(r)“
für „Beamtete(r)“ steht, denn „in dieser substantivi-schen anwendung hat sich die alte, gekürzte form des part. praet. beamt für beamtet erhalten“.5 „Be-
amte“ lassen sich also, wie „Studierende“, nicht mehr
‚gendern‘, allenfalls vom Duden, der den besonderen
Hinweis gibt: „Um gehäuftes Auftreten der Doppel-
form Beamtinnen und Beamte zu vermeiden, kann
die Ausweichform Beamtenschaft gewählt werden.“
Mehr Möglichkeiten, der eigenen Sprache aus dem
Weg zu gehen, allerdings mit dem über die Frage des
Stils hinausgehenden Anspruch, das Problem falscher,
d. h. oft unvollständiger, Assoziationen mit Formulierun-
gen im zwar nur generischen, aber doch eindeutigen
Maskulin zu vermeiden, zeigt der erwähnte „Leitfaden
für eine geschlechtersensible und inklusive Sprache“
der Kölner Universität auf: Beidnennung („Studentinnen
und Studenten“), Splitting („Student/inn/en“), Binnen-I
(„StudentInnen“), Gender-Gap („Student_innen“) und
Gender-Sternchen („Student*innen“). Außerdem kann
man neutrale Substantive verwenden („Lehrgut“ o. Ä.).
So weit, so gut.
Transgendentale Dialektik
Die solchen Vorschlägen zu Grunde liegende De-
batte dreht sich um Sinn und Unsinn gender-sensib-
ler Formulierung im Zusammenhang mit einer im-
mer noch unübersehbaren Ungleichbehandlung von
Männdern und Frauen in vielen Bereichen des Le-
bens. Setzt eine allgemeine Bewusstseinsänderung
in Bezug auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten
voraus, dass das Bewusstsein davon, was Sprache
bewirkt, geweckt wird? Hat es der Schwarze leich-
ter als der Neger? Und ist er als Maximalpigmen-
tierter nun vollständig integriert? Zum Zeitvertreib
betrachtet man vielleicht die Kandidaten und wägt
5 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, s. v. Dort
findet man auch das entsprechende Verb „beamten“.
ihre Vorzüge und Nachteile ab. Man betrachtet
etwa das Binnen-I und überlegt, wie es auszuspre-
chen ist. Oder man klagt über die schließlich ma-
nifestierte Differenz der Geschlechter voneinander
im Gender-Gap, bis man in die Diskussion darüber
gerät, ob die Lücke alle nicht eindeutig männli-
chen oder weiblichen Identitäten verneine oder
ihnen doch Entfaltungsspielraum gewähre. Das
Sternchen drückt ja auch viel besser die Vielfalt der
möglichen Ausrichtungen der eigenen Persönlich-
keit aus – sechs, genau genommen. Vielleicht gibt
es bald einen Gender-Kringel („Student°innen“),
der keine hervorgehobene Position kennt und
überdies die Solidarität aller betont. In der eigentli-
chen Frage ist man damit jedoch nicht weiter: Wer
sich aus Prinzip dem Splitting verweigert, lässt sich
kaum vom Sternchen überzeugen, sondern erklärt
seinerseits, dass verzerrte Formulierungen, ge-
schluckt wie Placebos, nur Abhilfe schaffen, wenn
ein beeinflussbares Bewusstsein vorausgesetzt
werden kann. Das aber sei sehr zweifelhaft, wenn
man in einem ausdrücklich ‚gegenderten‘ Text
von „männlichen Studierenden“ liest, wo doch das
Wort „Studenten“ aus Sicht der Vertreter°_*Inn/en
genau in diesem Fall das passende sein müsste:
Sollte da etwa verhindert werden, dass mit „Stu-
denten“ auch Frauen assoziiert werden können?
Und wie ist der Lerneffekt derjenigen zu verstehen,
die zwar regelkonform von „Studentinnen und Stu-
denten“ sprechen (wobei meist gerade die Silbe,
auf die es ankommt, im Gesprächsfluss wieder zu
„-en“ verschliffen wird), aber weiterhin allein von
„Dozenten“, weil in diesem Fall die neue ‚gegen-
derte‘ Form noch nicht so oft und penetrant Ein-
gang ins Gehör gefunden hat, dass sie die alte ver-
drängen konnte? Wahrscheinlich hätten diejenigen
ebenso selbstverständlich andere Benennungen
übernommen (wie es auch bei Anglizismen der Fall
ist). Vielleicht, so fährt der Gender-Gegner fort,
habe es auch seine Vorteile, dass niemand über
die Bedeutung seiner Worte nachdenke, denn die
einsetzende Unterscheidung selbst dort, wo sie
nichts zur Sache tue (und bisher also mit guten
Gründen übergangen worden sei), zementiere die
„Geschlechtsapartheid“6. Statt eine Sprache, die
mit ihrer über lange Zeit gewachsenen Struktur
eine historisch-kulturelle Identität stifte, sinnlos
6 So der Titel eines im Friedrich Jahresheft VII abgedruckten Aufsatzes
von Gisela Breitling, ursprünglich: Kultur im Patriarchat, in: Mechthild
Jansen (Hrsg.): Frauenwiderspruch – Alltag und Politik, Köln 1986.
Ideenkreis
65cog!to 06/2013
zum sterilen Informationsinstrument zu verkrüp-
peln, sei es geboten, souverän mit der Vergangen-
heit umzugehen und ihr, ohne sie zu verleugnen,
eine neue gesellschaftliche Ordnung gegenüber
zu stellen. Sprache verändere sich ohnehin und
werde allmählich die gegenwärtigen sozialen Er-
rungenschaften widerspiegeln. Dass noch großer
Handlungsbedarf an den tatsächlichen Zuständen
bestehe, sei ja unabweisbar. Die Emanzipations-
wut aber macht währenddessen nicht einmal Halt
vor vermeintlichen patriarchalischen Fesseln wie
dem Wörtchen „man“, dessen Wurzel zumindest
geschlechtsneutrale, wenn nicht weibliche Bedeu-
tung zu haben scheint.7 Darf man einem Gerücht,
das dem Autor zu Ohren gekommen ist, Vertrau-
en schenken, haben im Gasteig in München auch
einmal Hinweisschilder mit der Aufschrift „Zu den
Autographinnen und Autographen“ zur entspre-
chenden Ausstellung gelotst.
Immanuel Kant verstand seine dialektischen
Bemühungen zuletzt als Versuch der allgemeinen
Beschwichtigung: Was wir auch sagen – eine Ent-
scheidung im metaphysischen Streit ist weder dog-
matisch noch empirisch zu erzwingen. Sondern
durch Kritik, weiß Kant, der geistige Jungbrunnen.
Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?8
Von robert Treidl
(unter Pseudonym eingereicht)
7 Für „man“ mit weiblichem Hintergrund
s. http:// frauensprache.com/man.htm (abgerufen am 27. April 2013);
zur Ableitung aus lat. „homo“ (mit Parallele zu frz. „on“) s. Deutsches
Wörterbuch von
8 Jacob und Wilhelm Grimm, s. v.Mit diesem letzten Satz sei noch
einmal der Hinweis auf Thomas Manns Roman verbunden.
Sprache verändert sich ohnehin und wird allmählich die gegenwärtigen sozialen Errungenschaften widerspiegeln
Ideenkreis
66 cog!to 05/2013
PArTEINAHME
rUBrIK
Für Parteinahme führt die redaktion Interviews mit hochschulpolitischen Akteuren und bemüht sich um Artikel zu wichtigen Vorgängen an der Fakultät für Philosophie und der restlichen Universität. In dieser Ausgabe fragt Cog!to Dr. Annette Bulfon (FDP), Oliver Jörg (CsU) und Prof. Dr. Julian Nida-rümelin (sPD): Was ist Bildung für sie? Wichtig ist der redaktion dabei vor allem das
Wechselspiel zwischen Philosophie und Politik.
66 cog!to 06/2013
67cog!to 06/2013
Cog!to: Vielen Dank, dass Sie die Zeit für dieses
Interview gefunden haben. Starten wir mit
einer generellen Frage: Was sollten Ihrer
Meinung nach die Ziele einer gelungenen (Aus)
Bildung sein?
Julian Nida-Rümelin: Darüber habe ich in den
letzten Jahren viel nachgedacht und jetzt das Er-
gebnis in Gestalt eines kleinen Büchleins zur Phi-
losophie humaner Bildung präsentiert1 . In der Tat
scheint es mir eine der Hauptschwächen der ak-
tuellen Bildungsreform zu sein, dass sie – anders
vorausgegangene - nicht von einer philosophisch
begründeten Leitidee getragen sind. Humane Bil-
dung heißt immer den ganzen Menschen in allen
Stadien seiner Entwicklung im Blick zu haben,
nicht nur dessen kognitiven Fähigkeiten. Ästheti-
sche, soziale und ethische Fähigkeiten sind für die
Entwicklung der Persönlichkeit von gleicher Be-
deutung. Die Balance ist doppelt gestört: nicht so
sehr die Aneignung von Wissen, sondern die Ent-
wicklung eigenständiger Urteilskraft sollte im Mit-
telpunkt stehen und Kooperation und Wahrneh-
mungsfähigkeit, die soziale und die ästhetische,
auch die physische Dimension verdienen mehr
Aufmerksamkeit.
Cog!to: Frau Bulfon, Herr Jörg, was ist Bildung
für Sie?
Annette Bulfon: Bildung ist für uns Liberale ein
Bürgerrecht und eröffnet Chancen für persönli-
ches Wachstum und sozialen Aufstieg. Sie ermög-
licht gesellschaftliche Teilhabe und befähigt dazu,
wie Kant es sagt, sich seines eigenen Verstandes
zu bedienen. In einem rohstoffarmen Land wie
Deutschland sind Investitionen in Bildung die
besten Investitionen in unsere Zukunft. Die bil-
dungspolitische Schwerpunktsetzung der FDP ist
übrigens auch im konkreten Regierungshandeln
sichtbar: Bis 2013 investiert der Bund 12 Milliarden
Euro zusätzlich in Bildung und Forschung.
Oliver Jörg: Bildung ist der Schlüssel zu einer ak-
tiven Beteiligung am gesellschaftlichen Leben.
Deshalb sollte sie zum einen die Persönlichkeits-
bildung fördern und junge Menschen zu Mitgestal-
tung und Verantwortungsbereitschaft ermutigen.
Für den Start in ein erfolgreiches Berufsleben brau-
chen sie zum anderen das nötige theoretische wie
praktische Wissen und müssen gelernt haben, wie
sie sich neue Fertigkeiten aneignen können. Weil
lebenslanges Lernen immer wichtiger wird, sollte
gelungene Bildung im besten Falle auch Neugier
und den Wunsch zur Weiterentwicklung wecken
können.
Cog!to: Welche Rolle sollte Politik in der
Bildung spielen?
Nida-Rümelin: Die Schule ist keine Insel, sie ist Teil
der Gesellschaft und die politische Dimension des
Lebens in der Demokratie zu erfassen, muss ein
wichtiges Bildungsziel sein. Dies so zu vermitteln,
dass keine Parteinahme und keine unzulässige
Beeinflussung erfolgen, erfordert ein besonderes
Fingerspitzengefühl und eine gute Lehrerbildung.
Was ist Bildung für Sie? Ein Interview mit den Hochschulpolitikern Annette Bulfon (FDP), Oliver Jörg (CsU) und Julian Nida-rümelin (sPD) über Bildung, die Bologna-reform, die Zukunft der Exzellenzini-tiative und Frauenförderung.
1 Julian Nida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung. edition
Körber-Stiftung (Hamburg) 2013
Parteinahme
Das Interview führten Daniel Hoyer und Lukas Leucht.
68 cog!to 06/2013
Jörg: In der Demokratie gilt: Ohne Bürger ist kein
Staat zu machen. Die Vermittlung von demokra-
tischen Werten und Einstellungen sowie die Er-
mutigung zum Mitmachen und Einmischen sind
deshalb grundlegend für unser Gemeinwesen. Im
Kantschen Sinne (sapere aude!) sollte das gesam-
te Schulleben dazu ermuntern, sich seines eigenen
Verstandes zu bedienen und Urteilsfähigkeit zu
entwickeln. In diesem Sinne beschränkt sich po-
litische Bildung in der Schule auch nicht auf den
Sachunterricht, sondern geht zum Beispiel mit
der Schülervertretung, Mitwirkung der Schülerin-
nen und Schüler am Selbstbild der Schule, an der
schulischen Qualitätsentwicklung, Teilnahme an
Initiativen wie „Schule ohne Rassismus
– Schule mit Courage“ etc. darüber
hinaus.
Bulfon: Die Lehre von der
Politik spielt in der Bildung
eine große Rolle. In seinem
bedeutenden Werk „Vom
Geist der Gesetze“ stellt der
Philosoph und Staatstheo-
retiker der Aufklärung, Mon-
tesquieu, fest, dass Diktaturen
und Monarchien relativ einfache
Staatsformen seien, da sie lediglich die
Demut und den Gehorsam der Bürger benö-
tigen würden. Die republikanische Staatsform sei
die schwierigste, denn sie lebe vom Engagement
der Bürger und sie werde zusammenbrechen,
wenn dieses Engagement verloren gehe. Demo-
kratisches Verständnis muss von jeder Generation
also neu erworben und mit Leben gefüllt werden,
damit die Bundesrepublik Deutschland auch in Zu-
kunft eine gefestigte Demokratie bleibt.
Cog!to: Frau Bulfon, wie sieht ein angemessnes
Verhältnis von Freiheit und Verantwortung
aus?
Bulfon: Der berühmte Physiker Heinz von Förster
hat einmal gesagt: „Freiheit und Verantwortung
gehören zusammen. Nur wer frei ist und immer
auch anders agieren könnte‚ kann verantwortlich
handeln.“ Die Politik muss bei der praktischen Aus-
gestaltung dieses Verhältnisses den Rahmen setzen
und die Einhaltung des Rahmens gewährleisten, so
dass die Freiheit des Einzelnen bei der Freiheit des
Nächsten endet. Daneben kann die Politik den Ein-
klang von Freiheit und Verantwortung auch durch
wertegeleitete Bildung stärken.
Cog!to: Was ist Ihrer Meinung nach ein Erfolg
der Bologna-Reform? Wo braucht es eine
Reform der Reform?
Jörg: Bei den Kernzielen wie Transparenz und in-
ternationale Vergleichbarkeit, Mobilität und Aus-
tausch sowie einem stärkeren Anwendungsbezug
sind viele Fortschritte erreicht worden. Der
Bologna-Prozess – im Sinne einer dyna-
mischen langfristigen Entwicklung–
wird aber auch weiterhin Fragen
nach Veränderung und Verbesse-
rung aufwerfen. Gerade bei der
Studierbarkeit, den gebotenen
Wahlmöglichkeiten und der Prü-
fungsdichte gab es in der jüngs-
ten Vergangenheit Korrekturbe-
darf. Insbesondere auf spezielle
Vorrückerregelungen oder faktisch
zwingend wirkende Modulverknüpfun-
gen soll grundsätzlich verzichtet werden.
Cog!to: Herr Jörg, Sie beklagen öfter die zu
hohen Abbrecherquoten an den bayerischen
Universitäten. Was würden Sie tun, um diesen
Zustand zu ändern? An der LMU wird die
Einführung eines Studium Generale diskutiert.
In den ersten Semestern soll den Studierenden
so die Möglichkeit gegeben werden in
verschiedene Fachbereiche reinzuschauen um
herauszufinden, wo Ihre Stärken liegen. Ist das
der richtige Weg oder präferieren Sie eine
andere Alternative?
Jörg: Um die Studienerfolgsquote zu erhöhen,
müssen wir genauer wissen, wo die Gründe für
die hohen Abbruchquoten liegen. Ich habe des-
halb eine Expertenanhörung im Landtag angeregt.
Dabei sollten wir den gesamten Bildungsweg ins
Auge fassen und bereits nach Verbesserungsmög-
Parteinahme
69cog!to 06/2013
lichkeiten in der Schule fragen. Sicher ist der Über-
gang von Schule zum Studium ein Knackpunkt.
Eine gute Beratung der Abiturientinnen und Abitu-
rienten ist wichtig. Wer sich für ein Studium ent-
scheidet, muss wissen, ob die Anforderungen des
gewählten Faches den eigenen Neigungen ent-
sprechen. Hier mag auch ein freiwilliges Semester
Generale Orientierungshilfe bieten. Entsprechen-
de Angebote begrüße ich. Daneben gibt es an etli-
chen Hochschulen schon gezielte Gegenmaßnah-
men wie Crash- und Brückenkurse, Probestudium,
Mentoring oder Früherkennung von gefährdeten
Studierenden. Erfolgreiche Maßnahmen sollten wir
weiter ausbauen.
Cog!to: Zurück zur Bologna-Reform.
Frau Bulfon, was ist Ihre Meinung zum
aktuellen Stand der Reform?
Buflon: Nach anfänglichen Schwierigkeiten meh-
ren sich in jüngster Zeit die Anzeichen für einen Er-
folg der Reform. So war die studentische Mobilität
noch nie so hoch wie heute und die Studienzeiten
noch nie so kurz wie jetzt. Die Studienabbrecher-
quote geht zurück und der Arbeitsmarkt ist mit den
Absolventen zufrieden.
Dennoch dürfen wir uns nicht zurück-
lehnen, sondern müssen noch an der einen oder
anderen Stellschraube drehen. Die notwendigen
Feinjustierungen betreffen aus meiner Sicht die
Sicherstellung einer hinreichenden Flexibilität für
Studierende bei der Absolvierung der verschie-
denen Module und die weitere Reduzierung der
Prüfungsdichte. Die Studierenden benötigen in
gewissen Bereichen wieder mehr Freiräume, um
dem Humboldtschen Bildungsideal gemäß Zeit zur
Ausbildung der Persönlichkeit zu bekommen.
Cog!to: Frau Bulfon, warum stellt eine verkürzte
Studienzeit einen Erfolg dar?
Bulfon: Kürzere Studienzeiten haben zwei Vortei-
le: mit der Lebenszeit der Studierenden wird sorg-
samer umgegangen und knappe öffentliche Kas-
sen werden geschont.
„Sicher ist der Über-gang von Schule zum Studium ein Knack-punkt. Eine gute Bera-tung der Abiturientin-nen und Abiturienten ist wichtig. Wer sich für ein Studium entschei-det, muss wissen, ob die Anforderungen des gewählten Faches den eigenen Neigungen entsprechen.“- Oliver Jörg
Parteinahme
70 cog!to 06/2013
Cog!to: Sie schätzen die Reform anders ein, Herr
Nida-Rümelin?
Nida-Rümelin: Der Bologna-Prozess ist mit einem
vernünftigen Ziel gestartet, aber dann rasch per-
vertiert worden: Es ist sinnvoll einen gemeinsamen
Europäischen Hochschulraum zu schaffen, der der
Mobilität förderlich ist und in dem Nachbarkulturen
über ein europäisches Auslandsstudium vertraut
werden. Das Maß an Verschulung, die Prüfungs-
dichte, die Nivellierung über alle Fächer, die ausge-
dehnten sog. Kontaktzeiten, das verkürzte Eigen-
studium waren dazu nicht erforderlich und haben
am Ende die Mobilität während des BA-Studiums
nicht gefördert, sondern behindert. Ich habe sehr
frühzeitig eine Reform der Reform gefordert, die
erst Jahre danach meist schamhaft und verschwie-
melt angegangen wurde, nachdem die Proteste der
Studierenden allen deutlich machten, dass da etwas
schief läuft. Wir sind heute deutlich weiter, als vor
diesen Protesten, wichtige Problemzonen bestehen
aber fort: Auslandssemester sollten eine Selbstver-
ständlichkeit schon im BA-Studium sein, die Aner-
kennung ausländischer Studienleistungen in Europa
muss wesentlich vereinfacht werden, der Unter-
schiedlichkeit der Fächerkulturen muss konsequen-
ter Rechnung getragen werden, dem Eigenstudium
muss in den geistes- kultur- und sozialwissenschaft-
lichen Fächern mehr Raum gegeben werden.
Cog!to: Herr Nida-Rümelin, Sie erklären, dass
es sowohl möglich sein soll, ausländische
Leistungen problemlos anzurechnen, als auch,
dass es notwendig ist die Verschiedenheit der
Fächerkulturen stärker zu berücksichtigen.
Aber gerade zwischen diesen beiden Zielen
können sich leicht Konflikte einstellen.
Welchem Ziel gebührt der höhere Rang?
Nida-Rümelin: Bei vernünftiger Handhabung ent-
stehen hier keine Konflikte. Die großzügige Aner-
kennung von Studienleistungen im Ausland, auch
wenn sie nicht den jeweiligen Vorgaben der Mo-
dulhandbücher entsprechen, entspräche dem
Geist eines europäischen Hochschulraums: Res-
pekt vor den unterschiedlichen Bildungskulturen,
aber auch Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit.
„Ich habe sehrfrühzeitig eine Reform der Reform gefordert, die erst Jahre danach meist schamhaft und verschwiemelt ange-gangen wurde, nach-dem die Proteste der Studierenden allen deutlich machten, dass da etwas schief läuft.“- Julian Nida-Rümelin
Parteinahme
71cog!to 06/2013
Cog!to: Das Wissenschaftsministerium lässt den
Universitäten viele Freiräume. Braucht es eine
stärkere Kontrolle durch Ministerium und
Parlament oder mehr Autonomie?
Nida-Rümelin: Die Autonomie von Forschung und
Lehre hat in Deutschland Verfassungsrang, die Poli-
tik darf sich in die Inhalte von Forschung und Lehre
nicht einmischen. Diese Autonomie wird in erster
Linie durch diejenigen realisiert, die Wissenschaft zu
Ihrem Beruf gemacht haben, das kann weder an De-
kane noch an Hochschulleitungen delegiert werden.
Eine enge operative Steuerung der Hochschulent-
wicklung durch Ministerien ist heute nicht mehr zeit-
gemäß und würde die Ministerialbürokratie überfor-
dern. Die Steuerung der Wissenschaftspolitik muss
sich auf die Rahmenbedingungen beschränken.
Bulfon: Hochschulautonomie kennzeichnet die
Verschiebung von Handlungskompetenz und
Handlungsverantwortung weg von der ministeri-
ellen Seite hin zu den Hochschulen selbst. Mit der
Verlagerung des Berufungsrechts und zahlreichen
weiteren gesetzlichen Entbürokratisierungen hat
die FDP im Rahmen von drei Hochschulnovellen
den bayerischen Hochschulen mehr Freiheit ge-
geben. Wir wollen die Hochschulautonomie durch
ein Bayerisches Hochschulfreiheitsgesetz weiter
stärken. Zur Sicherung ihrer Exzellenz und inter-
nationalen Wettbewerbsfähigkeit sollen alle Hoch-
schulen selber über ihr Personal, ihre Finanzen und
Immobilien entscheiden können.
Jörg: Seit 1998 ist die Stärkung der Autonomie und
Eigenverantwortung strategisches Ziel jeder No-
vellierung des Bayerischen Hochschul- und Hoch-
schulpersonalgesetzes. Unsere Erfahrungen im
Hochschulausschuss lassen aber bereits heute im-
mer wieder Problemfelder erkennen, an denen sich
Hochschulautonomie messen lassen muss. Wichtig
ist, dass aktuelle gesellschaftliche Handlungsfelder
und Fragestellungen hinreichend in Forschung und
Lehre aufgegriffen werden und wichtige Lehrange-
bote nicht unter die Räder kommen.
Worauf es mir in diesem Stadium ankommt,
ist klarzustellen, dass eine weitere Kompetenzver-
schiebung weg vom Landtag und damit weg von
den Bürgerinnen und Bürgern hin zu den Hoch-
schulen nicht per se positiv ist und jede Verände-
rung in diesem Bereich einer genauen Prüfung be-
darf.
Cog!to: Aber sollte Forschung nicht unabhängig
sein von gesellschaftlichen Trends?
Jörg: Die Unabhängigkeit der Forschung stelle
ich nicht in Frage. Es sind häufig die Lehrstuhl-
inhaber selbst, die an mich als Vorsitzenden des
Hochschulausschusses herantreten, weil sie um
den Fortbestand ihres Faches fürchten, wenn die
Hochschulleitung eine Neustrukturierung der Mit-
telzuteilung vornehmen will. Geht es dabei zum
Beispiel um Fächer, die wichtige gesellschaftliche
Handlungsfelder betreffen, teile ich die Besorgnis.
Das Beispiel mag illustrieren, dass hochschulau-
tonom getroffene Entscheidungen sich selbstver-
ständlich der öffentlichen Kritik stellen müssen
und eine weitere Verschiebung von Kompetenzen
sehr sorgfältig zu prüfen ist.
Cog!to: Herr Nida-Rümelin, die meisten
Philosophie-Dozenten und auch Philosophie-
Studenten sehen die Situation des Ethik-
Unterrichts an bayerischen Schulen sehr
kritisch. Was wäre Ihr Ansatzpunkt zur Reform?
Nida-Rümelin: Die Situation des Ethikunterrichtes
an bayrischen Schulen ist in der Tat nicht nur kri-
tisch, sondern auch unverantwortlich. Hier werden
Lehrerinnen und Lehrer auf ein Fach vorbereitet,
von dem sie viel zu wenig verstehen, um es sub-
stanziell zu unterrichten. Meine Fakultät hat dar-
auf reagiert und bietet nun ein Studium an, das die
notwendige Qualifikation sicherstellt. Allerdings
können wir niemanden zwingen, dieses Angebot
auch anzunehmen; es gibt einfachere Wege zur
Zulassung als Ethiklehrer.
Die Regelung eines sogenannten Ergän-
zungsfaches ohne Erfordernis eines Studiums hat
im Grund zu einer skandalösen Situation geführt,
dieses anspruchsvolle Fach kann an bayerischen
Schulen, auch an Gymnasien ohne Fachausbildung
Parteinahme
72 cog!to 06/2013
unterrichtet werden. Dabei ist es überhaupt nicht
nachzuvollziehen warum die Ethik als Unterrichts-
fach in Bayern derart stiefmütterlich behandelt
wird.
Bayern schießt hier bundesweit den Vogel
ab. Ich halte es zudem für problematisch, wenn
die Ethiklehrerausbildung von Klerikern, Theolo-
gen oder kirchlichen Einrichtungen geleistet wird,
wie weithin üblich. Diejenigen Schülerinnen und
Schüler, die statt dem Religionsunterricht den
Ethikunterricht wählen, haben dafür ihre Gründe
(das muss keineswegs heißen, dass sie selbst nicht
religiös sind), diese wollen nicht im Ethikunterricht
einen konfessionell geprägten Unterricht erhalten.
In diesem Bereich besteht ein dringender Reform-
bedarf, besonders in Bayern.
Cog!to: Herr Nida-Rümelin, Sie würden also
gerne den Ethikunterricht aufgewertet sehen,
nicht den Religionsunterricht abgewertet. Ist es
überhaupt zu rechtfertigen, dass mit dem
konfessionellen Religionsunterricht den Kirchen
die religiöse Erziehung der Schüler durch
Steuergelder finanziert wird?
Nida-Rümelin: Ja, denn wir leben nicht in ei-
nem laizistischen, sondern in einem Staat, der das
Neutralitätsgebot zu beachten hat. Er darf Kon-
fessionsgemeinschaften und Weltanschauungs-
gemeinschaften fördern, aber er muss alle gleich
behandeln. Es darf also keine Bevorzugung christ-
licher Glaubensgemeinschaften und christlichen
Religionsunterrichtes unter Verweis auf kulturelle
Traditionen geben. Ich bin für einen gemeinsamen,
verpflichtenden, konfessionsungebundenen Ethik-
unterricht, würde aber empfehlen, parallel dazu
konfessionsgebundenen und konfessionsfreien
Religionsunterricht ebenfalls als Pflichtfach anzu-
bieten. Die Religionswissenschaft als konfessions-
ungebundenes Fach hat sich an den Universitäten
etabliert und könnte einen konfessionsungebun-
denen Religionsunterricht neben dem konfessi-
onsgebundenen garantieren.
Cog!to: Die Exzellenzinitiative läuft 2017 aus.
Was soll Ihrer Meinung nach darauf folgen?
Braucht es stärkere Grundfinanzierung oder
mehr wettbewerbsorientierte Gelder für die
Hochschulen?
Bulfon: Die FDP setzt sich sehr dafür ein, das Ko-
operationsverbot im Hochschulbereich zu lockern
und über die Projektförderung hinaus auch die
institutionelle Förderung durch den Bund und so-
mit eine bessere finanzielle Ausstattung der Hoch-
schulen zu ermöglichen. Auf Initiative von Wissen-
schaftsminister Wolfgang Heubisch wurde eine
entsprechende Grundgesetzänderung vom Bun-
deskabinett eingeleitet. Leider blockieren die rot-
grün regierten Länder das Gesetz im Bundesrat.
Abgesehen davon spricht sich die bayerische FDP
dafür aus, die Grundfinanzierung der Hochschulen
zu stärken und das Verhältnis von Grund- zu Dritt-
mitteln neu auszutarieren.
Cog!to: Was genau schwebt Ihnen vor, wenn Sie
von einer neuen Austarierung des Verhältnisses
von Grund- und Drittmitteln sprechen? Ist gegen
private Drittmittel an sich überhaupt etwas
auszusetzen?
Bulfon: Ich halte die Unterscheidung zwischen
privaten Drittmitteln und öffentlichen Drittmitteln
für nicht zielführend. Beide sind auf zeitlich befris-
tete Projekte beschränkt. Der Anteil an Drittmitteln
beträgt in Bayern derzeit etwas mehr als 20 Pro-
zent, wobei davon wiederrum etwa 30 Prozent
aus privaten Quellen stammt. Der Löwenanteil der
Drittmittel kommt von der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft und von Programmen der EU, des
Bundes und der Länder. Grundsätzlich begrüße ich
steigende Drittmittel, egal ob privat oder öffent-
lich. Dies hat auch den positiven Effekt, dass die
Hochschulen durch diversifizierte Einkommens-
quellen unabhängiger werden. Dennoch brauchen
die Hochschulen Planungssicherheit durch mehr
Grundmittel. Nur auf diese Weise kann ein stetiger
Lehr- und Forschungsbetrieb inklusive Grundla-
genforschung aufrecht erhalten werden.
Cog!to: Was sollte Ihrer Meinung nach 2017
kommen, Herr Nida-Rümelin?
Parteinahme
73cog!to 06/2013
„Um den Frauenanteil zu erhöhen, kommen deshalb nur Maßnahmen in Betracht, die Frauen und Mänern bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützen.“ - Annette Bulfon
Nida-Rümelin: Die Exzellenzinitiative in ihrer jet-
zigen Form sollte nicht fortgesetzt werden, sie hat
ihre Erfolge durch Profilbildung und neue Koope-
rationen auch zwischen universitärer und auße-
runiversitärer Forschung gehabt, bindet aber auf
die Dauer zu viele Kräfte und produziert zu viele
Verlierer. Der entscheidende Standortnachteil
deutscher Universitäten im Vergleich zu internati-
onalen Spitzenuniversitäten ist die unzureichende
Grundfinanzierung und das ungünstige Betreu-
ungsverhältnis. Darauf muss also der Hauptakzent
gelegt werden. Die Exzellenzinitiative hat zudem
dazu geführt, dass die Lehre gegenüber der For-
schung in manchen Bereichen vernachlässigt wur-
de. Die Tendenz der Entkoppelung von Forschung
und Lehre ist problematisch. Ich empfehle daher
die bisher in der Exzellenzinitiave eingesetzten Mit-
tel weiterhin zur Verfügung zu stellen, aber mit ei-
ner Fokussierung auf die Stärkung der Grundfinan-
zierung und der Lehre an den Universitäten. Auch
hier kann man sich Elemente der Konkurrenz und
Anreize für neue Kooperationen, auch zwischen
universitären und außeruniversitären Einrichtun-
gen, auch zwischen Universitäten gut vorstellen.
Cog!to: Wie würden Sie sich so ein Anreizsystem
vorstellen?
Nida-Rümelin: Ich könnte mir vorstellen, eine
bundesweite Einrichtung zu schaffen, die der
Deutschen Forschungsgemeinschaft vergleich-
bar ist, aber nun nicht Forschung fördert, sondern
Lehre. Diese könnte nicht nur unterschiedliche An-
gebote zur Fortbildung von Hochschullehrerinnen
und –lehrern unterbreiten, sondern auch exzellen-
te Lehre prämieren und dotieren sowie Lehrpro-
gramme mit Vorbildfunktion entwickeln.
Jörg: Verfassungsrechtlich bewegt sich die um-
fangreiche Bundesförderung im Rahmen des
Hochschulpakts und der Exzellenzinitiative auf
dünnem Eis. Ich möchte in diesem Zusammenhang
nicht verschweigen, dass ich einer Aufweichung
des Kooperationsverbotes zurückhaltend gegen-
überstehe. Die klare Trennung von Zuständigkei-
ten war ein Erfolg der Föderalismusreform. Für die
Hochschulen sollen die Länder uneingeschränkt
zuständig bleiben. Auch möchte ich nicht, dass im
Hochschulbau für eine wie auch immer gearte-
te Bundesfinanzierung überregional bedeutender
Vorhaben ein weiteres Länder-Finanzausgleich-
System zu Lasten Bayerns eröffnet wird.
Cog!to: Woran machen Sie fest, dass die
Trennung der Zuständigkeiten bzgl. der
Hochschulen zwischen Bund und Länder ein
Erfolg war?
Jörg: Bildung ist Ländersache. Ich möchte, dass wir
hier in Bayern festlegen, welche Schwerpunkte wir
setzen. Unsere im Bundesländervergleich gute Posi-
tion ist sicher auch ein Ergebnis dieser Schwerpunkt-
setzung. Wir haben nicht nur einige herausragende
Exzellenzuniversitäten, sondern insgesamt eine sehr
gut aufgestellte Hochschullandschaft. Dieses auch in
der Breite hohe Niveau möchte ich durch eine bes-
sere Grundfinanzierung gestärkt wissen. Meine Be-
fürchtung ist, dass der gemeinsame Wettbewerb um
Fördermittel mit anderen, weniger gut aufgestellten
Ländern nicht zugunsten Bayern ausgehen könnte.
Cog!to: An vielen Fakultäten in Deutschland gibt
es kaum weibliche Professoren. Wie erklären Sie
sich das? Sind Quotenregelungen und spezielle
Frauenförderpläne geeignete Maßnahmen oder
schafft positive Diskriminierung nur neue
Ungerechtigkeiten?
Bulfon: Wie in anderen Bereichen, so sind auch ver-
antwortliche Positionen in der Wissenschaft mit ei-
nem hohen Zeitaufwand verbunden. Um den Frauen-
anteil zu erhöhen, kommen deshalb nur Maßnahmen
in Betracht, die Frauen und Männern bei der Verein-
barkeit von Familie und Beruf unterstützen. Eine all-
Parteinahme
74 cog!to 06/2013
gemeine staatlich vorgegebene Quote ist sicherlich
nicht die Lösung, da sie die unterschiedlichen Bedin-
gungen sowohl an den einzelnen Hochschulen als
auch zwischen den verschiedenen Fächern ausblen-
det. Dem Ausbau der Kinderbetreuung an den Hoch-
schulen kommt daher eine entscheidende Rolle zu.
Jörg: Solange der Frauenanteil in der Wissen-
schaft, sei es an unseren Hochschulen oder in den
außeruniversitären Einrichtungen, signifikant nied-
riger ist, halte ich spezielle Förderprogramme für
geboten. Dazu zählen beispielsweise die verschie-
denen Stipendienprogramme im Rahmen des bay-
erischen Programms zur Förderung der Chancen-
gleichheit für Frauen in Forschung und Lehre oder
die Maßnahmen im Rahmen des Nationalen Paktes
für Frauen in MINT-Berufen. Strenge Quotenrege-
lungen gibt es in der Wissenschaft nicht und würde
ich auch nicht für zielführend halten.
Nida-Rümelin: Ich selbst war und bin ein Gegner
von Quoten jeglicher Art, weil dies im Einzelfall
mit Ungerechtigkeiten und mit Fehlsteuerungen
einhergeht. Zugleich aber ist die geringe Zahl von
Frauen in der Professorenschaft völlig inakzep-
tabel. Ich selbst habe durch meine eigene Nach-
wuchsförderung als Lehrstuhlinhaber in Göttingen
und in München gezeigt, dass es auch anders geht.
Die Universitäten haben nicht nur für Frauen, son-
dern auch für Männer dafür zu sorgen, dass Fami-
lienarbeit und wissenschaftliche Karriere vereinbar
sind. Da liegt noch sehr viel im Argen. Die Quali-
fizierungswege in Deutschland bis zu einer Pro-
fessur sind zu lang, und wirken sich speziell gegen
Frauen mit Familienplanung aus.
Cog!to: Die Fakultät für Philosophie hat sich in
ihrem Frauenförderplan dafür ausgesprochen,
dass in einem bestimmten Prozentsatz der
anstehenden Berufungen, die Wahl auf
Frauen fällt. Kommt das nicht faktisch einer
Quote gleich? Wie können Sie das als Dekan
damit vereinen, dass Sie gegen Quoten jeder Art
sind?
Nida-Rümelin: Nein, das ist keine starre Quote,
sondern eine Zielsetzung, die mit der Zielsetzung
der LMU als ganzer und den Zielsetzungen des
Wissenschaftsrates im Übrigen koordiniert ist. Es
ist rechtlich zulässig, bei gleicher Eignung Frauen
zu bevorzugen, von dieser Möglichkeit wird viel zu
selten Gebrauch gemacht. In zwei Berufungsver-
fahren, in denen ich Kommissionsvorsitzender war,
habe ich mich mit Erfolg dafür eingesetzt, dass wir
von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, was im
einen Fall zu einem Listenplatz 1 für eine Frau und
im anderen Fall zu einer rein weiblichen Liste ge-
führt hat.
Cog!to: Vielen Dank Ihnen allen für Ihre Zeit und
das interessante Gespräch!
Das Interview führten
Daniel Hoyer und Lukas Leucht.
Parteinahme
„Ich selbst war und bin ein Gegner von Quoten jegli-cher Art, weil dies im Einzel-fall mit Ungerechtigkeiten und mit Fehlsteuerungen einhergeht.“ - Julian Nida-Rümelin
75cog!to 05/2013
Zu Dr. Annette Bulfon:
Dr. Annette Bulfon ist seit 2008 Mitglied der FDP-Fraktion im Bayerischen Landtag
und Sprecherin für Hochschule, Forschung und frühkindliche Bildung. Sie ist
Kuratoriumsmitglied der LMU und der Hochschule für Politik München. Nach ihrem
Studium der Pharmazie in Mainz absolvierte sie ihre Promotion zum Dr. hum. biol. an
der LMU. Aus ihrer Forschungszeit resultieren Patenterteilungen in Europa, den USA
und Japan. Für die FDP engagiert sie sich seit 2005. Vor ihrem Einzug in den Landtag
war die FDP-Politikerin stellvertretende Vorsitzende im Landesfachausschuss Bildung
der FDP Bayern und hat sich früh mit der Formulierung von liberaler Hochschul- und
Wissenschaftspolitik beschäftigt. Dr. Bulfon ist verheiratet und Mutter von vier Kindern.
Zu Oliver Jörg:
Oliver Jörg (CSU) gehört seit 2008 als Abgeordneter des Stimmkreises Würzburg-Stadt
dem Bayerischen Landtag an. Er ist Vorsitzender des Ausschusses für Hochschule,
Forschung und Kultur im Landtag und hochschulpolitischer Sprecher seiner Fraktion.
In der unterfränkischen CSU leitet er den Arbeitskreis für Hochschule und Kultur. Der
gebürtige Aalener zog 2000 nach Würzburg und beendete hier nach Stationen in
Passau und Linz sein Jurastudium. Während seiner Studienzeit in Passau war er 1996-
97 Vorsitzender des Rings Christlich Demokratischer Studierender (RCDS) Passau und
1997-98 Vorsitzender des RCDS in Bayern. Der 40-Jährige ist verheiratet und hat drei
Kinder.
Zu Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin:
Julian Nida-Rümelin (*1954) entstammt einer Münchner Künstlerfamilie. Er studierte
Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft, wurde in Philosophie bei
Wolfgang Stegmüller promoviert, war dann wissenschaftlicher Assistent in München
und habilitierte dort 1989. Nach einer Gastprofessur in den USA übernahm er erst
einen Lehrstuhl für Ethik in den Bio-Wissenschaften an der Universität Tübingen, dann
für Philosophie an der Universität Göttingen. Anschließend folgte er einem Ruf an
den Lehrstuhl für politische Theorie und Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut
der Ludwig-Maximilians-Universität München, dessen Direktor er von 2004 bis 2007
war. Er wechselte 2009 innerhalb der LMU und wurde zum Ordinarius für Philosophie
und politische Theorie ernannt. Seit 2009 ist er Dekan der Fakultät für Philosophie an
der LMU. Von 1998 bis 2000 war JNR Kulturreferent der Landeshauptstadt München
und von 2001 bis 2002 Staatsminister im ersten Kabinett Schröders. JNR hat bis heute
zahlreiche Bücher verfasst, die sich mit Themen aus der Praktischen Philosophie und
Politischen Theorie befassen. Zuletzt erschienen sind (2013): Kinderphilosophie
(Knauss) und Bildungsphilosophie (Irsiana).
75cog!to 06/2013
76 cog!to 06/201376
Des Pudels Kern: Wie viel Philosophie steckt in der Politik? - Ein Gespräch im Landtag
Das Interview führte Daniel Hoyer
Der satz ist zentral. Ihn anzuzweifeln, bedeutet nichts geringeres, als ins Herz eines der größten Philoso-
phen zu stechen: „Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den staaten oder die heutigen
sogenannten Könige und Gewalthaber sich aufrichtig und gründlich mit Philosophie befassen (…) gibt es
(…) kein Ende des Unheils für die staaten“ (Platon, Politeia, 473 c f.). Begeben wir uns 2500 Jahre weiter in
das Hier und Jetzt, fällt die Beobachtung der politischen Wirklichkeit für den eingefleischten Platoniker er-
nüchternd aus. Weder haben wir einen König, noch regiert dort, wo es noch einen gibt, ein Philosophen-
könig (und folglich wurde das Unheil der staaten auch nicht überwunden, tatsächlich nicht). Doch selbst
in so unplatonischen Zeiten, gibt es philosophische Lichtblicke: Im kleinen Bayern haben sich einige wa-
ckere Philosophen in der Nachfolge gestürzter Monarchen in den Ecken des Landtages gehalten. Wie steht
es dort um die philosophischen Dimensionen der Politik, um den Masterplan, die staaten endgültig von
ihrem Unheil zu befreien? Um die Antwort vorweg zu nehmen: Auch hier wird der Platoniker gesenkten
Hauptes gehen dürfen. statt dessen wird uns dieser streifzug durch die verwachsenen Grenzzäune zwi-
schen Philosophie und Politik in ganz andere Gefilde führen – und zeigen, was philosophisches Fragen
heute noch in der Politik zu suchen hat. Unser Gesprächspartner ist hier nun Dr. sepp Dürr (Die Grünen),
seines Zeichens forschungs- und kulturpolitische sprecher der grünen Landtagsfraktion – und ehemals
Philosophiestudent; mit ihm wollen wir einen Grenzgang wagen. Gibt es philosophische Fragen, die in der
Politik eine rolle spielen?
Parteinahme
77cog!to 06/2013
Cog!to: Kommen Sie in der Politik ab und an auf
philosophische Fragen zurück oder erinnern
Sie sich durch Ihre politische Arbeit an
philosophische Problemstellungen?
Sepp Dürr: Bei der Art und Weise, wie man Proble-
me angeht. Ich versuche die Themen einheitlich zu
durchdenken und immer auch im Blick zu haben,
wo es am Ende hingeht; also kurz gesagt: Schnell-
schüsse liegen mir bei meiner Arbeit eher fern.
Cog!to: Sie sprechen davon, Sachfragen
gewissermaßen vom Ende her zu denken; wenn
wir nun in die Politik sehen und die dortigen
Prozesse philosophisch untersuchen, ergeben
sich folgende Anknüpfungspunkte: Zum einen
methodische Fragen, die den Entscheidungs-
prozess betreffen und zum anderen Fragen über
das Verhältnis von politischer Entscheidung
und Moral. Zum ersten Punkt: Wenn wir uns
kollektive Entscheidungsprozesse ansehen: Was
ist wichtiger: Der Diskurs, der zur Entscheidung
führen soll, oder die Entscheidung selber?
Dürr: Eindeutig der Diskurs, weil er ganz wesent-
lich ist, um Entscheidungen und gesellschaftliche
Veränderungen letztendlich praktisch werden zu
lassen. Das zeigt sich meiner Meinung nach am
besten an Hand der Debatte über die doppel-
te Staatsbürgerschaft: Das Gesetz wurde damals
mit eindeutiger parlamentarischer Mehrheit auf
den Weg gebracht; weil man aber zu wenig in die
Diskussion mit der Bevölkerung gegangen ist, die
diesen Diskurs ganz wesentlich mittragen muss,
haben sich letztlich Komplikationen ergeben –
über die damaligen Kampagnen des hessischen
Ministerpräsidenten hinaus –, die zu den nachträg-
lichen Debatten geführt haben, die wir jetzt füh-
ren müssen. Das zeigt für mich ganz exemplarisch,
dass politische Entscheidungen immer vorbereitet
sein müssen, und zwar durch einen Diskurs mit der
ganzen Bevölkerung.
Cog!to: Auf die Frage nach der Rolle der
Bevölkerung für die Legitimität einer
politischen Entscheidung werden wir später
noch genauer eingehen, jetzt möchte ich aber
zum zweiten Teil der Frage übergehen, nämlich
dem Spannungsverhältnis von Entscheidung
und Moral: Wenn Sie in Ihre Vergangenheit
zurück blicken, erkennen Sie dann Konflikte
zwischen Ihren Moralvorstellungen und den
Entscheidungen, denen man sich verpflichtet
fühlt und wenn ja: Wie sind Sie damit
umgegangen? Dürr: Einen echten Gewissenskonflikt hatte ich
noch nie. Das liegt sicher auch daran, dass bei uns
bayerischen Grünen, zumindest seit ich dabei bin
(1997/98 Anm. d. Red.), alle wesentlichen aktuellen
Grundsatzfragen weitgehend ausdiskutiert sind.
Man muss aber dazusagen: Das betrifft unseren
Zustand als Oppositionspartei. Solange wir nicht
regieren, wird es bei uns kaum strittige Themen ge-
Parteinahme
78 cog!to 06/2013
ben. Das einzige Mal, dass ich nicht mit der Frakti-
on einer Meinung war, betraf unseren Gesetzentwurf
zum Nichtraucherschutz, laut dem auch im Freien
das Rauchen verboten werden sollte – das ging mir
dann zu weit und ich habe nicht mitgestimmt.
Cog!to: Die persönliche Integrität zählt für Sie
also mehr als ein hypothetischer
Fraktionszwang?
Dürr: Sollte es im Vorfeld von Entscheidungen zu
Meinungsverschiedenheiten kommen, überlegt
man es sich aus pragmatischen Gründen oft zwei-
mal, bevor man tatsächlich den Streit sucht und
sich gegen die Fraktionsmehrheit stellt: Denn wenn
man selber eine Entscheidung durchsetzen möch-
te, muss man sich auch der Solidarität der Ande-
ren sicher sein können. Daher wird man im Zweifel
versuchen, die Anderen so weit wie möglich zu un-
terstützen und erst im äußersten Fall dazu überge-
hen, einen offenen Dissens auszutragen. Und in so
einem Fall wird man mit dieser Meinungsverschie-
denheit verantwortungsvoll umgehen müssen und
nicht bloß auf den Eigennutz schauen; so hat dann
auch niemand ein Problem damit.
Max Weber erklärt in seinem Vortrag „Wissen-
schaft als Beruf“, Politik gehöre auf den Markt-
platz, aber nicht in die Universität. Heute hinge-
gen wird immer öfter die „unpolitische“ Haltung
der jungen Leute kritisiert. Hatte Weber Unrecht?
Cog!to: Welche Rolle sollte Politik in der
Bildung spielen?
Dürr: Ich glaube, das Hauptproblem ist kein ko-
gnitives; sondern dass wir stärker für unsere De-
mokratie und die Chancen, die sie bietet, werben
müssen. Ich glaube, hier fehlen bereits in der Schu-
le positive Erfahrungen. Für mich war der Prozess,
in die Politik einzusteigen, ein spiralförmiger Pro-
zess: Ich engagiere mich, davon habe ich etwas,
es macht mir Spaß und darum mache ich wieder
mehr und so weiter. Und genauso denke ich, sollte
es schon in der Schule laufen. Da fehlen einfach
ganz entscheidende demokratische Mitsprache-
möglichkeiten. Und dasselbe gilt fürs Studium:
Die dominierende Politik, also die schwarz-gelbe
Politik und auch davor schon, hat die Studieren-
den systematisch in die Rolle der Konsumenten
gedrückt; man kann aber nicht beides gleichzeitig
sein: Konsument und mündiger Bürger. Entweder
kann man etwas nur hinnehmen oder ablehnen,
bleibt dabei aber immer passiv, oder aber man
kann sich wirklich kritisch zu den Dingen verhalten
und sie mitgestalten.
Cog!to: Wenn Sie davon sprechen, den Leuten
die Politik bereits in der Schule und dann auch
im Studium wieder „schmackhaft“ zu machen,
wo sehen Sie den geeigneten Hebel für eine
solche Veränderung? Sollte man eher
theoretisch vorgehen und bereits in der
Schule ethische und politische Themen
verstärkt behandeln, oder sollte die Devise
„Learning by Doing“ heißen, sodass man die
Menschen schrittweise durch verstärkte
Mitbestimmungsmöglichkeiten an die Politik
praktisch heranführt?
Dürr: Ich setze da auf eine Verbindung von bei-
dem: So wie der Unterricht ganz allgemein mehr
praxisorientiert sein sollte und mehr auf Eigenlern-
prozesse gehen muss, so muss es in der Demokra-
tie auch sein. Natürlich gibt es bei vielen Menschen
Defizite beim Wissen über politische Systeme – ein
Problem, das in der Schule theoretisch angegangen
werden muss. Aber zentral ist auch der praktische
Bezug: Wenn man diese Dinge selber ausprobieren
kann, beispielsweise in didaktischen Rollenspielen,
wobei die Jugendlichen politische Prozesse nach-
spielen können – ich selber habe solche Projekte
in der letzten Legislatur begleitet –, entwickelt sich
automatisch ein besseres Gefühl für die politische
Wirklichkeit. Man kann bei Projekten mit Schülern
nämlich schon beobachten, dass sich im Spiel die-
selben Muster einstellen, die im tatsächlichen Po-
litikleben auch dominieren. Ich erinnere mich da
zum Beispiel an die Zeit der absoluten Mehrheit
der CSU im Landtag. Damals war klar, dass es eine
renitente Opposition gegen das beinahe arrogante
Ausspielen der Mehrheitsverhältnisse im Landtag
geben musste. Und genau denselben Effekt konnte
man in ähnlichen Situationen im Rollenspiel auch
Parteinahme
79cog!to 06/2013
erkennen. Aber was sich ändern muss, geht über
das Spiel hinaus. Die jungen Menschen müssen
auch bei der echten Entscheidungsfindung in der
Schule und der Universität ernst genommen wer-
den, sonst stellt sich der Lerneffekt nicht ein.
Cog!to: Sie sprachen davon, dass eine
Verzahnung von praktischer politischer
Erfahrung und theoretischer Begleitung
besonders wichtig ist. Wie denken Sie, lässt
sich eine solche Verbindung in der Schule am
besten umsetzen? Braucht es dazu womöglich
ganz andere Lehrformate?
Dürr: Es ist gut möglich, dass ich an dieser Stelle
durch mein Studium geschädigt bin! (lacht) Aber
ich gehe davon aus, dass dieses Ineinandergrei-
fen von Theorie und Praxis unabdingbar ist: Praxis
ohne Theorie funktioniert einfach nicht. Im Ideal-
fall sollte die Praxis durch den Lehrenden von the-
oretischen Überlegungen kontinuierlich beglei-
tet werden. Wenn ich beispielsweise in so einem
schulischen Rollenspiel mit den Schülern ein Un-
ternehmen führen soll, dann muss ich auch punk-
tuell Grundkenntnisse über das Wirtschaftsleben
vermitteln, damit das Handeln der Schüler auch
bewusst von Statten geht.
Den Einen ist sie ein schreckgespenst, den An-
deren ein segen: die Gentechnik. Gleichzeitig
ist das ringen um ein adäquates Verhältnis zur
Gentechnik geradezu ein Lehrstück über das
Verhältnis von Politik und Wissenschaft. Wie
geht man in politischer Verantwortung mit ei-
nem hochkomplexen, wissenschaftlichen The-
ma um? Wie sind hier Fortschritt und Verant-
wortung zu vereinbaren?
Cog!to: Politiker sind oft in der unangenehmen
Situation, zu hochkomplexen Themen
Stellung beziehen zu müssen und
Entscheidungen, die für den einfachen
Bürger kaum noch verständlich sind, vertreten
zu müssen. In diesem Rahmen stellen sich zwei
Fragen: Erstens, wie vermittelt man der
Bevölkerung eine solche Entscheidung und
zweitens, wie ist die Rolle der Mehrheitsent-
scheidung hier einzustufen? Wie geht man also
Parteinahme
„Da [in der Schule] fehlen ein-fach ganz entscheidende de-mokratische Mitsprachemög-lichkeiten. Und dasselbe gilt fürs Studium.“
80 cog!to 06/2013
mit Situationen um, in denen die Bevölkerungs-
mehrheit nicht optimal über eine Thema aufge-
klärt ist und dementsprechend eigentlich keine
vernünftige Entscheidungsgrundlage hat?
Dürr: Der Knackpunkt hier dürfte wohl der sein,
dass politische Fragen nicht wissenschaftlich ent-
schieden werden können, sondern eben politisch.
Cog!to: Aber wie kann eine solche Entschei-
dung vernünftig getroffen werden, wenn das
Thema ohne den notwendigen wissenschaft-
lichen Hintergrund gar nicht sinnvoll erfasst
werden kann?
Dürr: Gegen die wissenschaftliche Erforschung
von Problemfeldern wie der Gentechnik ist auch
gar nichts einzuwenden; nur die Diskussion hat
sich ja auf den Einsatz der Gentechnik bezogen.
Und dieser Diskurs ist dann ein politischer, in dem
auch politische und nicht wissenschaftliche Mei-
nungen ausgetauscht werden, die ein jeder für sich
haben kann. Eine Entscheidung über das Thema ist
also keine wissenschaftlich fundierte, sondern eine
wertefundierte Entscheidung. Dass bei solchen
politischen Fragen keine wissenschaftlich eindeu-
tigen Entscheidungen getroffen werden, hat sich
ja schon gezeigt, indem Platon mit seiner Idee der
Philosophenherrschaft praktisch gescheitert ist.
Und das gleiche Scheitern sieht man nun bei den
Fachleutekabinetten im heutigen Europa, zum Bei-
spiel in Italien unter Mario Monti. Denn auch un-
ter den besten Fachleuten werden in der Politik
Werte-Entscheidungen getroffen. Und an welchen
Werten orientieren sie sich, als an ihren eigenen?
Und so war auch die ganze Gentechnik-Diskussi-
on bei uns letztlich keine wissenschaftliche. Viel
schlimmer ist noch, dass sie pseudo-wissenschaft-
lich geführt wurde: Da haben Wissenschaftler über
politische Themen diskutiert, in diesem Fall woll-
ten uns Biochemiker etwas über den Welthunger
erzählen – über Themen also, von denen sie gar
keine Ahnung hatten. Das heißt es war eine grund-
legend schiefe Argumentation, in der man die The-
menfelder sauber hätte trennen müssen.
Cog!to: Damit aber geht ein anderes Problem
einher: Sie sagten, dass die politische Ent-
scheidung der Anwendung von Technik eine
wertefundierte ist. Die Erforschung der Konse-
quenzen einer solchen Anwendung ist aber nur
wissenschaftlich möglich. Nun muss aber die
Entscheidung über eine mögliche Anwendung
einer neuen Technologie auch die Konsequen-
zen derselben berücksichtigen, was nur auf
wissenschaftlicher Grundlage möglich ist.
Würden Sie dann sagen, dass eine politische
Entscheidungen, die ohne Kenntnis dieser wis
senschaftlichen Grundlagen getroffen wurde,
noch eine vernünftige Entscheidung war?
Dürr: Hier gilt meiner Meinung nach die Devise:
„Wenn ich nichts gewiss weiß, bin ich gut beraten,
wenn ich zur Vorsicht neige.“ Eine solche Entschei-
dung ist dann durchaus vernünftig, weil sie mit
der mangelnden Gewissheit verantwortungsvoll
umgeht. Ich kann natürlich auch politisch mit der
Devise „Auf in den Fortschritt“ gut argumentieren;
man hat seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts
fest geglaubt, dass man gut beraten sei, wenn man
dem wissenschaftlich-technologischen Fortschritt
blind hinterher läuft. Nur daran gibt es mittlerweile
erhebliche Zweifel. Wenn das Wissen bescheiden
ist, dann sollte ich meine politischen Entscheidun-
gen daran anpassen.
Politik erschien den meisten Menschen entwe-
der als abgekartetes Intrigenspiel oder besten-
falls noch als weltfremdes Herumdiskutieren
„da oben“; seit stuttgart 21 spätestens sollte die-
ses Bild passé sein. Aber wie funktioniert nun so
etwas genau, ein „politisches Leben“, noch dazu
als Beruf?
Cog!to: Im Kern der Frage geht es also darum,
welche Voraussetzungen man für ein Leben als
Politiker mitbringen sollte.
Dürr: Es gibt nur eine Voraussetzung, nämlich ein
politisches Interesse.
„Denn auch unter den besten Fachleuten werden in der Poli-tik Werte-Entscheidungen ge-troffen.“
Parteinahme
81cog!to 06/2013
Cog!to: Das können wir mit Max Weber etwas
konkretisieren: Er nennt zwei verschiedenen
Formen des Umgangs mit politischen Entschei-
dungen, nämlich die Gesinnungs- und die Ver-
antwortungsethik und stellt dabei für ein Leben
als Politiker letztere in den Vordergrund.
Wie würden Sie entscheiden?
Dürr: Ich halte diese Unterscheidung für nicht so
relevant. Wenn ich meinen politischen Alltag be-
trachte, dann erkenne ich die unterschiedlichsten
Politikertypen, die alle gute Arbeit leisten, unabhän-
gig von dieser Unterscheidung. Viel wichtiger ist das
politische Interesse einer Person. Die Unterschiede
bei der ethischen Herangehensweise sind statt-
dessen ein ganz entscheidendes Motiv für die Ini-
tiierung eines politischen Diskurses und daher halte
ich es für sinnvoll, dass man hier auch eine gewisse
Diversität hat.
Cog!to: Das heißt, die Art und Weise, wie der
Einzelne seine ethischen und politischen
Überzeugungen strukturiert, ist für die Eignung
als Politiker zweitrangig.
Dürr: Für einen selber ist das natürlich nicht zweit-
rangig, aber für den Politiker als „Typ“ schon.
Cog!to: Gut, dann stelle ich die Frage als Frage
nach Ihrer persönlichen Meinung: Was ist besser
in der Politik: Gesinnungs- oder Verantwor-
tungsethik?
Dürr: Ich bin für beides. Sie kennen ja den alten
Konflikt bei uns zwischen Realos und Fundis, den es
mittlerweile auch nur noch auf dem Papier gibt. Die-
ser Konflikt war mir nie verständlich, weil ich schon
immer der Meinung war, dass man fundamentale
Ziele nur mit realistischen Schritten erreichen kann.
Cog!to: Also können gewissermaßen die ethi-
schen Ziele, die man sich als absolut setzt, nur
gemessen an dem, was möglich ist, überhaupt
erreicht werden.
Dürr: Ja. Alles, was auf dem Weg dahin anfällt, ist
positiv, wenn nur die Richtung stimmt.
Cog!to: Schult politisches Handeln – und die da-
mit einhergehenden abstrakten Fragestellungen
– den Blick fürs Konkrete? Kann ein politischer
Mensch womöglich sogar den praktischen Le-
bensalltag besser meistern als ein unpolitischer
Mensch?
Dürr: Ich denke durch die Ausgestaltung meines
Lebens in der Politik wesentlich zielorientierter. Also
„schön, dass wir darüber gesprochen haben“, ist
nicht mehr mein Motto; mein Handeln muss auch
wirklich einen erkennbaren Erfolg haben.
Cog!to: Sie haben sich intensiv mit dem Thema
Kulturpolitik befasst. Daher stellt sich die
Frage, ob sich Ihr Blick auf die damit verbunde-
nen Themenfelder durch Ihre politische Ausei-
nandersetzung mit ihnen in irgendeiner Weise
verändert hat?
Dürr: Ja, und zwar, dass mir die unterschiedlichen
Funktionen, die Kunst und Kultur in unserer Ge-
sellschaft spielen, insbesondere im vorpolitischen
Raum, stärker ins Auge stechen.
Cog!to: Was meinen Sie mit dem „vorpolitischen
Raum“?
Dürr: Dass die Art und Weise, wie wir die Welt se-
hen und uns selber bestimmten Gruppen zuordnen,
auch kulturelle Fragen sind. Genauer: Dass das kul-
turelle Fragen sind, die auch politische Konsequen-
zen haben. Zum Beispiel, dass Gender-Fragen oder
wie wir traditionell in Deutschland „Macht“ verste-
hen, oder, dass gerade in Bayern die Identifikation
mit dem eigenen Land eine so große Rolle spielt –
das sind alles indirekt politisch wirksame Fragen, die
aber in der Kultur wurzeln.
Cog!to: Wenn Sie also aus den beiden eben
besprochenen Fragen ein Fazit ziehen müssten,
können Sie dann Parallelen ziehen zwischen
dem durch die Politik geschärften Blick auf die
Wirklichkeit auf der einen und dem durch die
Kultur geschärften Blick auf die Wirklichkeit auf
der anderen Seite?
Dürr: Ich denke, weil Kunst und Kultur eine iden-
tifikatorische Funktion haben, also dass sich durch
eine gemeinsame Kultur Gruppenzugehörigkeiten
herausbilden, kann man auch an ihr sich verändern-
de gesellschaftliche Tendenzen ablesen. Und ge-
nau das geht durch die Politik natürlich auch. Daher
sehe ich da sehr wohl gewisse Parallelen.
Parteinahme
82 cog!to 06/2013
Cog!to: „Leben und leben lassen“ - Diesen Sinn-
spruch weist Ihre Homepage als Ihr Motto aus.
Wie gestaltet sich dabei das Verhältnis des Poli-
tiker, dessen Job gewissermaßen das „Leben
der anderen“ ist, zum Bürger, dessen Leben
doch nur das seinige ist? Um es etwas präzi-
ser zu formulieren: Wie gehen Sie mit dieser
Doppelrolle als Politiker, der gestaltet, und als
Bürger, dessen Leben dem Rahmen nach
gestaltet wird, um?
Dürr: Normalerweise ist es möglich, beide Rollen
unter einen Hut zu bringen: Wenn ich eine Ent-
scheidung getroffen habe, die ich für richtig halte,
dann ist es mir auch möglich, die unangenehmen
Konsequenzen daraus in Kauf zu nehmen.
Cog!to: Damit vertreten Sie eine Position die
der von Jean-Jacques Rousseau sehr ähnelt.
Vergleichen wir dieses Konzept einer Verbin-
dung der Rollen als Politiker und Bürger nun
mit einem Gegenentwurf nach Gerald Gaus:
Diesem zufolge ist der öffentliche Raum, in
dem der Politiker immer Zwangshandlungen
gegenüber dem Bürger vornimmt, strikt vom
privaten Raum des Bürgers, der diesem Zwang
ausgesetzt ist, zu trennen. Inwiefern würden
Sie diesen Gegenentwurf kritisieren?
Dürr: Die letzte Finanzkrise und auch der bevorste-
hende Klimawandel zeigen uns, dass wir dringend
auf vielen Gebieten des Lebens bessere Regeln
brauchen. Aber gleichzeitig zeigt sich uns, dass wir
als Politiker diese Regeln nicht alleine aufstellen
können; wir müssen sie im Diskurs und im Kon-
sens mit der Bevölkerung erarbeiten. Das heißt, wir
müssen für uns alle gemeinsam Regeln finden, wie
wir alle verträglich zusammen leben können. Und
das geht nur mit allen zusammen: Einseitige Ent-
scheidungen lassen sich nicht umsetzen.
Cog!to: Womit wir den Kreis zum Anfang des
Gesprächs geschlossen hätten. Vielen Dank für
Ihre Zeit.
Das Interview führte
Daniel Hoyer
„Wir müssen für uns alle ge-meinsam Regeln finden, wie wir alle verträglich zusam-men leben können. Und das geht nur mit allen zusammen: Einseitige Entscheidungenlassen sich nicht umsetzen.“
Parteinahme
83cog!to 06/2013
Am 13. November des letzten semesters fand wieder die – inzwischen schon fast Traditi-on gewordene – Bibliotheksnacht der Fach-schaft Philosophie statt. Thema war diesmal „Meine Lieblingspolemik“, was ein bisschen schwung in den sonst doch leisen, konzen-trierten und argumentativen Umgang in der Bibliothek brachte. Christine Bratu, Martin rechenauer, Gregor Oliver staudinger und Peter Adamson stellten ihre Favoriten vor.
Die vier Vortragenden redeten sich mächtig in
Rage und zeigten, dass der Streit um die Wahrheit
doch bisweilen den kühlen Verstand verlässt. Den
Anfang machte Christine Bratu mit Richard Ror-
tys Aufsatz „Der Vorrang der Demokratie vor der
Philosophie“. Allein als Philosophin über Rorty zu
sprechen ist nicht ohne – er ist ein zeitgenössi-
scher Denker, der sehr polarisiert, vielen gilt er
gar als Nestbeschmutzer. Er ist wohl eine der um-
strittensten Persönlichkeiten, die sich in unserem
Fach tummeln. Frau Bratu legt Rortys Thesen dar
– dass es moralisch richtig sei, keine Philosophie
zu betreiben und praktische Philosophie nur eine
Entschuldigung sei, um Probleme nicht zu lösen.
Anders als beim gepflegten Austausch von Argu-
menten richtet sich die Kritik an Rorty oftmals auch
gegen ihn persönlich, doch Frau Bratu bleibt nah
am Text und sachlich – so sachlich man eben po-
lemisch sein kann. Immerhin spricht Rorty der Phi-
losophie ihren Deutungsanspruch und ihre Exis-
tenzberechtigung ab und hat trotzdem Lehrstühle
inne – das dürfe nicht sein, sei widersprüchlich
und inkonsequent, wird ihm vorgeworfen. So je-
mand dürfe sich nicht Philosoph nennen und nicht
dieses Fach lehren.
Frau Bratu zeichnet seine Thesen und Ar-
gumente nach, wie Rorty darauf dringt, veraltete
Begriffe wie den der Wahrheit, der Objektivität
oder des menschlichen Subjekts fallen zu lassen -
sie gehören seiner Ansicht nach in die Mottenkis-
te philosophischer Begriffe der Vergangenheit. An
ihnen weiter zu forschen und auf ihren Begriffen
neue Systeme aufbauen zu wollen, hält Rorty für
verfehlt und naiv. Auch lehnt er einen normativen
Anspruch der Philosophie ab – und interessiert
sich nur für pragmatische Aspekte einer lebens-
weltlichen Praxis. Im Bereich des Politischen hat
sich im Westen nun mal das politische System der
liberalen Demokratie herausgebildet, das die Men-
schenrechte sichert. So kann dies durchaus als das
unterstützenswerteste System gelten, da es sich
bewährt, jedoch nicht weil es „gut“ oder „gerecht“
ist - für andere Kulturkreise mag anderes gelten.
Der Philosophie spricht Rorty ihr Deutungspoten-
tial über moralische Normen ab. Die Demokratie
Polemik in der Bibliothek Die vierte Nacht im Lesesaal
Parteinahme
von Lea Watzinger
Die Demokratie habe Vorrang vor der Philosophie, ja man könnte gar sagen,
beide hätten nichts miteinander zu tun und bedürften einander nicht,
meint Rorty.
84 cog!to 06/2013
habe Vorrang vor der Philosophie, ja man könnte
gar sagen, beide hätten nichts miteinander zu tun
und bedürften einander nicht. Die liberale Demo-
kratie benötige keine philosophische Rechtferti-
gung meint er, wenn dann eher ein kollektives Nar-
rativ, das aus kulturrelevanten Prosatexten besteht,
wie z.B. dem Kommunistischen Manifest oder auch
Onkel Toms Hütte. Philosophische Luftschlösser
führen an den wichtigen Fragen und Problemen
der Welt vorbei und es wäre richtig, die Philosophie
sein zu lassen.
Auch Fußball hat sich in unserem Kulturkreis bewährt Herr Rechenauer stellt Hartmut Essers
Aufsatz „Der Doppelpaß als soziales System“ vor.
In diesem seziert der Autor genüsslich den Dop-
pelpass – ein Phänomen, das wir gemeinhin aus
dem Fußball kennen, das aber durchaus auch in
anderen Ballsportarten zu beobachten ist. Esser ist
Professor in Mannheim und bekannt für sein Mo-
dell der soziologischen Erklärung. Damit wendet er
sich gegen die Systemtheorie, die soziale Phäno-
mene lediglich beschreiben will. In seinem Aufsatz
führt er die Anwendung einer systemtheoretischen
Perspektive ins Lächerliche: Phänomene von einer
Komplexität wie der Doppelpass beim Fußball kön-
nen nicht mit hergebrachten Methoden der Sozio-
logie analysiert werden, er muss als abgeschlos-
senes System gesehen werden, als Ganzheit, die
aus Teilen besteht und sich selbst ständig repro-
duziert. Erst das Konzept der Autopoiesis macht
das Verständnis des Doppelpasses möglich. Man
muss sich entfernen von alten Terminologien und
Vorstellungen, wie der einer starken Subjektzent-
rierung oder eines Aktionismus. Der immer noch
weithin verbreitete Glaube, „Spieler“ würden „han-
deln“, „Tore schießen“, und den „Sieg anstreben“
stammt aus einer anderen Zeit. In vorzivilisatori-
schen Gesellschaft war es möglich, Fußballspiele
in ihrer vollen Länge in solche verkürzten Begriff zu
fassen.
Esser stellt die Systemtheorie dar als eine,
die das selbstverständliche in komplizierte Wor-
te fasst, etwa in dem er zu Erkenntnissen kommt,
wie „damit ein Doppelpaß existieren kann, muss es
ihn erst einmal geben“ oder „erst ein Doppelpaß
ist – ganz radikal systemtheoretisch gedacht – ein
Doppelpaß“.
Wie steht es um den Sinn von Doppelpäs-
sen? Hier muss man laut Esser mit der Systemtheo-
rie zu dem Schluss kommen. Dass der Doppelpass
ein sinnprozessierendes soziales System par excel-
lence ist. Er weist nach, dass Doppelpässe nicht
misslingen können. Herr Rechenauer reißt das
Publikum mit in seiner sichtlichen Freude darüber,
wie Esser die Systemtheorie zerlegt. Er lässt wirk-
lich kein gutes Haar an dieser Theorie, die immer-
hin die soziologische Theorie und Sozialphiloso-
phie gehörig durcheinander gewirbelt, verändert
und revolutioniert hat.
Es folgte Herr Staudinger über mensch-
liche Abgründe und Neigungen, die sich im Film
Fight Club offenbaren. Er bricht eine Lanze für
die Philosophie des Films als einem unterschätz-
ten Medium, das jedoch über uns Menschen viel
transportieren kann. Er verteilte Handzettel mit der
Schlüsselszene des Films, die die Aura von Geheim-
dokumenten hatten, die schon viel herumgereicht
wurden. In der Szene wird deutlich, wie die Männer
im Fight Club sich selbst spüren wollen, sich nicht
unterordnen und ihre eigene Gemeinschaft bilden,
wie sie wettern gegen die Welt, die für sie keine an-
gemessenen Plätze hat und sie unterschätzt. Herr
Staudingers Vortrag wird zum haptischen Erlebnis
und wer den Film kennt (und davon kann man ja
bei diesem Klassiker fast schon ausgehen), fühlt
sich nicht mehr in der sonst so ruhigen Bibliothek,
sondern ahnt sich gleich im Fight Club.
Der Abend verläuft jedoch friedlich, auch
wenn es weiter um die Polemik in der Philosophie
geht. Herr Adamson bittet, auf Englisch zu spre-
chen zu dürfen, da die Bibliotheksnacht für ihn ein
Freizeitvergnügen und keine Arbeit sei. Er spricht
über den Ewigkeitsstreit in der Spätantike, in dem
Philoponos (490-575) mit seiner Abhandlung „Über
die Ewigkeit der Welt gegen Aristoteles“ federfüh-
rend war. Adamson erwähnt auch die arabische
Tradition, z.B. al-Kindi (800-873) und al-Ghazali
(12. Jahrhundert).
Aristoteles prägte das Nachdenken über
die Beschaffenheit des Universums fundamental,
er wurde von der Antike ins Mittelalter transfe-
riert und galt als der Philosoph. Zweifel an seinen
Thesen wurden bis ins Mittelalter wenig geäußert.
In Fragen um die Beschaffenheit des Universums
und die Unendlichkeit prägte er die Auffassung,
Parteinahme
85cog!to 06/2013
dass das Universum ewig, unendlich und immer
gleich sei. Obwohl bereits Platons Timaios-Dialog
zu anderen Schlüsse führen könnte, wurde diese
Position postuliert, da Aristoteles als solche Auto-
rität galt, die nicht irren konnte. Es wurde versucht,
beide als übereinstimmend zu lesen, wogegen sich
Philoponos wandte. Er schrieb zwei Abhandlun-
gen, „Über die Ewigkeit der Welt gegen Proklos“,
und „Über die Ewigkeit der Welt gegen Aristote-
les“, in denen er eben gegen die Unendlichkeit des
Universums argumentiert. Die Überlieferungslage
ist verwirrend. Da seine Position keine vom christ-
lichen Mittelalter als überliefernswert anerkannte
ist, existiert seine zweite Schrift nur aus Überset-
zungen von Simplikios, der wie Philoponos eben-
falls Schüle von Ammonios war und später selbst
Philosophielehrer wurde. Simplikios greift Philop-
onos stark an und macht seine Thesen nieder, wes-
wegen der von ihm überlieferte Text mit einiger
Vorsicht zu genießen ist.
Im arabisch-persischen Raum ist Al-Kindi
der erste, der die griechische Philosophie und Ge-
danken bearbeitet und übersetzt. In seiner Schrift
„Über die erste Philosophie“ versucht er eine is-
lamische Theologie philosophisch zu fundieren.
Er promotet quasi die griechische Philosophie;
Adamson nennt ihn den PR-Mann für Aristoteles
im Arabischen. Al-Kindi sucht nach so viel Überein-
stimmung mit Aristoteles Philosophie wie mög-
lich. Al-Ghazali, einer der wichtigsten islamischen
Theologen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhun-
derts (er ist im Gründungsjahr Münchens geboren),
wittert in der griechischen Philosophie wiederum
eher eine Gefahr für den Glauben. Der Streit um
die Frage, ob das Universum unendlich und ewig
ist oder endlich und erschaffen, ist bei weitem zu
keinem Ende gekommen
Der Streit um die Frage, ob das Universum
unendlich und ewig ist oder endlich und erschaf-
fen, ist bei weitem zu keinem Ende gekommen.
Die Frage ist eine Spiegelung der jeweiligen Zeit,
es mischen sich philosophische und theologische
Interessen und Erkenntnisse, politische Wirren und
Strömungen. „Falsches“ kann einen den Kopf kos-
ten, was opportunistische Äußerungen befördert.
Philoponos argumentiert als Aristoteles-Kenner
und Christ, der jedoch beim „Heiden“ Ammonios
studiert hat, Simplikios greift Philoponos als un-
gebildeten Grammatikalisten und Platon-Missver-
steher an, al-Kindi will die griechische Philosophie
und ihre christliche Lesartin seine Sprache und in
seinem Kulturraum bekannt machen, nimmt da-
mit einige Vereinfachungen in Kauf und will seinen
Glauben stützen. Die Schriftenlage ist vielschich-
tig und verwirrend, da Texte hin- und herüber-
setzt wurden und meist, um eigene Positionen zu
bestärken. Die Autoren griffen einander harsch an
und ließen kein gutes Haar am anderen und ande-
ren Interpretationen, immer mit der Verteidigung,
der Wahrheit zu dienen.
Abschließend zur Bibliotheksnacht gab es in der
Bibliothek (!) Wein und Brot, immerhin teilt sich
die Philosophie die Räumlichkeiten mit der christ-
lichen Theologie. Studierende, die nicht an der
Veranstaltung teilnahmen, sondern zum Arbeiten
da waren, schauten reichlich verdutzt. Die heitere
Veranstaltung fand ihren Abschluss im alten Simpl,
wie schon so oft, und machte Lust auf die nächste
Runde im nächsten Semester.
Von Lea Watzinger
Literatur zum nach- und weiterlesen:
- Esser, Hartmut, Der Doppelpaß als soziales Sys-
tem, in: Zeitschrift für Soziologie 20/2 (1991)
- Rorty, Richard, Der Vorrang der Demokratie vor
der Philosophie, in: ders. (Hg), Solidarität oder
Objektivität? Drei philosophische Essays, 1988.
- Podcasts zur Philosophiegeschichte von
Prof. Dr. Peter Adamson:
http://www.historyofphilosophy.net
- J. Philoponus, Against Aristotle on the Eternity
of the World, 1987
Der Streit um die Frage, ob das Uni-versum unendlich und ewig ist oder endlich und erschaffen, ist bei wei-
tem zu keinem Ende gekommen.
Parteinahme
Der fiese streit um Wahrheit und Wahrheitsanspruch ist wahrlich kein moderner.
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BLÜTENLESE
RUBRIK
In Blütenlese finden sich Artikel zu wissenschaftlichen Arbeiten der Studierenden und Promovierenden der Münchner Philosophie, aber auch Rezensionen von Fachbüchern sowie philosophischen Neuerscheinun-
gen. Zudem berichtet die Redaktion über Konferenzen, Podiumsdiskussi-onen und Vorträge in unserem Fach. In dieser Ausgabe schreibt
Lea Watzinger über das Thema ihrer Magisterarbeit: Habermas’ Position zur Religion.
Du hast Lust, für uns über deine Abschlussarbeit oder Dissertation zu schreiben? Dann melde dich doch
unter: [email protected].
86 cog!to 06/2013
87cog!to 06/2013
In den vergangenen Wochen haben sich viele Diskussionen um den Rückzug Papst Benedikts von seinem Amt und die eventuelle Neuausrich-tung der katholischen Kirche durch Papst Fran-ziskus gedreht: Fragen um Kirche und Glauben füllten die Medien und beschäftigten sogar die weltliche Öffentlichkeit. Welche Rolle spielt die Religion noch in Deutschland und in der Welt? Ist die Religion die Stütze der Moral, die den Zusammenhalt der Menschen schafft? Die Rolle der Religion in der demokra-tischen, modernen Gesellschaft muss neu be-leuchtet werden. Jürgen Habermas hat hier eine hochinteressante zeitgenössische Position ent-wickelt, die zwischen Liberalismus, postmeta-physischem Denken und der Anerkennung der Relevanz religiöser Argumente changiert.
Kann unser Staat, der sich zur Religionsfreiheit be-
kennt und auf die Menschenrechte beruft, über-
haupt aus sich heraus verbindliche normative Ori-
entierung geben, oder braucht er dazu helfende
Institutionen und Lehren, wie die Religion? Welche
Rolle dürfen religiöse Positionen im politischen
Prozess (noch) spielen?
Diese Fragen sind relevant für unser Selbst-
verständnis als Staatsbürgerinnen und Staatsbür-
ger – religiöse wie auch nicht-religiöse. Sie werden
nicht nur von theologischer Seite diskutiert, son-
dern auch in der Soziologie, Politologie und Phi-
losophie und aus gegebenem Anlass auch in der
Öffentlichkeit. Dazu hat Jürgen Habermas keinen
unerheblichen theoretischen Beitrag geleistet. Ha-
bermas ist ein Denker, der sich mit vielen Themen
befasst hat, doch an erster Stelle steht bei ihm das
Politische, die Frage nach einer gerechten Ge-
sellschaft. Er steht in der Tradition der Frankfurter
Schule, die mit ihrer Kritik an der Moderne, an den
modernen Sozialverhältnissen und gesellschaft-
lichen Strukturen eine Erneuerung in der Philo-
sophie und Sozialwissenschaft betreibt – dieses
Projekt führt er weiter. Seine Schriften zu Öffent-
lichkeit, demokratischen Verfahren und kommuni-
kativer Rationalität haben viele nationale wie inter-
nationale Debatten in verschiedenen Disziplinen
ausgelöst. Im letzten Jahrzehnt tritt noch ein wei-
terer Interessenschwerpunkt hinzu – die Rolle von
Religion in einer Gesellschaft, die sich einerseits
als säkular versteht und andererseits verschiedene
religiöse Formen in sich vereint.
Habermas hat in den letzten Jahren und
Jahrzehnten viel darüber gearbeitet, wie sich
eine normative Moderne begründen lässt, welche
Rolle das Sakrale spielt und in welchem Verhält-
nis der säkulare Staat zur Religion steht. Er ist ein
Grenzgänger zwischen Philosophie, politischer
Theorie und Soziologie, der viele verschiedene
Themenfelder vereint: Er betreibt praktische und
theoretische Philosophie, nimmt am tagespoli-
tischen Geschehen teil und bringt in öffentliche
Diskussionen seinen intellektuellen Standpunkt
ein. Habermas ist nicht nur ein Schreibtischden-
ker, sondern nah am gesellschaftlichen Zeitge-
schehen. Im letzten Jahrzehnt haben seine Dis-
kussion mit Joseph Ratzinger, der zu diesem Zeit-
punkt der Vorsitzende der Glaubenskongregation
und damit katholischer Cheftheologe war, auch
außerhalb der akademischen Welt Aufsehen er-
regt. Die Beiden sprachen über den Stellenwert
der Vernunft und die Motivationsgründe für mo-
Welche Rolle spielt Religion in unserer säkularen Welt?Jürgen Habermas räumt religiösen Argumenten neuen Raum ein
Blütenlese
Von Lea Watzinger
88 cog!to 06/2013
ralisches, solidarisches Handeln. Auch seine Rede
zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen
Buchhandelst ein reges Echo hervorgerufen.1
Die postsäkulare GesellschaftHabermas diagnostiziert eine Gesellschaft, die er
selbst „postsäkular“ nennt, in der sich gegenläufi-
ge, die Religion und Religiosität betreffende Ent-
wicklungen vollziehen. Die europäische, vor allem
auch die deutsche Erfahrung des abnehmenden
religiösen Einflusses auf die Menschen und die
Gesellschaft ist möglicherweise eine Art Sonder-
weg.2 Die liberale Demokratie muss angemessene
Umgangsformen mit ihren re-
ligiösen Mitgliedern finden, die
politisch aktiv und präsent sein
wollen. In einer Demokratie sol-
len politische Entscheidungen
im Diskurs aller Bürgerinnen und
Bürger auf vernünftigen Grund-
lagen getroffen werden. Aus li-
beraler Sicht spielen in diesem
öffentlichen Diskurs nur politische Belange eine
Rolle, nicht aber persönliche Einstellungen und
Prägungen wie Religion oder Glaube. Habermas
setzt dem entgegen, dass auch religiöse Argumen-
te einen Platz im Diskurs haben müssen. Zum ei-
nen, weil diese Einstellungen oft etwas zu sagen
haben, gerade wenn es um ethische Fragen geht,
und dieses semantische Potential in der moder-
nen Gesellschaft eine rare Ressource ist und sonst
droht, verloren zu gehen. Zum anderen, weil reli-
giöse BürgerInnen nicht ausgeschlossen werden
dürfen und es ein Gebot der Fairness ist, ihre Argu-
mente ebenfalls zu hören. Im politischen Diskurs
zählen jedoch nur vernünftige Argumente in einer
Sprache, die jeder versteht. In diese „säkulare Spra-
che“ (Habermas) müssen alle Positionen übersetzt
werden.
Es ist eine Stärke von Habermas Ansatz,
den Begriff der Religion nicht zu definieren – ob-
wohl gerade in den Sozialwissenschaften oftmals
ebensolche Definitionen gemacht und gefordert
werden.
1 Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.), Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels 2001. Ansprachen aus Anlass der
Verleihung, Frankfurt am Main 2001.
2 In vielen Ländern weltweit stellt sich die Situation ganz anders dar: Zum
Beispiel in den USA und einigen Ländern Lateinamerikas, in denen von
schwach in der Bevölkerung verankerten Kirchen keine Rede sein kein.
Er behält den Fokus seiner Überlegungen aus-
schließlich auf der Diskurssituation, es geht nicht
darum, welche religiösen Überzeugungen Men-
schen haben, sondern dass sie ethische Werte
aus vorpolitischen Quellen beziehen. Religion in-
teressiert ihn nur in einem sehr allgemeinen Sinn
als Phänomen, das neben dem Staat das Zugehö-
rigkeitsgefühl von Menschen beansprucht, eine
Quelle, aus der Menschen „Sinn“ beziehen. Reli-
gion spielt in der Politik eine große Rolle, es gibt
viele Verbindungen und Bezüge. Dies lässt sich
zum Beispiel an den Debatten über Kopftuch und
Kruzifix an Schulen, über die Rolle muslimischer
Menschen in Deutschland und
Europa, an der institutionel-
len Verankerung der Kirchen in
Ethikkommissionen oder dem
staatlichen Einzug der Kirchen-
steuer und vielem mehr beob-
achten.
Viele politische Konflikte
drehen sich um das angemes-
sene Verhältnis von Religion und Staat, doch gibt
es auch religiöse Bezüge, die kaum thematisiert
werden. Rund 80% der Weltbevölkerung sind An-
hängerInnen eines Glaubens; Religion ist eine
„Konstante des Politischen“:3 Die Frage, ob Reli-
gion als ein Grundbegriff des Politischen unum-
gänglich und unleugbar ist, ist jedoch in der Wis-
senschaft nicht unumstritten; so weckt ein Pochen
auf die Wichtigkeit der Einbeziehung der Religion
in politikwissenschaftlichen Arbeiten schnell den
Verdacht, unzeitgemäß oder gar rückschrittlich
zu sein. Im Denken des Liberalismus, der vorherr-
schenden und prägenden modernen politischen
Theorie, finden sich die Religion und die Religio-
sität der BürgerInnen nur noch im Privaten. Das
Säkularisierungsparadigma wurde zur gängigen
Lehrmeinung über das Verhältnis von Politik und
Religion: Es geht davon aus, dass die Religiosität
der Menschen mit zunehmender Modernisierung
abnehmen wird und Religion demzufolge ein hi-
storisches Phänomen ist.4
3 Stein, Tine, Religion, in: Politische Theorie 2004, S. 328.
4 John Rawls stellt das moralisch Richtige über das Gute, Habermas
entwickelt den Gedanken des nachmetaphysischen Denkens; beide
versuchen eine moralisch richtige, gerechte Gesellschaft allein
vernünftig zu begründen.
Blütenlese
Es ist eine Stärke von Habermas Ansatz, den Begriff der Religion nicht zu
definieren – obwohl gerade in den Sozialwissenschaften oftmals ebensolche Definitionen gemacht
und gefordert werden.
1 Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.), Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels 2001. Ansprachen aus Anlass der
Verleihung, Frankfurt am Main 2001.
2 In vielen Ländern weltweit stellt sich die Situation ganz anders dar: Zum
Beispiel in den USA und einigen Ländern Lateinamerikas, in denen von
schwach in der Bevölkerung verankerten Kirchen keine Rede sein kein.
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Die Trennung von Staat und Kirche in Europa war
eine historische politische Errungenschaft, doch
muss heute nicht mehr diese Trennung begrün-
det, sondern ein vernünftiges Verhältnis zwischen
eigentlich säkularen Gesellschaften und ihren ver-
schieden religiös – oder nicht-religiös – einge-
stellten Bürgerinnen und Bürgern gedacht werden.
Für Habermas sind Fragen des Politischen zentral Was Habermas antreibt, ist eine Theorie der
Demokratie. Sein Hauptaugenmerk liegt auf dem
Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft
und dem Phänomen der politischen Öffentlichkeit.
In einer modernen Gesellschaft, in der die Freiheit
und die Gleichheit der Menschen politisch umge-
setzt sind, müssen alle am politischen Geschehen,
an Meinungsbildung und Entscheidungsfindung,
beteiligt sein. Institutionell sind die Freiheit und
Gleichheit aller BürgerInnen verankert, doch die
Widersprüchlichkeiten und Pathologien, die die
Moderne geschaffen hat, bedrohen das politische
Miteinander, da sie zu System- und Sachzwängen
führen, die Politik und Gesellschaft immer mehr
steuern. Die Wirtschaft entfaltet stetig wachsende
Wirkungsmacht und Einfluss, sie wird zur moder-
nen Handlungslogik. Habermas spricht von einer
„Kolonialisierung der Lebenswelt“.5 Das Leben der
Menschen passt sich immer mehr Markt- und Or-
ganisationsimperativen an, wobei ihre Freiheit ver-
loren geht; so wird das Leben zu einer bloßen Il-
lusion von Freiheit. Mit dem
Impetus, einer solchen nega-
tiven Sichtweise zu entkom-
men und einen praktischen
Ausweg vorzuschlagen, ent-
wickelt Habermas seine poli-
tische Theorie. In dieser kommt der Öffentlichkeit
eine wichtige Rolle zu, die sich in Medien, aber auch
im persönlichen Austausch artikuliert. „Der Zustand
einer Demokratie lässt sich am Herzschlag ihrer po-
litischen Öffentlichkeit abhorchen“.6
Die Demokratie ist die einzige vernünfti-
ge Praxis zur politischen Gestaltung, da in ihr nor-
mative Grundsätze kommunikativ gewonnen und
realisiert werden können. Der Rechtsstaat schützt
nicht nur kommunikative Freiheiten, sondern bringt
5 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns II, S. 522.
6 Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, S. 25.
sie zur Geltung, ohne die Gegebenheit von Institu-
tionen und Recht zu übersehen. Es besteht ein un-
auflöslicher Zusammenhang zwischen der Idee der
Menschenrechte, der Souveränität des Volkes und
deren Umsetzung im Diskurs.7
Das Recht kann „ohne religiöse oder meta-
physische Rückendeckung“ seine „sozial-integrati-
ve Wirkung“ nur dadurch bewahren, dass sich die
Bürgerinnen und Bürger, die daran gebunden sind,
in ihrer Gesamtheit als vernünftige UrheberInnen
dieser Normen verstehen können.8
Im Diskurs werden also legitime, verbindli-
che Regeln geschaffen, man einigt sich auf mora-
lische Normen. Diese lassen sich in einer solchen
„Diskursethik“ nicht mehr – wie beispielsweise in
der Philosophie der Antike bei Aristoteles – von ei-
nem absoluten Guten, einem summum bonum,
ableiten.
Für eine Diskurstheorie der Moral ist die
Unterscheidung zwischen partikularen ethischen
Fragen des guten Lebens und einer allgemeinen,
für alle geltenden Moral zentral, wie Habermas be-
tont. Beide unterscheiden sich in ihren Geltungs-
ansprüchen. Ethische Werte beziehen sich auf
individuelle Lebensformen und Überzeugungen,
auf das für das Individuum Gute, das eben je nach
Person unterschiedlich sein und bewertet werden
kann. Moralische Normen hingegen erheben ei-
nen allgemeinen Geltungsanspruch, sie erlangen
ihre Gültigkeit durch ihre argumentative Festigung
im Diskurs.9 Der Begriff der Moral bezieht sich auf
die Normen des richtigen Han-
delns, die dann universell gültig
sind, wenn sie diskursiv gebildet
wurden, das heißt, wenn alle Be-
troffenen als Teilnehmende am
Diskurs zustimmen könnten.10
Habermas Diskursethik verzich-
tet auf Letztbegründung und metaphysischen Gel-
tungsanspruch, selbst der oben erwähnte Grund-
satz, dass alle zustimmen können müssen, besitzt
keinen solchen letztbegründenden Anspruch.11
Habermas besteht jedoch auf der universellen Gül-
7 Vgl. ebd., S. 758f.
8 Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurs-
theorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 51f.
9 Vgl. Forst, Diskursethik , in: Brunkhorst, Kreide, Lafont (Hg), Haber-
mas-Handbuch 2009,S. 306.
10 Vgl. Habermas, Jürgen, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 12.
11 Vgl. Forst, Diskursethik, S. 307.
Blütenlese
Es besteht ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen der Idee der Menschenrechte, der
Souveränität des Volkes und deren Umsetzung im Diskurs.
90 cog!to 06/2013
tigkeit der diskursiv errungenen, vernünftigen Nor-
men. Im Diskurs werden die Normen zwar ausdis-
kutiert und formuliert, doch dass sie auch befolgt
werden, ist ein soziales Phänomen und erfordert
„entgegenkommende Lebensformen“.12 Damit alle
Betroffenen den diskursiv gewonnen moralischen
Einsichten zustimmen können, müssen die Nor-
men universal gültig sein: Im Diskurs sind nur ver-
nünftige Argumente zugelassen, die allen zugäng-
lich sind. So kristallisieren sich kulturübergreifen-
de, allgemein strukturierte Normen heraus.
Die neue Rolle der Religion bei Habermas Die Rolle der Religion bestimmt Habermas
in seiner Diskurstheorie und seinem nachmeta-
physischen Denken nun neu, was durchaus kein
unproblematischer, doch ein nachvollziehbarer
Schritt ist. Habermas legt dar, dass die postsäkula-
re Gesellschaft ihr Verhältnis zu religiösen Bürge-
rinnen und Bürgern neu bestimmen muss.
Religiöse Argumente können Werte und
semantische Potentiale bergen, auf die ein Staat
nicht verzichten sollte, denn es ist nicht leicht für
ihn, seine Bürgerinnen und Bürger selbstständig zu
politischer Partizipation und gesellschaftlicher Soli-
darität zu motivieren.
Um diese Potentiale im säkularen Kontext
nutzbar zu machen, müssen sie in eine vernünftige
Sprache übersetzt werden, die alle Menschen ver-
stehen und nachvollziehen können. Habermas plä-
diert dafür, dass die Philosophie von der Religion et-
was lernen könne, doch dürfe sie nicht hinter schon
Erreichtes zurückfallen. Er spricht sich für vernünf-
tige Diskurse aus und sucht nach Wegen, metaphy-
sische Reste zu integrieren, ohne die Vernunft zu
vernachlässigen. Habermas postuliert entschieden
ein Überwinden des metaphysischen Denkens.13
12 Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 25.
13 „Mit dem Begriff ›nachmetaphysisches Denken‹ kennzeichnet Ha-
Es ergeben sich nicht unerhebliche Spannungen
und Fragen aus Habermas Schriften. Einerseits
pocht er vehement auf eine Überwindung der Me-
taphysik und des metaphysischen Denkens, was
auch religiöses Denken einschließt. Andererseits
lässt er Platz für die semantischen Potentiale re-
ligiöser Argumente, gesteht ihnen Relevanz und
Geltungsanspruch zu und weist auf die gemein-
same Entstehungsgeschichte von Vernunft und
Glauben hin, um deren Unterschiede zu betonen.
Wird er nun seinem Anspruch des „Nachmeta-
physischen“ gerecht oder bedeutet seine neuer-
liche Aufwertung der Religion eher einen Rück-
schritt hin zu metaphysischem Denken?
Habermas gelingt die Synthese aus sei-
nen verschiedenen philosophischen Implika-
tionen. Er verschließt nicht die Augen vor Ver-
änderungen und denkt seine Theorie weiter.
Als Denker der modernen Demokratie im
Sinne einer politischen Emanzipation der Menschen,
macht er den Abschied von einer absoluten Wahrheit
und einem Begriff des Guten unumgänglich.
Im politischen Diskurs können moralische
Normen einer Gesellschaft festgelegt und formu-
liert werden, doch entstehen diese aus der Beteili-
gung verschiedener Standpunkte heraus und nicht
aus der Orientierung an etwas Höherem. Trotzdem
benötigt die Moderne ein Sicherungsnetz, welches
zu einem Teil religiöse Vorstellungen bieten kön-
nen. In der „zerknirschten Moderne“14 kann Religi-
on ein ethischer Anker sein und eine Stütze für mo-
ralische Normen bieten, die im Diskurs verhandelt
werden.
bermas Weisen des Philosophierens, die heute einzig noch möglich
sind. Dabei verwendet er ihn in zweierlei Hinsicht, einmal als kritisch-
negativen Gegenbegriff zu einer diagnostizierten ›Rückkehr zur Meta-
physik‹, zum anderen als positive Umschreibung für ein nach der Me-
taphysik noch mögliches philosophisches Denken, das den Anspruch
einer umfassenden Realität nicht aufgibt.“ Lohmann, Georg, Nachme-
taphysisches Denken, , in: Brunkhorst, Kreide, Lafont (Hg), Haber-
mas-Handbuch 2009, S. 356.
14 Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, S. 113.
Blütenlese
Von Lea Watzinger
91cog!to 06/2013
In seiner 2009 mit dem Hegel-Preis ausge-zeichneten Untersuchung „Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens“ stellt Michael Tomasello Darwins Überle-gungen über den Ursprung unserer kogni-tiven Fähigkeiten in Frage und eröffnet neue Wege der Betrachtung.
Zweifel an der Evolutionstheorie aus Gründen feh-
lender Überzeugungskraft sind in unserer Gesell-
schaft gegenwärtig ebenso unvorstellbar wie ihre
Ablehnung mangels Verträglichkeit mit dem be-
stehenden Weltbild. Für den Einzelnen erscheint
die Theorie absolut plausibel und unmittelbar
nachvollziehbar. Auch der theologische Diskurs
hat sich längst daran gemacht, die das Menschen-
geschlecht vermeintlich kränkenden Aussagen mit
ihrer Vorstellung einer göttlichen Schöpfung zu
vereinbaren. Und doch bleiben ihre Thesen belieb-
tes Instrument atheistischer Argumentationen.
Führende Wissenschaftler neigen dazu, das Phäno-
men des Geistes restlos aus ma-
teriellen Umständen abzuleiten. Ungeachtet etwaiger existenti-
eller Implikationen werden die
Aussagen gemeinhin jedoch nicht
nur für selbstverständlich genom-
men, sondern gar leichtfertig zur Begründung der
menschlichen Denkfähigkeit herangezogen. In sei-
ner Untersuchung Die kulturelle Entwicklung des
menschlichen Denkens erklärt Michael Tomasello,
warum das universal einsetzbare Erklärungsprinzip
von Mutation und Selektion jedoch nicht hinreicht,
um den Funktionsmechanismus unserer mensch-
lichen Kernkompetenzen zu ergründen. Damit
schließt er eine kaum wahrgenommene Erklä-
rungslücke. Nicht indem er demonstrativ auf eine
metaphysische Ebene ausweicht, stattdessen führt
er ein anderes, paralleles, jedoch nicht reduzieren-
des Entwicklungsmoment ein: Die hintergründige,
aber eklatante Schwierigkeit einer Beschreibung
unserer kognitiven Fähigkeiten und damit verbun-
denen Reaktionen mittels der Erklärungsstrategie
nach Darwin, also der Annahme einer rein phy-
logenetischen, sprich stammesgeschichtlichen
Entwicklung dieser Merkmale, besteht in der feh-
lenden Berücksichtigung ihres Zeithorizontes. Für
die körperliche Entwicklung des modernen Men-
schen steht seit dem Auftauchen des ersten Men-
schenaffen vor etwa 33-35 Millionen Jahren ein
langer Zeitraum zur Verfügung. Der Beginn der
Ausprägung kognitiver Fertigkeiten ist jedoch erst
vor etwa 250000 Jahren anzusetzen, im unwahr-
scheinlicheren und frühesten Fall vor 6 Millionen
Jahren mit dem Niveau eines Vormenschentypus,
der aber auf vernachlässigbarer, tierähnlicher Ebe-
ne operierte. Diese verhältnismäßig kurze Zeit-
spanne kann laut Tomasello nicht ausreichen, um
die komplexen menschlichen geistigen Fähigkeiten
mittels der evolutionären Prozesse von Mutation
und Selektion zu erklären. Für die Verbreitung ei-
ner erfolgreichen neuartigen Vari-
ante in einer Population sind tau-
sende Generationen erforderlich.
Darum lehnt Tomasello die so-
genannte Modularitätstheorie ab,
die für jedes geistige Vermögen
ein genetisch basiertes Modul fordert. Anstelle von
evolutionsbiologischen Adaptionen sieht er nur die
Möglichkeit einer gesamten, übergreifenden An-
passung, nämlich die der kulturellen Evolution bzw.
Soziogenese. Dabei bleiben die phylogenetischen
Veränderungen natürlich als Voraussetzungen un-
abdingbar. Um zu verstehen, warum Menschen-
affen in kultureller Umgebung nicht zu menschli-
chen Fähigkeiten und Verhalten gelangen, darf die
kulturelle Evolution nicht als alleinige Erklärung
der höheren Kognition angenommen werden. Eine
vorausgegangene stammesgeschichtliche, durch-
aus durch Selektionsmechanismen bedingte Ent-
wicklung muss das Fundament für die Möglichkeit
Die kulturellen Bedingungen der KognitionWo die Evolutionstheorie an ihre Grenzen stößt.
Blütenlese
Von Nastasja Dresler
Führende Wissenschaftler nei-gen dazu, das Phänomen des Geistes restlos aus materiellen
Umständen abzuleiten.
92 cog!to 06/2013
gegenwärtiger intellektueller Komplexität gelegt
haben. Was den Menschen vom Menschenaffen
mitunter in basaler kognitiver Hinsicht unterschei-
det und für eine kulturell motivierte Entwicklung
ausschlaggebend gewesen sein könnte, ist sein
Verständnis seines Gegenübers als intentionaler
Akteur und die Voraussage seines Verhaltens. Der
Andere wird als Gleichgesinnter und potentiel-
ler Kooperationspartner identifiziert. Der Unter-
schied zwischen der menschlichen Sozialität und
dem Verständnis der Affen für ihre Artgenossen
ist ein gradueller, aber signifikanter. In der soge-
nannten Soziogenese wird diese außerordentli-
che und überdurchschnittliche Primatenfähigkeit
in eine kulturell basierte Kognition transformiert: Das Können zum produktiven Miteinander ist ent-
scheidend, denn Angehörige einer Gemeinschaft
steigern ihre Überlebenschancen, indem sie auf
den Wissensschatz ihrer Artgenossen zurück-
greifen können und nicht erst neue, eigene Mit-
tel und Wege zur Lebensbewältigung erproben
müssen. Durch das unmittelbare Anknüpfen an
bereits vorhandenes Wissen entstehen schneller
neue Innovationen, so dass es zu einer exponen-
tiellen Akkumulation von Errungenschaften und
Fortschritt über Generationen hinweg kommt. To-
masello bezeichnet diesen Prozess als „Wagenhe-
bereffekt“. Zuverlässig stabilisiert werden die Ide-
en durch gezielten Unterricht, Imitationsvermögen
und wechselseitiges Abstimmen. Die größeren und
umfassenderen Veränderungen beruhen somit da-
rauf, dass meist eine Gruppe von Individuen an ein
bestehendes Ergebnis anknüpft und dieses modi-
fiziert. Tomasello unterscheidet zwei höhere kog-
nitive Bereiche, auf denen diese in ihrer Komple-
xität menschenspezifischen Fertigkeiten realisiert
werden: Sprache und Mathematik. Jede in einem
Stamm oder Volk überlieferte Sprache hat ihr eige-
nes Inventar an Symbolen und Konstruktionen, das
in universalen Strukturen menschlicher Kognition
und organischer Kommunikationsfähigkeit grün-
det. Auch die Mathematik beruht auf dem univer-
sal menschlichen Sinn für Quantität, ihr Gebrauch
richtet sich jedoch nach dem verschiedenen Be-
darf. Primitivere Kulturen begnügen sich mit ein-
fachem Zählen, während westliche Zivilisationen
komplizierte Messverfahren entwickelt haben. Auf
der Mikroebene betrachtet, sind Soziogenese und
Kulturgeschichte als eine Abfolge von unendlich
vielen Ontogenesen, also Individualentwicklun-
gen aufzufassen, wonach Individuen auf eine vor-
strukturierte Welt treffen, diese internalisieren und
schließlich an ihr teilhaben und in diese eingreifen.
In den ersten drei Jahren ihrer Entwicklung imitie-
ren Kinder eifrig. Nach einem kreativen Schub den-
ken sie ab dem Alter von vier/fünf Jahren jedoch
selbstregulierter und motivieren im idealtypischen
Fall den soziogenetisch erwirkten Fortschritt der
Menschheit.
Mit all seinen Überlegungen spricht To-
masello aus der Rolle eines Naturwissenschaftlers,
nicht jedoch eines Naturalisten: Er untersucht den
Einfluss sozialer bzw. kultureller Tätigkeit auf die
menschliche Kognition, einem ehemals den Geis-
teswissenschaften vorbehaltenen Gegenstand,
mittels einer naturwissenschaftlichen Technik,
ohne dabei jedoch reduktionistisch vorzugehen.
Die Welt des Geistigen entwickelt sich dank ihrer
Eigendynamik und wird nicht aus ihrer natürlichen
Grundlage abgeleitet. Natürlich lässt sein Ansatz
viele Fragen offen. Gerade die abstrakte, nur sche-
menhafte Bestimmung vieler Merkmale, insbeson-
dere die unbestimmten Differenzierungen von der
Gradualität eines Phänomens wie die zwischen
menschlichen und äffischen Fähigkeiten trägt
nicht dazu bei, die beschriebene Erklärungslücke
vollends zu schließen. Vielleicht ist die Forschung
auch gar nicht in der Lage, dies in concreto zu leis-
ten. Tomasellos Beitrag ist für den Diskurs trotzdem
von beträchtlicher Bedeutung. Er liefert ein mögli-
cherweise zentrales Puzzlestück, an welches, ganz
im Sinne seiner Theorie von der kulturellen Evolu-
tion, die Forschergemeinschaft zum Zwecke einer
Annäherung an ein besseres Verständnis unseres
Wesens anstücken kann.
Von Nastasja Dresler
Blütenlese
Literatur:
Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Den-
kens (Titel kursiv), 2002, Suhrkamp, Frankfurt am Main
93cog!to 06/2013
Gemessene Daten – oder Erkenntnisse?Im interdisziplinären „Tutzinger Diskurs“ beschäf-tigten sich junge WissenschaftlerInnen zusammen mit JournalistInnen mit der Frage, was gute Wissen-schaft ausmacht.
Was sind die Grundlagen
„guter“ Wissenschaft? Mit 22
Nachwuchswissenschaftle-
rInnen aus den Disziplinen
der Philosophie, den Natur-
und Lebenswissenschaften,
der Soziologie sowie einigen
Wissenschaftsjournalist-
innen haben wir uns über
fünf Monate hinweg drei Mal
je drei Tage getroffen, um uns
dieser Frage zu widmen. Da-
bei stand jeweils ein Thema
aus den Lebenswissenschaf-
ten im Vordergrund – wie die
synthetische Biologie, bei der
Lebewesen am Reißbrett ent-
worfen werden sollen, oder
die Verbesserung von kogni-
tiven Fähigkeiten, dem so ge-
nannten Neuroenhancement.
Die Idee zum Projekt hatten Wis-
senschaftsjournalistInnen, für die
sich die Frage nach der „guten
Wissenschaft“ in letzter Zeit oft
gestellt hatte. Mit der Akademie
für politische Bildung in Tutzing
fand der Diskurs ein gastfreund-
fremde) Tun wie auch Ergebnisse
kritisch zu hinterfragen. Hierzu
braucht Wissenschaft ihre Frei-
räume.
Über die dokumentierte
Publikation hinaus ermöglichte
die Konzeption des Projekts einen
Prozess, der im universitären All-
tag eine Sondersituation darstellt.
Denn schon beim ersten Zusam-
mentreffen wurde deutlich, dass
die Thematik der synthetischen
Biologie vor allem dazu diente,
die Perspektive und den Erkennt-
nisausschnitt der anderen For-
schenden wahrzunehmen, um
überhaupt wechselseitige Diskus-
sion zu ermöglichen. Obwohl alle
Beteiligten Interesse am interdis-
ziplinären Arbeiten hatten (was
Voraussetzung für die Teilnahme
war), trafen sehr unterschiedliche
Welten aufeinander. Der Prozess
ein wechselseitiges Verständ-
nis zu entwickeln, war jedoch
für alle bereichernd. Der Begriff
„Leben“, kann beispielsweise aus
biologischer Sicht durch Fakto-
ren wie Reproduktionsfähigkeit,
liches Dach, zur Finanzierung
wurden über das BMBF Dritt-
mittel eingeworben. Ziel war es,
den „Stand der Wissenschaft“
aus Sicht von Nachwuchswis-
senschaftlern zu reflektieren und
in einer Abschlusspublikation zu
dokumentieren. Heraus kam ein
Memorandum, das sich teilwei-
se mit dem derzeitigen Konsens
guter wissenschaftlicher Praxis
überschneidet, aber auch über
diesen hinausgeht. Angetrieben
von den oft eigenen, negativen
Erfahrungen aus der Welt der
Wissenschaft diskutierten wir im
Plenum und erarbeiteten in klei-
nen Teams die Themen, die uns
unter den Nägeln brannten – wie
ethische und demokratietheore-
tische Grundlagen der Bildung
guter WissenschaftlerInnen oder
der Kommerzialisierung von For-
schung. Wir versuchten, nicht
nur Problemfelder, sondern auch
Lösungswege aufzuzeigen. Zen-
traler Aspekt war immer, dass
Forschung die innere und äußere
Freiheit braucht, das eigene (und
Blütenlese
Dr. Nora Hangel und Hinnerk Feldwisch-Drentrup
94 cog!to 06/2013
Entwicklung, Wachstum und Metabolismus opera-
tionalisiert werden. Während dieser Begriff in den
Sozialwissenschaften im jeweiligen Kontext immer
wieder neue Bedeutungsinhalte mit
sich bringt, fühlten sich die Philo-
sophInnen gefordert, den Begriff
unter den neuen technischen Be-
dingungen, welche die scheinbare
Herstellung von Leben ermöglicht,
neu zu untersuchen. Welche Be-
deutungsinhalte von „Leben“ sind
entscheidend, um beispielswei-
se die normativ relevanten Fragen
diskutieren zu können? Welche unterschiedlichen
Qualitäten und Faktoren von Leben bzw. Leben-
digkeit sind normativ signifikant, um verbindliche
Sätze zur Handlungsorientierung im Umgang mit
synthetischem Leben zu formulieren? Oder sind
normative Fragestellungen hier gänzlich verfehlt?
Wie verhalten sich die Forschungsfreiheit und die
Ziele der Lebenswissenschaften zu Interessen der
Gesellschaft und was bedeutet das für die Hand-
lungsverantwortung von Forschenden?
Konstruktive ReibungÜber die Auseinandersetzung mit der syntheti-
schen Biologie oder dem Neuroenhancement
ermöglichte der Tutzinger Diskurs, die innerhalb
der eigenen Disziplin erworbenen Kenntnisse
und Kompetenzen einzubringen, und gleichzei-
tig die eigenen interdisziplinären Kompetenzen
zu erweitern. Er stellte zudem eine Situation her,
in der die Dynamiken, die auch in der Forschungs-
gemeinschaft spürbar sind, in unserem kleineren
Raum wahrnehmbar wurden. Neben der notwen-
digen Kooperation, um in Diskussionen zu einem
Konsens zu kommen – oder auch im Dissens zu
bleiben – gab es beispielsweise wiederholte Dis-
kussionen darüber, welche Disziplinen zur „Wis-
senschaft“ zählen. Unterschiedliche Auffassun-
gen darüber, welche Begriffe sinnvoll oder für die
Diskussion nicht dienlich seien: „Freiheit ist für die
Physik ein leerer Begriff“, sowie die Herangehens-
weise, wie man zur Beantwortung der gestellten
Fragestellung vorgeht, ja die Fragestellung selbst,
kurz alle Fragen, die unter Bedingungen der An-
erkennung in der Wissenschaft diskutiert wer-
den, schwangen bis zuletzt mit. Hier lässt sich
feststellen, dass die Reibung, die durch die
verschiedenen Hintergründe
der Teilnehmenden entstand,
konstruktiv war: da, wo es heiß
wurde, war es tatsächlich inte-
ressant.
Dies spiegelt sich im
vorgestellten Memorandum
zum Beispiel darin, dass durch-
gehend Wert darauf gelegt
wird, die Reflexionsfähigkeit
der einzelnen Wissenschaften zu fördern und
besser auszubilden – beginnend schon in der
Schule. Außerdem soll die metrische Evaluati-
on von Wissenschaft zwar ihren berechtigten
Platz erhalten, andererseits aber aus jenen
Bereichen gedrängt werden, in denen Origi-
nalität und Innovation über den bestehenden
Kanon hinausweisen und die Gefahr besteht,
dass kontroverse Meinungen durch konserva-
tive Systeme der Begutachtung eingeschränkt
werden. Zudem entstand das wachsende Be-
dürfnis nach interdisziplinärem Austausch
schon zu Beginn des Studiums. Auch die wis-
senschaftliche Methode – also der Weg, wie
ein bestimmter Forschungsgegenstand erar-
beitet und erforscht wird – blieb bis zuletzt
Diskussionsgegenstand. Denn während in den
geisteswissenschaftlichen Disziplinen die For-
schung auch darin besteht, das Themenfeld zu
bearbeiten, um es genauer einzugrenzen und
neue Zusammenhänge zu erkennen, ist der
Erkenntnisgewinn in den Naturwissenschaften
oft ein anderer. Hier gilt es, durch empirische
Datengewinnung, Laboruntersuchungen oder
Feldforschung abgeleitete Erkenntnisse zu ge-
nerieren
Lenkung der Aufmerksamkeit Im Rahmen des Diskurses stellten sich die be-
kannten ethischen Fragestellungen, die sich
durch die Frage nach der guten Wissenschaft
in den Lebenswissenschaften direkt ergeben
– da letztere unser Menschenbild und die Fra-
Blütenlese
Hier lässt sich feststellen, dass die Reibung, die durch die verschiedenen Hinter-
gründe der Teilnehmenden entstand, konstruktiv war:
da, wo es heiß wurde, war es tatsächlich interessant.
95cog!to 06/2013
ge, wie wir leben wollen, direkt mitbestimmen.
Beim Thema „Neuroenhancement“ stellte sich
erst durch die Diskussion mit ExpertInnen auf
dem Gebiet heraus, dass dieses Thema von Sei-
ten der Ethik stark problematisiert wird, wäh-
rend es sich naturwissenschaftlich betrachtet
eher um heiße Luft handelt – da es sich streng
gesehen bei Neuroenhancement um ferne
Zukunftsmusik handelt. Durch den journalis-
tischen Hintergrund einiger Teilnehmenden
war daher auch die mediale Vermittlung von
Wissenschaft ein wichtiger Faktor. Durch die
Vermeidung unrealistischer
Zielsetzungen und haltloser
Versprechungen durch For-
schende sollen Hypes vermie-
den werden, welche das öffent-
liche Interesse auf eigentlich
irrelevante Nebenschauplätze
lenken kann – während die
eigentlich wichtigen Fragen
nicht beachtet werden. Warum
geisteswissenschaftliche The-
men und Problemstellungen
durch den Wissenschaftsjournalismus weni-
ger vertreten sind als naturwissenschaftliche
müssen sich nicht zuletzt die Geisteswissen-
Zu Dr. Nora Hangel:
Nora Hangel ist Mitarbeiterin im Exzellenzcluster der Uni-versität Konstanz. Zuvor war sie Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien. Frau Hangel studierte Philosophie und Genderfor-schung in Salzburg, Graz,
Wien sowie Montclair (NJ, USA) und ist Traine-rin und Coach in der Erwachsenenbildung. Sie wurde mit einer Arbeit über die Bedingungen für Verantwortung in der Praktischen Philo-sophie promoviert. Ihre gegenwärtigen For-schungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wissenschaftsforschung sowie der Ethik und der angewandten Ethik.
Zu Hinnerk Feldwisch-Drentrup:
Hinnerk Feldwisch-Drentrup studierte Neuroinforma-tik und Physik in München (LMU) sowie den Universi-täten Bonn, Edinburgh und Freiburg. Anschließend ar-beitete er an der Universität Freiburg an neurowissen-
schaftlichen Forschungsprojekten, wobei er auch Aufgaben im Bereich Presse- und Öffent-lichkeitsarbeit übernahm. Inzwischen ist er als freier Wissenschaftsjournalist tätig.
schaftlerInnen selbst fragen. Dieser kommt je-
doch eine zentrale Rolle zu, denn mediale Auf-
merksamkeit und öffentliches Interesse sind
nicht unbeteiligt an Politik – wie auch der For-
schungsförderung, die über die Kriterien der
Mittelvergabe die Basis für gute Wissenschaft
fördern oder vernachlässigen kann.
Im Laufe der verschiedenen Treffen erweiterte
sich das Erkenntnisinteresse im Tutzinger Dis-
kurs auf die Methodologie, Wissenschaftsthe-
orie, die Schnittstelle zwischen Gesellschaft
und Wissenschaft, bis hin zu transdisziplinären
Fragen wie die Technikfolgen-
abschätzung.
Für uns alle war es ein
spannendes Erlebnis, gerade
im Austausch mit den ande-
ren Disziplinen. Wir planen, es
in Form eines Blogs auf www.
gute-wissenschaft.de interak-
tiv fortzusetzen – und freuen
uns nicht nur über Rückmel-
dungen zum Memorandum
(http://tutzinger-diskurs.de/
gute-wissenschaft/gute-wissenschaft/), son-
dern auch über Beiträge von Eurer Seite, was
für Euch „gute Wissenschaft“ ausmacht.
Von Dr. Nora Hangel und Hinnerk Feldwisch-Drentrup
Blütenlese
Im Laufe der verschiedenen Treffen erweiterte sich das Er-kenntnisinteresse im Tutzinger
Diskurs auf die Methodolo-gie, Wissenschaftstheorie, die Schnittstelle zwischen Gesell-schaft und Wissenschaft, bis
hin zu transdisziplinären Fragen wie die Technikfolgen-
abschätzung.
96 cog!to 05/2013
GEWINNERESSAY WETTBEWERB
RUBRIK
96 cog!to 06/2013
In unserer ersten Ausgabe hatten wir einen Essay Wettbewerb ausge-schrieben. Hier könnt ihr nun den Sieger-Essay von Fabian Heinrich lesen.
Passend zu unserer Leitrubrik Philosophie und Alltag sowie zum Motto der Zeitschrift behandelt der Text das gute, aber auch das schöne (und
damit natürlich auch das wahre) Leben. Die Redaktion wünscht Euch viel Spaß beim Lesen und leitet Fragen an den Autoren gerne weiter.
97cog!to 06/2013
Begegnung vor dem Spiegel - oder die Frage nach der moralischen Pflicht, sich selbst eine Form zu geben.
Was ist der Mensch? Auf diese Frage lässt sich nach Immanuel Kant alle philosophische Überlegung über den Menschen zurückfüh-ren. In der moralischen Selbstbestimmung geht der Mensch über sich hinaus, wird au-tonom, und gibt sich selbst eine Form. Moral und Schönheit stehen dabei in einem engen Zusammenhang, der unsere gesamte Kultur-geschichte durchzieht - das Schöne, Wahre und Gute bildete schon für Platon eine Einheit. Die Ethik zeigt uns: Gutsein kann der Mensch lernen. Doch wenn das Gute das Schöne ist, können wir dann lernen schön zu sein?
1. Der Mensch - ein Ästhet?
Es ist so charakteristisch für den Menschen, sich
einen Spiegel erfunden zu haben!
Der Blick in den Spiegel, den wir täglich
am Morgen und am Abend vollziehen, hat etwas
Bezeichnendes: Er führt uns selbst vor Augen und
versichert uns damit zugleich unserer menschli-
Essay Wettbewerb
Von Fabian Heinrich
„Aber der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter.“Goethe: Die Wahlverwandtschaften
„Was uns an der sichtbaren Schönheit ent-zückt, ist ewig nur die unsichtbare.“ Marie von Ebner-Eschenbach, Aphorismen
98 cog!to 06/2013
Nun kann man behaupten, die Form des
Menschen existiere doch ohnehin schon. Es
bedürfe keines Hinzutuns durch den Menschen,
um eine Form zu bekommen. Dies mag zunächst
richtig sein, aber die Form des Menschen existiert
etwa in der Weise, in der für Kant Raum und Zeit
existieren: Sie ist a priori notwendig. Es ist uns
nicht denkbar, den Menschen ohne seine Form zu
denken. Ein Mensch gänzlich ohne Form (im Sinne
von ohne linearer Körperbegrenzung) wäre für uns
ganz irrelevant, da er nicht im Spektrum unserer
Wahrnehmungsmöglichkeiten läge. Würde man
davon absehen, so müsste dem oben erwähnten
Einwand Recht gegeben werden. Doch hier ist die
Rede nicht von der dem Menschen durch Geburt
gegebenen Form, seiner Abgrenzung zur Umwelt,
sondern hier ist die Rede von jener Form, in der
der Mensch das ihm bloß Gegebene einzig und
allein durch seinen Willen ergänzt und ausbaut; die
Kultivierung seiner Form durch seine Freiheit.
Es war Immanuel Kant, der als erster so
ausdrücklich in der Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten formuliert hat, dass es des Menschen
Pflicht sei, seine eigenen Talente und Fähigkeiten
auszubauen, zumindest sie nicht verwahrlosen zu
lassen (Maxime der Selbstverwahrlosung). Der
Mensch würde sich selbst widersprechen, wenn er
seine Naturanlagen verrosten ließe, „denn als ein vernünftiges Wesen will er notwendig, dass alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich
und gegeben sind“2. Natürlich könne ein Mensch
mit der eigenen Maxime leben, dass er seine
Naturgaben nicht zur Vollkommenheit bringen
möchte, aber als Vernunftwesen kann er unmöglich
wollen, dass dieses ein allgemeines Naturgesetz
werde. Genau darin läge der Selbstwiderspruch
und ein moralischer Verstoß. Die Art, auf diese
Weise sein Leben zu führen, ist also durchaus
denkbar, aber eben nicht widerspruchslos denkbar
und gehört damit für Immanuel Kant zu den
„unvollkommenen Pflichten“.
2 GMS AA 04: 423. 13-16
chen Eigenart, uns zu etwas in Relation zu setzen.
In diesem Falle zu uns selbst, was uns jener Eigen-
schaft versichert, durch die wir uns von unseren
tierischen Weltmitbewohnern am meisten unter-
scheiden: Der (ästhetischen) Selbstreflexion.
Der Mensch geht offensichtlich davon aus,
seinen Lebensraum nie alleine zu betreten, und was
kommt ihm da gelegener als ein Spiegel? Hier kann
er sich seines äußerlichen Wirkens auf seine Artge-
nossen versichern. Das Bild, das er sich am Morgen
vor dem Spiegel gibt, ist jenes Bild, das der Mensch
sich selbst gibt, und es ist jenes Bild von sich, dass
er in den öffentlichen Raum tragen will, mit dem er
anderen gegenübertreten will. Wir entscheiden uns
bewusst dazu, wie wir die Haare tragen wollen, mit
welchen Farben wir unsere Haut bedecken wollen
und welchen Geruch wir versprühen wollen. In all
diesen Handlungen tun wir etwas, was die Tiere
nie tun: Wir gehen über unsere natürliche, natur-
gegebene Form hinaus. Wir tun das nicht nur mit
unserer Äußerlichkeit, sondern auch mit unseren
körperlichen Fähigkeiten. Unsere Bedingung zur
verbalen Kommunikation mit anderen, die Stim-
me und ihr spezifischer Ton, der uns gegeben ist,
werden ausgefeilt und verfeinert, ja sogar geprobt.
Gibt es Vögel, die ihren Gesang proben? Gibt es
Hunde, die ihr Bellen perfektionieren wollen? Wir
können das nicht annehmen! Die naturgegebene
Fähigkeit der Tiere zur Lautäußerung wird so ein-
gesetzt, wie sie naturgegeben wurde, aber sie wird
nicht - wie beim Menschen - geprobt oder nach
den persönlichen Neigungen ausgefeilt. So kommt
es, dass Menschen sogar bereit sind, viel Geld dafür
bezahlen, zu sehen oder zu hören, wenn jemand
besonders gut war in der Perfektion seiner natürli-
chen Fähigkeiten: In Theater, Oper oder Ballett ist
uns dieses Bedürfnis bares Geld Wert. Ein Bedürf-
nis, das bei den Tieren nicht vorhanden ist. Was
tun wir also vor dem Spiegel? Wir versichern uns
des Menschseins und perfektionieren unsere äu-
ßere Form.1
1 Hellmuth Plessner fragt ganz zu recht, warum ausgerechnet die
Tätigkeit, die die Selbstreflexion anderen vor Augen führt, nämlich
die Schauspielkunst, so selten zu einem Thema der philosophischen
Betrachtung wurde. Siehe: Plessner: Zur Anthropologie des
Schauspielers, in: Ders.: Mit anderen Augen, Stuttgart 1982.
Essay Wettbewerb
100 cog!to 06/2013 Essay Wettbewerb
Doch ist mit dieser Pflicht zur Selbstverwirk-
lichung denn nur das gemeint, was etwa die Bal-
letttänzerin vor dem Spiegel tut, die Sängerin vor
dem Publikum oder der Mathematiker in täglichem
Selbsttraining seines Gehirns tut? Die Perfektion ih-
rer Fähigkeit, Körpereigenschaften einzusetzen und
maximal auszubauen? Es ist kaum vorzustellen, dass
Kant dabei auch im Sinn hatte, seine Äußerlichkeit
zu perfektionieren, zumindest ist davon nirgends
explizit die Rede.
Doch man muss, so meine ich, diese ver-
meintlich unwichtige - zunächst im allerwahrsten
Sinne des Wortes - oberflächliche Komponente in
diesen Kontext der Selbstpflicht mit einbeziehen,
wenn man der Kantischen Ethik und Ästhetik ganz
gerecht werden möchte. Innere Form und äußere
Form gehören untrennbar zueinander. Und davon
wusste auch Kant. Von diesem Aufzeigen des Zu-
sammenhangs der Schönheit durch die Innerlich-
keit und der Äußerlichkeit einer Person, davon soll
dieser Essay handeln.3
2.Der gute Mensch - ein schöner Mensch?
Unsere allgemeine und über alle Zeiten hinweg
feststellbare Vorstellung, dass das Schöne und das
Gute zusammengehören, ja, dass ein guter Mensch,
ein schöner Mensch sein muss, und dass man sich
einen schlechten Menschen zumindest als nicht
schön denken möchte, zeigt eine - das müssen
wir uns eingestehen - wahrlich kindliche Naivität
der Menschen an. Aber ob naiv oder nicht, dies sei
dahingestellt, denn: Diese Naivität gehört ganz of-
fensichtlich zu uns Menschen! Und sie durchzieht
unsere Kultur belegbar von den alten Griechen bei
Platon, die Renaissance, über die Märchen der Ro-
mantik bis zum heutigen Tage hindurch, an dem
einem schönen Politiker durchaus moralische Vor-
schusslorbeeren zugesprochen werden.4 Wir seh-
3 Freilich hat Kant trennscharf unterschieden: In einem logischen Urteil
dürfe demnach kein Platz für Gefühle sein und in einem Urteil über etwas
Schönes helfe uns die reine Logik oder moralische Bedenken allein nicht
weiter; Moralisches und Ästhetisches muss also getrennt werden. Doch
geht es hier nicht so sehr darum, einen Gegenstand zu beurteilen, son-
dern um die Frage, wie eine Person Schönheit nach außen tragen kann.
nen uns also offensichtlich danach, dass die Guten
die Schönen sind - auch wenn wir insgeheim wissen
müssen, dass wir da zu viel erwarten. In dieser Hin-
sicht muss man sagen, dass die ästhetische Moder-
ne ein gewaltiges Erbe angekratzt hat - wenn auch
nicht ganz zu Fall gebracht hat, denn die Überzeu-
gung, dass Hässlichkeit etwas ästhetisch Wertvol-
les sei, tritt erst hier wirkungsvoll auf den Plan. Die
verzogenen Gesichter Ernst Ludwig Kirchners oder
die ausgelöschten Gesichter Francis Bacons hätten
dem Renaissancemenschen wohl nicht nur wenig
getaugt, er hätte sie sehr wahrscheinlich gar nicht
recht verstehen können. Erst durch die ästhetische
Brille der Moderne sprechen wir auch der Hässlich-
keit moralische Qualität zu.
Für Kant stellt der Mensch als Gegenstand
zur Beurteilung etwas Schönem (zusammen mit
dem Kunstwerk und dem Ekelhaften) eine Aus-
nahme dar. Die bekannte Unterteilung, die Kant
zur Beurteilung eines schönen Gegenstandes vor-
nimmt, nämlich die der „freien“ und „anhängenden“
Schönheit wird beim Menschen sozusagen sus-
pendiert. Wir können nach Kant vom Menschsein
des Menschen gar nicht absehen und ihn als bloße
Form betrachten, so wie es eine Bedingung wäre,
zu einem Urteil über freie Schönheit zu kommen.
So wie der Botaniker zur Beurteilung einer Blume
vom biologischen Zweck absehen muss, ihn quasi
ausklammert und vor den Begriff Blume stellt um
so zu einem Urteil freier Schönheit zu gelangen, so
kann der Mensch nie zu einem solchen Gegenstan-
de werden. Die Schönheit ist ihm so grundsätzlich
immanent, dass sie nicht abstrahiert werden kann,
denn der Mensch hat seinen Zweck in sich selbst.
So erklärt uns Kant in der Kritik der Urt-
heilskraft: „Nur das, was den Zweck seiner Exis-tenz in sich selbst hat, der Mensch, der sich durch Vernunft seine Zwecke selbst bestimmen, oder, wo er sie von der äußeren Wahrnehmung her-nehmen muss, doch mit wesentlichen und all-gemeinen Zwecken zusammenhalten, und die Zusammenstimmung mit jenen alsdann auch
4 Die Affäre des Freiherrn zu Guttenberg zeigte dies so eindringlich,
indem ein nahezu unbekannter Politiker aufgrund seines äußerlichen
Auftretens in den Himmel gepriesen wurde, um dann, nach dem Auf-
decken seiner moralischen Desintegrität den gesamten Weg wieder
nach unten zu fallen. (Ein ähnliches Muster lässt sich dabei an all den
anderen Fällen der letzten Jahre studieren, sei es im Falle Wulffs, Chat-
zimarkakis oder Koch-Mehrin.)
101cog!to 06/2013
ästhetisch beurteilen kann: dieser Mensch ist also eines Ideals der Schönheit, so wie die Menschheit in seiner Person, als Intelligenz, des Ideals der Vollkommenheit, unter allen Gegenständen in der Welt allein fähig.“ 5
Hier haben wir es nun ausdrücklich und von
höchster Stelle gehört: Was den Menschen dazu
befähigt, zu einem solchen Ideal der Schönheit zu
werden, ist seine Eigenschaft, sich durch Vernunft seine Zwecke selbst zu bestimmen.
Allerdings müssen wir hier pedantisch werden: Der
Mensch ist dazu unter allen Gegenständen als ein-
ziger fähig. Heißt das denn, dass er es automatisch
schon immer ist? Hätte Kant dann nicht vom den
Wörtchen fähig sein absehen müssen und statt-
dessen nur von einem Ist sprechen sollen? Zu etwas
fähig sein, heißt doch letztlich, die Möglichkeit zu
etwas zu haben, also etwas, für das ich etwas tun
muss, zu dessen Zwecke und endgültigen Erfüllung
ich handeln muss. So verstanden bedarf es etwas
Hinzutun des Menschen, um zum Ideal der Schön-
heit aufzusteigen. Oder anders gesagt: Ohne eige-
nes und individuelles Handeln ist die Schönheit des
Menschen nicht so leicht zu haben.
Was ist nun bis hierher daraus gewonnen?
Nun, zunächst einmal nicht viel mehr als die Fest-
stellung, dass der Mensch an sich doch erst mal gar
nicht so schön sein kann, wie zunächst angenom-
men. Er muss offensichtlich durch bestimmtes Han-
deln über sich selbst hinaus gehen und sich so seine
eigene Form geben. Kann der Mensch tatsächlich
auf diese Weise zur Schönheit gelangen?
Bleiben wir dazu beim §17 der Analytik des
Schönen, der uns dazu weiteren Aufschluss gibt.
Kant fährt hier fort:
„Der sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen,
die den Menschen innerlich beherrschen, kann
zwar nur aus der Erfahrung genommen werden;
aber ihre Verbindung mit allem dem, was unsere
Vernunft mit dem Sittlich-Guten in der Idee der
höchsten Zweckmäßigkeit verknüpft, die Seelen-
güte, oder Reinigkeit, oder Stärke oder Ruhe, usw.
in körperlicher Äußerung (als Wirkung des In-
nern) gleichsam sichtbar zu machen: dazu gehö-
ren reine Ideen der Vernunft und große Macht der
Einbildungskraft in demjenigen vereint, welcher
sie nur beurteilen, vielmehr noch, wer sie darstel-
len will.“6
5 KdU AA 05: 233. 10-18
6 KdU AA 05: 235. 17-25
Die Rede ist hier von Darstellung! Um den Aus-
druck unserer sittlichen Ideen sichtbar zu machen,
sie darzustellen, brauchen wir Vernunft und Ein-
bildungskraft. Vorsichtig anders gesagt: Seine sitt-
lichen Ideen zum Ausdruck zu bringen, bedeutet
Arbeit an sich selbst.
Worin kann solche Arbeit bestehen? Da-
mit muss wohl gemeint sein, zunächst seine inne-
re moralische Integrität selbst zu gestalten. Ohne
sittliche Ideen in uns selber, können wir auch keine
sittlichen Ideen zum Ausdruck bringen. Die Arbeit
an sich selbst bedeutet hier also genauer genom-
men erst mal Arbeit in sich selbst. Erst dann, wenn
wir in uns selbst schlüssige und kohärente Wesen
sind, uns ein eigenes Sittengesetz gegeben haben,
können wir uns als in der Lage betrachten, diese
auch nach außen zu tragen, und damit: Schönheit
darzustellen.
Liegen wir mit dieser Vermutung richtig?
Lässt sich dies wirklich aus Kants Werken herausle-
sen? Um weiteren Aufschluss darüber zu erhalten,
müssen wir ein anderes Werk Kants bemühen, in
dem er sich explizit dazu äußert. Die Rede ist nun
von seiner Anthropologie in pragmatischer Hin-
sicht. Im §69 des zweiten Buches des ersten Teils
über das Gefühl der Lust und Unlust, schreibt
Kant unter der bereits vielsagenden Überschrift
Der Geschmack enthält eine Tendenz zur äu-
ßeren Beförderung der Moralität etwas, das des
guten Verständnis halber hier in voller Länge wie-
dergegeben werden muss:
„Der Geschmack (gleichsam als formaler Sinn) geht auf Mitteilung seines Gefühls der Lust oder Unlust an andere und enthält eine Empfäng-
Essay Wettbewerb
102 cog!to 06/2013 Essay Wettbewerb
lichkeit, durch diese Mitteilung selbst mit Lust affiziert, ein Wohlgefallen (complacentia) daran gemeinschaftlich mit anderen (gesellschaftlich) zu empfinden. Nun ist das Wohlgefallen, was nicht bloß für das empfindende Subjekt, sondern auch für jeden anderen, d.i. als allgemeingültig betrachtet werden kann, weil es Notwendigkeit (dieses Wohlgefallens), mithin ein Prinzip dessel-ben a priori enthalten muss, um als ein solches gedacht werden zu können, ein Wohlgefallen an der Übereinstimmung mit der Lust des Subjekts mit dem Gefühl jedes anderen nach einem allge-meinen Gesetz, welches aus der allgemeinen Ge-setzgebung des Fühlenden, mithin aus der Ver-nunft entspringen muss: d.i. die Wahl nach die-sem Wohlgefallen steht der Form nach unter dem Prinzip der Pflicht. Also hat der ideale Geschmack eine Tendenz zur äußeren Beförderung der Mo-ralität. - Den Menschen für seine gesellschaftli-che Lage gesittet zu machen, will zwar nicht ganz so viel sagen, als ihn sittlich-gut (moralisch) zu bilden, aber bereitet doch durch die Bestrebung in dieser Lage anderen wohlzugefallen (beliebt oder bewundert zu werden) dazu vor. - Auf die-se Weise könnte man den Geschmack Moralität in der äußeren Erscheinung nennen; obzwar dieser Ausdruck, nach dem Buchstaben genommen, ei-nen Widerspruch enthält; denn Gesittetsein ent-hält doch den Anschein oder Anstand vom Sitt-lichguten und selbst einen Grad davon, nämlich die Neigung auch schon in dem Schein desselben einen Wert zu setzen.“7
Was bedeutet das alles? Hier hat uns Kant
nun eine ganze Menge gesagt. Versuchen wir das
Wichtigste zu zergliedern:
1.Der Geschmack und das Wohlgefallen an selbi-gem ist ein Mittel des Menschen zur Kommunika-tion mit anderen, er ist gesellschaftsbildend.
2.Dieses Wohlgefallen enthält ein Prinzip a priori, es ist nicht empirisch.
3.Es entspringt der allgemeinen Gesetzgebung des Fühlenden, aus seiner Vernunft, es ist also autonom.
4.Es steht unter dem Prinzip der Pflicht 5.Der gute Geschmack macht uns nicht moralisch, sondern bereitet uns darauf vor.
Wie können wir das alles anders verstehen,
als eine Aufforderung Kants, die Pflicht gegenüber
sich selbst wahrzunehmen und seine Äußerlichkeit
7 Anth. AA 07: 244. 3 - 26
durch Innerlichkeit zu kultivieren? Es scheint nahe-
zu wie ein Appel an die gute Form, den guten Ge-
schmack, den guten Ton und den guten Umgang
mit anderen, kurz gesagt: an Stilfragen! Oder sagen
wir es doch ganz frei heraus: Der kantische Mensch
muss Stil haben!
3. Ein guter Anfang
Im Prinzip ist nun die im Titel dieses Essays formu-
lierte Frage beantwortet. Nach all dem, was wir
bis an dieser Stelle von Kant gehört haben, müs-
sen wir sagen, dass es eine moralische Pflicht gibt,
sich selbst eine Form zu geben. Wir haben damit
die Möglichkeit, unsere eigene Moral nach außen
zu tragen, Sittlichkeit anzuzeigen und dadurch ein
schöner Mensch zu werden. Allerdings sei auch ge-
sagt - und das wird oben im Punkt 5. deutlich: Wir
brauchen gar nicht erst anzunehmen, dass unser
guter Geschmack allein uns moralisch macht, son-
dern er - mit Kant gesagt - bereitet uns auf das Mo-
ralischsein lediglich vor. Und das ist doch ein ganz
guter Anfang! Geschmack ist so gesehen eine Vor-
stufe zum Moralischsein und wir haben Kraft un-
serer menschlichen Vernunft alle Mittel zur Hand,
weitere Stufen zu erklimmen. Der Geschmack hilft
uns, ebnet uns den Weg zur Moral. Aber um das
Wichtigste kommt keiner herum: Die Arbeit daran
müssen wir selbst erledigen!
Und was ist nun eigentlich mit dem Spie-
gel? Nun, der Mensch braucht ihn doch so gese-
hen eigentlich gar nicht. Zwar ist es schicklich und
durchaus ratsam - und schon gleich eine reine Höf-
lichkeit gegenüber anderen - auf seine Äußerlich-
keit zu achten; aber für die tatsächliche Schönheit
erfordert es doch erst mal einen inneren Spiegel!
4. Der schöne, gute Mensch: Ein tätiges Wesen
In einem bekannten Bühnenstück Georg Büchners
hadert dessen Hauptfigur, Leonce, mit der entsetz-
lichen Langeweile seines Daseins. Er beklagt sich
Tag ein, Tag aus, darüber, dass es ihm nicht gelingt
seine Existenz sinnvoll zu meistern, dass ihn keine
sinnvolle Tätigkeit interessiere. So lamentiert er re-
signiert vor sich hin:
7 Anth. AA 07: 244. 3 - 26
103cog!to 06/2013
Verwendete Literatur:
Büchner, Georg: Leonce und Lena, Stuttgart 1952
Gerhardt, Volker: Individualität. Das Element der Welt, Berlin 2000
Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1-22 Preussische Akademie der Wissenschaf-ten, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaf-ten zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissen-schaften zu Göttingen. Berlin 1900ff. (Für diesen Essay insbesondere: KdU, GMS, Anth.)
Hellmuth Plessner: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982
Birgit Recki: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt, Paderborn 2006
„Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regenschirm in die Hand geben, dass sie sehr rechtlich und sehr nützlich und sehr moralisch würde (...). Oh, wer einmal jemand anders sein
könnte. Nur ne Minute lang.“8
Für unsere Zwecke ist diese Stelle äußert
aufschlussreich, weil sie uns auf so anschauliche
Weise vor Augen führt, was man so gerne sein will,
aber was so leicht nicht zu haben ist, nämlich ein
moralisches Wesen, das seine Moral auch nach au-
ßen anzeigt, sie darstellt. Der Fehler von Leonce
liegt darin, dass er meint, allein durch die Mode, den
Frack, dem Regenschirm, also durch pure Äußerlich-
keit, „moralisch“ zu werden. Darin liegt seine Tragik:
Er, die arme Puppe, wird auf diese Weise niemals
moralisch werden und wird immer den Wunsch ha-
ben, jemand anders zu sein, so lange er nicht zu sich
selbst kommt, sich von innen, durch seine Vernunft
ein Sittengesetz, eine Moral gibt.
Damit wären wir wieder am Anfang an-
gekommen, dem Wunsch danach, dass der gute
Mensch ein schöner Mensch sein soll. Diesem
Wunsch ist, wie so viele andere, auch Büchners Le-
once erlegen.
8 Georg Büchner: Leonce und Lena, 1. Akt, 1. Szene
Hätte Leonce nur, anstatt seine Zeit auf das Lang-
weilen zu verschwenden und sich darin selbst zu
bemitleiden, die Entscheidung getroffen, ein Kant-
Studium zu beginnen - wäre er also tätig geworden
- hätte er einen Weg aus seiner selbstverschulde-
ten Misere eigenständig finden können.
Insofern muss man an dieser Stelle auch dem so
oft gehörten Klassiker der Kant-Kritik den Wind
gehörig aus den Segeln nehmen: Dass Kants Ethik
bloß formalistisch und dem individuell tatsächlich
Handelnden realitätsfern sei.
Denn wie ist das Thema dieses Essays wohl
anders zu verstehen, denn als eine Anleitung Kants
zu einem tätigen, praktischen Lebensvollzug?
Von Fabian Heinrich
Zu Fabian Heinrich:
Fabian Heinrich studierte Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Hamburg. Vor allem beschäftigte er sich mit dem verbindenden Element zwischen den beiden Dis-ziplinen: der Ästhetik. Darüber hinaus interessiert er sich besonders für Ethik, Politik und die Philosophie Immanuel Kants. Seinen Bachelor schloss der Gewinner unseres Essay Wettbewerbs unter der Betreuung von Prof. Dr. Wolfgang Kemp mit einer Arbeit über zeitgenössische Kunstsammler ab. Gerade bereitet er sich auf die Bewerbung für den Master in Philosophie an der LMU vor, wo er voraussichtlich ab Win-tersemester 13/14 studieren wird.
Essay Wettbewerb