Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)
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Peter-Heinz Seraphim (1902-1979) ‘Judenforscher’ des Dritten Reiches
Masterarbeit DuitslandstudiesUniversiteit van Amsterdam
Januar 2018
Mike Weiss Studentnummer: 5858771Begleiter: dr. M.J. FöllmerZweiter Leser: dr. W.F.B. Melching
Inhaltsverzeichnis
Einleitung__________________________________________________________2
1 Die ‘Judenforschung’ im Dritten Reich______________________________6-18
1.1 Entstehung der nationalsozialistischen ‘Judenforschung’___________________6 1.2 Institutionen der ‘Judenforschung’ ____________________________________9
1.3 Die nationalsozialistische ‘Judenforschung’____________________________12
2. Der ‘Judenforscher’ Peter-Heinz Seraphim ________________________19-32
2.1 Biografie: Peter-Heinz Seraphim, 1902 bis 1945 ________________________19
2.2 Der Weg Seraphims zum Antisemitismus und Nationalsozialismus__________25
3: Ansatz und Einflüsse:
Seraphims nationalsozialistischer ‘Judenforschung’ ___________________32-64 3.1 Seraphims ‘wissenschaftlicher’ Ansatz________________________________32
3.2 Einfluss der ‘Judenforschung’ von Seraphim auf die ‘Judenpolitik’
des Dritten Reiches __________________________________________________52
Fazit______________________________________________________________64
Bibliographie _______________________________________________________68
�1
Einleitung
Der Antisemitismus in Europa kennt eine lange Geschichte. Schon in der Zeit der Jahnschen Turner
und der Burschenschaftler zwischen 1815 und 1848 gab es in Deutschland Formen von
Antisemitismus. Die Mitglieder dieser Organisationen skandierten: ‘Polen, Franzosen Pfaffen,
Junker und Juden sind Deutschlands Unglück.’ In Deutschland wohnten damals, Anfang des 19. 1
Jahrhunderts, ungefähr 100.000 Juden. Diese kulturelle Vielfalt stieg 1919, als die Provinz Posen
und das neu erstandene Polen abgetreten werden musste und die dortigen jüdischen Deutschen
Richtung Berlin flohen. Damit stieg die Anzahl auf 500.000 in Deutschland, etwa doppelt soviel wie
in England und fünf Mal so viel wie in Frankreich. 2Unterstützt von einer schlechten wirtschaftlichen und politischen Situation des Landes in der
zwanziger Jahren und einer in den Augen vieler deutscher Bürger beängstigenden Anzahl von Juden
in Deutschland, breitete der Antisemitismus sich weiter aus. Dieser Antisemitismus wurde weiter
gestärkt, als die Nazis Anfang der dreißiger Jahre versuchten, an die Macht zu kommen.
Nationalsozialistische Propaganda über den Glauben an ‘den Geist von vor 1914’ ging einher damit,
die Juden als Schuldige für die wirtschaftlichen und politischen Probleme sowie als Fremdkörper
innerhalb der deutschen Bevölkerung auszumachen. Millionen von Deutschen sahen in den 3
Argumenten und den Lösungen der Nationalsozialisten die richtige Antwort auf ihre Probleme.
Mit Hilfe der Rassenkunde, die zwischen Biologie, Medizin, Anthropologie und Ethnologie in der
Mitte des 19. Jahrhunderts entstand, konnten die Nazis auf ‘wissenschaftlicher‘ Basis einen
Rangunterschied machen zwischen verschiedenen menschlichen Großgruppen und die
Diskriminierung der Juden legitimieren. Doch diese ‘Wissenschaft’ war für die Nazis nicht die 4
einzige Forschungsrichtung, die den Antisemitismus rechtfertigte. Neben der Rassenkunde gab es
nach der Machtergreifung noch eine andere einschlägige ‘Wissenschaft’: die ‘Judenforschung’.
Diese ‘Forschung’ sollte für die Nationalsozialisten eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz
kreieren und ihren Antisemitismus legitimieren. Trotz dieser politischen Bedeutung gibt es
heutzutage merkwürdigerweise nur wenig Versuche, diese Wissenschaft und ihre Wissenschaftler zu
analysieren. Auch wird sie kaum in der allgemeinen Geschichte des Dritten Reiches genannt. Sie
wurde oft als eine ‘fragwürdige’ Wissenschaft gesehen, die geringen Einfluss gehabt haben soll auf
die Pläne des Dritten Reiches zur Beseitigen der Juden. Raul Hilberg zum Beispiel tat in seinem 5
Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass, 1800-1933 (Frankfurt am Main 2011) 10.1
Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? (2011) 10.2
Richard Bessel, Nazism and War (London 2006) 82.3
Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? (2011) 120.4
Dirk Rupnow, 'Judenforschung' im Dritten Reich: ‘Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie’ (Baden Baden 2011) 60.5
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Werk, Die Vernichtung der europäischen Juden die ‘Judenforschung’ nur als eine reine
Propagandamachine ab, erklärte aber weiter nicht, welchen Einfluss die ‘Judenforschung’ hatte oder
wie sie sich im Dritten Reich zu einer ‘wissenschaftlichen Forschung’ entwickelt hatte. Auch Saul
Friedländer beschreibt sie in Das dritte Reich und die Juden nur beiläufig.6
Um dem Antisemitismus der Parteiideologie eine eigene geisteswissenschaftliche
Existenzberechtigung zu verschaffen und die Entwicklung der ‚Judenforschung‘ zu fördern, wurden
Akademiker aus verschiedenen Disziplinen übernommen. Einer dieser neuen ‘Wissenschaftler’ war
der Gelehrte Peter-Heinz Seraphim. Er setzte sich ein für die ‘Judenforschung’ und wurde der 7
wichtigste Träger des Instituts zur Erforschung der Judenfrage, das 1941 zur Förderung der
‘Judenforschung’ errichtet wurde. Seraphim fing in den dreißiger Jahren an mit ‘wissenschaftlichen’
Untersuchungen über das Judentum. Sein Buch Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938)
war eines der umfangreichsten Werke der neuen Richtung, womit er schnell zu einem Experten der
'Judenforschung' wurde. Auffallend ist, dass Seraphim vor seinem Hauptwerk nie etwas publizierte
über die jüdische Frage oder über die Juden überhaupt. Zuvor hatte er sich nur beschäftigt mit
volkswirtschaftlichen Analysen und Theorien zum Beispiel über Polen.
In dieser Masterarbeit wird erörtert, welchen Ansatz Peter-Heinz Seraphim als
‘Wissenschaftler’ im Dritten Reich verfolgte und warum er sich für die ‘Judenforschung’
interessierte. Die Hauptfrage wird dabei sein: Inwiefern folgte Seraphim mit seiner
‘Judenforschung’ dem Mainstream oder setzte sich von der allgemeinen ‘Judenforschung’ ab? Diese Hauptfrage wird anhand verschiedener Unterfragen beantwortet. Es wird zuerst erklärt, was
die ‘Judenforschung’ beinhaltete und wie sie sich entwickelte im Dritten Reich. Dabei werden
Beispiele gegeben von verschiedenen wissenschaftlichen Werken, die damals zur der
‘Judenforschung’ gezählt wurden. Weiter werden in diesem ersten Kapitel auch verschiedene
Institutionen genannt, die wichtig waren für die Entwicklung und die Organisation der
‘Judenforschung’.
Im zweiten Kapitel wird die Person Seraphim untersucht, wobei neben seinem biographischen
Hintergrund sein Weg zum Antisemitismus und Nationalsozialismus im Zentrum steht. Im dritten
Kapitel wird die Hauptfrage beantwortet, indem der Ansatz von Seraphim dargestellt wird anhand
einiger Studien, die sich mit dem ‘Wissenschaflter’ mit unterschiedlichen Akzenten
auseinandergesetzt haben. Diese Erkenntnisse werden durch eigene Untersuchungen ergänzt und
unterstützt, wobei das Hauptwerk Das Judentum im osteuropäischen Raum den Ausgangspunkt
Rupnow, 'Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 60.6
Alan E. Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim’ in: Daniel E. Rogers und Alan E. Steinweis, 7
The Impact of Nazism: New perspectives on the Third Reich and Lagacy (Nebraska 2003) 70.
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markiert. Es werden verschiedene Stellen im Werk von Seraphim analysiert und mit der
‘allgemeinen Judenforschung’ verglichen.
Es gibt nicht viele Historiker, die sich mit Seraphim auseinander gesetzt haben. Einige haben sich
nur sehr kurz zur Seraphim geäussert, wie zum Beispiel Michael Burleigh in seinem Werk Die Zeit
des Nationalsozialismus. Dort tut er den Wissenschaftler Seraphim als einen akademischen
Antisemiten ab. Es gibt viele verschiedene Studien über den Antisemitismus, aber Werke über die 8
nationalsozialistische ‘Judenforschung’ und Seraphim viel weniger. Trotz der ständigen Debatte
über die Rolle der deutschen Historiker im Dritten Reich wurde diese ‘Judenforschung’ oft eher am
Rande besprochen. Ein Historiker, der sich aber viel beschäftigt hat mit der ‘Judenforschung’, ist Dirk Rupnow.
In seinem Buch Judenforschung im Dritten Reich: Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und
Ideologie hat er das Spannungsfeld der ‘Judenforschung’ eingeteilt in Wissenschaft, Propaganda
und Politik. Rupnow erörtert, welche verschiedene Institutionen die ‘Judenforschung’ entwickelt
haben und zeigt deren Anfangsphase, Hochphase und Ende, wobei er die Gründe für deren
Scheitern herausarbeitet. Auch zeigt er, welche Funktion die ‘Judenforschung’ im NS-Regime
ausübte und welche ‘Wissenschaftler’ einen wichtigen Beitrag dazu leisteten. Weil es nur wenige
Studien zur ‘Judenforschung’ gibt, ist Rupnows Buch für diese Arbeit wichtig. Ein anderer Experte, der sich nicht nur mit der ‘Judenforschung’ beschäftigt sondern auch mit der
Hauptperson Peter-Heinz Seraphim, ist Alan Steinweis. Er hat sich in verschiedenen Studien mit der
‘Judenforschung’ von Seraphim befasst, vor allem in Studying the Jew. Scholarly Antisemitism in
Nazi Germany. 9Ein weiteres Werk, dass wichtig ist bei der wissenschaftlichen Untersuchung der
nationalsozialistischen ‘Judenforschung’, ist das Werk von Hans Christian Petersen
Bevölkerungsökonomie - Ostforschung - Politik: eine biographische Studie zu Peter-Heinz
Seraphim. Dieses Werk ist eine der wichtigsten Quellen für diese Arbeit. Es zeigt nämlich, wie
Seraphim seine Studien organisierte und wie er sein wissenschaftliches Objekt bestimmte. Petersen
erläutert, wie Seraphim seine Untersuchungen einsetzte für die Lösung der ‘Judenfrage’ und welche
Position er sich zugeeignet hatte im politischen System des Dritten Reiches.10
Weiter haben Götz Aly und Susanne Heim wichtige Beiträge gelieferten für die Beurteilung von
Seraphim als eines der Mitschuldigen an der Holocaust. Auch machen sie interessante Aussaugen
über die ‘Objektivität’ seiner Werke.
Rupnow, 'Judenforschung' im Dritten Reich (20011) 61.8
Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim’ (Nebraska 2003).9
Hans Christian Petersen Bevölkerungsökonomie - Ostforschung - Politik: eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902-1979)10
(Osnabrück 2007) 127.
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Die ‘Judenforschung’ ist nicht sehr bekannt, vor allem nicht die Unterschiede zwischen den
in ihrem Rahmen tätigen Wissenschaftler. Dirk Rupnow spricht von einer großen Zahl von
‘Judenforschern’, arbeitet aber die Besonderheiten Seraphims gegenüber seinen Kollegen heraus.
Auch Petersen, Steinweis, Götz Aly und Susanne Heim zeigen nur nebenbei den Unterschied
zwischen der ‘wissenschaftlichen’ Forschung Seraphims und den anderen ‘Judenforschungen’ im
Dritten Reich. Deswegen ist es interessant, die Methode von Seraphim zu analysieren, um zu
klären, ob diese einzigartig war oder sich in den Mainstream der damaligen ‘Judenforschung’
einfügte. Die Frage dieser Masterarbeit, inwiefern folgte Seraphim mit seinen 'Judenforschung'
zwischen 1933-1945 dem Mainstream oder setzte sich von den Allgemeinen ‘Judenforschung’ ab?,
ergibt sich damit logisch aus der Beschäftigung mit dem Thema. Im Fazit wird ferner die Frage
erörtert, inwiefern Seraphim Mit-Schuld trägt am Holocaust.
�5
1: Die ‘Judenforschung’ im Dritten Reich
1.1: Entstehung der nationalsozialistischen ‘Judenforschung’.
Dirk Rupnow behauptet in seiner Habilitationsschrift, ‘Judenforschung’ im Dritten Reich:
Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, von 2011, dass die ‘Judenforschung’ das
Ziel gehabt habe,
“als wissenschaftliches Forschungsgebiet die antijüdischen Maßnahmen mit einer Aura der
Respektabilität zu versehen.“ 11
Die ‘Judenforschung’ sollte eine bestimmte Legitimität für das Lösen der ‘Judenfrage’ schaffen und
für das deutsche Volk begründen, dass die Erlösung vom Judentum eine Notwendigkeit für die
Zukunft eines ‘neuen’ Deutschlands sei. Denn bei den Nationalsozialisten gab es die Überzeugung,
dass die Beseitigung des Judentums für die Bürger des Dritten Reiches ‘akzeptabler’ sein würde,
wenn die Notwendigkeit, die ‘Judenfrage’ zu lösen, wissenschaftlich fundiert wäre. Diese
‘Judenfrage’ war eine lange und alte ‘Debatte’ über die sogenannten ‘Probleme’ der Emanzipation
der Juden in den verschiedenen europäischen Gemeinschaften. Die Diskussion entstand schon im
18. Jahrhundert in Großbritannien und Frankreich kurz nach der Französischen Revolution und
betonte am Anfang die politischen Probleme der Juden innerhalb der jeweiligen nationalen
Gemeinschaft. Sie wurde als ‘jüdische Frage’ oder ‘Judenfrage’ bezeichnet. Die 12
Nationalsozialisten machten daraus das Konzept, das Judentum als Hindernis der gesellschaftlichen
Entwicklung in Deutschland darzustellen.
Die ‘Judenforschung’ beschäftigte sich vor allem mit der ‘Judenfrage’, sie war aber kein
naturwissenschaftliches Studium, das sich mit Rassenkunde oder anthropologischen Fragen
befasste. Dies geschah trotz der Tatsache, dass eine biologische-rassistische Perspektive die Basis
für die Gründung der ‘Judenforschung’ war. Denn letztlich wurden die Juden im
nationalsozialistischen Deutschland unter anderem durch Charaktereigenschaften, als moralisch
korrupt und damit als ‘gefährlich’ für das deutsche Volk, definiert. 13
Die NS-‘Judenforschung’ stellte nach der Machtergreifung nicht sofort eine offiziell genehmigte
anti-jüdische ‘Wissenschaft’ dar. Die Nationalsozialisten versuchten aber, eine solche daraus zu
machen, indem sie die ‘Judenforschung’ mit Hilfe von außeruniversitären nationalsozialistischen
Institutionen und Universitäten, die jüdische Geschichte als Forschungsthema hatten, unterstützten
und förderten. Auf diese Weise versuchten sie letztendlich die ‘Judenforschung’ in der deutschen
akademischen Welt zu verankern. Das Ziel der ‘Judenforschung’, einen Lehrstuhl an bestehenden
Dirk Rupnow, 'Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 60.11
Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? (2011) 46.12
Steinweis, Studying the Jew: scholarly antisemitism in Nazi Germany (Cambridge, Mass. 2006) 34.13
�6
Universitäten zu schaffen, wurde aber nicht erreicht, denn trotz der Gleichschaltung der
Universitäten seit 1933 und dem geringen Widerstand gegen die neuen Ansätze wurde die
‘Judenforschung’ nicht offiziell an bestehenden Universitäten etabliert. Es wurden verschiedene
konkrete Pläne, neue Lehrstühle zu errichten oder bestehende Lehrstühle zur jüdischen Geschichte
mit ‘Judenforschern’ zu besetzen, doch die meisten Versuche scheiterten an praktisch-rechtlichen,
budgetären oder hochschulpolitischen Vorgaben sowie Rahmenbedingungen der Universitäten.
Letztendlich misslangen sie wegen der fehlenden Zeit, vollständige Lehrstühle zu realisieren. Wie 14
bereits erwähnt sollte die ‘Judenforschung’ auf wissenschaftliche Weise ideologisch und politisch
die nationalsozialistische antijüdische Politik erläutern und das Feindbild der Juden legitimieren.
Denn ohne den Juden als Feind hätte die NS-Rassenideologie keine Existenzberechtigung gehabt. 15
Um dies zu erreichen, wurden eigentlich fast alle nationalsozialistischen ‘wissenschaftlichen’
Untersuchungen, die sich mit den antijüdischen Theorien befassten, als ‚Judenforschung‘
bezeichnet. Hierzu zählten nicht die ‘Rassenwissenschaft’ oder die ‘physische Anthropologie’. Die
biologisch-rassistische Perspektive war nämlich für die ‘Judenforschung’ unwichtig. Die
Rassentheorie stellte zwar die Basis für die Wissenschaft dar, doch bezeichnete man keine
Rassenforscher als ‘Judenforscher’ oder führte rassentheoretische Untersuchungen in diesem
Rahmen aus. Es gab eher Historiker, Theologen, Germanisten, Orientalisten, klassische Philologen,
Juristen und Soziologen, die zusammen oder nebeneinander politische, kulturelle, intellektuelle und
gesellschaftliche Fragen beantworteten. Es bestanden gelegentliche interdisziplinäre Kooperationen
zwischen den ‘Judenforschern’ und den ‘Naturwissenschaftlern’ oder spezifischer den genetischen,
biologischen rassenorientierten ‘Wissenschaftlern’, doch dies führte nie zu bestimmten
gemeinsamen Arbeiten oder Projekten. 16
Rupnow behauptet weiter, dass die NS-‘Judenforschung’ zwischen ‘Wissenschaft’ und
Propaganda gestanden habe. Man könnte auch sagen, dass sie zwischen der nationalsozialistischen
Ideologie und der praktischen nationalsozialistischen ‘Judenpolitik’ stand, die sich sowohl mit der
Ausgrenzung der Juden als auch mit deren Vertreibung bis hin zum Massenmord befasste. Die
‘Judenfrage’ war im Prinzip der Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Interesses und der Fokus
der Forschung. Dabei waren aber nicht nur Juden oder das Judentum an sich Thema, sondern auch
Antisemiten und der Antisemitismus.
Vor 1933 war es nicht die Wissenschaft des Judentums, die innerhalb der jüdischen Gemeinde
betrieben wurde und sich schwerpunktmäßig mit der Religion und biblischen Studien befasste, die
Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim’ (2003) 74.14
Rupnow, Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 20.15
Steinweis, Studying the Jew (2006) 75.16
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wichtig war für die spätere Entwicklung der Organisation der ‘Judenforschung’. Es war die
Ostforschung.
Die Ostforschung bezeichnete eine multidisziplinäre Forschungsrichtung, die offiziell als
Fachgebiet erst nach dem Ersten Weltkrieg im Deutschland entstand. Sie war eine sehr etablierte
Disziplin am Anfang des 20. Jahrhunderts und entwickelte sich in den zwanziger Jahren zu einer
Forschungsrichtung, die sich auf Ost- und Mitteleuropa konzentrierte. Weiter fällt auf, dass die
Ostforschung einen sehr starken deutsch-historischen Blickwinkel auf die osteuropäischen
Regionen hatte. Dieser stellte damals noch keine direkte sinistre Verbindung zur Unterdrückung,
Vertreibung und Vernichtung der dort ansässigen Bevölkerung dar, wie wir sie heutzutage aus der
Politik des Dritten Reiches kennen. Der Ursprung der Ostforschung lag in der
Geschichtswissenschaft, genauer gesagt in der osteuropäischen Geschichte: einer Wissenschaft, die
sich im 18. Jahrhundert entwickelte und die von Anfang an in der damaligen deutschen
akademischen Welt universitär verankert war. Diesen Einfluss der osteuropäischen
Geschichtswissenschaft erkennt man sehr deutlich in der ‘Judenforschung’, weil die meisten ihrer
Arbeiten historisch ausgerichtet waren. Gegenüber der osteuropäischen Geschichte entwickelte 17
sich die deutsche Ostforschung nach dem Ersten Weltkrieg primär außeruniversitär, weil sie noch
andere Ziele behandelte als nur die Erforschung Osteuropas. Sie entwickelte historische
Legitimationen für die Revision der Nachkriegsgrenzen und wurde daher von nationalistischen
Verbänden wie zum Beispiel dem Alldeutschen Verband, dem Deutschbund (1891-1939) und dem
Deutschen Ostmarkenverein (1894-1934) gefördert. Dies geschah, um Forschungen vorzunehmen,
die deren ideologische und politische Ziele ‘wissenschaftlich’ unterstützten. Beispiele, die sich
später auch für die Entwicklung der ‘Judenforschung’ als wichtig erwiesen, waren die bekannten
Konzepte wie “Volksboden“ und „Kulturboden“. Diese Konzepte wurden unter anderem vom
Geographen Albrecht Penck (1858-1945) entworfen, der mit seinem Institut, der Stiftung für
deutsche Volks- und Kulturboden-Forschung (1920-1931), wichtige Beiträge lieferte zur
Entwicklung der Ostforschung. Penck sprach von Spuren der deutschen Kultur im Osten und
legitimierte die ‘historischen’ Ansprüche auf diese Gebiete mit seinen ‘wissenschaftlichen’ Arbeiten
wie zum Beispiel dem Buch Deutscher Volks- und Kulturboden (Breslau 1925). Pencks Konzepte
von einen bestimmten historischen deutschen Boden passten perfekt zu den späteren
nationalsozialistischen Entwürfen wie der Blut- und-Boden-Ideologie. Deshalb wurden sie von den
Nationalsozialisten angeeignet. Eine Vernichtung der osteuropäischen Bevölkerung war in der
Ostforschung noch kein Thema, es fällt aber auf, dass die dortige Bevölkerung schon Anfang der
zwanziger Jahre als minderwertig und als bloße Objekte ethnischer Politik gesehen wurden.
Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim’ (2003) 74.17
�8
Wie erwähnt, gab es schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte geopolitische
Vorstellungen eines altdeutschen Reiches, die sich auf die Zeit des Mittelalters bezogen. Die
Ostforschung trug zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zu dieser Legitimation einer eventuellen
Kolonialisierung weiter Teile Osteuropas bei. Doch diese Legitimation wurde gegen Ende der 18
zwanziger Jahre immer stärker. Zudem entwickelte die Ostforschung sich zu einer immer
dezidierter antislawischen ‘Forschung’, die auf der Theorie der Überlegenheit der nordischen Rasse,
der Herrenmenschenideologie, basierte. Der Rassenlehre und der Idee eines Lebensraumes im
Osten kam eine immer größere Rolle zu. Die Legitimation für diese Wissenschaft, vor allem die
Forschung zu Volks- und Kulturboden, wurde von diesen Ideen beeinflusst. Für die Nazis war die
Ostforschung ein interessantes Fachgebiet. Das nationalsozialistische Konzept des Lebensraums
passte zu den Versuchen, die Kolonisierung historisch, geographisch und ethnisch zu legitimieren.
Das Regime wollte diese Geisteswissenschaft im Sinnen seiner eigenen Ideologie völlig
gleichschalten, um entscheidende Probleme der deutschen Lebensordnung und der neuen
Einordnung der Bevölkerung Osteuropas zu lösen. Nach der nationalsozialistischen
Machtübernahme erfuhr die Ostforschung keine tiefe Zäsur, sondern einen umfangreichen Ausbau
ihrer Kapazitäten. Aus dieser von den Nationalsozialisten geförderten Ostforschung entwickelte
sich später die ‘Judenforschung’. Die Nationalsozialisten leisteten einen wichtigen Beitrag zu der
Entwicklung der ‘wissenschaftlichen ‘Judenforschung’. Einige Akademiker der Ostforschung
wurden nämlich von den Nazis für die ‘Judenforschung’ gebraucht und eingesetzt. Auch die
Methodik und das Vokabular wurden wiederverwendet. Ferner baute die ‘Judenforschung’ auf 19
einer langen Tradition von Antisemitismus in Deutschland aufgebaut, die von verschiedenen
Instituten, Philosophen oder Literaten geschaffen worden war.20
1.2 Institutionen der ‘Judenforschung’
Nach der Machtergreifung kam es im Dritten Reich in einer kurzen Zeitspanne zu einer
Gründungswelle von verschiedenen außeruniversitären Institutionen der ‘Judenforschung’. Die
meisten wurden zwischen 1936 und 1943 errichtet, was auch die wichtigste und aktivste Periode der
‘Judenforschung’ darstellte. In dieser Zeit wurde sie am meisten praktiziert, gefördert und von den
Nationalsozialisten geschätzt. Mit Hilfe von etablierten Wissenschaftlern und schon bestehenden
wissenschaftlichen Institutionen, die sich unter anderem mit der Ostforschung beschäftigten,
wurden neue Einrichtungen geschaffen. Allerdings geschah dies nur, wenn eine bestimmte enge
Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 69.18
Ibidem 70.19
Dirk Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich in: Patterns of Prejudice (2008) Vol.42.1. 7.20
�9
Verbindung möglich war mit Menschen, die einen akademischen Abschluss hatten oder mit schon
anerkannten etablierten Wissenschaftlern, die an einer Universität tätig waren. Die 21
Nationalsozialisten wollten erreichen, dass die antijüdische Forschung sich mit wissenschaftlich
verankerten Lehrstühlen innerhalb der akademischen Welt entwickelte. Solche Änderungen und
Errichtungen kamen aber nur langsam zu Stande, weil das deutsche universitäre System damals sehr
konservativ war. Die ‘Judenforschung’ wird von Rupnow charakterisiert als
“ein dissidentes Projekt, das sich gegen den etablierten universitären Habitus von Wissenschaft und
Wissenschaftlern absetzen wollte, um so den vollständigen neuartigen Charakter der Unternehmung
zu verstärken, von dem aus die gesamte, als verstaubt, unschöpferisch und abgehoben denunzierte
akademische Wissenschaft erneuert werden sollte”.22
Weil die Errichtung von Lehrstühlen für ‘Judenforschung’ nur langsam in Gang kam und am
Ende keinen Erfolg darstellte, versuchten die Nationalsozialisten, eine transdisziplinäre
Forschungsrichtung zu entwickeln und mit außeruniversitären Einrichtungen oder Institutionen zu
verbinden. Demzufolge fanden die meisten verschiedenen entsprechenden Untersuchungen nicht an
den Universitäten statt und wurde die ‘Judenforschung’ betrieben ohne offiziellen Lehrstühle.
Eines der ersten Institute, an dem die ‘Judenforschung’ betrieben wurde, war das Institut zum
Studium der Judenfrage (1934), welches dem Propagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945)
unterstellt war. Dieses wurde ab 1939 unter dem Namen Antisemitische Aktion und 1942 als
Antijüdische Aktion weitergeführt. Das Institut wurde errichtet mit dem Ziel, die ‘Judenfrage’ zu
bereinigen. Weiter bestand die Aufgabe des Instituts darin, die Beobachtung, Registrierung und
Erfassung des ‘Weltjudentums’ zu bewerkstelligen. Dazu gehörten Projekte wie einer Bibliographie
mit Namen von jüdischen Autoren, die in den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften tätig waren,
um sie in der Zukunft aus deren Diskurs auszuschließen. Ein anderes Institut war das Reichsinstitut
für Geschichte des neuen Deutschlands. Es wurde 1935 bei einem Festakt an der Berliner
Universität in Anwesenheit unter anderem von Rudolf Hess und Alfred Rosenberg gegründet.
Dieses Institut war eingegliedert in das Reichswissenschaftsministerium und sollte die neue
Geschichte, beispielsweise die der Französischen Revolution bis zur ‘nationalsozialistischen
Revolution’, erforschen. Es hatte verschiedene Abteilungen, unter anderem die 1936 errichtete
Forschungsabteilung Judenfrage. Diese Abteilung wurde errichtet von Walter Frank (1905-1945).
Am Anfang war einer der wichtigsten Mitarbeiter Wilhelm Grau (1910-2000), der mit gerade
Rupnow, Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 63.21
Ibidem 63.22
�10
einmal 26 Jahren Leiter der Forschungsabteilung wurde. Zuvor hatte er sich schon mit seiner
Dissertation über die Vertreibung der Regensburger jüdischen Gemeinde im Jahr 1450-1519 (1939)
als vielversprechender ‘Judenforscher’ stark profiliert.23
Ein anderes war das Institut zur Erforschung der ‘Judenfrage’ (1939) in Frankfurt am Main,
welches von Alfred Rosenberg (1893-1946) geleitet wurde. Es beherbergte eine große jüdische
kulturelle Sammlung, darunter eine Judaica- und Hebraica-Sammlung aus dem Ende des 19.
Jahrhunderts, die die National-Sozialisten von jüdischen Bürgern geraubt hatten. Viele verschiedene
beschlagnahmte Werke von Juden oder aus jüdischem Besitz wurden hier gesammelt. Peter-Heinz
Seraphim arbeitete unter anderem für dieses Institut als wissenschaftlicher Mitarbeiter und 1941 als
Schriftleiter der institutseigenen Zeitschrift Der Weltkampf, die 1941 in einer Auflage von 6000
Exemplaren erschien. Später wechselte Wilhelm Grau zu diesem Institut, da bestimmte Konflikte
bestanden mit Walter Frank, dem Leiter der Forschungsabteilung ‘Judenfragen’. Es stellte ein
wichtiges Institut dar, weil die Nationalsozialisten aus ihm heraus versuchten, die ‚Judenforschung’
zentral zu organisieren. 24
Ein anderes Institut, welches sich mehr auf die religiösen Aspekte der ‘Judenforschung’
konzentrierte, war das Institut zur Erforschung und Beseitigung der jüdischen Einflüsse auf das
deutsche Kirchliche Leben in Eisenach. Dieses Institut wurde am 6. Mai 1939 errichtet und stand
unter der Leitung des Theologen Walter Grundmann (1906-1976). Es hatte als Aufgabe die
‘Entjudung’ des religiösen Lebens. Diese ‘Entjudung’ wird in einem der wichtigsten Werke von
Grundmann, Die Entjudung des religiösen Lebens als Aufgabe deutscher Theologie und Kirche
(1939) deutlich gezeigt. In seinen weiteren Werken erstellte er ein neues Testament, welches keine
hebräischen Worte enthielt. So lieferte er eine bestimmte sogenannte wissenschaftliche, aber auch
religiöse Legitimation zur Judenvernichtung. Im Reichssicherheitshauptamt, welches von Reinhard Heydrich (1904-1942) geleitet wurde
und sechs verschiedene Abteilungen umfaßte, förderte man unter der Abteilung II Gegnerforschung
(1939) die ‘Judenforschung’. Diese Abteilung war primär darauf eingerichtet, wissenschaftliche
Untersuchung über ideologische Feinde innerhalb des Dritten Reiches zu analysieren. Unter 25
Einfluss von Heydrichs Chef, Heinrich Himmler (1900-1945), konzentrierte man sich vor allem auf
die Erforschung der Juden im deutschen Mittelalter. Unter anderem vom Historiker Hermann
Löffler (1908-1978) wurden Themen erforscht wie zum Beispiel: Judentum und Handel im Zeitalter
der Fugger und Welser, Der Hofjude, Führende Juden im Kampf um die Emanzipation, Die
Rupnow, Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 68.23
Ibidem 75.24
Robert Gerwarth, Hitlers beul leven en dood van Reinhard Heydrich 1904-1942 (Amsterdam 2012) 47.25
�11
Verbindung des Judentums mit den Führenden Männern des II. Reiches, Der Jude in den
Kriegsgesellschaften, Judentum und Revolution und Judentum und Bauerntum. 26
Weiter gab es noch das Institut für Deutsche Ostarbeit (IDO), welches 1940, am Geburtstag des
„Führers“, vom Generalgouverneur Hans Frank (1900-1946) errichtet wurde. Im IDO wurde das
Referat ‘Judenforschung’ errichtet. Weiter hatte das Institut zwei verschiedene ‘wissenschaftliche’
Publikationsorgane, die Vierteljahreszeitschrift Die Burg (30.000 Exemplare 1941) und das
Mitteilungsblatt Deutsche Ostforschung aus dem Osten (2000 Exemplaren 1940). Josef 27
Sommerfeldt, der Leiter dieses Referats, war zusammen mit Peter-Heinz Seraphim der wichtigste
und produktivste Mitarbeiter dieser ‘historisch’ ausgerichteten ‘Ostjudenforschung’.
1.3 Die national-sozialistische ‘Judenforschung’
Es gab viele verschiedene Ostforscher, aber die Zahl der nichtjüdischen und pro-
nationalsozialistischen Wissenschaftler, die die Regierung gebrauchen konnte zur Lösung der
‘Judenfrage’, war am Anfang begrenzt. Trotzdem kam es innerhalb kurzer Zeit zu verschiedenen
Initiativen bei der Errichtung der ‘Judenforschung’. Dies geschah durch einige wichtige Akteure.
Ein Beispiel ist Wilhelm Grau (1910-2000), der mit seinen Werken Die Vertreibung der
Regensburger jüdischen Gemeinschaft im Jahr 1519 (1934) und Wilhelm Humboldt und das
Problem des Juden (1935) ein Vorreiter war für die nichtjüdische deutsche und antisemitische
‘Judenforschung’. Weiter gab es noch Jozef Sommerfeldt (1914–1992), einen Historiker, der 28
Werke schrieb wie Das Schicksal der jüdischen Bauernkolonisation Josefs II. in Galizien (1941).
Oder Reinhart Maurach (1902-1976), ein Jurist, der sich auf osteuropäisches Recht konzentrierte.
Er schrieb aber auch Werke über die ‘Judenpolitik’ im Osten, wie zum Beispiel Die Russische
Judenpolitik (München 1938). Ein anderes Beispiel war Gerhard Kittel (1888-1948). Er kam
ursprünglich aus einem ganz anderem Fachgebiet, der Theologie, war aber ein sehr starker
Antisemit. Nach der Machtergreifung war er der theologische Experte für die ‘Judenfrage’ und
Mitbegründer des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands in 1935. Weiter war er wie
Peter-Heinz Seraphim Mitarbeiter des Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt. Er
schrieb Werke wie Die Judenfrage (1933) und Die historischen Voraussetzungen der jüdischen
Rassenmischung (1939). Ein anderer ‘Judenforscher’ war Walter Frank (1905-1945). Er war ursprünglich Historiker
und wurde bei der Errichtung 1935 Präsident des Reichsinstituts für Geschichte des neuen
Rupnow, Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 111.26
Ibidem 11227
Ibidem 193.28
�12
Deutschlands. Er errichtete die Forschungsabteilung zur ‘Judenfrage’. Weiter bemühte er sich 1936,
die Historische Zeitschrift gleichzuschalten und gründete innerhalb dieser Zeitschrift ein Referat zur
Geschichte der ‘Judenfrage’. Ebenfalls Historiker war Klaus Schickert (1909-unbekannt), der genau
wie Peter-Heinz Seraphim in Königsberg gewohnt und studiert hatte. Er brach seine historische
Dissertation 1933 ab, um später, 1937, mit der Dissertationsschrift Die Judenfrage in Ungarn.
Jüdische Assimilation und antisemitische Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert zu beginnen und
sich so mehr auf die ‘Judenforschung’ zu konzentrieren. Weiter übernahm er außerdem 1943 von
Peter-Heinz Seraphim die Schriftleitung der dazugehörigen Zeitschrift Der Weltkampf. Andere
nationalsozialistische Wissenschaftler die einen Beitrag lieferten zur ‘Judenforschung’, waren:
Theodore Schieder (1908-1984), Werner Conze (1910-1986), Franz Alfred Six (1909 1975),
Theodore Oberländer (1905-1998), Fritz Arlt (1912-2004), Heinz Ballensiefen (1912-unbekannt),
Hans F.K. Günther (1891-1968) und Konrad Mayer (1901-1973).
Trotz der großen Verschmelzung von Propaganda und Wissenschaft in der ‘Judenforschung’
und seiner engagierten ‘Wissenschaftler’ gab es keine spezifische, einheitliche Methode. Dies
betont Dirk Rupnow sehr deutlich. Ungeachtet des spezifischen Themas und des allgemeinen Fokus
auf die ‘Judenfrage’ war der Ansatz der verschiedenen Forscher keineswegs derselbe. Die anti-
jüdischen Gelehrten und Institutionen richteten sich oft auf verschiedene Fragen und verwendeten
unterschiedliche Methoden. Auch gab es verschiedene Untersuchungen über Juden in verschiedenen
Ländern, wie zum Beispiel bei Klaus Schickert in Ungarn mit seinem Werk Die Judenfrage in
Ungarn: Jüdische Assimilation und antisemitische Bewegung (Essen 1937) und Heinz Ballensiefen
in Juden in Frankreich (Berlin 1939) oder über verschiedene Zeiten wie bei Kurt Hoenig in seinem
Werk Entwicklung des Reichseinheit des Ghettos im Rahmen des Judenrechts des Deutschen
Mittelalters (Münster 1942). Weiter gab es auch noch Untersuchungen nach dem Verhältnis von
wichtigen historischen nichtjüdischen Personen zu Juden wie zum Beispiel bei Franz Koch in
Goethe und die Juden (Hamburg 1937) oder Karl Richard Ganzer mit seiner Arbeit Richard Wagner
und das Judentum (Hamburg 1939). Daneben gab es Arbeiten, welche die Geschichte
antisemitischer Strömungen und Bewegungen analysierten, wie zum Beispiel Fritz Schmidt
Clausings (1902-1984) Judengegnerische Strömungen im deutschen Katholizismus des 19.
Jahrhunderts. Weiter entstanden auch Arbeiten, die sich mit der Rolle der Juden im kulturellen
Leben befassten, wie zum Beispiel von Fritz Kynass (1908-unbekannt) Die Juden im deutschen
Volkslied (Greifswald 1934), Der Jude im Sprichtwort (Berlin 1942) oder von Elisabeth Frenzel
(1915-2014), Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700
Jahre Rollengeschichte (München 1940) oder Der Jude im Theater (München 1943). 29
Diner, Dan, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur: Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Band 3, hrsg 29
Ulrich Wyrwa (Heidelberg 2012) 368.
�13
Die Disziplin hatte dadurch keine festen Grenzen und umfasste ein Feld mit interdisziplinären
Überlappungen. Trotzdem kann man einige gemeinsame Merkmale von Forschung und Stil
erkennen.30
Als erstes gab es das allgemeine Ziel, die schon bestehenden Forschungen über jüdische
Geschichte und Kultur zu ‘entjuden’. Die Forschung zum Judentum war nach der Überzeugung der
‘Judenforscher’ bis zur Machtergreifung nur von jüdischen Wissenschaftlern und aus jüdischem
Blickwinkel betrieben worden. Diese ‘Entjudung‘ bedeutete vor allem, dass die wissenschaftlichen
Quellen und Arbeiten, die von jüdischen Wissenschaftler zusammengestellt und gesammelt waren,
neu interpretiert wurden unter einem nationalsozialistischen Blickwinkel. Die ‘Judenforschung’ ist
damit ein Beispiel der Arisierung der jüdischen Wissenschaft, indem Quellen und Arbeiten
jüdischer Wissenschaftler erneut ‘erforscht’ wurden von nicht-jüdischen Wissenschaftlern. Weiter gab es bei den ‘Judenforschern’ eine sehr starke allgemeine Überzeugung, zu Politik und
Propaganda einen bestimmten Abstand zu wahren. Sie waren davon überzeugt, immer an einer
‘bestimmten’ Methode, die ‘streng wissenschaftlich’ war, festzuhalten. In der Praxis funktionierte
dies aber nicht, denn intern kritisierten sie ihre Kollegen oft, indem sie einander beschuldigten,
unwissenschaftlich zu sein, obwohl im Grunde genommen fast alle ‘Judenforscher’ Propaganda,
Politik und Wissenschaft vermischten. Das ist wiederum selbstverständlich, denn letztendlich folgte
die ‘Wissenschaft’ unmittelbar aus der nationalsozialistischen Ideologie und der Mission, zur
Beseitigung des ‘Judentums’ einen wichtigen Beitrag zu leisten. Sie wurde daher auch die
‘kämpfende Wissenschaft’ genannt, ein Begriff, den Walter Frank einführte und der nach seiner
Meinung den ‘Judenforschern’ einen bestimmten Ausrichtung, aber vor allem einen Spitznamen
geben musste.31
Wie erwähnt, versuchte die ‘Judenforschung’, sich auf die ‘Judenfrage’ zu konzentrieren.
Aber hinzu kamen weitere Merkmale. Denn die ‘Judenforscher’ beschäftigten sich neben der
‘Judenfrage’ auch mit der jüdischen Geschichte, anstatt die damals ‘einzigartige und wichtigere’
deutsche Geschichte zu untersuchen. Es war für sie wichtig, die jüdische Geschichte innerhalb der
deutschen Geschichte neu zu vermessen und die zuvor verfassten Arbeiten der jüdischen oder pro-
jüdischen Wissenschaftler zu ‘entjuden’. Bei der Erforschung der ‘Judenfrage’ ging es vor allem
auch um die Geschichte dieser ‘jüdischen Frage’, wobei das Verhältnis zwischen dem jüdischen
Leben und dem nicht-jüdischen Leben in Europa und Deutschland dargestellt wurde. Dabei war es
nicht nur wichtig, in diesen Arbeiten die Ideologie der Nationalsozialisten zu legitimieren, sondern
auch einen wichtigen Beitrag zu liefern zur neuen deutschen Identität und Geschichte, in der die
Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich (2008) 35.30
Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich (2009) 154.31
�14
jüdische Geschichte einen neuen Platz bekam. Dies zeigt die Erklärung des Historikers Wilhelm
Grau zum Ansatz der ‘Judenforschung’. Hierin sagte er, dass es nicht möglich sei, eine deutsche
oder europäische Geschichte der Moderne zu schreiben, ohne die jüdische Geschichte oder die
‘jüdische Frage’ zu berücksichtigen. Walter Frank teilte diese Auffassung, aber er ging noch einen 32
Schritt weiter, indem er behauptete, dass es eine Verbindung gebe zwischen der neu entstandenen
Geschichte, hervorgebracht von der ‘Judenforschung’, und der Aufklärung des deutschen Wesens in
der neuen nationalsozialistischen Welt:
“We will be brought much closer to an understanding of our German character (deutschen Wesens)
by exploring the hard and victorious battle between our German nation and the racially foreign
element of Judaism. And, by doing so, we not only increase our knowledge, but strengthen our
commitment to a völkisch life.”33
Damit zeigte die ‘Judenforschung’ auf verschiedenen Ebenen, dass die jüdische Geschichte ein
wichtiger Teil der deutschen Geschichte und Identität war. Eine Umformulierung der jüdischen
Geschichte und die historischen Untersuchungen nach der ‘Judenfrage’ waren damit die wichtigsten
Aufgaben und konnten gleichzeitig die ‘Lösung’ der jüdischen Frage legitimieren. Grau behauptete
zum Beispiel, dass eine korrekte historische Wiedergabe der jüdischen Geschichte für eine Lösung
der jüdischen Frage sorgen würde, sowohl in der Gegenwart als auch für die kommenden
Generationen.
“Nothing can teach the world the universal validity of Germany’s legislation towards the Jews
(Judengesetzgebung) better than a historical view of the Jewish problem. If we make this political
statement from the position of scholarship, we do so because the political beliefs of the German
people today are confirmed and attested by history itself.”34
Die Geschichte wurde wegen der zentralen ‘Judenfrage’ zu einer der wichtigsten wissenschaftlichen
Disziplinen innerhalb der ‘Judenforschung’. Nicht nur versprach eine Analyse der historischen
Versuche, die ‘jüdische Frage’ zu ‘lösen’ und insbesondere von deren Scheitern eine Antwort auf die
nationalsozialistische ‘Judenfrage’, sondern man konnte dadurch auch die immer radikaleren
Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich (2008) 38. 32
Volkmar Eichstädt, ‘Die Judenfrage in den deutschen Bibliotheken’, Forschungen zur Judenfrage, vol. 6, 1941, 253 /64 (264). zitiert nach: 33
Steinweis, Studying the Jew (2006) S 61.
Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich (2008) 41.34
�15
Lösungen des sogenannte ‘Judenproblems’ rechtfertigen.‑ 35
Die historische wissenschaftliche Disziplin innerhalb der ‘Judenforschung’ hatte neben der
legitimatorischen Funktion, der ‘Entjudung’ der Wissenschaft und der ‘Lösung’ der ‘Judenfrage’
noch eine andere Bedeutung für die Nationalsozialisten. Als die antijüdischen Maßnahmen auch in
den eroberten europäischen Ländern in Kraft gesetzt wurden, gab es mehrere Probleme bei der
Kategorisierung verschiedener Bevölkerungsgruppen, die aus der Sicht der Rassenklassifizierung
entweder einen Sonderstatus oder einen nicht ganz offensichtlichen Status hatten. Es wurde nach
1939 deutlich, dass die Rassenwissenschaft bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht eindeutig
klassifizieren konnte. In solchen Fällen wurde die ‘Judenforschung’ beauftragt, sich mit der
Geschichte einer Bevölkerung zu beschäftigen, wobei nicht nur Historiker eingesetzt, sondern auch
Theologen und Genealogen zu solchen Untersuchungen herangezogen wurden. Ein Beispiel war der
Status der Sephardis in den besetzten Niederlanden, dort bekannt als die ‘portugiesischen Juden’,
wobei es lange Zeit unklar war, in welcher Gradation sie jüdischer Abstammung waren. Die
nationalsozialistischen Rassenforscher benötigten die Geschichte für ihren antisemitischen
Kategorisierungen. Umgekehrt wendeten übrigens auch die ‘Judenforscher’ die rassischen
‘Wissenschaften’ an, wenn sie nicht zu erfolgreichen Ergebnissen kamen. So wurden Lücken in der
Theorie gefüllt und die Legitimation des Antisemitismus aufrechterhalten.36
Im Grunde genommen waren die ‘Judenforscher’ mehr interessiert an der Historisierung der
‘Judenfrage’ als daran, eine Basis für den Antisemitismus zu schaffen. Dies zeigen die
verschiedenen Werke von Franz Alfred Six(1909-1975) und Wilhelm Grau. Diese Studien fangen
oft strukturiert und ummauert mit wissenschaftlichen Daten jüdischen Wissenschaftler an, doch sie
beenden ihre Arbeiten mit zirkulären Argumenten und konzeptionellen Unklarheiten, ohne zu klaren
antisemitischen Aussagen gelangen zu können. Die Schlussfolgerungen basierten oft auf
Neuinterpretationen alter, von jüdischen Wissenschaftlern erarbeiteten Daten. Man darf aber nicht
vergessen, dass diese Neuinterpretationen vollkommen antisemitisch waren und dass diese Werke
einen wichtigen Beitrag zum Antisemitismus lieferten. Auch das Fehlen von direkten Aussaugen
über Massenmorde als mögliche Lösung für das ‘Judenproblem’ bedeutet keineswegs, dass das
Forschungsfeld weniger antisemitisch gewesen wäre. Dirk Rupnow argumentiert nämlich, dass
innerhalb des Kreises der ‘Judenforscher’ Massenmord implizit als eine mögliche Lösung
anerkannt, aber nie öffentlich genannt wurde.37
Rupnow, ‘Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 193.35
Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich (2008) 51.36
Ibidem 48.37
�16
Trotz des Fehlens eines akademischen Lehrstuhls für ’Judenforschung’ wird diese von Dirk
Rupnow als die Musterwissenschaft des Dritten Reiches beschrieben. Sie erzeugte verschieden
starke Verbindungen mit den ideologischen Zielen der Nationalsozialisten, wobei die völkische
Neuorientierung eine der wichtigsten war. Mit ihren historischen Untersuchungen ergänzte die
‘Judenforschung’ oft die Arbeit der Geschichtswissenschaften; sie sorgte dafür, dass die
nationalsozialistische Ideologie einen Resonanzraum bekam und die Legitimation für ihre ‘Arbeit’
wuchs. Daher war die ‘Judenforschung’ das beste Beispiel einer Anstrengung, eine eigene
nationalsozialistische Wissenschaft zu schaffen. Auch Michael Grüttner behauptet in seinem 38
Artikel Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus, dass die ‘Judenforschung’ als eine
Musterwissenschaft des Dritten Reiches gesehen werden konnte. Er nennt dabei die folgenden
Merkmale, welche die Wissenschaft von anderen Disziplinen im Dritten Reich unterscheidet.
“(1) die Ablehnung der Voraussetzungslosigkeit von Wissenschaft, (2) die Aufhebung der Trennung
von Wissenschaft und Leben, der gegenüber die Forderung nach Nützlichkeit erhoben wird, (3) die
zentrale Bedeutung des Rassenbegriffs, (4) der Anspruch einer ganzheitlichen Beachtung gegen
eine disziplinäre Spezialisierung und Abgrenzung, (5) die Frontstellung gegen Internationalität
sowie, (6) die Einführung des Volkes als Forschungsgegenstand bzw. Bezugspunkt sind konstitutive
Momente ihres Selbstverständnisses und werden in ihren grundlegenden und programmatischen
Schriften ständig diskutiert.”39
Aus all dem geht hervor, wie wichtig die ‘Judenforschung’ für die Nationalsozialisten wurde. Sie
erhielt innerhalb kurzer Zeit eine zentrale Rolle und rekrutierte junge und motivierte Akademiker,
die sich mit voller Hingabe der neuen Forschung widmeten. Sie waren davon überzeugt, dass die
‘Judenforschung’ dabei war, zu einer Leitdisziplin innerhalb einer genuin nationalsozialistischen
Wissenschaft zu avancieren, mit dem Ziel, die ‘heroischen’ antisemitischen Taten des Regimes
durch das Feindbild des Juden zu legitimieren. Sie wurde vom Nationalsozialismus gefördert, der
eine günstige Atmosphäre und Rahmenbedingungen schuf. Dies ermöglichte es, bedeutende
Wissenschaftler an sich zu binden, die mit wissenschaftlichen Arbeiten die ‘Judenforschung’
fördern konnten.40
Einer der wichtigsten ‘Judenforscher’ war Peter-Heinz Seraphim. Er trug mit seiner sozial-
historischen wissenschaftlichen Studie Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938), die mit
Rupnow, ‘Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 184.38
Micheal Grüttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus in, Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im 39
Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung (Göttingen 2000), Bd 2 S. 136.
Rupnow, ‘Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 184.40
�17
zahlreichen Statistiken, Grafiken und Karten eines der umfangreichsten Werke innerhalb der
‘Judenforschung’ war, zur wissenschaftlichen Etablierung der antijüdischen Forschung bei. Er
verhalf damit den ‘Judenforschern’ innerhalb des Dritten Reiches zu einem anerkannten
wissenschaftlichen Status.
Doch nicht immer wurde dies international so gesehen. Ein Beispiel ist der schwedischer
Historiker Sven Ulric Adalverd Palme (1912-1977), welcher die deutsche ‘Judenforscher’ in einem
Stettiner Archiv bei der Arbeit beobachtet hatte und sie in einer Stockholmer Zeitung 1938 doch
wesentlich anders beschrieb:
“Diese Art ‘Judenforschung’ hat für die deutsche Geschichtswissenschaft sicherlich keine
besondere Bedeutung, sie ist eine politisch motivierte Modesache, und im übrigen ganz
oberflächlich. Eine ähnliche Erscheinung können wir auch bei uns hier in Schweden beobachten,
soweit es sich um die Wirtschaftsgeschichte handelt, die auch nun auf einmal politisch begründet
und als eine Erneuerung der Geschichtswissenschaft hingestellt wird, schließlich aber auch nur
reine Disziplin wie alle anderen ist. Aber ganz unabhängig hiervon setzt diese etwas lächerliche
Propaganda ihren mühsamen Weg fort. Und so ist es auch mit der Geschichtswissenschaft im
Dritten Reich, soweit es sich um die ‘Judenforschung’ handelt - die Gefahren, welche der
Wissenschaft möglicherweise vom gegenwärtigen Regime drohen, stehen auf einem anderen
Blatt.”41
Rupnow, ‘Judenforschung' im Dritten Reich (2011) 29.41
�18
2. Der ‘Judenforscher’ Peter-Heinz Seraphim:
Zygmunt Bauman(1925-2017) Die Entmenschlichung beginnt dort, wo die Objekte des bürokratischen Prozesses auf rein
quantitative Einheiten reduziert werden. [...] Menschen verlieren die Eigenschaft des Menschseins, wenn sie auf Zahlen oder Nummern reduziert werden.”42
2.1 Biografie: Peter-Heinz Seraphim, 1902 bis 1945
Peter-Heinz Seraphim wurde am 15. September 1902 in Riga geboren und kam aus einer adligen
Familie. Seine Familie, die lange Zeit zur deutschsprachigen Oberschicht im alten Livland und
Kurland gehörte, lebte schon seit dem 18. Jahrhundert im Baltikum, und die Mutter besaß ein
Rittergut in Livland. Die ersten drei Jahre nach seiner Geburt lebte Seraphim in Sassenhof, einem
Vorort Rigas. Um die Jahrhundertwende wohnten in Riga circa 300.000 Menschen. 43 Prozent
dieser Bevölkerung waren 1867 von deutsch-baltischer Herkunft, diese Anzahl sank aber 1897 auf
nur noch ein Viertel der Bewohner. 1913 gab es bereits über 200.000 lettische Einwohner, dagegen
war nur noch 69.000 Deutsch-Balten, die drittgrößte Gruppe nach den 100.000 russischen
Bewohnern. Riga hatte sich damals, so könnte man sagen, in eine Vielvölkerstadt verwandelt.
Weiter war Seraphim Mitglied einer Familie, die bekannte Akademiker hervorbrachte. Sein Vater,
Ernst Seraphim (1862–1945), war ein deutsch-baltischer Historiker, Journalist und Chefredakteur
mehrerer deutscher Zeitungen, und sein Großvater, Ferdinand Seraphim (1827–1894), war ein
erfolgreicher Jurist. Seine Brüder waren ebenfalls erfolgreich in der akademischen Welt. So war
sein älterer Bruder Hans Jürgen Seraphim (1899–1962) Volkswirt und während des Dritten Reiches
für einige Zeit Direktor des Osteuropa-Instituts Breslau. Sein jüngerer Bruder Hans-Günther 43
Seraphim (1903–1992) war Historiker und Bibliothekar und arbeitete nach dem Krieg als
Sachverständiger bei den NS-Prozessen.
Die Kindheit und Jugendzeit von Seraphim war geprägt von verschiedenen Ortswechseln,
die aus verschiedenen Gründen stattfanden: die beruflichen Veränderungen des Vaters ab 1914, die
militärischen und politischen Ereignisse in Riga, aber auch sein eigenes Studium und seine eigenen
beruflichen Wechsel sorgten dafür, dass er bereits mit 30 Jahren viel gereist war. Die Familie zog 1905 zum ersten Mal um. Wegen der Unruhe auf dem Baltikum, die durch die
revolutionären Entwicklungen im russischen Zarenreich verursacht wurden, zogen sie vom Land in
die Stadt. Es ist wichtig zu erwähnen, dass Peter-Heinz Seraphim sich fast bei jedem Umzug in eine
deutsch-baltische Umgebung begab und dass die deutsch-baltische Kultur in seiner Umgebung
Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung ‘Die Moderne und der Holocaust’ (Hamburg 2002) 117. 42
Steinweis, Studying the Jew (2006) 144.43
�19
immer dominierte. In Riga wurde er mit fünf Jahren auf eine private Vorschule geschickt, und schon
nach drei Jahren bestand er als einer der besten Schüler die Eingangsprüfung zum
deutschsprachigen Gymnasium Albertschule. Dort lernte er unter anderem Russisch und Polnisch,
was bei seiner späteren Tätigkeit als ‘Ostforscher’ und ‘Judenforscher’ hilfreich sein würde.
Das Leben der Familie Seraphim veränderte sich entscheidend, als in 1914 der Erste
Weltkrieg begann. Sie zog in das kurländische Mitau um, weil viele deutsch-baltische
Organisationen in Riga sowie die Albertschule sich zwangsweise auflösen mussten. Der Vater
wollte seinen Kindern unbedingt eine deutsche Erziehung zuteil werden lassen, die sie in Mitau
noch erhalten konnten. Im September 1917 wurde Riga von deutschen Truppen besetzt, was aus der
Sicht der pro-deutsch-monarchistischen Familie Seraphim eine Erlösung war. Doch als die
Novemberrevolution in 1918 für das Ende des Kaiserreichs sorgte, veränderte vieles. Es wurde zum
Beispiel in Riga eine freiwillige ‘Landeswehr’ errichtet, um das Baltikum für das deutsche Volk zu
erhalten. Wie viele Naziführer und -funktionäre war Peter-Heinz Seraphim zu spät geboren, um im
Ersten Weltkrieg gekämpft zu haben, und genau wie viele Angehörige der deutschen Minderheiten
schloss sich Seraphim nach dem Krieg einem Freikorps an. 1919 meldete er sich bei der 44
Landeswehr und wurde im März deren Stoßtruppe zugeordnet, die im April im Libauer Putsch die
Regierung Ulmanis stürzte. Abgesehen von dem Sturz der Regierung und der Eroberung von Riga
konnten diese Truppen nicht viel ausrichten. Kurz nach der Eroberung wurde Riga nämlich von
Sympathisanten der Ulmanis-Regierung zurückerobert, wonach Peter-Heinz und seine Familie in
das deutsche Königsberg flohen. In Königsberg absolvierte er, nach wiederholten Unterbrechungen wegen der
Nachwirkungen des Krieges im Baltikum, im März 1921 sein Abitur am Wilhelmsgymnasium und
studierte danach an der Albertus-Universität Ökonomie. An dieser Universität kam er zum ersten
Mal in Kontakt mit der ‘Ostforschung’, da diese einen Schwerpunkt seines Studiums Ökonomie
darstellte. Die ‘Ostforschung’ hatte ihren Ort am Institut für Ostdeutsche Wirtschaft (IOW), das
1916 gegründet worden war und während des Ersten Weltkriegs wissenschaftliche Grundlagen für
einen möglichen späteren Wiederaufbau Ostpreußens lieferte. Während seines Studiums verbrachte
er 1922 ein Semester in Graz, woher er nach einem Jahr an die schlesische Friedrich-Wilhelms-
Universität Breslau wechselte. Dort schrieb er seine Dissertation über Das Eisenbahnwesen
Sowjetrusslands (1925). Nach seiner Dissertation arbeitete er von 1924 bis 1926 als Assistent in der
Wirtschaftsabteilung der Universität in Breslau. Bevor er in 1927 seine Verlobte Irmgard Remus heiratete, zog er im Oktober 1927 zurück
nach Königsberg, um eine neue Arbeit aufzunehmen. Dieser Umzug erfolgte wegen einer
Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 71.44
�20
unerwarteten Nachricht von seinem Vater, der ihm mitteilte, dass es eine Stelle als zweiter
Lokalredakteur bei der Königsberger Allgemeinen Zeitung gebe. 1930 gab er die Stelle als
Lokalredakteur wieder auf. Die Arbeit war für ihn „je länger desto weniger befriedigend
gewesen”. Trotz der Weltwirtschaftskrise, die auch im Osten des Deutschen Reiches zu 45
drastischen Arbeitslosenzahlen führte, entschied er sich für eine andere Karriere. Er versuchte es in
der Politik. Da sein Gehalt als Redakteur noch einige Monate weitergezahlt wurde, wurde er
Mitglied der neu gegründeten ‘Volkskonservativen Vereinigung’ (VKV), einer in Juli 1930
entstandenen Absplitterung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) in Königsberg. Die VKV
hatte einige inhaltliche Gemeinsamkeiten mit der NSDAP. So waren beide für eine Umwandlung
des modernen Parlamentarismus in ein autoritäres System und standen in einer unversöhnlichen
Frontstellung gegen die politische Linke. Weiter waren die VKV und die NSDAP gegen den
Versailler Vertrag und waren Verfechter einer Expansion des Deutschen Reichs auf Kosten Polens
und anderer osteuropäischer Staaten. Nach der Machtübernahme der NSDAP in 1933 wurde die
VKV in Königsberg zum Teil aufgelöst und der NSDAP eingegliedert. Doch dies sollte Seraphim
als Mitglied der VKV nicht mehr erleben, denn schon Ende 1930 bekam er die Möglichkeit, als
Referent an dem bereits erwähnten Königsberger Institut für Ostdeutsche Wirtschaft (IOW) zu
arbeiten. Damit konnte er seine Kenntnisse, die er in Breslau erworben hatte, wieder anwenden,
wobei er sich in erster Linie mit Polen beschäftigte. Die Machtergreifung drei Jahre später sorgte nicht sofort für eine erfolgreiche Karriere von
Seraphim, trotz des interessanten Fachgebiets, in dem er schon arbeitete. Es dauerte noch einige
Jahre bevor er offiziell unterstützt wurde und anfing mit einer seiner wichtigsten Arbeiten.
Zuerst wurde nämlich, was auch wichtig war für Seraphim, im Mai 1933 der Bund Deutscher Osten
(BDO) gegründet, um verschiedene Ostverbände zu fördern, die aus der Weimarer Zeit stammten,
wie den Deutschen Ostmarkenverein (1894) und Deutschen Ostbund. Der BDO hatte als Ziel,
Einfluss auf die verschiedenen Ostinstitute zu nehmen, wie zum Beispiel das IOW in Königsberg.
Für Seraphim gab es dabei am Anfang keinen Grund, den Verlust seiner Stelle zu befürchten, trotz
der nationalsozialistischen Gleichschaltung. Die einzige Veränderung, die er mitmachte war, dass
der Leiter des IOW, Oswald Schneider, Opfer der nationalsozialistischen Gleichschaltung oder
‘Arisierung’ der Hochschulen wurde und man ihn entlieβ. Für Seraphim veränderte sich dadurch am
Anfang nichts. Ende April 1933 trat er selbst der NSDAP bei und am 1. Oktober desselben Jahres
der SA. Auch dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) und dem BDO trat er offiziell
bei, aber erst Anfang 1934. Damit gehörte Seraphim zu den sogenannten Märzgefallenen, ein
Hans-Christian Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik, ‘Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim’(Osnabrück 2007) 45
91.
�21
Begriff für diejenigen, die erst kurz nach der Machtergreifung im März 1933 Mitglied der Partei
wurden.
Unter dem Dach der BDO fing Seraphim an sich mit seinen Untersuchungen auf Polen zu
fokussieren mit der zweite Habilitationsschrift über Die agrarische Überbevölkerung Polens
(1934). Doch Ende 1934 gab es für Seraphim und seine Familie dann doch Probleme. Sie wurden
von verschiedenen Seiten mit der Anschuldigung konfrontiert, jüdischer Abstammung zu sein.
Daraufhin wurde eine Untersuchung hinsichtlich der Abstammung eingeleitet. Das
Reichsministerium des Innern (RMDi) kam am 26. November 1934 zu folgendem Ergebnis:
“Professor Seraphim ist Balte aus Kurland. Sein jüdischer Name stammt daher, dass um 1790
herum aus humanitären Gründen von Balten eine Reihe jüdischer Waisenkinder, deren Eltern in
Russland bei Pogromen umgekommen sind, in ihre Familien aufgenommen und erzogen worden
sind. Diese heirateten später Balten und sie und ihre Nachkommen vermischten sich mit den
deutschen Balten.”46
Nach der Untersuchung war der Weg für Seraphim frei, um seine Habilitationsarbeit zu beenden,
und Ende 1935 wurde seine Habilitation vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und
Volksbildung anerkannt. Es blieb aber ein gewisses Misstrauen gegen ihn bestehen, da er der
Entlassung von Oswald Schneider 1933 nicht zugestimmt hatte. Auch die Anschuldigung, er sei
jüdischer Abstammung, blieb weiterhin bestehen. Dies bewirkte, dass seine Einstellung als
offizieller Dozent bei der IOW lange auf sich warten ließ. Erst als die Leitung des IOW sich des
Potentials von Seraphim bewusst wurde, verbesserte sich seine Situation:
“Die persönlichen Bedenken, die wir s. Zt. gegen ihn hatten, müssen der Tatsache gegenübergestellt
werden, daß Seraphim auf die Dauer nur beim Institut für osteuropäische Wirtschaft gehalten
werden kann, wenn er die Dozentur erhält. Da leider Lehrkräfte, die die erforderliche Kenntnis der
Randstaaten in sprachlicher und wirtschaftlicher Hinsicht besitzen [...] ausserordentlich selten
sind, so muss die Universität Wert darauf legen, daß Seraphim dem Institut für osteuropäische
Wirtschaft erhalten bleibt.“47
Diese Empfehlung wurde aber erst im Oktober 1939 ausgesprochen. Vielleicht war dies kein Zufall,
da Seraphim ein Jahr zuvor sein größtes Werk, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938),
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 114.46
Ibidem 117.47
�22
veröffentlicht hatte, das sich völlig auf die wirtschaftliche und demographische ‘Lage’ der Juden im
osteuropäischen Raum konzentrierte, ein Thema, dem er sich zur Zeit seiner Habilitationsarbeit in
1934 zugewandt hatte. Aus diesen Gründen kann man sagen, dass kurz nach der Machtergreifung
seine Karriere als ‘Judenforscher’ begann. Antisemitismus war Peter-Heinz Seraphim nicht fremd,
aber wahrscheinlich gab es für die thematische Ausrichtung seiner Arbeit andere als nur
wissenschaftliche Gründe, da keine seiner bisherigen Studien zu diesem in 1938 veröffentlichten
Werk passten. Beispiele dafür sind: Das Eisenbahnwesen Sowjetrusslands (Berlin 1925), Rumänien
(Breslau 1927), Der Etatismus in Polen (Tübingen 1932), Die Bevölkerungsentwicklung in
Westpreussen und Posen und die deutsche Abwanderung (Berlin 1934), Die Handelspolitik Polens
(Berlin 1935), Wirkungen der Neustaatenbildung in Nachkriegseuropa auf Wirtschaftsstruktur und
Wirtschaftsniveau (Königsberg1935) Die Ostseehäfen und der Ostseeverkehr (Berlin 1937) und
Polen und seine Wirtschaft (Königsberg 1937). Was dabei auffällt ist, dass nur in Wirkungen der
Neustaatenbildung in Nachkriegseuropa auf Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsniveau (Königsberg
1935) einmal das Wort Judentum gebraucht wird im Kontext der Wohnsitzbeschränkung des
Judentums in Russland durch Ansiedlungsrayons in den 20er Jahren. Fest steht, dass der Betreuer 48
seines großen und umfangreichen Werkes, Theodor Oberländer (1905-1998), eine wichtige Rolle
spielte. Er war 1933 Direktor des IOW an der Albertina in Königsberg geworden. Theodor
Oberländer war einer der wichtigste Vermittler für die nationalsozialistische Siedlungs- und
Bevölkerungspolitik. Er und seine Mitarbeiter analysierten, wie Seraphim, unter anderem die
deutschen, polnischen und jüdischen Bevölkerungsgruppen und untersuchten die volks- und
betriebswirtschaftlichen Verluste der deutschen Volksgruppe in Posen und Pommerellen nach 1918.
Seraphim baute nach Oberländers Zwangsversetzung nach Greifswald 1937 dieses umfangreiche
Werk weiter aus. Er war bis dahin der einzige, der so ein umfangreiches Werk über das Judentum 49
verfasste. Erst nach der Veröffentlichung von Das Judentum im osteuropäischen Raum 1938 50
erschienen mehrere stark antisemitische Werke von ihm wie Die Wanderungsbewegung des
jüdischen Volkes (1940), Die Bedeutung des Judentums in Südosteuropa (1941), Die
Wirtschaftsstruktur des Generalgouvernements (1941), Das Judentum: seine Rolle und Bedeutung
in Vergangenheit und Gegenwart (1942), Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer
europäischen Gesamtlösung der Judenfrage (1943) und Das Judentum. Seine Rolle und Bedeutung
in der Vergangenheit und Gegenwart (1944). Neben die antisemitischen Arbeiten, gab es auch noch
einige Werke wie zum Beispiel Die Strukturwandlungen im Ostseeverkehr 1914-1940 (1942), Die
Peter-Heinz Seraphim, Wirkungen der Neustaatenbildung in Nachkriegseuropa auf Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsniveau Königsberg (1935) 48
Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 41 (1935) 388.
Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer(1905 - 1998) ein Lehrstück deutscher Geschichte (Frankfurt 2000) 137.49
Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus ‘Deutsche Geschichtswissenschaft und der “Volkstumskampf” im Osten (Osnabrück 2000) 110.50
�23
Bedeutung der Ostseehäfen für die Donauländer (1944) und Das Wirtschaftswissenschaftliche
Oder-Donau-Institut zu Stettin (1944), die keine antisemitischen Äußerungen enthielten. Wenn man
sich alle Werken ansieht, die Seraphim zwischen den Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere bis
1945 geschrieben hat, kann man sagen, dass Seraphim sich wahrscheinlich auch der
‘Judenforschung’ zuwandte, um sich die Chance auf einen wissenschaftlichen Arbeitsplatz zu
sichern und um eine Dozentur zu erhalten. Dies kann aber nur eine Teilmotivation gewesen sein,
denn Das Judentum im osteuropäischen Raum ist zu umfangreich und detailliert, um nur wegen
besserer Karriereaussichten geschrieben zu sein. Nach seiner umfangreichen Arbeit wurde ihm im August 1939 von der Wehrmacht befohlen, sich in
Berlin beim Wehrwirtschaftsstab des OKW zu melden. Wegen der Erfahrungen im Ersten Weltkrieg
wurde ihm die Koordination der nationalsozialistischen Aufrüstungspolitik auferlegt. Seine Arbeit
bestand darin, einen Überblick über die Rohstoffe und industriellen Kapazitäten der okkupierten
Länder zu schaffen, um sie vor Beschädigungen zu schützen und sie unter der Prämisse des
wirtschaftlich und militärisch Notwendigen zu nutzen. Nach anderthalb Jahren wurde er Mitte Dezember 1940 von seinem Dienst als
Kriegsverwaltungsrat freigestellt. Daraufhin bekam er die Möglichkeit, einen Lehrstuhl für
Volkswirtschaft an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-
Universität in Greifswald zu erhalten. Doch schon nach einem halben Jahr wurde Seraphim wegen
der Angriffe auf die Sowjetunion erneut zum aktiven Wehrdienst einberufen und trat als Leiter der
Wirtschaftsinspektion zur besonderen Verfügung in Hessen an. Sie war wichtig für den Krieg gegen
die Sowjetunion, da es dabei um die Versorgung der Wehrmacht ging. Die Arbeit fand vor allem in
der Ukraine statt. Seine Tätigkeit bei der Wirtschaftsinspektion dauerte nicht lang. Schon Anfang Dezember
1941 wurde er aus unbekannten Gründen aus dem Dienst entlassen und konnte nach Greifswald
zurückkehren. Die Gründe lagen vermutlich unter anderem in seinem eigenen Wunsch, wieder
wissenschaftlich zu arbeiten.
Neben seiner ‘wissenschaftlichen’ Arbeit in Greifswald arbeitete er seit 1943 als geschäftsführender
Direktor des Oder-Donau-Instituts in Stettin wovon er auch Gründer war. Dieses Institut diente als
Informationsanbieter für die Kriegswirtschaft. Es konnte Unterlagen über die Wirtschaft
Südeuropas in Form von vertraulichen und geheimen Berichten auswerten. Bis kurz vor Kriegsende
wurde das Institut von Seraphim aufrechterhalten. Nach dem Krieg befand er sich aufgrund seiner Kenntnisse über Osteuropa in einer
bevorzugten Position und wurde aus diesem Grund am Mai 1945 nach seiner Gefangennahme durch
amerikanische Soldaten in die USA gebracht. Zuerst befragte die USA ihn im Camp Ritchie bei
Washington, wobei sich die Amerikaner besonders für seine Kenntnisse über die Infrastruktur, �24
Wirtschaft und die Bevölkerung Osteuropas interessierten. Im Sommer 1946 wurde er wieder
freigelassen und durfte nach Westdeutschland umziehen. Angekommen in West-Deutschland wurde
er als ‘Mitläufer’ entnazifiziert und arbeitete er drei Jahre bei der Organisation Gehlen, dem ersten
Geheimdienst von Westdeutschland, errichtet von den Amerikanern. Danach kehrte er zurück in die
Wissenschaft und publizierte 1949 ein grosses Werk über Osteuropa: Ostwärts der Oder und Neiße.
Tatsachen aus Geschichte–Wirtschaft–Recht (1949). Dabei arbeitete er zusammen mit dem Juristen
Reinhart Maurach(1902-1976), der als außerordentlichen Professor zwischen 1941-1945 tätig war
in Königsberg wo er das Institut für osteuropäisches Recht gründete. Seraphim beschäftigte sich in
der Nachkriegszeit anstatt mit dem Feindbild der Juden vor allem mit dem Kommunismus. Er
schrieb unzählige Werke über Osteuropa und die DDR. Ab 1954 wurde er Studienleiter bei der
Universität Bochum in Wirtschaftsbereich, was er bis 1967 ausübte.
2.2. Der Weg Seraphims zum Antisemitismus und Nationalsozialismus
Wenn man sich den Weg zum Antisemitismus von Peter-Heinz Seraphim ansieht, muss man die
wichtigsten Ereignisse und Personen einbeziehen, die einen Einfluss auf ihn hatten und dazu
beitrugen, dass er zu einem erfolgreichen antisemitischen ‘Judenforscher’ wurde. In diesem Kapitel
wird gezeigt, welche Einflüsse und welche Ereignisse Seraphim zu einem ‘Judenforscher’ gemacht
haben.
Wie schon vorher im biografischen Teil gesagt wurde, wuchs Seraphim trotz wiederholter
Umzüge vom Land in die Stadt und der verschiedenen Wohnorte kontinuierlich in einer von
Deutschen dominierten Umgebung auf. In den Schulen, die Seraphim besucht hatte, wie zum
Beispiel der Rigaer Albertschule, bestand überwiegend Kontakt mit Deutschen. Nichtdeutsche
Freunde oder Bekannte existierten kaum. Dies zeigt, dass er eindimensional und mit viel
Kontinuität aufgezogen wurde. Eine der wichtigsten Personen in seiner Kindheit und Jugend war 51
sein Vater Ernst. Er sorgte für ein hohes Maß an ideologischer Konstanz in der Kindheit von
Seraphim. Er war ein nationalistischer, deutsch-baltischer, traditioneller Familienvater der ein
monarchisches Deutschland bevorzugte und in der Kinder- und Jugendzeit das gesellschaftliche und
häusliche Leben von Peter-Heinz dominierte. Ernst Seraphim traf, wie es damals üblich war, die
wichtigen Entscheidungen, wie zum Beispiel hinsichtlich von Umzügen oder der schulischen
Ausbildung der, oder er erteilte selbst Privatunterricht und schuf damit den ideologischen
Hintergrund für die Familie.
Ernst Seraphim war ein deutsch-baltischer Historiker, Lehrer und Journalist. Er hatte als
Redakteur und Herausgeber bei verschiedenen Zeitungen gearbeitet, zum Beispiel Düna, Rigaer
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 342.51
�25
Tageblatt und Königsberger Allgemeiner Zeitung, die eine der größten Zeitungen der
Provinzhauptstadt und politisch an die Deutsche Volkspartei (DVP) gekoppelt war. Es war also
nicht überraschend, dass er stark nationalistische Ideen darüber hatte, wie die Gesellschaft im
Baltikum beschaffen sein sollte. Er war davon überzeugt, dass in einer ‘modernen’ Gesellschaft, die
sich immer mehr industrialisierte, die Privilegien der Minderheiten (deutsch-baltischen
Oberschicht) “gegen andere soziale oder nationale Ansprüche verteidigt und bewahrt werden”
sollten. Er lehnte alles ab, was nicht deutsch war, insbesondere alles Russische. Ein Beispiel war 52
eine Erinnerung seines Sohnes über die Ablehnung eines Ostertischs in Form eines traditionellen
kalten russischen Buffets. Auch die ‘Tradition’ von Ernst Seraphim, nur durch West- und 53
Südosteuropa zu reisen, aber nie innerhalb Russlands (Ausnahme war ein Besuch bei Verwandten
auf der Krim), war ein Beispiel seiner ablehnenden Haltung gegenüber allem, was nicht deutsch
war. Auf diese Weise musste ihm das baltische Land, in dem er einige Jahre lebte, fremd bleiben. 54
Nationalistische Ideen versuchte Ernst aktiv zu unterstützen, indem er Ende des 19. Jahrhunderts
Mitglied und Vorsitzender der Rigaer Ortsgruppe des Alldeutschen Verbandes wurde. Der Verband
wurde mit dem Ziel gegründet, die deutschen Kolonialinteressen zu fördern. Ernst Seraphim sorgte
dafür, dass der Alldeutsche Verband unter seiner Leitung zu einem Zentrum der alldeutschen
Bewegung innerhalb des Russischen Kaiserreiches wurde. Außer ein wichtiger Vertreter des
deutschen Minderheitsnationalismus im Baltikum war er auch ein prominenter Historiker und
Journalist, der mehrere Bücher über die deutsch-baltische Geschichte schrieb. Darin bemühte er
sich um eine Abtrennung der baltischen Provinzen vom russischen Machtbereich und ihren
Anschluss an das deutsche Kaiserreich. Was ferner wichtig für die Frage des Entstehens der
antisemitischen Haltung von Peter-Heinz Seraphim ist, ist, dass sein Vater Ernst vor der
Machtergreifung 1933 einige große und wichtige Werken veröffentlicht hatte, die nicht nur stark
nationalistisch waren, sondern auch antisemitisch. So schrieb er in der deutsch-baltischen Zeitung 55
Düna 1911, dass die:
”Juden als Fremdlinge beschrieben werden, die durch eine kosmopolitische Gesinnung sowie eine
Neigung zu Radikalismus und Materialismus geprägt seien. Durch sein rastloses Jagen nach
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 40.52
Ibidem 48.53
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 93.54
Steinweis, Studying the Jew (2006) 144.55
�26
Gewinn und Reichtum sowie seine Skrupellosigkeit habe das Judentum ein Übergewicht erlangt…
das drückend empfunden wird und schädigend auf Sitte und Charakter weiter Kreise wirkt.” 56
Ernst Seraphim sah die Juden als eine Bedrohung bürgerlichen Deutschen im Baltikum. Sie waren
für ihn die Verkörperung der liberalen und linken Bewegungen. Diese Auffassungen standen, wie
bereits im zweiten Kapitel festgestellt, in einem engen inhaltlichen Verhältnis zu der ‘Tradition der
deutschen ‘Kulturträger’-Theorie, die über die Ordnung und Zivilisation im östlichen Europa Werke
produzierte. Die wesentlichen Argumente stimmten mit denen von Ernst Seraphim überein. Man
muss dabei aber erwähnen, dass die Äußerungen in dem Werk von Ernst nicht denselben Platz
einnahmen wie bei seinem Sohn, für den ‘der Jude’, erst nach einem bestimmten Moment, das
zentrale Thema wurde. Diese Äuβerungen von Ernst Seraphim wurden durch die Mitgliedschaft im
‘Alldeutschen Verband’ verstärkt und bekamen dort eine Platform. In diesem Zusammenhang spielt
die antisemitische, stereotype Propaganda seit der Jahrhundertwende eine wichtige Rolle. Dies sieht
man auch an seinen historischen Werken wie der von ihm geschriebenen Familiengeschichte, in der
die jüdische Bevölkerung des Baltikums jedoch nur eine beiläufige Rolle spielt. Insgesamt bleibt
aber festzustellen, dass der Vater ein judenfeindliches Weltbild vertrat. Seine antisemitischen 57
Äuβerungen brachten ihm keine Probleme ein, im Gegensatz zu den nationalistischen. Diese
sorgten für die Verhaftung des Vaters im Frühjahr 1915 und seine Verbannung nach Sibirien. Die
Begründung war:
„wegen offener Hinneigung zum Deutschtum, schroffer Germanophilie und Agitation für die
Abtrennung des baltischen Gebiets von Russland.“58
In den Augen von Ernst Seraphim war auch die Weimarer Republik schuld an der Lage der
Deutschen im Baltikum. Das Kaiserreich hätte sich einsetzen müssen den Baltikum Teil des
Deutschen Kaiserreich zu machen. Mit seinen konservativen Auffassungen verlangte er das alte
Kaiserreich anstatt der jungen demokratischen Weimarer Republik zurück. Diese Auffassungen von
Ernst Seraphim sorgten dafür, dass der junge Peter-Heinz schon früh mit Begriffen wie ‘völkisch’
und ‘konservative Revolution’ in Kontakt kam. All dies waren Begriffe, die am Ende auch gegen
das junge demokratische System gerichtet waren und die Peter-Heinz und Ernst Seraphim mit den
Entwicklungen des Nationalsozialismus verbanden. Beide wollten eine grundlegende Umwälzung
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 95.56
Ibidem 44-45.57
Steinweis, Studying the Jew (2006) 142.58
�27
des Status quo. Zwar wollte Peter-Heinz nicht zurück zu kaiserlichen Zeiten, sondern hin zu einem
deutschen ‚Wiederaufstieg’, zu einem völkisch-autoritären System. Bei beiden sollte das Volk die
entscheidende Rolle spielen, um dem neuen Regime die Freiheit zu geben, die Vereinigung des
‘Deutschtums’ diesseits und jenseits der Grenzen des Deutschen Reiches zu realisieren. Beide
hatten Sehnsucht nach einem starken Führer, der eine in Form eines Kaisers, der andere in Form
eines Unbekannten, der am Ende Hitler sein würde. Die Weimarer Republik galt aus dieser
Perspektive als ein defizitäres System.
Selber betrachtete der Vater Peter-Heinz den aufstrebenden Nationalsozialismus nicht als die
richtige Antwort auf seine Wünsche, denn aus der Sicht der deutsch-baltischen Elite war die
nationalsozialistische Bewegung eine proletarische Bewegung und damit eine Bedrohung für die
bürgerliche Welt. Dies könnte erklären, warum auch Peter-Heinz nicht sofort die Lösung der 59
‘deutschen’ Probleme in den Personen von Adolf Hitler oder Joseph Goebbels sah und daher erst
nach der Machtergreifung der NSDAP beitrat.60
Die freiwillige Meldung von Peter-Heinz Seraphim zur Baltischen Landeswehr in 1919
schien eine logische Entscheidung zu sein, wenn man die nationalistischen Äuβerungen des Vaters
in Betracht zieht. Auch die direkte Verbindung des Vaters zur Baltischen Landeswehr, da er
zwischen März und Oktober 1919 dort für kurze Zeit Presseoffizier war, hatte vermutlich einen
großen Einfluss auf die Entscheidung von Peter-Heinz, sich dafür zu melden. Auch seine Brüder
hatten sich schon der Landeswehr angeschlossen, ebenso wie die anderen Osteuropahistoriker und
Ostforscher, etwa Reinhard Wittram, der später ein Kollege von Peter-Heinz Seraphim wurde. Auch
diese späteren Ostforscher waren auf irgendeiner Weise verbunden mit der Baltischen Landeswehr.
Auf diese Art bekam Peter-Heinz wie viele seiner Altersgenossen trotz des Endes des Ersten
Weltkriegs bereits in jungen Jahren eine charakteristische Kriegserfahrung. Diese späteren
Nationalsozialisten entwickelte damit auch schon früh einen Widerwillen gegen die ‘rote Flut’, die
angeblich die deutsche Kultur vernichten wollte.
Nach dem Verlust von Riga zog die Familie nach Königsberg. Dies war ein wichtiges
Ereignis in der Jugendzeit von Seraphim, das ihn auch später bei seiner Arbeit als Wissenschaftler
formte. Er verließ nämlich nicht nur eine bekannte Umgebung, sondern ließ auch seine Jugendzeit
hinter sich und kehrte nie wieder an den Ort seiner Jugend zurück. Der Ortswechsel nach
Königsberg hatte noch eine andere wichtige und ‘positive’ Bedeutung in seinem Leben. Er war
nicht länger Teil einer Minderheit in einem neuen Land, sondern wurde als deutscher Bewohner des
deutschen Reiches Teil der Mehrheit. Es gab für ihn und seine Familie nicht mehr den Kampf um
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 201.59
Ibidem 149.60
�28
die Verteidigung der Traditionen und Privilegien, sondern eher eine stets präsente Konfrontation mit
dem polnischen Nachbarstaat sowie den polnischen Minderheiten, die eine Revision der neuen
Grenzen forderten. Es ist wichtig zu benennen, dass Seraphim auch in dieser Zeit in Königsberg ein
Umfeld hatte, das baltisch geprägt war. Die Kreise, in denen er sich bewegte, hatten im
Allgemeinen das Ziel der ‘Neuordnung’ des Ostens unter deutscher Vorherrschaft. Auch in Breslau,
wo er später noch einige Jahre arbeiten und studieren würde, gab es Parallelen zu der Zeit im
Baltikum und in Königsberg. An beiden Orten bewegte er sich in Kreisen, die sich eine 61
Neuordnung des Ostens vorstellten und dies als ein Ziel der deutschen Regierung sahen. Seraphims
Umfeld war ein wichtiger Faktor bei dessen Politisierung.
Seraphims in die NSDAP im April 1933 könnte als ‘typisch’ für seine
‘Selbstgleichschaltung’ bezeichnet werden. Wie viele andere Parteimitglieder war er Teil eines
Freikorps, der Baltischen Landeswehr, und sein Umfeld war geprägt durch verschiedene
nationalistische, völkische Ideen in Kombination mit einer akademischen Erziehung. Zuerst bestand
seine Mitgliedschaft vor allem aus beruflichen Gründen, wie bei den meisten Akademikern nach der
nationalsozialistischen Machtergreifung. Auch für Seraphim galt, dass seine Berufsethik schon in
1933 versagt hatte, als er stillschweigend die Vertreibung seiner rassisch oder politisch verfolgten
Kollegen hinnahm. Viele profitierten nämlich von den Verhaftungen oder dem Berufsverbot der 62
Kollegen, wie auch deutlich in der Kurzbiografie von Seraphim zu lesen ist:
“Da leider Lehrkräfte, die die erforderliche Kenntnis der Randstaaten in sprachlicher und
wirtschaftlicher Hinsicht besitzen [...] ausserordentlich selten sind…”63
Damit war Seraphim keine Ausnahme hinsichtlich der Gleichschaltung der Wissenschaftler im
Deutschen Reich und bestätigte eher die Regel. Doch es bleibt die Frage, ob sich Seraphims
Karriere zwangsläufig ergab oder ob er sie selbst wählte, etwa aus einem Engagement für den neuen
Staat heraus.
Mit der Karriere im nationalsozialistischen Reich sah es für Seraphim aufgrund seiner
vermeintlichen jüdischer Abstammung lange Zeit nicht gut aus. Daher dauerte es einige Jahre, bis
seine Karriere als Dozent und auch seine Habilitation abgeschlossen waren. Man könnte also sagen,
Götz Aly und Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung ‘Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung’ (Frankfurt 1993) 61
216.
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 301.62
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 117.63
�29
dass er sich mit der Hinwendung zur ‘Judenforschung’ bewusst einen Karriereaufstieg verschaffte,
indem er damit von den Anschuldigungen einer jüdischen Abstammung ablenkte. 64
Doch seinem Fachgebiet der ‘Judenforschung’ blieb er bis zum Kriegsende völlig treu und
exponierte sich sogar in diesem Feld. Auch als er eine gesicherte Stelle als Professor in Greifswald
hatte, behielt er es bei. Deswegen lässt sich vermuten, dass er seinen Fachgebietswechsel nicht nur
aufgrund der Gefahr für seine Wissenschaftlerkarriere vollzog. Man könnte sagen, dass es nicht 65
die wichtigste Motivation für den Wechsel seiner wissenschaftlichen Orientierung war. Dafür gibt
es verschiedene Gründe. Die Schlussfolgerungen seiner Arbeit zum Beispiel sprechen für eine
gewisse Distanz zur nationalsozialistischen Politik. So argumentierte er, dass die Ghettoisierung der
Juden nicht im Sinne der deutschen Bevölkerung war. Obwohl viele Ostforscher sich nicht an die
Kritik der Thematik der Ghettoisierung heranwagten, hielt Peter-Heinz lange Zeit an dieser Ansicht
fest. Dies zeigt deutlich, dass man seinen Karrierewandel nicht als zwangsläufig sehen kann. Ein
anderes Beispiel waren seine Proteste gegen die Massenmorde im Ukraine, was später in diesem
Kapitel noch erläutert wird. Das alles zeigt, dass man von einer bewussten Selbstfunktionalisierung
Seraphims sprechen kann. Für eine solche Eigenständigkeit sprechen vor allem auch seine 66
kritischen Ansichten zur Ghettoisierungspolitik. Dementsprechend ist er auch verantwortlich für die
Verbrechen der Nazis, vor allem weil er er die Möglichkeit hatte, sich gegen die verbrecherischen
Taten auszusprechen, diese jedoch nicht nutzte. Es ist aber schwierig Seraphim direkt zu verurteilen
für den Massenmord an den Juden, unter anderem weil er keine Kontakte hatte zu der SS. Trotzdem
war er einer der ersten der sich als ‘Judenforscher’ schon im März 1941 öffentlich für die
Gesamtlösung der ‘Judenfrage’ einsetzte. Weil die Frage der Schuld Seraphims eine schwierige 67
ist, wird diese Antwort im Kapitel 3.2 weiter erörtert und begründet.
Man kann also von einer natürlichen Radikalisierung sprechen, wobei die Basis schon in
seiner Erziehung gefunden werden kann. Vor allem sein Antisemitismus ist auf seinen
radikalnationalistischen Vater zurückzuführen. Die Motivation für sein Werk zeigt auch, dass er sich
nicht gezwungen fühlte, die Juden im Osten-Europas zum zentralen Thema zu machen. Denn er
schreibt am Anfang seines Buches, dass er es nicht verfasst habe, um sich mit der jüdischen Frage
zu befassen:
Martin Burkert, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, Teil I: Zwischen Verbot und Duldung., ‘Die schwierige Gratwanderung der 64
Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939’ (Wiesbaden 2000) Bd. 55, 284.
Burkert, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich (2000) 285.65
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 342.66
Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus (2000) 351.67
�30
“Der Verfasser ist an dieser Arbeit über das Judenproblem in Ost-europa zunächst eigentlich nicht
vom Gesichtspunkt der angedeuteten gesamtjüdischen Fragestellung herangetreten.”68
Sondern, so schreibt er in der Einleitung seines großes Werkes, dass er bei der jahrelangen Arbeit in
der Volkswirtschaft
„immer wieder auf die Juden als eine für das wirtschaftliche Leben in diesem Raum äußerst
wichtige und einflussreiche Gruppe“
gestoßen sei. 69
Damit zeigen seine eigene Entscheidungen, sich für das Dritte Reich als ‘Judenforscher’
einzusetzen und einige seiner außergewöhnlichen Schlussfolgerungen, die sich gegen die Politik der
Nazis stellten, dass Peter-Heinz Seraphim ein aus eigenem Antrieb funktionierender
nationalsozialistischer ‘Wissenschaftler’ war.
Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (Essen 1938) 10.68
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 10.69
�31
3: Ansatz und Einflüsse: Seraphims nationalsozialistischer ‘Judenforschung’
3.1 ‘Judenforschung’: Seraphims wissenschaftlicher Ansatz
Wie bereits gesagt, war der ursprünglich deutsch-baltische politische Volkswirt Peter-Heinz
Seraphim einer der meist geachteten ‘Judenexperten’ und einer der führenden ‘Wissenschaftler’ auf
dem Gebiet der osteuropäischen Juden im Dritten Reich. 70
Seine Werke haben verschiedene wissenschaftliche Merkmale, die mit den anderen
einschlägigen Wissenschaftlern übereinstimmten, wie zum Beispiel das Streben nach
‘wissenschaftlicher Legitimität‘, der Vorwand einer ‘intellektuellen Objektivität‘, die
‘Selbstentfernung‘ der antijüdischen Propaganda des Nationalsozialismus, das Verlangen nach
‘wissenschaftlichen’ Erkenntnissen, die produziert wurden, um den Entscheidungsträgern der Nazis
zu nützen, und vor allem die Begeisterung darüber, die eigenen Kenntnisse über das Judentum
weiterzugeben. Es gab sowohl bei den ‘Judenforschern’ als auch bei Seraphim viele Punkte, die 71
ihre Legitimität und Objektivität fragwürdig machten. Der Begriff ‘Objektivität’ bedeutetet für sie 72
nicht weltanschauliche Neutralität. Das Verständnis ‘des deutschen Volkes’ und auch des ‘deutschen
Ostens’ wurden stets als zentraler Ausgangspunkt verwendet. Man ging davon aus, dass die
Deutschen im östlichen Europa Träger einer höheren Kultur und einer höheren ökonomischen
Produktivität waren. Trotz dieser Fragwürdigkeit der Objektivität und damit auch des 73
Wissenschaftsbegriffes der ‘Judenforscher’ war es für die Forscher wichtig, diese Begriffe
ordentlich zu formulieren. Seraphim erklärte den Wissenschaftsbegriff der ‘Judenforschung’
inhaltlich sehr stark, indem er sich vom Wissenschaftsbegriff des Volkswirts und Soziologen Werner
Sombart (1863–1941) abgrenzte. Die Werke von Sombart, wie zum Beispiel Die Juden und das
Wirtschaftsleben (1911), zählten zu den zentralen Texten, auf die Seraphim immer wieder Bezug
nahm. Bei einer Rede zum Thema des Wissenschaftsbegriffs erklärte er:
„Diese Ausführungen Sombarts sind typisch für die pointierte ‘voraussetzungslose sachlich-
wissenschaftliche’ Betrachtung der Zeit, in der Sombart schrieb. Wir Heutigen stehen anders
dazu! Auch wir anerkennen kein ‘Dogma’, innerhalb dessen Grenzen oder nach dessen
Richtlinien geforscht werden könnte. Ebenso wenig ist für uns Wissenschaft ein
nachträglicher Beweis der Richtigkeit staatspolitischer Entscheidungen. Freiheit
Dan Michman, Die Angst vor den ‘Ostjuden’ (Frankfurt an Main 2011) 43.70
Steinweis, Antisemitic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 71.71
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 344.72
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 343.73
�32
wissenschaftlicher Forschung und Urteilsfindung nehmen wir in vollem Umfang für uns in
Anspruch. Aber wir sublimieren und vergöttern nicht den Begriff der Objektivität, sondern
für uns ist wissenschaftliches Forschen und Wirken nur sinnvoll im Rahmen der Volkheit und
für sie, in die wir hereingeboren und hereingestellt sind. Auf die Judenfrage exemplifiziert
heißt das: den Leser präokkupierende Werturteile, billige Schlagworte, unsachliche
Unterschiebungen gehören am allerwenigsten zu der Behandlung eines
Forschungsgegenstandes, der so stark im Bereich der politischen Diskussion steht. Die
Sombartschen Prämissen von der ‘Gleichwertigkeit der Rassen und Völker’ sind aber für
uns nicht nur als Ausgangspunkte unserer wissenschaftlichen Forschungsarbeit
indiskutabel, sie sind überhaupt gedanklich ‘objektiv-wissenschaftlich’ unrichtig. Dass ein
Volk, eine Gruppe von Völkern, eine Rasse oder eine bestimmte Rassenmischung ‚höhere’,
ein anderes Volk, eine andere Rasse oder eine bestimmte Rassenverbindung ‘geringere’
Leistungen vollbringt, ist exakt erweisbar - es sei denn, dass man zu einer solchen
‘Objektivierung der Wertbegriffe’ kommt, dass man bestreitet, dass ein Bildwerk
Michelangelos oder eine Symphonie Beethovens ‘mehr’ ist als die Götzenstatue eines
Buschmannes oder der Kriegstanz eines Kaffern.“74
Diese Erklärung zeigt Kennzeichen des nationalsozialistischen Wissenschaftsbegriffs: die
Ablehnung der Idee einer ‘voraussetzungslosen Wissenschaft’, die Aufhebung der Trennung von
Wissenschaft und Leben, der Rassenbegriff als Kernstück wissenschaftlicher Forschung sowie die
Ablehnung des internationalen Charakters der Wissenschaft und der Fokus auf das eigene Volkstum.
Doch Seraphims Theorie zeigte auch große andere Unterschiede gegenüber den Aussagen
anderer ‘Judenforscher’ über wissenschaftliche Objektivität. Die allgemeine ‘Judenforschung’ war
zum Beispiel ‘einfach’ und ‘nützlich’ für die Propaganda. Es waren oft rein propagandistische
Traktate, die die ideologischen national-sozialistischen Ziele unterstützen sollten. Seraphims Werk 75
war im Gegensatz dazu ‘wissenschaftlich’ viel umfangreicher und enthielt stark analytisch
formulierte Ergebnisse, die mit demographischen, sozialistischen, aber auch politischen
Argumenten sowie mit Statistiken, Karten und Graphiken untermauert wurden. Im Gegensatz zu
anderen ‘Judenforschern’ bot Seraphim verwendungsfähige Informationen aufgrund einer
besonderen Verschmelzung von Antisemitismus und Sozialwissenschaften. Das Ziel seines großen 76
Werkes war es, seine Leser mit verschiedenen Quellen und Daten, die er zusammengefügt hatte, zu
Peter-Heinz Seraphim, Zum Tode Werner Sombarts (19.5.1941), in: Weltkampf 1 (1941), H. 3, S. 177-181, S. 181. 74
Rupnow, ‘Judenforschung’ im Dritten Reich (2009) 271.75
Steinweiss, Studying the Jew (2006) 142-143.76
�33
informieren. So stellt er in seiner Einleitung dar, dass es seine Absicht war, kein Werturteil zu
seinem Thema zu geben:
„Ein Werturteil mögen die Leser dieses Buches in den Ergebnissen der wissenschaftlichen
Beweisführungen finden - der Verfasser hat sich eines solchen Werturteils in vollem Bewußtsein
einer besonderen wissenschaftlichen Verantwortung bei einem so ‘aktuellen’ Thema enthalten.“ 77
Dies war eines der Kennzeichen seines Werkes, wobei er sich verpflichtete, ‘strengste Sachlichkeit’
zu wahren. Diese eigene Verpflichtung, der Sachlichkeit einen wichtigen Platz in seinen Werken zu
geben, wiederholte er an verschiedenen Stellen in seinem Werk. Ein Beispiel für Seraphims
Versuch, große Objektivität zu erreichen, gibt es im dritten Teil des Buches in Kapitel 1 Zahl und
Verteilung der Juden in Osteuropa. Hier fragt er sich, ,,wer ist Jude?“. Er beantwortet in diesem
Kapitel die Frage nicht mit rassischen Gesichtspunkten, sondern versucht, andere Kriterien
anzugeben, weil es laut Seraphim keine wissenschaftlichen Beweise gibt, die einen Juden
beschreiben konnten:
„Wer blutsmäßig von jüdischen Eltern oder Voreltern abstammt, muß als Jude gelten.
Diesen rassischen Gesichtspunkt kann man aber praktisch hier deshalb nicht anwenden,
weil sämtliche erfaßbaren Unterlagen niemals den rassischen Juden zum Gegenstand
haben. Vielmehr sind alle möglichen anderen Kriterien zur Feststellung herangezogen, und
zwar vorwiegend das Religionsbekenntnis, die Sprache oder die Volkstumszugehörigkeit.“78
Diese scheinbare Objektivität wiederholt er erneut im fünften Kapitel Die Ostjuden als rassische
Gruppe im dritten Teil des Buches. Er erzählt dabei, dass davon abgesehen werden muss, den Juden
den Begriff ‘Rassejuden’ zugrunde zu legen, weil keine „…Ermittlungen über die osteuropäischen
Rassejuden vorliegen…“. Trotzdem will er aber nicht davon sprechen, dass man die Juden Ost-79
Europas nicht unter dem rassischen Gesichtspunkt betrachten kann. Er will damit nur zeigen, dass
seine Arbeit über die Juden in Osteuropa keine Rassenkunde umfasst, weil er die Validität der
wissenschaftlichen Daten dazu nicht garantieren kann:
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 14.77
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 281.78
Ibidem 40579
�34
„Selbstverständlich kann und soll aber im folgenden nicht der Versuch gemacht werden, eine solche
kann nur Gegenstand einer fachlichen wissenschaftlichen Arbeit auf Grund umfangreichen
anthropologischen Materials sein, als vielmehr auf einige Grundtatsachen der ostjüdischen
Rassenzusammensetzung und Rassengliederung hinzuweisen.“ 80
Diese verschiedenen Aussagen zeigen wichtige Kennzeichen von Seraphims wissenschaftlicher
Methode und Arbeit. Zum einen unterscheidet er sich hiermit sehr stark von anderen
‘Judenforschern’ und vor allem auch von den Rassenforschern im Dritten Reich. Die allgemeine
‘Judenforschung’ in Nazi-Deutschland war oft durchdrungen von rassistischen, anthropologischen
und propagandistischen Studien. Es ist an der Vorgangsweise von Seraphims Hauptwerk 81
bemerkenswert, dass er wenig rassische ‘Wissenschaft’ gebraucht. Er vertritt verschiedene
Argumente, wobei er den Juden bestimmte Charaktereigenschaften zuordnet. In seinem fünften
Kapitel Die Ostjuden als rassische Gruppe im zweiten Teil des Buches verwendet er jedoch nur
zehn Seiten für die Erläuterung der jüdischen Rasse. Damit zeigt sich, dass die Rassenlehre nicht
seine Spezialität war und auch nicht sein Schwerpunkt. Dies war unter den ‘Judenforschern’ keine
Ausnahme, bedeutete aber erneut nicht, dass Seraphim der Rassenlehre nicht anhing, sondern im
Gegenteil. Seraphim kritisierte sein Vorbild Sombart für dessen Zurückhaltung, ein rassistisches 82
Argument für das jüdische Wirtschaftsverhalten zu akzeptieren. Am Ende rechtfertigte er das Werk
von Sombart trotzdem noch, indem er behauptete, dass Sombart wegen des Mangels an Quellen
nicht in der Lage gewesen sei, tiefer in die Sache einzudringen. Auch hier zeigt sich seine 83
scheinbare Objektivität.
Durch eine bestimmte ‘Selbstentfernung’ von großen Formen der nationalsozialistischen
antijüdischen Propaganda, wie der rassistischen Propaganda, wurde der damalige politische
Ökonom Seraphim als der ‘professionellste und intellektuellste Judenexperte’ in Nazi-Deutschland
betrachtet. Diese Selbstentfernung zeigte er unter anderem dadurch, dass er Forschungen stets von
sich aus anstieß und seine Arbeit selbst organisierte. Auch die Arbeit Das Judentum im
osteuropäischen Raum war eine Forschung auf Eigeninitiative, die von der BDO finanziert wurde. 84
Seine Bemühungen, eine scheinbare Objektivität in seinem Werk zu kreieren, wovon er selbst völlig
überzeugt war, wurden von verschiedenen Wissenschaftlern auch noch später anerkannt. Der
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 405.80
Michael Burleigh, Germany turns eastwards: ‘a study of Ostforschung in the Third Reich’ (Cambrigde 1988) 189.81
Steinweis, Studying the Jew (2006) 158.82
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 405.83
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 95.84
�35
Historiker und Ostexperte Gottfried Schramm bestätigte zum Beispiel die ‘Objektivität’ von
Seraphim und nannte dessen ‘Meisterwerk’ 1968 ‘erfreulich objektiv’. Auch die Götz Aly und
Susanne Heim betonten, dass das Werk von Seraphim ‘wissenschaftlich’ zu der damaligen Zeit
außerordentlich und modern war. 85
Es gab aber auch einige weitere Charakteristiken, durch die sich Seraphims Arbeit von
anderen Werken der ‘Judenforschung’ in der Nazi-Zeit unterschied. Zunächst war dies der Umfang
seiner Werke. Ein Beispiel ist das Werk Das Judentum in osteuropäischen Raum (1938), das kurz
nach seinem Erscheinen als Standardwerk für die ‘Judenforschung’ galt. Es hatte 732 Seiten, 197
statistische Grafiken und Diagramme, eine Bibliographie mit 563 Titeln, mehr als 2000 Fußnoten
und beschrieb einen Zeitraum von ungefähr 1000 Jahren Geschichte zum „Eindringen der
Jüdischen Bevölkerung in Osteuropa“. Weiter produzierte er als ‘Forscher’ eine größere Anzahl 86
von Artikeln, Monographien und detailliertere sowie umfangreichere Grafiken als jeder andere.
Auch die Kollegen von Seraphim waren vom ‘Meisterwerk’ über das ‘Judentum’ beeindruckt, wie
viele positive Rezensionen aus der nationalsozialistischen ‘wissenschaftlichen’ Zeitschrift Der
Weltkampf zeigen. Die ‘Sachlichkeit’ seiner Schlussfolgerungen, die Untersuchung einer breiten 87
Datenbasis und die anschauliche Darstellung wurden in verschiedenen deutschen, aber auch
internationalen Rezensionen in Fachzeitschriften lobend erwähnt. Damit war Seraphim ein national
wie auch international anerkannter Wissenschaftler – ein Status, den keiner der ‘Judenforscher’ zu
seiner Zeit hatte. Auch Sommerfeldt betonte in einer Rezension über Seraphims großes Werk Das Judentum im
osteuropäischen Raum, dass er vom Umgang mit den Quellen sehr begeistert war und:
„dass Hauptverdienst dieses Verfassers nicht in der Erschließung und Ausschöpfung neuer Quellen,
sondern in der neuen Sicht und Ordnung der zum größten Teil von jüdischer Wissenschaftlern
zusammengetragenen, bereits bekannten Forschungsergebnisse liege“.88
In seinen Arbeiten und vor allem im Werk Das Judentum im osteuropäischen Raum wurde der
Antisemitismus weder als weltanschauliche Basis genannt noch als epistemischer Ausgangspunkt
betont wie bei den anderen ‚Judenforscher‘. Man darf sich aber nicht vorstellen, dass die Sprache
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 101.85
Ibidem 97.86
Der Weltkampf, Monatsschrift für Weltpolitik, völkische Kultur und die Judenfrage aller Länder, ausgegeben von Alfred Rosenberg seit 1924.87
Rupnow, ‘Judenforschung’ im Drittenreich (2009) 158.88
�36
und Bildwelt des Antisemitismus nicht im Werk präsent ist. Sie ist aber stets zurückgenommen,
beschränkt, beiläufig und wirkt im Text sehr natürlich.89
Dafür gibt es verschiedene Beispiele. Im ersten Teil des Buches in Kapitel 1 Hauptzüge der
Geschichte der Juden in Osteuropa bis zur Teilung des Polnischen Reiches wird dieser suggestive
Antisemitismus gut dargestellt. Er spricht hier über die Gründe der Juden für das Umziehen von
verschiedenen Orten in Europa nach Osteuropa. Ein Grund, von dem er spricht, ist der jüdische
Bevölkerungsüberschuss in Europa, wobei sie Auswege suchen mussten und diese in Osteuropa
fanden. Doch sie zogen laut Seraphim erst um, nachdem die Deutschen das Land Ost-Europas
‘kolonisiert’ hatten. Seraphim stellt damit fest, dass die Juden daher keine Pioniere waren, sondern
er versucht hier, das Bild eines jüdischen Parasiten zu zeigen, der vor allem auf Kosten anderer
Völker existierte.
„[…] sondern erst nachdem die deutsche Ostwanderung das Pionierstadium der Kolonisation
überwunden hatte, massenweise in dieses Gebiet ein strömten“. 90
Weiter sagt Seraphim über die Juden, dass sie einen innewohnenden Wandertrieb haben. Dieser
Wandertrieb der Juden machte die Juden zu einem wurzellosen Volk – „Anreizend auf die
wanderlustigen Juden Westeuropas“. Durch das Nichtvorhandensein der Wurzeln der Juden 91
erhielten die Juden die Kennzeichen eines Parasiten. Laut Seraphim gehörten sie nicht zur Blut-und-
Boden-Theorie der Nationalsozialisten und könnten damit das Gefühl der Einheit im Dritten Reich
zerstören. Dazu kommt, dass er im selben Absatz über die Juden als eine ‘Überbevölkerung’
schreibt und Begriffe wie ‘Bevölkerungsüberschuss’ und ‘jüdische Massenauswanderungen’
gebraucht, womit er die Juden zu kollektiven Größen macht, die demzufolge nur noch als Variablen
im Werk anwesend sind. Dies hatte zur Folge, dass die Juden zu einer zu verschiebenden Masse
gemacht wurden und damit nicht mehr als individuelle Menschen betrachtet wurden. 92
Im ersten Teil des Buches im fünften Kapitel Geistige und religiöse Bewegungen im Polnisch-
litauischen Judentum bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts schreibt Seraphim kurz nebenbei einige
sogenannte stereotypische Kennzeichen des ‘intellektuellen’ Juden. So stellt Seraphim fest, dass die
Juden sehr gut im Gebrauch der Sprache sind.
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 272.89
Ibidem 28.90
Ibidem 26.91
Ibidem 27.92
�37
„Diese Entwicklung des talmudischen Schrifttums war gerade in der Zeit der Einwanderung
der Juden nach Osteuropa in ihrer Einseitigkeit bis zu einem Höchstmaß gediehen: an die
Stelle der Kodifikation trat eine rein haarspalterische dialektische Wortinterpretation. Diese
Methode der sogenannten “Pilpul” artete in reine Sophisterei aus und führte dazu, daß an
Stelle des wahrheitsuchenden Forschers der klügelnde, spitzfindige Geistesjongleur trat.“93
Mit dieser reinen Sophisterei meint er, dass die Juden mit Wörtern spielen können, wobei aber keine
Substanz dahintersteckt, was sie genau sagen und deuten wollen. Sie können einem Menschen laut
Seraphim etwas einreden und ihn manipulieren, zum Beispiel, dass er ein Sozialist oder Kommunist
ist oder werden muss. Seraphim stellt sie damit indirekt als Gefahr für ‘gute’ Deutsche dar. 94
Er stellt auch fest, dass die Juden eine Tradition der Bestechung im polnisch-litauischen Reich
besitzen und dass sie
„im Kampf um ihre jüdischen Sondervorrechte wie in der Ausnutzung ihrer Geschäftsführer-
und Pächtertätigkeit bei den polnischen Panen, oder zu Erhaltung und Erweiterung ihrer
Niederlassungs- und Handelsrechte in den Städten das Mittel der Bestechung mit ebenso
viel Virtuosität wie erfolgt angewandt hatten.“95
Hier sieht man den Antisemitismus sehr deutlich. Was aber weiter auffällt, ist, dass sich der Absatz
im zweiten Teil des Buches bei Kapitel 2 der Ostjuden vom Rest des Kapitels unterscheidet, weil er
ohne deutliche Begründung als Wahrheit angenommen wird. Auch bei den nächsten Aussagen fällt
auf, dass er auf die gleiche Weise mit seiner Objektivität umgeht. So sagt er, dass es die Mentalität
der Ostjuden war,
„eine Angelegenheit ohne Formalität, schnell unter der Hand zu erledigen, um die Entscheidung
ohne den Instanzenweg mit seinen Verzögerungen herbeizuführen und sich gegebenenfalls auch
Vorteile zu sichern, die der gesetzliche Weg nicht bietet.“96
Weiter zeigt er, wie der handelnde Jude sich trotz der großen Ähnlichkeiten von den Deutschen
unterscheidet. Dies macht er, indem er behauptet, dass die Juden immer Händler sein wollten, doch
dass sie andere Händler waren als die meisten ‘deutschen’ Händler:
„Ebenso wie das jüdische Handwerk ist auch der jüdische Handel in Osteuropa mit dem
Handel in Mittel- und Westeuropa unvergleichbar. Er weist vielmehr ganz spezifische Züge
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 79.93
Ibidem 79.94
Ibidem 100.95
Ibidem 100.96
�38
und Erscheinungsformen auf. So stark zweifellos gerade im Handel mehr als in anderen
Berufen ein “Erwerbsinteresse” vorausgesetzt ist und das Werkinteresse zurücktritt, so sehr
es dem Handeltreibenden eigen ist, daß er “in Geldwerten denkt”, so ist doch sein Wesen
keineswegs im reinen Bereicherungsziel beschlossen. Es braucht nur an den Typ des
“königlichen Kaufherrn” des Mittelalters oder an die pionierhafte Handelsleistung und die
Machtballung in modernen Handelsinstituten erinnert zu werden, um zu erkennen, daß auch
dem Handel ein ‘Sachinteresse’ eigen sein kann, eine Leistungsaufgabe die auch bei
notwendiger kleinlichster Rechenhaftigkeit in der einzelnen Transaktion vom
Handeltreibenden empfunden werden kann.“97
Nach Seraphims Behauptungen
„ist der Handel für den Juden das geeignetste Mittel, seine Gaben zu entfalten, der gegebene Beruf
um zu Wohlstand und Reichtum zu gelangen.“98
Seraphim behauptet damit, dass für den Juden nur das Reich werden wichtig war, und dass sie
materialistisch sind. Ein Händler muss offensichtlich in Geldwerten denken, aber er will sich eben
nicht nur bereichern. Ein Händler ist laut Seraphim auch an der Tradition und an dem Produkt
interessiert, es geht für ihn mehr als nur um das Geld. Jüdischen Händlern dagegen fehlt eine solche
Haltung; der Handel ist für sie nur ein Mittel, um zum Reichtum zu gelangen.
Diesen Reichtum koppelt er auch an seine Behauptung, dass das Gleichheitsprinzip in der jüdischen
Religion nicht auf Wahrheit beruhe. Er sagt, dass das Judentum auf alles andere als auf das
Gleichheitsprinzip gebaut ist, anders als es ihre Religion suggeriere:
„vielmehr heben sich einzelne Gemeindemitglieder durch Wissen, Reichtum und Alter heraus.“99
Dies wiederum koppelt er an den Grund, warum viele Juden sich intellektuell entwickeln wollen.
Sie tun dies, weil sie damit, wie schon erwähnt, mehr Macht und Reichtum erlangen können.
Diese Begriffe von Reichtum und Wissen koppelt er wieder an etwas anderes. Seraphim stellt mit
seinen eigenen Daten fest, dass Juden sehr verschiedene Berufe ausüben. Laut Seraphim sorgt der
Drang nach Reichtum in Kombination mit dem Wissen dafür, dass sie sehr flexibel sind. Aber dies
sieht Seraphim nicht als etwas Positives, da ‘der’ Jude damit wie folgt beschrieben wird.
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 629.97
Ibidem 629.98
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 201.99
�39
„in alle Poren des wirtschaftlichen Organismus eingedrungen, er ist beruflich atomisiert und
Schankwirt, Kleinhändler, Wechsler oder Hausierer und Handwerker oder Makler und
Wucherer in einer Person. Er ist proletarisiert in des Wortes weitester Bedeutung; er lebt
von der Hand in den Mund, er lebt von Luft, ergreift alle Berufe - und bleibt doch absolut
beherrschend für den Gesamtmechanismus der Wirtschaft.“ 100
Seraphim verbindet dies mit seinen eigenen Behauptungen über die Juden, dass es bei diesen an
einer Bindung an einen ‚Raum‘ fehlt, in dem sie leben, und dass es deswegen leichter ist, als
jüdischer Händler vom Kohlenhandel zum Eieraufkauf zu wechseln.
Wie schon erwähnt, sagt er, dass die Juden als Nomaden gelten – oder besser gesagt – als
Menschen mit hoher ‚Mobilität‘. Diese Mobilität verbindet er mit seiner Behauptung, dass die
Juden sich einfach anpassen können, weil sie sich nicht mit dem ‚Boden‘ – mit dem Land, der
Kultur und den Menschen, wo sie leben oder herkommen – verbinden:
„Der Jude auf dem Lande war von vornherein ein auf dem Lande wohnender Städter. Er
braucht nicht wie der Bauer sich von einer ihm familienhaft oder sippenmäßig festhaltenden
Umgebung zu lösen, nicht einen Berufswechsel vorzunehmen. Für den Juden war die
Verpflanzung vom Lande in die Stadt nichts anderes als ein Wohnortwechsel, nicht mehr als
eine Geschäftsverlegung.“ 101
Er betont diese Mobilität erneut, indem er sagt, dass „die Juden als Handeltreibende und daher als
leicht bewegliches Element durch Wohnsitzwechsel zugleich schwerer erfaßbar sind als etwa
organisierte Handwerker oder bodengebundene Landwirte.“ Der Jude sei „überall ein 102
Fremder“. Er is laut Seraphim wurzellos:
„Dem Gastvolk gegenüber ist der Jude immer fremd, als Ersatz dafür ist es aber in seinem eigenen
Volke überall zu Hause […] der Jude, der an sich überall ein Fremder ist, innerlich nicht irgendwie
bedeutsam an der Umwelt als solcher interessiert […]“103
Seraphim sagt, dass ‘der’ Jude nicht mit der Scholle verbunden ist. Auch hier kommt die Rolle eines
Juden als Parasit im Gastvolk deutlich zum tragen, da ein Parasit von den anderen lebt und daher
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 76.100
Ibidem 326-327.101
Ibidem 282.102
Ibidem 327- 328.103
�40
von Veränderungen nur wenig betroffen ist. So meint Seraphim, dass ihre Flexibilität den Juden bei
einer schlechten Wirtschaftslage Vorteile geben würde, weil sie sich leicht umstellen könnten.
„Seine gekennzeichnete ‘Allgemeine Berufslabilität’ seine Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit
[…]. Der Jude besitzt ein “allseitiges” Handelstalent, er wird in der Regel bei einem Wechsel der
Konjunktur leicht in der Lage sein, sich umzustellen […]“104
Kennzeichnend ist die Aussage von Seraphim am Anfang vom vierten Teil des Buches, Kapitel 3
Die Juden und das Geistesleben in Osteuropa. Hier bezichtigt er die Juden, nach einer langen
Isolation aus dem Geistesleben ihrer Umweltvölker im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts
in die Sphäre des geistigen Lebens ihrer Umwelt eingedrungen zu sein. Diese Entwicklung kam 105
in Gang, indem es am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer Verallgemeinerung des
Schulzwanges kam und einen ‘Zudrang’ von Juden zu den staatlichen nichtjüdischen Schulen und
noch mehr an den Hochschulen entstand. Diese für große Mengen jüdischer Akademiker, die zu –
hier zeigt Seraphim erneut seine raffinierte Weise, zwischendurch suggestive Behauptungen zu
machen, die er für objektiv hält – „eine[r] außerordentliche[n] jüdische[n] Überfremdung der
Hochschulen“ führte, „die im Geistesleben oder in der Wirtschaft der Gaststaaten Unterkunft und
Betätigung suchen.“ ‘Überfremdung’ ist vor allem das Wort, das zeigt, wie er suggestiv die 106
negativen Folgen einer Immigration der Juden aufzeigt. Auch hier wird ‘der’ Jude indirekt als
unerwünscht gezeigt. Das Wort ‘Parasit’ wird auch hier nicht genannt, doch passt es zu Seraphims
Aussagen, da nur ein Parasit die Entwicklung eines ‘Gastvolkes’ hindern oder zerstören könnte.
Eine andere suggestive Aussage, wobei auch die Rolle des Juden als Parasit im Gastvolk deutlich
gemacht wird, wird im selben Kapitel gemacht. In diesem Teil werden die Änderungen der Macht
der Schlachta, des polnischen Adels, gegenüber dem polnischen König im 14. Jahrhundert
beschrieben. Seraphim stellt dabei fest, dass
„den Juden mußte naturgemäß viel daran liegen, die Fäden zur Krone nicht abreißen zu lassen, um
auf die Lage der Königsjuden direkt, auf die Lage der übrigen Judenschaft im gegebenen Falle in
Form einer königlichen Intervention einwirken zu können.“ 107
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 630.104
Ibidem 631.105
Ibidem (1938) 506.106
Ibidem 189.107
�41
Die Juden hatten sich laut Seraphim beim König eingeschmeichelt. Dabei suggeriert er eine
bestimme Abhängigkeit, die nur zum Überleben da war. Er erklärt auch, dass die Juden den
‘Wahlkönigen’ bei jeder Neuwahl viel Geld beschaffen konnten, um so die Wahlspesen bezahlen zu
können. Seraphim zeigt hier eine antisemitischen Stereotyp indem er sagt, dass ‘der Jude’ einen 108
bestimmten Machtopportunismus in sich trage. Diesen Machtopportunismus zeigt er auch an einem
anderen Beispiel. Bei der Schwedischen Okkupationszeit von Groß- und Kleinpolen im 17.
Jahrhundert urteilt Seraphim über die Juden:
„bemühten sich (die Juden) wie immer der momentan herrschenden Macht zu paktieren und zeigten
offen pro-schwedische Sympathien.“ 109
Was nicht direkt den Juden zugeschrieben wird, aber was auch ein sehr suggestives Beispiel ist,
wobei der Jude als ein Volk beschrieben wird, das versucht, andere Völker abzulösen, ist die
Erklärung von Seraphim, warum es in Osteuropa überhaupt so viele Juden gab. Er schreibt darüber:
„Das Vordringen der Juden im Bereich des wirtschaftlichen Sektor, die fast widerstandslose
Übereignung der wichtigsten Machtpositionen der Wirtschaft an die Juden sind zweifellos
keine zufälligen Erscheinungen, sondern eben eine Folge der Unterlegenheit des polnischen
Menschen gerade in dieser Richtung. Nicht nur weil der Jude gewandt, gerieben, zäh,
fleißig, zielstrebig war, sondern auch weil der Pole es in ungleich geringerem Maße war
übernahm gerade in Polen-Litauen der Jude die Führung und Lenkung der Wirtschaft.“110
Was am meisten an diesem Absatz auffällt, ist, wie kennzeichnend diese Aussage für Seraphims
Werk ist. Er gebraucht verschiedene subjektive Formulierungen für den Juden und die meisten sind
recht positiv: „gewandt, gerieben, zäh, fleißig, zielstrebig“. Doch zwischen diesen fünf subjektiven
Formulierungen gebraucht er das Wort ‘gerieben’, was eine kurze beiläufige Erwähnung eines
niederträchtigen Charakterzugs darstellt. Genau diese beiläufige Diskriminierung macht Seraphim auch mit den Fotos von
verschiedenen Typen von Juden, die er in seinem Buch zeigt. Im ersten Augenblick sehen diese 111
Fotos harmlos aus, da er auch schreibt, dass er begründen möchte, dass die Juden ein
Rassengemisch seien und es damit verschiedene Juden in der Welt gebe. Er sagt dazu, dass die
rassische Verschiedenheit der Ostjuden, durch Rassenkreuzungen und Mischungen hervorgerufen,
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 45.108
Ibidem 190.109
Ibidem 546.110
Ibidem 64.111
�42
„eine anthropologische Typenvielheit im Gefolge hat, die es verbietet, von einem bestimmenden
Judentypus zu sprechen“. Doch Seraphims Überschriften verurteilen die Juden zu einem 112
niederrangigen Volk, indem er sie in verschiedene Typen einteilt. Er nennt den orientalischen Typus,
den vorderasiatischen Typus, jüdische Fremdtypen, Mischtypen. Damit zeigt Seraphim mit seinen
Fotos eine Rassenanthropologie verschiedener Judentypen aus Nordostpolen, wobei äußerliche
Kennzeichen sehr deutlich gezeigt werden, die auch aus einem Buch über die Juden als Rasse
kommen könnten. Er versuchte immer, die Rassenanthropologie im Buch zu vermeiden, doch diese
Fotos widersprechen dem zum Teil. Er nutzt sie jedoch nicht, um die äußerlichen Merkmale der
Juden zu verdeutlichen oder zu erklären.113
Das umfangreiche Werk von Seraphim über die Juden in Osteuropa war unter anderem auch
besonders, weil es ein antisemitisches Werk war, das einen starken wissenschaftlich-soziologischen
Jargon hatte, was in der ‘Judenforschung’ auffiel. Diese Verschmelzung des nationalsozialistischen
Antisemitismus mit der Sozialwissenschaft war ein Kennzeichen von Seraphim. Weiter war das
Buch eine sehr präzise Arbeit bezüglich der Daten, was ihm durch seine Kenntnis der russischen
bzw. polnischen Sprache möglich war. Dabei hatte er auch mit seinem Opus Magnus ein Thema 114
gewählt, das sich seiner Zeit noch niemand zu seiner Zeit zugeeignet hatte. Die Beschreibungen 115
der inneren Organisation des Judentums, ihrer Verteilung im osteuropäischen Raum, ihrer Stellung
im Wirtschaftsleben, der Berufsgliederung und sozialen Lage und schließlich auch der antijüdischen
Bewegung in Osteuropa waren hier zentrale Themen. 116
Ein anderes Kennzeichen von Seraphim war die Art der Daten, die er in seinen Werken
gebrauchte. Sombart kritisierte sein eigenes Werk oft, weil es nach seiner Meinung an
verschiedenen statistischen Daten fehlte. Diese Daten wurden aber nach dem Werk von Sombart
gesammelt und waren in der Zeit von Seraphim reichlich vorhanden. Man könnte einfach 117
feststellen, dass die ‘Judenforscher’ in den 1930er Jahren viel mehr Daten zur Verfügung hatten als
ihre Vorgänger am Anfang des 20. Jahrhunderts, wodurch die Arbeit qualitativ besser wurde. Die
Werke von Seraphim waren durch intensive Textanalysen geprägt und enthielten dadurch eine
größere Anzahl vergleichender Texte und Daten als die früher verfassten Arbeiten von Sombart.
Diese Daten und Vergleichstexte waren oft von jüdischen Akademikern gesammelt worden; mehr
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 412.112
Ibidem 64.113
Steinweis, Studying the Jew (2006) 146.114
Rupnow, ‘Judenforschung’ im Drittenreich (2009) 40.115
Rupnow, ‘Judenforschung’ im Drittenreich (2009) 271.116
Hans-Christian Petersen, ‘Ordnung schaffen’ durch Bevölkerungs verschiebung: ‘Peter-Heinz Seraphim oder der Zusammenhang zwischen 117
'Bevölkerungsfragen' und Social Engineering’ in: Historical Social Research (2006) vo.l 31, 298.
�43
als die Hälfte der Quellen war ‚jüdisch‘. Auch das war eines der Kennzeichen von Seraphims Werk,
was aber auch gleichzeitig eine der Kritiken von Jozef Sommerfeldt war. Er erkannte das Werk von
Seraphim als Handbuch des Fachgebietes an. Doch er betrachtete es nur als Auftakt zu einer
fundamentalen Erforschung des Judentums in Osteuropa, da seiner Meinung nach zu viele jüdische
Quellen benutzt wurden. Wie der IDO selbst behauptete, sollte man jüdische Literatur und Quellen
möglichst ausschließen, um möglichst wenig unverfälschtes Material für eine Geschichte der
‘Judenfragen’ in Polen zu haben. 118
Seraphim gebrauchte viele Quellen, Texte und Daten, die jüdische Akademiker vor ihm
zusammengetragen hatten. Dies wird auch an den vielen Sätzen in seinem Werk deutlich, die
anfangen mit: ‚Nach Angaben jüdischer Quelle‘. An der Bibliographie kann man auch sehen, dass
ungefähr 61 % mit einem ‘J’ markiert sind und damit als Literatur von jüdischen Autoren
bezeichnet wurden. Dies war aber keine Ausnahme. Schon vor Seraphims großer Arbeit wurden 119
ausgerechnet jüdische Werke als Basis für die antisemitische Kritik an der jüdischen Rasse
verwendet. Was besonders war, war die Weise, wie Seraphim mit diesen Quellen umging. Viele der
jüdischen Werke wurden nach Seraphims Meinung aus einer zionistischen oder reformistischen
Sicht mit dem Ziel kreiert, die Lage der damaligen jüdischen Gemeinschaft zu verbessern. Die
tragische Ironie war aber, dass die Werke später gebraucht wurden, um den Antisemitismus
wissenschaftlich zu unterstützen. Nach Seraphims Angaben verbesserte er die Schlussfolgerungen
aus den von jüdischen Forschern gesammelten Daten, indem er sie neu interpretierte. 120
Um ein tieferes Verständnis von Seraphims Vorgangsweise bezüglich der jüdischen Quellen zu
erhalten, soll ein spezifisches Beispiel herangezogen werden: Der ‘Judenforscher’ verwendete viele
Werken von Arthur Ruppin (1876–1943), einem jüdischen Soziologen und Zionisten. Vor allem
wurde aus seinen Werken Juden der Gegenwart (1911) und Soziologie der Juden (1931) für Kapitel
5 Die Juden im Wirtschaftsleben der Völker Osteuropas zitiert. Was Seraphim anders machte als
seine Kollegen, war, dass er die Quellen von Ruppin mit großem Respekt behandelte, indem er ihn
als fähigen Wissenschaftler würdigte, der einen wichtigen Beitrag zur jüdischen Gemeinschaft
geliefert habe. Weiter vertraute er auf die Statistiken, die Ruppin ihm verschaffte. Dabei muss man
aber verstehen, dass die Daten gut zu den Überzeugungen und den ideologischen Interessen von
Seraphim passten. Er brauchte sie nicht auf irgendeine Weise zu kritisieren und konnte die Quellen,
Daten und statistischen Tabellen direkt verwenden, um zum Beispiel die ‘jüdische kapitalistische
Dominanz‘ in der osteuropäischen Gesellschaft zu zeigen. Doch wenn er die jüdischen Akademiker
Rupnow, ‘Judenforschung’ im Dritten Reich (2009) 159.118
Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 71.119
John Efron, Defenders of the Race: ‘Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Siecle Europe’ (Yale 1994) 169.120
�44
oder Daten kritisierte, war die Kritik immer dieselbe: Man könne bei einer jüdischen Gemeinschaft
nicht von der Objektivität der Daten ausgehen. Im Gegensatz zu anderen ‘Judenforschern’
akzeptierte Seraphim die gesammelten Daten und Quellen, jedoch nicht die Erklärungen und
Schlussfolgerungen, die Ruppin aus seinen Daten zog. Seraphim betonte in seiner Einleitung, dass
er ohne die jüdischen Quellen nicht weit gekommen wäre und deswegen abhängig von den dort
enthaltenen Informationen sei, er jedoch nicht hinter den Schlussfolgerungen daraus stehe:
„Es ist darum doppelt notwendig, daß nichtjüdische Wissenschaftler sich der Bearbeitung
jüdischer Fragen zuwenden, will man endlich aus dem gerade durch diese Jüdischen
Schriftsteller eingefahrenen Gleis, aus der schematischen Vorstellungswelt herauskommen
und die geschichtlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Fragen, die mit dem
Judentum zusammenhängen, anders, neu und richtiger sehen als bisher.“121
In den Augen von Seraphim war Ruppin ein Gefangener seiner eigenen jüdischen ‘Brille’, von dem
nicht erwartet werden konnte, sich selbst zu korrigieren. Er akzeptierte bei Ruppin gefundenen
Quellen, interpretierte sie jedoch auf seine Weise, wobei er stets einen gewissen ‘Respekt’ für den
Wissenschaftler Ruppin behielt. Unter den ‘Judenforschern’ war dies eine Ausnahme. Dieses
‘schmematisches’ Denken war aber immerhin ein antisemitischen Vorurteil. Ein anderes Beispiel, in dem Seraphim sich als ‘Judenforscher’ im Gebrauch der Analysen eines
jüdischen Wissenschaftlers von anderen unterscheidet, ist das zweite Kapitel des dritten Teils in
seinem Werk Der Verstädterungsprozeß der Juden Osteuropas. Hier zitiert Seraphim Ruppin und
zieht seine eigenen Schlussfolgerungen aus der Geschichte. In diesem Teil geht es um die Folgen
der Modernisierung und die Konsequenzen der Urbanisierungsprozesse der Juden im 19. und
Anfang des 20. Jahrhunderts. Ruppin zieht dabei die Schlussfolgerung, die Urbanisierung habe
dafür gesorgt, dass es innerhalb der jüdischen Gemeinschaft nicht nur zu einer ,,Auflösung des
engen Gemeinschaftslebens’’ kam, sondern zu einem
„erleichterte[n] Zugang zu höherer Bildung, Anreiz zu gewagten Geschäften, Beschränkung der
Geburtenzahl, erleichterte[m] Verkehr mit Nichtjuden und Abkehr von der religiösen Tradition“.
Seraphim bestätigt dies und sagt, dass solche Schlussfolgerungen nicht an sich falsch seien:
„die genannten Folgen können eintreten, und sie treten auch in vielen Fällen ein“. 122
Aber er fügt hinzu, dass es noch zu einer anderen Schlussfolgerung komme, und zwar, dass die
jüdische Selbstkonzentration eine bestimmte Reaktion der ‘jüdischen’ Angst vor einem Verlust der
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (Essen 1938) 9.121
Ibidem 354.122
�45
eigenen Kultur durch Assimilation an andere Bevölkerungsgruppen sei und dies in der Bildung
ethnischer Ghettos in den großen städtischen Gebieten resultiere.123
„Das Getto - natürlich im Sinne einer durchaus freiwilligen jüdischen Wohngemeinschaft -
ist die unbewußte Abwehrmaßnahme der Juden gegen die Gefahr der Auflösung der
religiösen Tradition, der jiddischen Sprache, des jüdischen Volkstums. Wanderung und Getto
sind die zwei Seiten des jüdischen Lebens - nicht nur äußerlich im Sinne der Bewegung und
der Siedlungsform des jüdischen Volkes, sondern auch innerlich im Sinne der
Assimilationsgefahr und der Assimilationsabwehr“124
Seraphim bestätigt also die Schlussfolgerungen von Ruppin und behauptet zudem, dass Angst ein
wichtiger Faktor für die Ghettoisierung sei. Diese Weise, wie er mit dem Material von Ruppin
umgeht, ist kennzeichnend für seine ‘Judenforschung’. Das Konzept des osteuropäischen Ghettos war ein wichtiger Teil von Seraphims Arbeit,
schon bevor die Nationalsozialisten 1939 über eine mögliche Ghettoisierung der polnischen Juden
sprachen. Seraphim kam zu dem Ergebnis, dass genau diese Ghettos die Basis sowohl auf ethnisch-
wirtschaftlicher als auch auf kultureller Ebene für die jüdische Expansion waren. Er betonte, dass 125
‘normalerweise’ eine Urbanisierung einer ethnischen Gruppe eine auflösende Wirkung für
bestimmte traditionelle Strukturen hätte. Doch bei den Juden sei das Gegenteil der Fall. Die 126
Juden waren für Seraphimein städtisches Volk, das nicht in einem bestimmten ‚Boden‘ verwurzelt
war, wodurch die Urbanisierung in Kombination mit der Ghettoisierung die ethnische Gruppierung
verstärkte. Mit dieser Behauptung und mit den Quellen von Ruppin versuchte Seraphim zu zeigen
und zu betonen, welche Gefahr eine jüdische Urbanisierung für die nichtjüdische Bevölkerung in
diesen Regionen bedeuten würde. Er gab zu, dass ein Teil der Assimilation der Juden schon 127
stattgefunden hatte, doch er wollte die Schlussfolgerungen Ruppins umdrehen und benutzte dessen
eigenen Statistiken, um zu beweisen, dass sich die meisten osteuropäischen Juden nicht assimiliert
hatten. Während Ruppin, der Zionist, argumentierte, dass die Assimilation mit Nichtjuden für die 128
Juden schlecht sei und schon häufig stattgefunden habe, sagte Seraphim, dass die semitische Kultur
schlecht für die deutsche Bevölkerung war. Damit behauptete Seraphim, dass die Assimilierung
Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 74.123
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 355.124
Ibidem 355.125
Ibidem 355-356.126
Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 75.127
Steinweis, Studying the Jew (2006) 147.128
�46
eher umgekehrt stattgefunden habe. Die jüdische Gemeinschaft als Minderheit war schlecht für die
deutsche Identität.
„In diesem Sinne, nicht aber in architektonisch-städtebaulicher Hinsicht, kann von einer
unverkennbaren und nachhaltigen jüdischen Beeinflussung der osteuropäischen Stadt gesprochen
werden.“129
Auch hier gebraucht Seraphim die Daten und Quellen der jüdischen Wissenschaftler, gibt ihnen
aber eine eigene Wendung, indem er neue Schlussfolgerungen zieht.
Ähnlich war die Analyse zur Frage, warum die Juden im ‘Allgemeinen’ eine gewisse ‘Dominanz’ in
der kommerziellen Wirtschaft von Osteuropa hatten. Diese Frage beantwortete Ruppin, indem er
schrieb,
„dass die Juden im Grunde ein lebensbejahendes Volks seien, jedenfalls im Gegensatz zu den
minder lebensfrohen nordeuropäischen Völkern“. 130
Ruppin behauptete, dass der Kapitalismus zur Natur der jüdischen Kultur gehöre. Seraphim
hingegen behauptete, dass eine jüdische Abneigung gegen die körperliche Arbeit eine weitaus
wahrscheinlichere Erklärung sei.131
„Wir zeigen auf, daß die Gründe, die den Juden zum Handelsberuf treiben, zweifellos in der
Abneigung gegen körperliche Arbeit in dem ihm immanenten Erwerbstrieb, seiner
Risikofreude, Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit liegen, daß er zugleich auch nach Anlage
und Tradition zu diesem Beruf besonders geeignet ist.“132
Eine ähnliche Vorgangsweise, wobei er die Dateninterpretation jüdischer Wissenschaftler korrigiert,
ist die Beschreibung der Gründe für die Auswanderung der Juden nach Osteuropa. Er ist mit der
Meinung der jüdischen Historiker einverstanden, dass der Osten die jüdische Migration sehr
geschätzt habe. Diese Region war sehr ‘judenfreundlich’ und war von den gelegentlichen Tumulten
und Judenvertreibungen, die es in Frankreich und Deutschland gegeben hatte, verschont. Seraphim
stellt aber noch etwas anderes fest und fügt hinzu, dass sie nicht nur deswegen in den Osten
umzogen. Neben diesem Motiv solle es auch unter anderem in Deutschland und Frankreich
Reaktionsbewegungender Landbevölkerung gegen die Juden mit dem Grund, mit der ‘unerträglich
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 372.129
Ibidem 628.130
Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 75.131
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 629.132
�47
empfundene wirtschaftliche Machtstellung der Juden’ unzufrieden zu sein, gegeben haben. Mit 133
dieser Feststellung von Seraphim versucht er eine Rechtfertigung oder Relativierung für die
Demonstration und Judenvertreibungen in diesen Ländern, indem er schreibt, dass es hier um eine
unerträgliche Macht gegangen sei.
Ähnlich agiert Seraphim auch im ersten Teil des Buches Kapitel 5, in dem er das Wachsen
der katholischen Aktivität sowie die Reformation und die Gegenreformation im 17. und 18.
Jahrhundert in Osteuropa beschreibt. Er zeigt diese Entwicklungen als eine Bedrohung für die
fremde jüdische Religionsgemeinschaft. So kam es oft zu antijüdischen Kundgebungen und
Ritualmordprozessen. Er beschreibt, wie die Juden sich gegen diese Prozesse und Verurteilungen
wehrten, indem sie unter anderem den Papst gegen die polnischen Bischöfe mobilisierten. Seraphim
verurteilt diese Handlung der Juden, indem er sie der Geziertheit bezichtigt. Neben den Juden
wurden auch andere Religionsgemeinschaften wie Griechisch-Orthodoxe, Lutheraner oder andere
außerkirchliche Sekten von der Geistlichkeit angegriffen und diese Dissidenten waren laut
Seraphim „noch schlimmer dran als die Juden. […] Sie konnten sich nicht an den Papst in Rom
wenden und um Abhilfe bitten, sie sind auch nicht wie die Juden als Gutsverwalter, Pächter,
Händler und Vermittler den Schlachtizen und den Bischöfen als Grundherren unentbehrlich.“134
Die Juden konnten diesen Verfolgungen oft wegen ihren wirtschaftlichen Machtpositionen
entkommen, so Seraphim. Doch dieses Bild hätten die jüdischen Historiker nie gezeichnet, da sie
mit dem Überreichen der Prozessakten und des Flugschriftenmaterials das Bild schufen, als ob die
Juden zwei Jahrhunderte lang unaufhörlich verfolgt und verhetzt worden seien. Damit haben sie laut
Seraphim die Welt des 19. und 20. Jahrhunderts mit Hilfe der Geschichtsschreibung glauben lassen,
dass die Juden durch die Misshandlungen oder Ermordungen ihrer Glaubensgenossen sehr gelitten
hätten. Laut Seraphim behaupten die Juden, dass Antisemitismus in der Geschichte der Juden
bedeuten sei, doch es fänden sich auch Kompromisse mit den Regierungen und den Eliten. Damit
stellt Seraphim die Juden als opportunistisch und schlau dar. Sie versuchten, sich jede Umgebung so
zu gestalten, dass es zu ihrem eigenen Vorteil führte. Dies konnten sie auch, da die Juden laut
Seraphim keine bestimmte Weltanschauung hatten, wodurch sich der Vorteil ergab, sich einfach zu
ihren eigenen Gunsten anpassen zu können.
Seraphim sagt weiter, dass der Jude das Wissen sehr hoch schätze, und er ist mit den
jüdischen Historikern einverstanden, dass die Juden im Allgemeinen hochgebildet seien. Doch er
koppelt an dieses Streben nach Wissen ein sehr hinterlistiges Kennzeichen des Juden und stellt fest:
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 26.133
Ibidem 60.134
�48
„Jüdische Soziologen sprechen die Tatsache des verstärkten Zudranges der Juden Osteuropas zu
der höheren und Hochschulbildung als immanenten Lerntrieb dieses Volkes an, das damit
intellektuell eine höhere Stufe einnehme als die sie umgebenden Gastvölker.“135
Laut Seraphim macht dies der Jude nur, um mehr wirtschaftliche Erfolge, einflussreiche Berufe und
damit mehr Macht zu bekommen.
„Die Eignung der Juden gerade für einige dieser Berufe soll nicht bestritten werden, aber
unbezweifelbar bleibt doch, daß der Wunsch, zu Macht und Einfluss zu gelangen, das
Bildungsstreben der Juden kräftig angereizt hat.“136
Seraphim kreiert auch hier einen ‘neuen’ Blick auf bestehende Aussagen von verschiedenen
jüdischen Soziologen. Sie sprechen von der Tatsache, dass die Juden im Allgemeinen hochgebildet
sind und dass sie deshalb in den Gebieten Osteuropas eine höhere Stufe als die umgebenen Völker
einnehmen. Seraphim bestätigt dies, sagt aber, dass es einen anderen Grund gibt, warum sie diese
wichtigen Plätze in der Wissenschaft und im Intellektuellen einnehmen. Sie begehrten die Macht
und wollten nach Seraphims Argument mit diesem ‘Wissen’ die Macht nehmen, um wirtschaftliche
Erfolge und einflussreiche Berufe zu bekommen. Sie täten es nicht wegen der Wissenschaft oder
wegen des Strebens nach mehr Wissen über die Welt, sondern weil sie sich mit dem Wissen die
Macht für ihr eigenes Volk aneignen können. 137
Damit haben die Juden für die anderen Völker und Gastvölker laut Seraphim
„die spezifischen Eigenheiten ihrer Geisteshaltung und ihrer Denkweise als bestimmendes Moment
in das geistige Leben dieser Gastvölker hineintragen, zumal die den intellektuellen Schichten
angehörenden Juden sich ihrer Umgebung auf das vollständigste äußerlich anzupassen bestrebt
sind.“138
Weiter sagt er, dass die Juden, wie die jüdischen Soziologen erwähnen, ein intellektuelles Volk sind.
Doch Seraphim meint mit intellektuell nicht etwas Besonderes, sondern eher etwas Schlechtes. Die
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 504.135
Ibidem 505.136
Ibidem 505.137
Ibidem 505.138
�49
Deutschen waren laut Seraphim geistig und schöpferisch, die Juden waren im Gegensatz dazu nur
intellektuell. Sie waren gelernt, konnten aber selbst nichts Neues schöpfen. 139
Das Kapitel über die ‘Ostjuden’ zeigt noch andere Beispiele für Seraphims Gebrauch der jüdischen
Quellen. Auch in diesem Kapitel benutzte er die Quellen der jüdischen Gelehrten zum Beweis
seiner Behauptungen, und um darzulegen, dass man von einer ‚jüdischen‘ Rasse sprechen könne.
Ein Beispiel ist eine Fußnote zu Beginn des Kapitels, in der er eine Diskussion der jüdischen
Gelehrten Elias Auerbach, Ignaz Zollschan und Samuel Weissenberg erwähnt. Sie diskutieren die
Frage, ob die Juden nur eine einzige Rasse darstellten oder eine Mischung aus verschiedenen
Rassen seien. Sie verwenden als Beispiel die ‘aschkenazischen’ Juden, die größte sich
unterscheidende Gruppe innerhalb des Judentums, und stellen fest, dass verschiedene Quellen
darauf hinweisen, dass es um ein ‘Rassengemisch’ ginge:
„[…] weisen auf die vielseitigen europäischen und außereuropäischen Rassenkomponenten der
aschkenazischen Juden hin, und Spidbaum erklärt die Juden Osteuropas für ein ausgesprochenes
Rassengemisch.“140
Seraphim zieht daraus seine Schlussfolgerung und behauptet, dass diese Auffassung unter den
jüdischen Rassenforschern allgemein anerkannt sei, woraufhin er das Buch Stammeskunde der
Juden (1925) des jüdischen Sprachwissenschaftlers Sigmund Feist (1865–1943) zitiert, um seine
Aussage zu bestätigen:
„die Aschkenazischen Juden eine Mischung verschiedenartigster Menschenarten darstellen, die
durch eine gemeinsame Kultur und übereinstimmende Lebensbedingungen zu einen Typus
verschmolzen sind, der äußerlich eine gewisse Gleichmäßigkeit zeigt, in der die grundlegenden
Verschiedenheiten seiner einzelnen Komponenten für den oberflächlichen Betrachter verwischt
werden.“141
Er gebraucht also die jüdischen Akademiker und die jüdischen Quellen, um die Rassenlehre der
Nazis zu untermauern, und zeigt, dass die Juden sich selbst bereits einer bestimmten
Rassenkategorie zuteilten.
Weiter fällt auf, dass Seraphim beim Nachweisen der Rassenlehre die jüdischen Quellen gegenüber
den Quellen von anderen nationalsozialistischen Akademikern bevorzugt. Seraphim erwähnt viel
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 505, 532.139
Ibidem 405.140
Ibidem 405-406.141
�50
häufiger jüdische Quellen als zum Beispiel Quellen des Rassenforschers Hans Friedrich Karl
Günther (1891–1968), auch ‚Rassenpapst‘ oder ‘Rassengünther’ genannt, der einer der Begründer
der nationalsozialistischen Rassenideologie war. Es ist möglich, dass Seraphim die jüdischen
Quellen für zuverlässiger hielt als die von Günther und dass er als ‘Wissenschaftler’ so nah wie
möglich an den Quellen bleiben wollte. Steinweis behauptet aber, dass er vor allem den Punkt der 142
Nazi-Propaganda bestätigen wollte, indem er die in den 1930er Jahren verkündete Theorie, die
Juden hätten selbst ein starkes Rassenbewusstsein, beweisen wollte. Ein anderer Unterschied 143
zwischen Seraphim und den ‘gewöhnlichen Judenforschern’ war die Lösung, die er für die
‘Judenfrage’ fand. Wo andere ‘Judenforscher’ die Ghettoisierung unterstützten, war er der Meinung,
dass dies nicht die Antwort auf das ‚Judenproblem‘ sein könne. Die Ghettoisierung würde die
jüdische Gemeinschaft verstärken und am Ende auch die deutsche Bevölkerung beeinflussen. An
dieser Überzeugung hielt er lange Zeit fest und entwarf deshalb andere ‘Lösungen’ für die
‘Judenfrage’. So hatte er drei verschiedene Antworten:
„1. Ihre Dissimilierung ohne äußerlich-räumliche Ausgliederung aus dem Gastvolk. 2. Ihre Ghettoisierung, sei es in einzelnen Stadtghetti, sei es in einem Bereich Osteuropas, wohin
zunächst die Juden Osteuropas, in der Folgezeit die Juden Gesamteuropas zu überführen seien.
3. Ihre Entfernung aus Europa durch Einleitung einer planmäßigen Umsiedlungsaktion.“144
Er fügte hinzu, dass eine Dissimilierung keine Möglichkeit sei, da bei ihr:
„das Judentum als fremder Volkskörper erhalten bleibt, und zwar zwischen den bodenständigen
Völkern“.145
‘Der’ Jude würde damit nicht beseitigt und die ‘Judenfrage’ würde ungelöst bleiben.
„Soziale Verelendung und Umschichtung der Juden kann die Folge sein, keineswegs aber eine
physische Selbstauflösung des Judentums, denn Volkstod ist nie schneller Tod, sondern eine
Entwicklung von Jahrhunderten, zumal wenn es sich nicht um eine Volksgruppe von einigen tausend
oder zehntausend, sondern um 5,3 Millionen in Europa handelt.“146
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 290.142
Steinweis, Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz Seraphim (2003) 79.143
Peter-Heinz Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage, in: Weltkampf 1 144
(1941), H. 1/2, 45.
Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage (1941) 45.145
Ibidem 45. 146
�51
Dabei war die Ghettoisierung in Form einer Groß-Ghetto-Lösung mehr als Zwischenstation
gedacht, wobei Madagaskar als eine mögliche Endstation dargestellt wurde.147
Das große Werk von Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum, das kurz nach
der Erscheinung zum Standardwerk wurde, hat dazu beigetragen, dass Seraphim ohne Zweifel als
wichtigster ‘Judenexperte’ und ‘Judenforscher’ galt. Er wurde für verschiedene Konferenzen als 148
Sprecher engagiert und trat oft als Berater für wissenschaftliche Zeitschriften auf. 1940 wurde er
sogar zum Wirtschaftsberater der Rüstungsinspektion der Wehrmacht in Polen befördert und
knüpfte eine Verbindung zwischen der Wehrmacht und dem Institut für deutsche Ostarbeit, die
General-Gouverneur Hans Frank in Krakau gegründet hatte. Weiter veröffentlichte Seraphim 149
verschiedene Artikel und Monographien über die wirtschaftlichen Bedingungen im
Generalgouvernement. Er unterstützte Hans Frank in seiner Beschwerde über die Massen an Juden,
die in sein General-Gouvernement gebracht wurden, mit seinem ‘Meisterwerk‘ aus dem Jahr 1938,
worin er vor der radikalen Ghettoisierung auf deutschem Boden warnte. Hans Frank sah die
Probleme vor allem in der Infrastruktur. Die Verschiebung der Massen an Juden war für Seraphim
keine langfristige Lösung der ‘Judenfrage’, sondern verursachte eher größere Probleme in der
Zukunft. Damit machte er sich zu einem wichtigen und ‚außerordentlichen‘ nationalsozialistischen
‘Judenforscher’.
3.2 Einfluss der ‘Judenforschung’ von Peter-Heinz Seraphim auf die ‘Judenpolitik’ des Dritten Reiches
Peter-Heinz Seraphim war in verschiedenen Instituten tätig, etwa beim Institut für Deutsche
Ostarbeit in Krakau. Er war Schriftleiter der Zeitschrift Der Weltkampf und Leiter des Amtes für
Wehrwirtschaft und Rüstung sowie Direktor des Oder-Donau-Instituts. Bei einigen konnte er mehr
erreichen als bei anderen. In jeder Position vertrat Seraphim die Meinung, dass die ‘Judenfrage’
eine wichtige Frage für die Zukunft der Nationalsozialisten sei. Osteuropa sei ”in den ersten drei 150
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den Zustand einer Gärung und Zersetzung geraten” und habe
ein enormes Überbevölkerungsproblem, das unmittelbar mit dem ‘Judenproblem’
zusammenhinge. Er wollte für diese Problematik eine endgültige Lösung finden. Doch die Frage 151
ist, inwieweit er Einfluss auf die Beschlüsse über die Lösung der ‘Judenfrage’ nahm.
Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage (1941) 43.147
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 290.148
Ibidem 100.149
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 99.150
Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (1938) 224.151
�52
Im Oktober 1940, ein Jahr nachdem die Deutschen in Polen einmarschiert waren, versuchte Hans
Frank Hitler davon zu überzeugen, dass die Lösung der ‘Judenfrage’ nicht in seinem
Generalgouvernement gefunden werden könne. Er versuchte, weitere Umsiedlungen zu verhindern,
weil die Anzahl der Juden zu groß werde. Zum gleichen Zeitpunkt veröffentlichte Peter-Heinz
Seraphim in der Vierteljahresschrift des Instituts für Deutsche Ostarbeit, Die Burg, den Text Die
Judenfrage im Generalgouvernement als Bevölkerungsproblem (1940). In dieser Zeitschrift 152
erklärte er, dass das Generalgouvernement “im Laufe des letzten Jahres gegen 350.000 Juden aus
den ins Reich rückgegliederten Gebieten übernommen” habe, und erklärte, dass dies in einem schon
‘judenübersättigten’ Gebiet zu viel sei, was in der Zukunft für große Probleme sorgen würde:
“und in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht eine schwere Belastung für das
Generalgouvernement bedeuten. Damit ist die ‘Judenfrage’… zu einem bevölkerungspolitischen
Massenproblem erster Ordnung geworden.”153
Seraphim empfahl daraufhin ,,weiterer Zuströme jüdischen Bevölkerungselements in den Raum des
Generalgouvernements” anzuhalten, und weiter, dass das Generalgouvernement damit selbst die
Chance bekam, eine Reinigung auf Volksebene durchzuführen, um es daraufhin wirtschaftlich zu
entwickeln. Unter anderem wegen dieser Arbeit wurde Seraphim Ende des Jahres 1940 als 154
Offizier des Kriegsverwaltungsrats der Rüstungsinspektion Ober-Ost von Hans Frank angestellt, mit
der Aufgabe sich sofort mit dem Überbevölkerungsproblem zu beschäftigen. Hans Frank konnte 155
die wissenschaftlichen Daten und Legitimationen gut für sein Bevölkerungsproblem gebrauchen.
Seraphim arbeitete in Krakau und war auch für die Beobachtung der Wirtschaftspolitik im
Generalgouvernement Polen zuständig. Er unterschrieb damals, als er in Krakau arbeitete, in
verschiedenen Untersuchungen “[…] dass Deutschland eines Tages eine konstruktive Lösung im
nationalsozialistischen Sinne finden wird […]” für die ‘Judenfrage’. Schon im März 1941 156
veröffentlichte Seraphim im Verlag des Instituts für Deutsche Ostarbeit in Krakau das Buch Die
Wirtschaftsstruktur des Generalgouvernements (1941), worin er eine grundlegende Umformung des
Generalgouvernements und eine Gesamtlösung der ‘Judenfrage’ im gesamten europäischen Raum
forderte. Dazu betonte er nochmals die negativen Folgen einer Ghettoisierung. Dieses Beispiel zeigt
Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage (1941) 63.152
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 279.153
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 279.154
Ibidem 101.155
Ibidem 221.156
�53
offensichtlich nicht den Einfluss, den Seraphim auf die anti-semitische Beschlüsse’ hatte, sondern
vor allem seine Nützlichkeit für die NS-Judenpolitik. Er war nämlich in der Lage, relativ schnell
gründliche und scheinbar objektive Studien anzufertigen. Diese lieferten Informationen, aber auch
Munition für bestimmte Standpunkte wie denjenigen Hans Franks. Anders als Seraphim hätte ein
übermotivierter Nationalsozialist und ein fanatischerer Antisemit diese Rolle wahrscheinlich nicht
auf diese Weise erfüllen können. Für den Naziführer in dem Generalgouvernement Polen war die Ghettoisierung der jüdischen
Bevölkerung von Anfang an eine Übergangsmaßnahme. Auch er war sich dessen bewusst, dass die
Bewachung und Versorgung der eingesperrten Juden auf Dauer für große Probleme sorgen würden,
wie Peter-Heinz Seraphim schon in seinem Werk von 1941 betont hatte. Seraphim wusste aber
auch, dass das ‘Judenproblem’ eine sehr schwierige Angelegenheit war und nicht einfach zu lösen
war:
“Da das ‘Judenproblem’ in diesen Gebieten nicht nur eine Wirtschaftsfrage, sondern auch eine
bevölkerungspolitische Massenfrage ist, ist seine endgültige Lösung so sehr schwierig. Die
endgültige Lösung auch der osteuropäischen ‘Judenfrage’ kann sowohl im Interesse des
nichtjüdischen Bevölkerungsteiles wie im Sinne der Juden selbst, denen zur Zeit die wirtschaftliche
Basis in ihrem Wohngebiet fehlt, nur durch Einleitung einer planmäßigen Massenumsiedlung der
Ostjuden des großdeutschen Herrschaftsbereiches in ein überseeisches Wohngebiet der Juden
gesehen werden.”157
Die nationalsozialistische Führung hatte schon im Juni 1940 erwogen die territoriale Lösung der
jüdischen Frage in Madagaskar und im Lubliner Bezirk zu lösen. Diese Lösung erwähnte auch
Seraphim in seinem Werk Die Wirtschaftsstruktur des Generalgouvernements. Zwar sprach er
explizit über den Lublin-Plan und nicht ausdrücklich von Madagaskar, aber trotzdem sah auch er
die Auswanderung der Juden aus Europa als Teil der besten Lösung. Es sollte schon ein gutes
Gebiet sein, was keine entscheidende Rohstoffe besaß und dünn besiedelt war. Doch kurz 158
nachdem er die Arbeit über die Wirtschaftsstruktur des Generalgouvernements veröffentlichte mit
seinen Empfehlungen, waren die Projekte Madagaskar und Lublin bereits obsolet geworden. Vor
allem Madagaskar war keine Option mehr, weil es nicht mehr erreicht und erobert werden
konnte. 159
Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum: ‘seine Rolle und Bedeutung in Vergangenheit und Gegenwart’ (München 1942) 52.157
Rupnow, Judenforschung im Dritten Reich (2009) 263.158
Ibidem 280.159
�54
Diese Vorfälle, wobei Seraphim sowohl eine Lösung formulierte und wissenschaftlichen
Daten in sogenannten Studien anfertigte, in dem er unter anderem eine Isolierung der Juden in
Europa oder im Ostgebiet empfahl und das daraus folgende Scheitern dieses Plans zeigen vor allem
eines: Der Einfluss von Seraphim, trotz der wichtigen Positionen, die er bekleidete, auf die
nationalsozialistische Judenpolitik blieb beschränkt. Denn seine verschiedenen ‘wissenschaftlichen’
Warnungen und möglichen Lösungen der ‘Judenfrage’ konnten nicht befolgt werden, oder wurden
nicht als wichtig betrachtet. Ein anderes Beispiel für seinen Einfluss ist eine Reise im Auftrag von Rosenberg unter
anderem nach Litzmannsstadt. Seraphim sollte dort im März 1942 erforschen, ob es möglich und
sinnvoll wäre, im polnisch-russischen Grenzraum eine neue Siedlung für die europäischen Juden zu
errichten. Nach seinem Besuch und seiner daran gekoppelten Forschung in diesem Gebiet kam er zu
der Schlussfolgerung, dass dies unmöglich sei. Die bereits existierenden Ghettos blieben aber 160
noch mindestens bis 1944 bestehen. Auch dies zeigte den beschränkten Einfluss von Peter-Heinz
Seraphim auf die ‘Judenpolitik’ der Nazis, denn auch hier wurden die Empfehlungen nicht befolgt:
statt überseeischer Umsiedlungen wurde die Vernichtung der Juden als Lösung angestrebt. Schon
im Frühjahr 1942 gingen die Nationalsozialisten dazu über, keine Umsiedlungsszenarien mehr zu
verfolgen und stattdessen einen industriellen Massenmord einzuleiten. Der Auftrag, den er erhalten
hatte, war also von Anfang an fragwürdig. Eine mögliche Absicht der Nationalsozialisten war, den
Status der existierenden Ghettos zu erfahren, ohne Verdacht auf einen zukünftigen Massenmord zu
erregen. Mit dieser Information konnte wahrscheinlich weiter überlegt werden, in welchem Ausmaß
die Massenvernichtung stattfinden sollte.
Doch abgesehen von den bereits genannten Argumenten und Gegenargumenten gibt es noch
mehr Möglichkeiten, um die Frage zu beantworten, ob Seraphim, wie Götz Aly und Susanne Heim
in ihrem Buch Vordenker des Vernichtung formulieren, ein Vordenker der Vernichtung oder ein
bloßer Beobachter der ‘Verschiebung’ der Juden war. Beispielsweise ist festzustellen, dass der Höhepunkt seiner Karriere in der Nazizeit lag und dass er
weder zuvor noch danach ein vergleichbar ‘erfolgreiches’ Material geschaffen hatte. Die
Nationalsozialisten gaben ihm die Möglichkeit, seine eigenen Forschungen auszudehnen. Im
Gegenzug trug Seraphim mit seinen wissenschaftlichen Untersuchungen dazu bei, die mörderische
Judenbeseitigung zu rechtfertigen. Auch dies war jedoch nur indirekt und zeigt keine 161
unmittelbare Verbindung zum Massenmord. Ein anderes auffallendes Beispiel die eine direkte Verbindung zu der Beseitigung des
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 213.160
Ibidem 352.161
�55
Judentums zeigt, sind die Formulierungen über die neue Strukturierung von Osteuropa in Das
Judentum im osteuropäischen Raum. Darin schrieb Seraphim, dass der Osten eine Tabula Rasa sei,
deren Grenzen nicht bekannt seien, weshalb dieser ohne Rücksicht auf Konsequenzen erforscht und
neu strukturiert werden müsse. Diese Großraumideen, die Seraphim in seinem Werk über die 162
Neuordnung des Ostens aussprach, waren für die Nazis eine Bestätigung, um verschiedene große
Projekte im Osten ausführen zu dürfen, wie zum Beispiel den Bau eines Oder-Donau-Kanals 1939.
Seraphim lieferte für die Nationalsozialisten mit seinen Werken interessante und verlässliche Daten
über soziale und wirtschaftliche Strukturen im Osten mit dem Ziel, diesen neu zu strukturieren und
das Land für Umsiedlungen zu gebrauchen. An diesem Beispiel sieht man seine Nützlichkeit für die
NS-Judenpolitik und kann Seraphim vorwerfen, ein Vordenker für die nationalsozialistische Politik
gewesen zu sein. Auch die Vorstellungen in seinen Texten über das Judentum als einer Gefahr und
Begriffe wie “Massenfrage” und “Entleerung” beförderten die staatlichen Propaganda und stellten
die Juden als ein rein quantitatives ‘Problem’ dar. Sie liefern aber keine direkte Beweise für einen
direkten Einfluss auf deren Vernichtung. Hans Christian Petersen ist der Meinung, dass es nicht angemessen sei, Seraphim eine
direkte Schuld an der Vernichtung der Juden zu geben. Petersen sieht keine gerade Linie von
Werken, die das Streben nach Lebensraum legitimieren sollten, zur Lösen der ‘Judenfrage’ und dem
späteren Genozid, zumal von ihm selbst keine direkten Äußerungen zum Massenmord überliefert
seien. Dagegen gibt es Äuβerungen, die Seraphim als Gegner der Massenmorde im Osten zeigen,
beispielsweise, als er zum ersten Mal von den Ereignissen in der Nähe der westukrainischen Stadt
Rowno, dem Sitz der Rüstungsinspektion, erfuhr. Seraphim richtete sich kurz nach seinen
Erfahrungen in Dezember 1941 mit den Massenmorden an Georg Thomas (1890-1946), den Chef
des Wirtschafts- und Rüstungsamtes der Wehrmacht von Osteuropa. Er protestierte gegen die
Ermordung von “150.000 bis 200.00 Juden” und dagegen, dass dies “ohne Berücksichtigung von
wirtschaftlichen Konsequenzen durchgeführt worden seien”. Zwar wurde ein großer “Überflüssiger
Esser beseitigt”, doch dies stand nach Seraphims Behauptungen nicht im ‘Gleichgewicht’ mit der
wirtschaftlichen Konsequenzen. Weiter fand er es als Augenzeuge Massenerschieβungen “die 163
Methode dieser Handlungen, die die Menschen, die Alten, die Frauen und die Kinder aller Zeiten
umfaßte” erschreckend. Er verglich sie mit den Methoden, die bisher in der Sowjetunion 164
stattgefunden hatten, und behauptete, dass was in der Ukraine passiert war, viel schrecklicher und
grauenhafter war als das, was die Russen getan hätten. Dabei war er auch beunruhigt, dass diese Art
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 346.162
Haar, Historiker im Nationalsozialismus (2000) 352.163
Rupnow, ;Judenforschung’ im Dritten Reich (2009) 268.164
�56
von Tötungen, die vor allem von der deutschen Wehrmacht und ukrainischen Milizen erledigt
wurden, zu einer Verrohung der Truppen führen würde.165
Weiter sprach er auch über die möglichen negativen Konsequenzen der Eliminierung der
vielen Juden, die keine wirkliche Bedrohung für die deutsche Wehrmacht seien, und sprach davon,
deren Potenzial zu nutzen, indem man sie als produktive Fachkräfte einsetzte. Seraphim fragte sich:
“Wer soll in der ganzen Welt dann hier etwas Wertvolles produzieren?”. Seraphim wollte also 166
keine Erschießungen, nicht nur weil sie aus menschlichen und emotionalen Gründen negative
Folgen haben konnten für die Truppen, sondern auch und vor allem aus wirtschaftlichen
Erwägungen. Er empfahl darum: “Der Jude muß weichen, wenn ein gleichqualifizierter Nicht-Jude zur Verfügung
steht!167
Wenn man sich diese Äuβerungen ansieht, wird deutlich dass Seraphim kein Befürworter
der Judenermordung war. Aus diesen zugegebenermaßen skizzenhaften Beweisen kann man
folgern, dass Seraphim den Massenmord an den Juden eher problematisch fand, was zeigt, dass
seine Lösung der ‘Judenfrage’ differenzierter ist als eine einfache Beseitigung der Juden. 168
Die Wirklichkeit der ‘Endlösung’ schockierte ihn. Seine Förderung der physischen Beseitigung der
Juden aus Europa war also nicht als Gedanke eines Massenmordes zu verstehen. Ideen wie zum
Beispiel die überseeische Umsiedlung wäre für Seraphim weitaus sinnvoller gewesen. Diese verschiedene Aussagen, die Kritik an der Massenermordung, die nicht befolgten
Empfehlungen und die vielen indirekten Nutzungen der Daten von Seraphim durch die
Nationalsozialisten zeigen, dass Seraphim keinen direkten Einfluss auf die Lösung der ‘Judenfrage’
hatte. Man sieht, dass im Dritten Reich die wichtigen Entschlüsse nur von der Regierung getroffen
wurden und ‘wissenschaftlichen’ Vorschlägen oft nicht gefolgt wurde. Das zeigt zum Beispiel der
Vorschlag von Seraphim, die Juden an einen ausländischen Ort zu bringen, die von der Regierung
nicht übernommen wurde, indem schon 1942 einige Millionen Juden auf industrielle Weise
ermordet wurden. 169
Doch diese Schlussfolgerungen ändern nicht die Tatsache, dass Seraphim einen wichtigen
Anteil hatte am Prozess der nationalsozialistischen ‘Judenpolitik’. Er war zwar nicht direkt für die
Vernichtung verantwortlich, hatte aber einen massgeblichen Anteil am Prozess der Legitimierung
Rupnow, ‘Judenforschung’ im Dritten Reich (2009) 268.165
Ibidem 346.166
Rupnow, ‘Judenforschung’ im Dritten Reich (2009) 269. 167
Zitiert aus Peter-Heinz Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage (München 1943) 44.
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 392.168
Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz’ (2003) 77.169
�57
des ‘Judenproblems’ und damit auch an der Vernichtung der Juden in Europa. Er sorgte dafür, dass
das ‘Judenproblem’ nicht nur ein abstraktes soziales Problem im Unterbewusstsein der Bevölkerung
blieb, sondern ‘objektivierte’ und ‘legitimierte’ dieses Problem auch, indem er als
‘wissenschaftlicher Experte’ von der Gemeinschaft eine ‘Lösung’ für das ‘Judenproblem’
verlangte. Der Ostforscher Seraphim hatte die Lösung des ‘Judenproblems’ in 170
Zwangsumsiedlungsszenarien außerhalb des Dritten Reiches gesehen, so dass die Vermischung mit
dem deutschen Volk vermieden werden konnte. Er zeigte damit aber den ersten Schritt in Richtung
einer zwangsläufigen Bereinigung. Dieser Schritt wurde praktischer, als er seine Arbeit im
Kriegsverwaltungsrat der Rüstungsinspektion fortsetzte und sich direkt mit den Umsiedlungsplänen
beschäftigte. In dieser Funktion stellte er sich nie die Frage, welche Folgen die zwangsläufige
Umsiedlung von Millionen von Menschen und die ‘Entjudung’ der Städte haben würde. Ihm konnte
nicht entgangen sein, dass dies nicht ohne Verlust an Menschenleben möglich wäre. Zudem
bedeutete die Idee der Massenumsiedlung eine Entmenschlichung der Betroffenen, indem diese
nicht als Individuen, sondern als quantitative Einheit betrachtet wurden. Er mag nicht an 171
Massenvernichtung gedacht haben, trug aber “unzweifelhaft zu der ‘Legitimierung’ der Ermordung
bei”. 172
Doch nicht Seraphims Legitimierung allein machte ihn verantwortlich für die
Massenvernichtung der Juden. So könnte man sagen, dass er nicht auf dem Laufenden war von der
eigentlichen Situation der Juden. Diese Argumentation geht aber für Seraphim nicht auf. Es gab
nämlich verschiedene Sitzungen der Abteilung Bevölkerungswesen und Fürsorge der Regierung des
Generalgouvernements von Polen, die die Lebensbedingungen der Juden zum Thema hatten. 173
Auch Seraphim nahm an Gesprächen mit der Abteilung mit Vertretern von jüdischer Organisationen
wie zum Beispiel der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe (JSS) teil. Deshalb musste er sich darüber im
Klaren sein über die Situation der Juden, die von den Nationalsozialisten verschleppt wurden.
Seraphim nahm in einer Zeitspanne von April bis Mai 1940 teil an diesen Konferenzen. Die 174
Sitzungen fanden nach dem Überfall auf Polen statt und waren zusammen mit der von Himmler
geführten Festigung des deutschen Volkstums verantwortlich für die Zwangsumsiedlungspolitik. Bei
den Gesprächen wurde oft von der JSS wiederholt, dass die Mittel zur Ernährung der jüdischen
Bewohner fehlten. Aus den Notizen von Anfang Juli 1940 von der Leitung der JSS kann der
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 486.170
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 352.171
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 486.172
Ibidem 171.173
Ibidem 171.174
�58
folgende Satz zitiert werden: “Wenn wir nicht in allernächster Zeit Hilfe erhalten, sind wir von
einem Zusammenbruch bedroht.” Auch ein Besuch in April 1940 zusammen mit den Präsidenten 175
der JSS Michael Weichert und Fritz Arlt in Kasimierz, ein Stadteil von Krakau wo viele Juden zu
damaligen Zeit wohnten und wohin weitere verschleppt wurden, zeigt, dass Seraphim sehr genau
informiert war über die Lage der jüdischen Bevölkerung. Ihm musste sowohl bei den Gesprächen
als bei dem Besuch im Stadtteil deutlich geworden sein, wie die Umstände der jüdischen Bewohner
waren. Er konnte mit eigenen Augen sehen, welche Folgen seine Formulierungen über die Juden als
überschüssige Bevölkerung hatten.
Auch Henrik Eberle in seiner Geschichte der Universität Greifswald im Nationalsozialismus
behauptet, dass Seraphim sehr wohl von der Situation der Juden wusste. So schreibt er, dass
Serpahim nach seiner Rückkehr in Januar 1942 aus Rowno nach Greifwald
“weiter publizierte über die Gesamtlösoung der Judenfrage obwohl er vom Genozid an den Juden
in Osteuropa wusste und “sogar auf Grund seiner statistischen Kenntnisse dessen Dimension
abschäten konnte”.176
Dabei blieb er bei seinem Standpunkt, die Lösung der ‘Judenfrage’ in einem Groß-Ghetto finden zu
können. Eberle geht noch ein Stück weiter, indem er sagt, dass er diese Lösung für sich selbst nach
dem Besuch an Rowno als Lüge präsentierte und behauptet:
“Da Seraphim wusste, dass es dazu nicht kommen konnte, weil der Völkermord bereits stattfand
kann das nur als vorsätzliche Verschleierung des Holocaust gedeutet werden.”177
Dan Michman argumentiert:
“Leider verfügen wir nicht über einen hieb- und stichfesten Beweis – ein von Heydrich oder einem
seiner engsten Mitarbeiter verfasstes Dokument oder eine Denkschrift, aus der eindeutig
hervorginge, dass ranghohe Mitarbeiter im Judenreferat in Berlin das Buch Seraphims gelesen
haben.”
Doch fügt er hinzu:
“Dennoch können wir dies indirekt schließen, zum einen aus Heydrichs Ausführungen während der
Besprechung vom 12 . November 1938 und aus der dokumentierten Benutzung des Buchs durch NS
-Amtsträger in Polen ein Jahr später.”178
So sagt er, dass Heydrich seine Auffassungen über die Juden-Ghettos, verändert hatte in November
1938:
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 172175
Hernrik Eberle, "Ein wertvolles Instrument": Die Universität Greifswald im Nationalsozialismus (Köln 2015) 432.176
Eberle, "Ein wertvolles Instrument” (2015) 432.177
Michman, Angst vor den ‘Ostjuden’ Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust (2011) 46.178
�59
“Als Heydrich sich im November 1938 gegen die Entwicklung (oder Schaffung)gegen die
Entwicklung (oder Schaffung) von Judenghettos in Deutschland aussprach, vertrat er eine Position,
die scheinbar seiner eigenen Initiative vom Februar 1937 widersprach, rechtliche Schritte für die
Schaffung eines »Ghettos« einzuleiten.”179
Michman behauptet das “Die einzige Erklärung für diesen Sinneswandel” sei, dass Heydrich unter
dem Einfluss der eingereichten Denkschriften von der Gestapo seine früheren Ideen revidierte. Eine
dieser Denkschriften sollte höchstwahrscheinlich auch die von Seraphim sein. Laut Michman wurde
nämlich zur selben Zeit das Werk Das Judentum im osteuropäischen Raum ausgegeben. Dies ist
eine interessante Beziehung, aber eine sehr indirekte, die, wie Michman selbst bestätigt, nicht
nachzuweisen ist. Michman hat aber weitere Beweise für den Gebrauch von Seraphims Daten für die Beseitigung des
Judentums. So sieht er
“eindeutige Belege, dass dieses Buch vom ersten Tag der Besatzung an den Beamten der
Militärverwaltung als Arbeitsgrundlage diente”180
So wurde im Spätfrühling 1939
“allgemein verständliche Versionen der Ansichten Seraphims und seiner Kollegen an Soldaten,
Beamte der Militärverwaltung in Polen und andere verteilt.”181
Auch werden interessante Punkte genannt, doch konkrete Beweise, was mit diesen Ansichten getan
wurde, gibt es nicht.
Ein ähnliches Argument macht Michman, indem er schreibt über eine im März 1941 in
Frankfurt am Main abgehaltene Konferenz zur Eröffnung des Instituts zur Erforschung der
‘Judenfrage’. Seraphim hielt dort einen Vortrag zum Thema Bevölkerungs- und
wirtschaftspolitische Probleme einer europäischen Gesamtlösung der Judenfrage, wobei drei
Schritte genannt wurden. Wie schon vorher erwähnt, waren dies: Dissimilierung, kurzzeitige
Ghettoisierung in Osteuropa und Entfernung aus Europa. Michman argumentiert, dass Rosenberg
“die Botschaft Seraphims (vernahm) und machte sie sich zu eigen”. Laut Michman wurde am 21. 182
April der Auftrag gegeben, Ghettos zu errichten in Krakau und Lublin, doch er kann hier die
Verbindung mit Seraphim nicht deutlich darstellen. Ghettoisierung war schon länger eine mögliche
temporäre Lösung der Nazis.
Michman, Angst vor den ‘Ostjuden’ Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust (2011) 47.179
Ibidem 50.180
Ibidem 51.181
Ibidem 86.182
�60
Götz Aly betont, dass es keinen Unterschied gebe zwischen jemandem wie Seraphim, der
entsprechende Massnahmen gegen die Juden forderte, Ideen über das Leben im Allgemeinen
publizierte und jemandem, der diese Maßnahmen selbst ausführte.183
“Beide Gruppen bedürfen jedoch unabdingbar einander, um den Arbeitsprozess zum gewünschten
Ergebnis zu bringen” 184
Damit formuliert Götz Aly ein wichtiges Argument zu der Schuldfrage von Peter-Heinz Seraphim,
nämlich dass seine Legitimierung des ‘Judenproblems’ und die Betonung der Beseitigung der Juden
aus Europa halfen, den Weg zum Völkermord vorzubereiten. Seraphims Arbeit unterstützte den
offiziellen wissenschaftlichen Antisemitismus und verschaffte diesem intellektuelle, soziale sowie
wissenschaftliche Legitimation. Hans Christian Petersen widerspricht dieser Aussage. Er bezweifelt,
dass Seraphim Aussagen in einem solchen Maß Einfluss gehabt haben. Das ist insofern plausibel,
als Seraphim keine direkten Kontakte zur SS hatte und lieber hinter seinem Schreibtisch sitzen blieb
als im Felde zu arbeiten.
Seraphim hat sich nach dem Krieg nie geäußert über die Schuld der Nationalsozialisten und
seinen eigenen Anteil daran. Stattdessen sorgte er dafür, dass er in die Gruppe V von ‘entlasteten’
oder in Gruppe IV als ‘Mitläufer’ eingestuft wurde, indem er sich unter anderem nach seiner Arbeit
in den USA als Ostexperte in Januar 1948 bei der Spruchkammer registrierte. Dafür nutzte er eine
Bescheinigung seines Vetters Reinhart Maurach, dass er als ständiger wissenschaftlicher Mitarbeiter
in dessen Sachverständigenbüro tätig gewesen sei – eine Darstellung die alles andere als richtig
war. Petersen behauptete, dass Seraphim diese Darstellung brauchte, weil er fürchtete nach der 185
Arbeit in den USA keinen Schutz mehr zu bekommen von den Amerikanern für seine
Vergangenheit. Dies schien zu funktionieren, denn fast ohne Probleme bekam er 1950 einen
Lehrauftrag für ‘Osteuropäische Wirtschaft’ an der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-
Maximilians-Universität München.
Doch 1959 war es die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die Seraphim stark
angriff. Sie beschuldigten ihn, dass er zu
„den theoretischen Wegbereitern der Ausrottung der Juden des Ostens gehörte und darüber hinaus
in sehr praktischer Weise bei der Ermordung zehntausender jüdischer Kinder, Frauen und Männer
im Osten mitgewirkt hat.“186
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 352.183
Aly und Heim, Vordenker der Vernichtung (1993) 493.184
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 252.185
Ibidem 354.186
�61
Daraufhin wurde er nochmals von der Spruchkammer untersucht, wobei neben seinen Werken auch
seine Reden analysiert wurden, wie zum Beispiel die Frankfurter Rede von 1941 März bei der
Eröffnung des Instituts zur Erforschung der ‘Judenfrage’. In dieser Rede spricht er von den
verschiedenen Möglichkeiten der Beseitigung der Juden. Zwei dieser Möglichkeiten seien
Vernichtung durch Arbeit oder aktive Verhinderung der Fortpflanzung der Juden. Doch die Frage 187
blieb aus der Sicht des Oberstaatsanwalts ob Seraphim physisch an der Endlösung teilgenommen
hatte, und dies war laut seiner Feststellung nicht der Fall. Trotz der antisemitischen Aussagen in
diesen Arbeiten und Reden stellte der Staatsanwalt fest, dass
„der Beschuldigte sich fast ausschließlich vom Standpunkt des wissenschaftlichen Forschers aus
mit dem jüdischen Problem, vornehmlich des Ostens, beschäftigt hat.“188
Weiter gibt er die folgenden Argumente warum er zu diesen Schluss kommt:
„Der Beschuldigte stellt in Abrede, in irgendeiner Form die gewaltsame Ausrottung der jüdischen
Bevölkerung im Osten gefördert zu haben. Er hat sich dahin eingelassen, dass er in Schriften und
Vorträgen die Probleme des Judentums im osteuropäischen Raum stets nur in der Form einer
exakten wissenschaftlichen Untersuchung behandelt habe. Mit der Judenpolitik Hitlers und ihrer
Praktizierung durch die Judenvernichtung habe er sich zu keiner Zeit beschäftigt und sie
infolgedessen nicht einmal theoretisch unterstützt. Soweit er während des Zweiten Weltkrieges
Vorschläge zur Lösung des jüdischen Problems im Osten gemacht habe, seien diese nicht darauf
gerichtet gewesen, die Juden in Ghettos zu verbringen und sie gar physisch auszurotten. Seine
Vorschläge hätten vielmehr darauf abgezielt, nach Ausgliederung der osteuropäischen Juden aus
dem Wirtschaftsleben ihnen die Möglichkeit einer geschlossenen Auswanderung in ein
außereuropäisches Land zu geben. Das wäre nach Lage der Dinge sogar die Rettung für die
osteuropäischen Juden gewesen. […] Seine Werke lassen an keiner Stelle erkennen, dass er sich
dem kompromisslosen Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung angeschlossen hatte und
hinsichtlich der Lösung der Probleme eine Auffassung vertrat, die auch nur annähernd der späteren
vom Nationalsozialismus betriebenen ‚Endlösung’ der Judenfrage entsprach oder sie in etwa
vorbereitete. [...] Das Verfahren ist daher einzustellen.“189
Seraphims Entnazifizierung dauerte fast zwei Jahre. Die Vergangenheit folgte ihm aber auch nach
der offiziellen Einstufung als ‘Entlasteter’ weiterhin. Aus der DDR kamen in unregelmäßiger Folge
Vorwürfe, eng mit den Nazis zusammen gearbeitet zu haben. Eine Reaktion blieb bis zu seinem Tod
aus.
Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik (2007) 204.187
Ibidem 355.188
Ibidem 335-336.189
�62
Man könnte sagen, das neue und weitere Untersuchungen notwendig sind, um festzustellen,
ob Seraphims Argumente und Empfehlungen von der Regierung des Dritten Reiches diskutiert oder
bei dem endgültigen Entschluss zur Lösung des ‘Judenproblems’ zumindest genannt wurden. Mann
könnte auch erneut untersuchen, inwieweit es Seraphims Ziel war, nur ‘objektive’ Wissenschaft zu
betreiben und damit unabhängig vom Nationalsozialismus zu arbeiten. Doch es steht fest, dass seine
Arbeit dem Nationalsozialismus diente. Allein die Arbeit als Schriftleiter der Zeitschrift der
Weltkampf, unterminiert die Behauptung des Oberstaatsanwalts dass Seraphim eine Scheidung von
Wissenschaft und Nationalsozialismus kannte. Der Weltkampf war nämlich ein wichtiges
Propagandamittel für die nationalsozialistische Wissenschaft. Auch die vielen Versuche, seine
Vergangenheit zu verschleiern, bewirkten ein grosses Misstrauen über Seraphims Rolle in der
nationalsozialistischen ‘Judenpolitik’. Weiter war sich Seraphim wegen der einzelnen Besuche in
zum Beispiel Kazimierz in Krakau im Klaren über die Lage der Juden. Ob seine Arbeiten Einfluss gehabt haben oder nicht, ob er nur das Ziel verfolgte, objektive
Wissenschaft zu betreiben oder ob er die Lage der Juden nach den Umsiedlungen kannte, spielt
meiner Meinung nach keine große Rolle. Seine Aussagen waren fokussiert auf das Ausschließen
von Menschen. Dies tat er auf einem wissenschaftlichen Niveau, das Ansehen und Status hatte im
nationalsozialistischen Deutschland. Diese Aussagen können nicht als harmlos angesehen werden,
weil sie inhaltlich übereinstimmten mit den politischen Planungen der Nationalsozialisten und diese
unterstützten. Seraphim kann zweifellos in die Kategorie der pragmatischen Legitimation eingeteilt
werden, doch diese Kategorie darf man nicht unterschätzen. Seraphim lieferte nämlich ‘sinnvolle’
‘volkswirtschaftliche’ und ‘bevölkerungssoziologische’ Gründe für einen Massenmord an den Juden
in den Osteuropa. Er lieferte ferner mit seinen Zwangsumsiedlungszenarien Unterstützung für die
nationalsozialistische Praxis. Die Objektivität, die er in seinem Werken beanspruchte, spricht
vielleicht gerade gegen den Beschluss, ihn als ‘entlastet’ einzustufen, weil sie für eine bestimmte
Entmenschlichung der Juden sorgte, indem sie ihn auf rein quantitative Einheiten reduzierte.
„Menschen verlieren die Eigenschaft des Menschseins, wenn sie auf Zahlen oder Nummern
reduziert werden.“190
Als Wissenschaftler oder sogar als Mensch gibt es eine Verantwortung für die eigenen
Aussagen: ‘Der Jude muß weichen’. Denn etwas was man sagt, kann man nicht so einfach
zurücknehmen. Ob man das will oder nicht, hat es Einfluss haben, wenn man es einmal
ausgesprochen hat. Vielleicht dachte er mit seinen Aussagen noch nicht an die spätere Vernichtung,
doch Seraphim trug zweifelsohne bei zur Beseitigung der Juden.
Bauman, Dialektik der Ordnung (2002) 117.190
�63
FazitDiese Arbeit zeigt unter anderem, dass die ‘Judenforschung’ eine Forschung war, die nicht aus dem
Nichts entstand, sondern sich vor allem aus der Ostforschung entwickelte. Sie war einer der
wichtigsten schon bestehenden Forschungsrichtungen, die einen bedeutsamen Beitrag zu der
späteren Entwicklung der ‘Judenforschung’ und der damit verbundenen Institutionen lieferte. Die
meisten Akademiker der Ostforschung wurden nämlich von den Nazis für die ‘Judenforschung’
eingesetzt, und auch die Methodik und das Vokabular wurden wiederverwendet. Nach der
Machtergreifung war die Ostforschung auch wichtig für das Entstehen von verschiedenen
Institutionen. Die meisten schon bestehende, Institutionen die sich mit Ost-Europa beschäftigen,
wurden nach der Machtergreifung ein wichtiger Teil der Organisation der ‘Judenforschung’. Mit
Hilfe der Institutionen und etablierten Wissenschaftlern wurden neue Einrichtungen geschaffen, die
die ‘Judenforschung’ unterstützen sollten. So kam es im Dritten Reich innerhalb einer kurzen
Zeitspanne zu einer Gründungswelle von verschiedenen außeruniversitären Institutionen. Das Ziel
der neu errichteten Institutionen war vor allem, neue Lehrstühle zu errichten oder bestehende
Lehrstühle mit ‘Judenforschern’ zu besetzen. Ein wichtiges Ziel, welches die ‘Judenforschung’
verfolgte, war eine Legitimitation für die Lösung der ‘Judenfrage’ zu schaffen und dem deutschen
Volk eine wissenschaftliche Grundlage zu bieten für die Zukunft eines Neuen Deutschlands, in dem
es keine Juden mehr geben würde. Im scheinbaren Kontrast zwischen der Lösung der Judenfrage
einerseits und der Schaffung eines neuen Deutschlands andererseits sahen die Nazis ein Instrument
ihrer Politik. Denn bei ihnen herrschte die Überzeugung, dass die Beseitigung des Judentums für die
Bürger des Dritten Reiches ‘akzeptabler’ sein würde, wenn die Notwendigkeit, die ‘Judenfrage’ zu
lösen, wissenschaftlich fundiert war. Doch die meisten Versuche, Lehrstühle zu errichten,
scheiterten an praktisch-rechtlichen, budgetären oder hochschulpolitischen Vorgaben sowie
Rahmenbedingungen der Universitäten. Letztendlich misslangen sie wegen der fehlenden Zeit,
vollständige Lehrstühle zu realisieren – was banal erscheint, aber hierfür wichtig war.
Trotz der fehlenden Lehrstühle geht aus dieser Arbeit hervor, wie wichtig die
‘Judenforschung’ für die Nationalsozialisten war. Sie erhielt innerhalb kurzer Zeit eine zentrale
Rolle und rekrutierte junge und motivierte Akademiker, die sich mit voller Hingabe der neuen
‘Forschung’ widmeten. Sie waren davon überzeugt, die ‘Judenforschung’ zu einer Leitdisziplin
innerhalb einer genuin nationalsozialistischen Wissenschaft machen zu können, mit dem Ziel, die
‘heroischen’ antisemitischen Taten des Regimes durch das Feindbild des Juden zu legitimieren. Der
Nationalsozialismus schuf für diese ‘Forschung’ eine günstige Atmosphäre und
Rahmenbedingungen, dies ermöglichte, bedeutende Wissenschaftler an sich zu binden.
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Einer dieser Wissenschaftler, Peter-Heinz Seraphim, gehörte zu dieser motivierten jungen
akademischen Gruppe. Aus dieser Arbeit geht hervor, dass Seraphim einer der wichtigsten
‘Judenforscher’ war. Seraphims Werk war im Gegensatz zu der allgemeinen ‘Judenforschung’
‘wissenschaftlich‘ umfangreicher und enthielt stark analytisch formulierte Ergebnisse, die mit
demographischen, soziologischen, aber auch politischen Argumenten sowie mit Statistiken, Karten
und Graphiken untermauert wurden. Dabei waren im Gegensatz zu anderen ‘Judenforschern‘ die
Informationen in Seraphims Werk durchaus in der damaligen Gegenwart gebrauchs- und
verwendungsfähig, aufgrund der einen besonderen Verschmelzung von Antisemitismus und
Sozialwissenschaften. Mit verschiedenen Quellen und Daten, die er zusammenfügte, informierte er
seine Leser reichlich. Die allgemeine ‘Judenforschung‘ war im Gegenzug dazu ‘einfach’ und
‘nützlich’ für die Propaganda. Es waren oft rein propagandistische Werke, die fast nur die
ideologischen nationalsozialistischen Ziele unterstützen sollten.
Weiter bestand ein großer Unterschied zu der allgemeinen ‘Judenforschung’ in seiner
scheinbaren Objektivität, von der er selbst völlig überzeugt war. Seraphim meinte selber, dass er die
nationalsozialistische Propaganda als ‚neutraler Wissenschaftler’ nicht mit seiner Forschung
vermischen wollte. Er behauptete, dass es sein Ziel sei, eine Wissenschaft zu kreieren auf Basis von
Fakten. So wollte er mit seinem Buch Das Judentum in osteuropäischen Raum keine Rassenlehre
schreiben, weil es nach seiner Meinung keine richtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse gab, die die
Juden als Rasse identifizierten. Diese scheinbare ‘Objektivität’ wurden von verschiedenen
Wissenschaftlern später auch anerkannt und war ein wichtiges Kennzeichen in der Beurteilung
seiner Forschung. Die allgemeine ‘Judenforschung‘ in Nazi-Deutschland war im Gegensatz dazu oft
durchdrungen von rassistischen, anthropologischen (rassenkundlich) und propagandistischen
Studien. Man darf sich aber darüber nicht täuschen, dass die Sprache und Bildwelt des
Antisemitismus im Werk Seraphims durchaus präsent ist, denn in dem Werk Das Judentum im
osteuropäischen Raum findet man viele einseitige und pauschale Behauptungen, die ‘andere
Bevölkerungsgruppen’ zum Feind machten, weil sie der Entwicklung des Deutschen Volkes im
Wege stünden. Aus dieser Arbeit geht hervor, dass der Antisemitismus stets zurückgenommen,
eingeschränkt, beiläufig und im Text sehr natürlich eingefügt war. Durch seine ‘Selbstdistanzierung’
von großen Formen der nationalsozialistischen antijüdischen Propaganda und in dem Umgang mit
jüdischer Literatur und Quellen unterschied Seraphim sich von den anderen ‘Judenforschern’ und
wurde als der professionellste und intellektuellste Vertreter dieser Richtung in Nazi-Deutschland
gesehen. Damit zeigt diese Arbeit an verschiedenen Beispielen, dass in Seraphims Werk Das
Judentum in osteuropäischen Raum eine ‘rationalistische Wissenschaft’ betrieben wird, denn bei
Seraphim geht es oft um bestimmte wissenschaftliche Ansprüche, die er als universell betrachtete �65
und die nach seiner Meinung nicht zur Diskussion standen. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse
waren damit an ‘Blut und Boden’ gebunden. Dazu ist Sombarts Behauptung, dass Seraphims Werk
wie ein bloßes ein Handbuch wirkt, falsch. Ein großer Teil seiner Arbeit basierte auf Daten und
Grafiken die in der damaligen Zeit, aber vielleicht auch heute noch, den Anschein der Richtigkeit
hervorrufen.
Doch Seraphim verlieh den Daten an verschiedenen Stellen seine eigene ‘rationalistische’
Interpretation, weil er davon überzeugt war, einen besseren Blickwinkel zu diesem Thema zu haben.
Trotz der Anerkennung von vielen damaligen ‘Forschern’ war der Einfluss von Seraphim auf die
Lösung der ‘Judenfragen’ beschränkt, denn seine verschiedenen ‘wissenschaftlichen’ Warnungen
und möglichen Lösungen wurden weder befolgt noch als wichtig betrachtet. Hinzu kommt, dass es
heutzutage schwierig festzustellen ist, ob seine Pläne von der SS-Führung gebraucht und gelesen
wurden. Auch andere interessante Punkte, wie der Besuch an Kazimierz in Krakau und seine
Reaktion auf die Massenmord in Rowno, sind keine konkreten Beweise dafür, dass er direkt in
Verbindung stand Massenvernichtung. Petersen und Steinweis behaupten, dass Seraphims Einfluss gering war, da seine
verschiedene Pläne nicht befolgt worden seien. Deswegen beschreiben sie ihn eher als einen
‘Schreibtischmörder’, der keinen oder geringen Einfluss hatte auf die Lösung der Judenfrage der
Nationalsozialisten. Eberle sagt aber, dass Seraphim sehr wohl wusste was mit den Juden passierte,
und behauptet, dass Seraphin dieses Wissen auch verheimlichen wollte. Auch Michman behauptet,
das Seraphim einen bestimmten Einfluss gehabt haben müsse, denn seine Pläne seien schon gelesen
worden von der SS-Führung; doch auch er räumt ein, dass man nicht genau weiß, was mit diesen
Ansichten getan wurde. Aly betont wieder, dass es keinen Unterschied gebe zwischen jemandem
wie Seraphim, der entsprechende Massnahmen gegen die Juden forderte und jemandem, der diese
Maßnahmen selbst ausführte.
Seraphim selbst hatte immer beansprucht, für die ‘Reinheit der Wissenschaft’ zu arbeiten
und sich von der Rassenlehre fernzuhalten. Nach dem Krieg behauptete er, dass er alles getan habe,
um die NS-Politik zu durchkreuzen. Deswegen wurde er in der Entnazifizierung als ‘Mitläufer’
eingestuft, was, wie aus dieser Arbeit hervor geht, faktisch nicht stimmt. Zwar fehlen konkrete
Beweise, die ihn zum Schuldigen ausweisen. Aber wie gesagt, war Seraphim mit seine
Legitimierung der Beseitigung der Juden ein wichtiger intellektueller Vorbereiter des Massenmords.
Diese Arbeit hat versucht, ein ausgewogenes Bild von Seraphim als ‘Wissenschaftler’ zu erarbeiten
Einblicke zu geben in die allgemeine ‘Judenforschung’ des Dritten Reiches. Dabei wurde auch der
Versuch unternommen, eine Antwort zu geben auf die Frage inwieweit ein individueller
Wissenschaftler sich unterscheiden konnte in der nationalsozialistischen wissenschaftlichen Welt.
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Diese Arbeit hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, die ‘vermeintlichen’ wissenschaftlichen Methoden
der Geisteswissenschaften sowie die eigene Beurteilung und Interpretation der gesammelten Fakten
immer wieder zu analysieren. Es hat mich nämlich überrascht, wie scheinbar unschuldige
‘wissenschaftliche’ Werke einen Beitrag zur Legitimierung eines der größten Verbrechens der
Menschheit liefern konnten, ohne dass diese in der damaligen Zeit als Pseudo-Wissenschaft erkannt
wurde. Es war erstaunlich zu sehen, wie Seraphim seine ‘scheinbare Objektivität’ sehr schätzte,
trotz der vielen pauschalen und stereotypen Äusserungen, die er beiläufig in seine Texte einfügte. Meiner Meinung nach hat Seraphim mit seinen pseudo-wissenschaftlichen Aussagen einen Beitrag
geliefert zu der geistigen Beseitigung des Judentums und damit zum Massenmord beigetragen. Die
Nationalsozialisten bekamen eine ‘wissenschaftliche’ Legitimation für ihre Politik. Wir wissen von Seraphim, dass seine Arbeit einen bestimmten Einfluss hatte, aber konkrete
Beweise gibt es zu wenig. Trotzdem: Seraphim war nicht nur ein Mitläufer, er war, wie diese Arbeit
zeigt auch ein Mit-Macher. Ein bekannter und anerkannter Wissenschaftler kann sich nicht aus
seiner Verantwortung stehlen. Seraphin wusste vom Massenmord und um seine Position als
Wissenschaftler. Weitere Forschungen sollten der Frage nachgehen, welchen Einfluss die
verschiedenen ‘Judenforscher’ im Dritten Reich tatsächlich hatten.
�67
BibliographieBilder Vorderseite
Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (Essen 1938).
Links oben: S. 365
Rechts oben: S. 507
Links unten: S. 353
rechts unten: S. 618
Primärliteratur:
Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum (Essen 1938).
Peter-Heinz Seraphim, Bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Probleme einer
europäischen Gesamtlösung der Judenfrage, in: Weltkampf 1 (1941), H. 1/2, S. 43-51.
Peter-Heinz Seraphim, Wirkungen der Neustaatenbildung in Nachkriegseuropa auf
Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsniveau Königsberg: in Weltwirtschaftliches
Archiv(1935), Bd. 41 (1935) 388.
Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum: ‘seine Rolle und Bedeutung in Vergangenheit und
Gegenwart’ (München 1942.)
Sekundärliteratur:
- Alan, E., Steinweis, Studying the Jew ‘Scholarly Antisemitism in Nazi Germany’ (Harvard 2006).
- Alan E.. Steinweis, ‘Antisemtic Scholarship in the Third Reich and the Case of Peter-Heinz
Seraphim’ in: Daniel E. Rogers und Alan E. Steinweis, The Impact of Nazism: New perspectives
on the Third Reich and Lagacy (Nebraska 2003).
- Dan Michman, Die Angst vor den ‘Ostjuden’ (Frankfurt an Main 2011).
- Diner, Dan, (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur: Band 3 (Heidelberg 2012).
- Dirk Rupnow, 'Judenforschung' im Dritten Reich: Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda
und Ideologie (Baden Baden 2011).
- Dirk Rupnow, Racializing historiography: anti-Jewish scholarship in the Third Reich in: Patterns
of Prejudice (2008) Vol.42(1) 27-59.
- Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden?: ‘Gleichheit, Neid und Rassenhass,
1800-1933’ (Frankfurt am Main 2011).
- Götz Aly und Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung ‘Auschwitz und die deutschen Pläne für
eine neue europäische Ordnung’ (Frankfurt 1993).
�68
- John Efron, Defenders of the Race: ‘Jewish Doctors and Race Science in Fin-de-Siecle
Europe’ (Yale 1994).
- Hans-Christian Petersen, Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik, ‘Eine biographische
Studie zu Peter-Heinz Seraphim’ (Osnabrück 2007).
- Hans-Christian Petersen, Ostforschung und Gebietsansprüche. ‘Die Legitimation territorialer
Expansion im Werk Peter-Heinz Seraphims’ in: Osteuropa (2005) vol. 55, 125-136.
- Hans-Christian Petersen, ‘Ordnung schaffen’ durch Bevölkerungs verschiebung: ‘Peter-Heinz
Seraphim oder der Zusammenhang zwischen 'Bevölkerungsfragen' und Social Engineering’ in:
Historical Social Research (2006) vol. 31, 282-308.
- Hernrik Eberle, "Ein wertvolles Instrument": ‘Die Universität Greifswald im Nationalsozialismus
‘(Köln 2015).
- Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus ‘Deutsche Geschichtswissenschaft und der
“Volkstumskampf” im Osten (Osnabrück 2000).
- Philipp-Christian Wachs, Der Fall Theodor Oberländer(1905 - 1998) ein Lehrstück deutscher
Geschichte (Frankfurt 2000).
- Richard Bessel, Nazism and War (London 2006).
- Robert Gerwarth, Hitlers beul leven en dood van Reinhard Heydrich 1904-1942 (Amsterdam
2012).
- Burkert, Martin, Die Ostwissenschaften im Dritten Reich, ‘Teil I: Zwischen Verbot und Duldung.
Die schwierige Gratwanderung der Ostwissenschaften zwischen 1933 und 1939’ (Wiesbaden
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- Michael Burleigh, Germany turns eastwards: ‘a study of Ostforschung in the Third
Reich’ (Cambrigde 1988) .
- Micheal Grüttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus in, Doris Kaufmann Hg.,
‘Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und
Perspektiven der Forschung’ (Göttingen 2000) Bd 2.
- Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung ‘Die Moderne und der Holocaust’ (Hamburg 2002).
�69