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NEUTRALITÄT SCHÜTZT NICHT VOR RADIOAKTIVITÄT Arthur Ruppel

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Neutralität schützt nicht vor Radioaktivitätvon Arthur Ruppel

2013Entstanden an der Hochschule der Künste BernMA Communication DesignBetreut durch Prof. Agnès Laube

Schrift: Relevant

www.arthur-ruppel.dewww.safaribuero.net

Was lange währt …

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von Arthur Ruppel

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Denkt man als durchschnittlich gebildeter Europäer an die Schweiz, fallen einem nichts als Klischees ein.

Das allgemein verbreitete Bild sieht etwa so aus: Der typische Eidgenosse ist höflich und zurückhaltend, zeigt aber grosse Begeisterungs-fähigkeit bei den Themen Schokolade und Käse-Fondue. Man legt höchsten Wert auf Pünktlich-keit, was es nötig machte, die weltweit führende Nation in der Fertigung von Uhren zu werden. Die Schweizer Mundart, das sogenannte «Schwytzerdütsch», ist als Ausländer nur schwer zu verstehen und völlig unmöglich zu erlernen. Wer es trotzdem versucht, wird zu recht belächelt.

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Die Schweizer Neutralität ist legendär. Man belastet sich ungern mit den Problemen anderer, sehr gerne aber mit problematischem Geld.

Und egal wo im Land man sich aufhält, man hat von jedem Fenster aus einen traumhaften Blick auf die zahlreichen Berge. Ohnehin kann es schnell passieren, dass man sich selbst auf einem dieser Berge wieder findet.

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Dann womöglich in Gesellschaft höchst zufrie-dener Kühe und sonnenverbrannter Bauern, die sich verdriesslich die Bärte kämmen.

Es ist nur allzu verständlich, wenn man als Betroffener Anstoss nimmt an dieser Ansammlung von Vorurteilen. Sucht man indes nach Gründen, kommt man an der starken Tourismus-Industrie nicht vorbei, die seit Jahrzehnten das Bild vom traditionsverhafteten Wintersport-Paradies in die Welt trägt. Gelegentlich scheint es aber auch, als würden gewisse Vorurteile zutreffen – vielleicht nicht unbedingt auf den Einzelnen bezogen, auf das Volk als Ganzes jedoch durchaus. Unbestreitbar ist das grosse Sicherheitsbe-dürfnis der Eidgenossen. Man versucht sich gegen möglichst viele Eventualitäten abzusichern und scheut dabei keinen Aufwand. Im Durchschnitt werden 20% des Familienbudgets für Versiche-rungen ausgegeben, Platz 2 in Europa direkt nach

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den Niederlanden. Die Deutschen, Erfinder der «German Angst», kommen nichtmal in die Nähe eines solchen Wertes. Doch was bringt finanzielle Absicherung, wenn die körperliche Unversehrtheit nicht gewährleistet ist? Auch hier macht die Alpenrepublik ihrem Ruf alle Ehre. Weltweit gibt es keine andere Nation, die in Relation zur Bevölkerungszahl eine solch hohe Dichte an bombensicheren Schutzräumen vorzuweisen hat.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Spr ache: Im Jahr 2006 gab es im Land etwa 300.000 Personenschutzräume, sowie 5100 öffentliche Schutzanlagen, die Platz für 8,6 Millionen Men-schen boten. Gemessen an der Bevölkerungszahl ergab sich ein Deckungsgrad von 114 Prozent. Im Katastrophenfall könnten mit Leichtigkeit jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in einem Bunker unterkommen und es wäre sogar noch genügend Platz für sämtliche Haustiere und Touristen vor-handen – womöglich in dieser Reihenfolge.

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So betrachtet, suggeriert das leuchtende Rot der Schweizer Flagge plötzlich einen permanen-ten Alarmzustand. Das Land gleicht einer Schild-kröte, allzeit bereit sich bei Gefahr zu verziehen und auf bessere Zeiten zu warten. Dabei war die Schweiz seit Mitte des 19. Jahrhunderts in keinen Krieg mehr verwickelt. Wie konnte es zu dieser erstaunlichen Situation kommen?

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Seinen historischen Ursprung hat die eidge-nössische Bunkertradition im zweiten Weltkrieg. Zwar wurden die ersten Modelle schon Ende des 19. Jahrhunderts konstruiert, doch erst die Bedrohung durch die Nazis machte den Bunker zum zentralen Mittel aller taktischen Überlegun-gen. Dabei hatte man sich durch eine geschickte Auslegung der eigenen Neutralität lange Sicher geglaubt.

Indem Schweizer Fabriken Waffen für Deutsch-land produzierten, suchte man die Abgrenzung zu den alliierten Nationen, ohne dabei ein direk-tes Bündnis einzugehen. Sollte es trotzdem zum Angriff kommen, hatte man mit Frankreich einen potentiellen Verbündeten mit einiger militärischer Schlagkraft im Rücken.

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Deren überraschende Kapitulation im Juni 1940 brachte das Land in eine höchst unvorteil-hafte Situation:

Hatte man zuvor noch versucht bestmöglich die eigenen Grenzen abzusichern, musste die Schweizer Militärführung sich nun eingestehen, dass die kleine Armee einer Invasion nicht lange würde standhalten können.

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Man beschloss, sich bei der Verteidigung auf das Gebiet der Hochalpen zu konzentrieren und dort den geographischen Vorteil zu nutzen. Im Falle eines Angriffs sollten die Truppen alle wich-tigen Brücken, Tunnel und Verkehrsnetze zerstö-ren und sich anschliessend in den Bergen ver-schanzen. Das schwer einnehmbare Gebiet sollte dann so lange verteidigt werden, bis der Feind vor lauter Verlusten das Interesse verlor.

Natürlich wurde von den Soldaten nicht ver-langt, sich zwischen Felsen zu ducken. Unter gewaltigem logistischem und finanziellem Auf-wand, wurden die Hochalpen zum Kampfgebiet umgebaut. Man grub im Schnellverfahren Höhlen in die Berge, die unterirdisch durch Tunnel ver-bunden waren und an den oberirdischen Ausläu-fern durch den Fels getarnt waren. Es entstanden Panzertürme, Infanteriebunker, Kommunikationszentren, Munitionsdepots, Mann-schaftsunterkünfte, Krankenhäuser und auch unterirdische Bäckereien – damit niemand auf frische Backwaren verzichten musste.

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Die Hochalpen, immerhin rund ein Viertel des Schweizer Gebietes, wurden zur riesigen Fes-tung. Das sogenannte «Réduit» war geboren. Ein Projekt der Superlative, in jeder Hinsicht: Die Arbeiten verschlungen die schon damals unge-heure Summe von 657 Millionen Franken, was in heutiger Währung etwa 8 Milliarden Franken entspricht. Noch schmerzhafter werden diese Ausgaben angesichts der Tatsache, dass das Réduit niemals wirklich zum Einsatz kam. Kurz vor der Fertigstel-lung endete der Zweite Weltkrieg.

Darüber wiederum freuten sich insbesondere jene Soldaten, deren Aufgabe im Fall der Fälle der «Verzögerungskampf» gewesen wäre. Sie hatten Anweisung in den flacheren Bergausläufen rund um das eigentliche Réduit in kleineren Posten Stellung zu beziehen.

Diese sahen etwa so aus

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Man könnte einen weiteren genialen Schach-zug der Armee-Führung vermuten. Plötzlich von Holzhaufen und Felsen beschossen zu werden, hätte den Kampfgeist der Nazis womöglich auf der Stelle gebrochen.

oder auch so

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Tatsächlich war diese Variante aber eher eine Notlösung. Aus Mangel an Zeit und ausgebilde-ten Architekten liess man den Soldaten bei der Errichtung ihrer Verteidigungsanlagen freie Hand. Diese waren sich der Tatsache sehr bewusst, dass eine ordentliche Tarnung den Unterschied zwi-schen Leben und Sterben bedeuten konnte und schwangen sich zu kreativen Höchstleistungen auf. Mit viel liebe zum Detail wurden Bunker und Geschütztürme zur ländlichen Umgebung passend verkleidet. Plötzlich war dem Idyll nicht mehr zu trauen. Hinter jeder Stalltür konnte eine Kanone lauern. Selbst Ansammlungen von Bäumen ent-puppten sich bei näherer Betrachtung womöglich als getarnte Unterstände. Die unfreiwilligen Dekorateure überboten sich bisweilen in künstlichem Kitsch. Besonders deut-lich trat dies bei den als Chalets getarnten Bun-kern zutage, die perfekt den regionalen Baustil kopierten. Dächer wurden mit Schindeln gedeckt, Wände mit Holzleisten getäfelt und Vorgärten hübsch bepflanzt.

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Sehr häufig war der Schmuck aber auch reine Fassade. Um Zeit und Kosten zu sparen wurden Fenster und Türen dann einfach direkt auf den nackten Beton gemalt. Sogar Treppen und Bal-kone wurden auf diese Weise simuliert. Aus der Nähe betrachtet wirkten solch kuriose Verkleidungsversuche natürlich wenig überzeu-gend. Letztlich musste die Täuschung aber vor allem aus der Ferne funktionieren.

Viele der zu dieser Zeit entstandenen Bunker und Geschütztürme existieren auch heute noch. Ihre Beseitigung lohnt den immensen Aufwand nicht. Doch man muss schon sehr genau hin-schauen, um diese Relikte zu entdecken. Durch ihre brillante Tarnung fallen sie in Nachbarschaft echter Scheunen und Chalets nicht auf, und stö-ren daher niemanden.

Im Deutschland jener Jahre gab man sich bei der Tarnung von Bunkern weniger Mühe:

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Dieses Ungetüm sollte ein Zeichen von Stärke sein, war aber tatsächlich das genaue Gegenteil.

Als die Nazis 1940 erkennen mussten, dass sie sich den Krieg ins eigene Land geholt hatten, versuchten sie mit dem Bau eines neuartigen Hochbunkertyps Schaden zu begrenzen. Die Pläne für diese sogenannten «Flaktürme» lieferte der Architekt Friedrich Tamms, der sich zuvor mit megalomanen Brückenprojekten einen Namen gemacht hatte. Grösse war bei diesem Projekt von entschei-dender Bedeutung. Neben dem primären Zweck der Flugabwehr, sollten die Türme die Gegner in Angst und Schrecken versetzen und die Bevölke-rung in falscher Sicherheit wiegen. Je imposanter, desto besser. Um den gewünschten Effekt zu verstärken, lehnte Tamms seine Entwürfe optisch an mittelalterliche Festungen an. Insgesamt wurden acht Flakturmpaare in Berlin, Hamburg und Wien errichtet. Jedes Paar bestand aus einem mit Flugabwehrkanonen (Flak) bestückten Geschützturm und einem etwas klei-

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neren Leitturm. Letzterer hatte die Aufgabe, die Position feindlicher Fluggeschwader zu ermitteln. Für die städtische Bevölkerung lag der Nutzen der Türme vor allem in ihrer Funktion als Schutz-raum. Mit eigenem Kraftwerk und autonomer Wasserversorgung war ein mehrwöchiger Aufent-halt für bis zu 30.000 Personen denkbar. Als die Stahlbeton-Kolosse in Betrieb genom-men wurden, waren die Kriegstreiber begeistert. Gewohnt vollmundig kündigten sie an, die Türme würden die gegnerischen Fluggeschwader rei-henweise vom Himmel holen. Diese dachten aber gar nicht daran sich abschiessen zu lassen, und flogen einfach in Höhen, die für die Geschütze unerreichbar blieben. Scheinbar war diese Mög-lichkeit bei der Planung nicht bedacht worden. Historiker errechneten später, dass für jedes abgeschossene Flugzeug bis zu 3000 Versuche notwendig waren. Angesichts dieser Ineffizi-enz kühlte die Begeisterung der Nazis für ihre Monster-Bunker deutlich ab. Geplante Bauten in München und Bremen wurden gar nicht erst angegangen.

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Wenigstens ihrem Ruf als uneinnehmbare Festungen konnten die Türme gerecht werden. Als schon längst russische Panzer durch Berlin rollten, feuerten die Flaks weiter aus allen Roh-ren. Erst die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 setzte dem ein Ende.

Nach Kriegsende wollte man die nutzlos gewordenen Monolithen schnellstens loswerden, doch der Abriss gestaltete sich schwierig. Eine Sprengung hatte immer zur Folge, dass die städti-sche Umgebung stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Berlin liess sich davon nicht beirren und machte kurzen Prozess. In Hamburg und Wien prägen die Türme auch heute noch weithin sicht-bar das Stadtbild.

Der Bau der monströsen Flaktürme war ein verzweifelter Versuch gewesen, der drohenden Gefahr mit einem Maximum an Materialaufwand zu begegnen.

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Dass man aber auch zu kreativeren Lösungen fähig war, bewies Ende der 50er Jahre der deut-sche Architekt Martin Ostermann. Seine Suche nach einem effektiven Schutz gegen Atombom-ben, mündete in einer interessanten Idee. Nach Ostermanns Ansicht hatten die bis dato entwickelten Atombunker alle einen gemeinsamen Fehler: Ihre Statik. Sie waren fest mit dem Erd-reich verbunden und mussten dadurch ungeheure Kräfte aushalten können. Die Gewalt, die eine Atombombe aus-übte, war aber um ein vielfaches grösser als die einer normalen Explosion.

Ostermanns logische Schlussfolgerung: Wenn der Bunker den Druck nicht aushalten kann, dann muss er ihm eben ausweichen. Möglich machen sollte das ein kugelförmiger Bunker.

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Im Katastrophenfall müsse der viel weniger Energie abfangen, so die Überlegung, weil er den zerstörerischen Druckwellen einfach nachgeben und wegrollen würde. Zudem ergäbe sich der prak-tische Zusatznutzen, dass man sich vom Explosi-onsherd entfernte. Jedoch nicht allzu weit. Laut Ostermanns Berechnungen, würden kleine Luft-wirbel den Bunker schon nach 10 bis 20 Metern wieder zum Stehen bringen.

Die Fahrt in einer rollenden Kugel hört sich zunächst nach einer lustigen Angelegenheit an:

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Bei näherer Betrachtung wird jedoch klar, dass Passagiere selbst im angeschnallten Zustand vermutlich grösste Schwierigkeiten hätten, ihr Frühstück bei sich zu behalten. Aber auch für diese Problematik hatte der Architekt eine Lösung. Im Inneren der Kugel sollte eine zweite Kugel – der eigentliche Schutzraum – drehbar aufgehängt sein. Gewichte im Fussraum würden den Passagierraum stabil halten, während die äussere Hülle dem Chaos trotzte. Schliesslich würde eine Spezialschicht zwischen den beiden Kugeln gegen Radioaktivität abschirmen.

Leider bekam Ostermann nie die Gelegenheit, seine Theorien in der Praxis zu überprüfen. Er hatte nicht bedacht, dass neben rollenden Kugeln auch unterirdische Bunker denkbar waren. Diese entgingen der atomaren Explosion genauso effek-tiv und waren zudem günstiger in der Umsetzung. Der Verzicht auf eine Realisierung der rollen-den Bunker, war vermutlich eine vernünftige Ent-scheidung. Aber die Menschheit wurde dadurch um einen herrlich absurden Anblick gebracht.

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Auch wenn diese Gedankenspiele anderes ver-muten lassen: Nach dem Ende der Naziherrschaft spielten Bunker im kriegsmüden Deutschland nie wieder eine grosse Rolle.

Nicht so in der Schweiz. Den Schrecken des Zweiten Weltkrieges war man zwar knapp ent-gangen, aber das Réduit war trotzdem noch lange kein Auslaufmodell. Der sorgenvolle Blick richtete sich nun gen Osten, wo der aufziehende Kalte Krieg die kommunistische Sowjetunion plötzlich sehr bedrohlich wirken liess. Sicherheitshalber wurden sämtliche Bunker und Verteidigungsanla-gen weiter unterhalten. Leider hatte die Réduit-Strategie immernoch den grossen Nachteil, dass die zivile Bevölkerung im Falle eines Rückzuges in die Berge faktisch schutzlos gewesen wäre.

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Die findige Armee ging dieses Problem über-aus pragmatisch an: Man bemühte sich einfach die Schweizer Bürger zu Meistern des Guerilla-Kampfes auszubilden.

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Zu diesem Zweck verfasste Major Hans von Dach eine Buchreihe namens «Der totale Wider-stand», deren erster Teil «Kleinkriegsanleitung für jedermann» im Jahre 1956 erschien. Neben Grundlagen für die taktische Kriegsführung, wurde auch Handfestes vermittelt, wie etwa Verhörtechniken oder Methoden zur effektiven Bekämpfung feindlicher Panzerdivisionen. Zum besseren Verständnis war das Buch mit selt-samen Illustrationen bebildert, deren schwarz-weisse Protagonisten stark an Kreuzungen aus Seesternen und Ampelmännchen erinnerten.

Das Buch endete mit den markigen Worten:

Es ist bEssEr stEhEnd zu stErbEn, ALs KniEnd zu LEbEn!

Die Armee musste von der Sinnhaftigkeit ihres Unternehmens überzeugt sein. Es folgten sechs

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weitere Bände, die geballtes Detailwissen zu ver-schiedenen Waffen und chemischen Kampfstoffen lieferten. Wer die Bücher aufmerksam studierte, war anschliessend potentiell in der Lage, Maschi-nengewehre zu konstruieren, Giftgas anzumischen oder Bomben und Handgranaten zu bauen – nütz-liches Wissen für jedermann also.

Einen ähnlichen Zweck verfolgte das «Zivil-verteidigungsbuch», das 1969 kostenlos an alle Schweizer Haushalte verteilt wurde. Der Fokus lag allerdings weniger auf praktischen Anleitungen zum Widerstand; vielmehr sollte die Bevölkerung über Bedrohungsszenarien im Kriegsfall informiert werden und lernen, wie Haus und Familie auf den Notfall vorbereitet werden konnten. Das Buch wies auch auf tendenziell verräteri-sche Strömungen im Landesinneren hin. Im Auge zu behalten waren solch bedrohliche Gruppie-rungen wie Gewerkschaften, Intellektuelle, Itali-ener und die heimtückischen Schachclubs. Eine Behauptung, die dem Buch teils heftige Kritik einbrachte.

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Trotz aller Bemühungen, die Bevölkerung fit für den Widerstand zu machen: Der Schweizer Armee-Führung lag es fern, bei der Landesver-teidigung allein auf militärische Autodidakten zu setzen. Über die Jahrzehnte gab es zu jeder Zeit streng geheime Kaderorganisationen, deren Mit-glieder für den Widerstand im Untergrund ausge-bildet waren. Die (im Nachhinein) bekannteste Organisation war die «P-26», eine Kurzform von «Projekt 26». Sie ersetzte 1980 den bis dahin operierenden «Spezialdienst der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr» (UNA), der zuvor aus dem «Spezial-dienst des Territorialdienstes» entstanden war,welcher wiederum die «Aktion Nationaler Wider-stand» (ANW) beerbt hatte. Die Schweiz hat eine reiche Tradition streng geheimer Kaderorganisationen.

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P-26 war die geheimste aller geheimen Orga-nisationen. P-26 war so geheim, dass die knapp 300 Mitglieder sich untereinander gar nicht kann-ten. Alle wurden an verborgenen Orten entweder einzeln oder in Kleinstgruppen ausgebildet, wobei in letzterem Fall allgemeine Verkleidungs-Pflicht herrschte und jeder mit Tarnnamen angesprochen wurde.

Auf dem Lehrplan standen unter anderem Pro-paganda, das Abschütteln von Verfolgern und das Anlegen toter Briefkästen. Bisweilen wurde aber auch der Umgang mit Säuren und Sprengstoffen unterrichtet.

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P-26 und seine Vorläufer waren der Backup-Plan für die Réduit-Strategie. Sollte das Land trotz aller Bemühungen in die Hände feindlicher Aggressoren fallen, würde der Bundesrat fliehen und aus dem Exil heraus agieren. Das letzte Inst-rument zur Informationsgewinnung und Einfluss-nahme wären die Mitglieder von P-26. Sie sollten aus dem Untergrund heraus den Widerstand organisieren und möglichst die Rückeroberung in die Wege leiten.

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Um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, stand der Organisation ein eigener Geheimdienst namens P-27 zur Verfügung. Man sammelte fleis-sig Informationen über Schweizer, die als poten-tielle Verräter verdächtigt wurden. Dabei reichte es schon aus, politisch links ausgerichtet oder Unterstützer der Anti-Atomkraft-Bewegung zu sein. Ein beliebtes Ziel waren auch Schriftsteller und Zeugen Jehovas.

Die Öffentlichkeit erfuhr erst Anfang der 90er von den geheimen Kaderorganisationen. Damals erschütterte eine Reihe von Skandalen die Schweizer Politik und führte schliesslich zur Enttarnung und Auflösung von P-26 und P-27. Ob diese Tradition damit wirklich geendet hat, darü-ber kann natürlich nur spekuliert werden.

Auch wenn die Zeit der Untergrundkämpfer und Kaderorganisationen damit vermutlich abgelaufen war: Der Bunkerbau hatte weiterhin Konjunktur.

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Zur Zeit des kalten Krieges war die Schweiz nach wie vor bestens mit den militärischen Bun-kern aus dem zweiten Weltkrieg ausgestattet, diese schützten aber nur bedingt bis gar nicht gegen die grosse Bedrohung dieser Phase: Atomwaffen. Argumente, die neutrale Politik des Landes schütze doch wohl vor Angriffen, blieben uner-hört. Schliesslich befand sich die Schweiz in unmittelbarer Nähe zu Nato-Staaten und wäre im Falle eines Konfliktes womöglich in Mitleiden-schaft gezogen worden.

war ein beliebter Slogan jener Zeit. Also wurde aufgerüstet. Um effektiven Schutz gewährleisten zu können, mussten neue Anlagen her. Für die

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bevölkerungsreichen Gebiete im Umland waren die alten Militärbunker in den Bergen zu weit weg. Doch es mangelte an Platz. Abermals liessen die Planer ihrer Kreativität freien Lauf und mach-ten den Sonnenbergtunnel bei Luzern zu ihrem Vorzeigeprojekt. Man wollte die zwei je 1,5 Kilo-meter langen Röhren zur Schutzunterkunft für 20.000 Menschen machen. Zu diesem Zweck wurden riesige Höhlen in den Berg gegraben, die unter anderem ein Kranken-haus, eine Radiostation, eine eigene Trinkwasser-versorgung und ein kleines Gefängnis enthielten. Die Eingänge des Tunnels sollten im Notfall mit meterdicken Toren verschlossen werden, jedes 350 Tonnen schwer.

Eine Grossübung im Jahre 1987 entlarvte das 40 Millionen Franken-Projekt jedoch als Fehl-schlag. Von 20.000 benötigten Betten konnten gerade einmal 2000 rechtzeitig aufgestellt wer-den. Das Schliessen der gigantischen Tore dau-erte fast einen ganzen Tag. Und viele der Test-Evakuierten fielen schon nach kurzer Zeit dem

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Bunker-Koller zum Opfer. Eigentlich nicht allzu überraschend, bei je einem Quadratmeter Fläche pro evakuierter Person. Anschliessend wurde die Auslegung des Schutzraumes auf 17.000 Perso-nen gesenkt, man hielt aber weiter am Lieblings-projekt fest.

Über Jahre blieb die Anlage ungenutzt. Nur die Luzerner Polizei freute sich über die Zellen, die bei Grossveranstaltungen und Fussballspielen gerne gefüllt wurden. Im Jahre 2002 entschloss man sich endlich schweren Herzens, den Schutz-raum weiter zurückzubauen und die Kapazität auf 2000 Personen zu senken. Zu hoch waren letzt-lich die laufenden Betriebskosten.

Das Scheitern des Sonnenberg-Projektes zeigte, dass gigantische Schutzanlagen nicht die Antwort auf das Schweizer Streben nach Schutz war. Man hatte sich aber schon früh auf andere Weise gegen die atomare Bedrohung abgesichert.

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1969 hatte die Regierung beschlossen, wie so oft die Schweizer Bürger in die Verantwortung zu nehmen. Armeeangehörige mussten ohnehin bereits ihre Uniformen und Dienstwaffen zuhause aufbewahren. Und die Bevölkerung studierte eifrig ihre Bücher, um sich in den eigenen vier Wänden zu Widerstandskämpfern auszubilden.

Was sprach also dagegen, den Häusern noch eine weitere Funkion zu geben?

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Dem Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetz wurden die Artikel 45 und 46 hinzugefügt. Dort hiess es:

«Für jeden Einwohner und jede Einwohnerin ist in zeitgerecht erreichbarer nähe des Wohnortes ein schutzplatz bereitzustellen»

und

«die hauseigentümer und -eigentümerinnen haben beim bau von Wohnhäusern, heimen und spitälern schutzräume zu erstellen, auszurüsten und diese zu unterhalten.»

Im Klartext bedeutete dies: Von nun an musste nahezu jedes neu gebaute Haus mit einem Schutzkeller versehen werden. Wer sich darauf nicht einliess, musste eine hohe Ausgleichszah-lung an die Gemeinde leisten. Erst 2012 – mehr als 20 Jahre nach Ende des kalten Krieges – wurde die Regelung etwas gelockert, aber weiterhin nicht aufgehoben. Kein

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Wunder, dass es heute geradezu von Schutzräu-men wimmelt. Wer durch Schweizer Keller wan-dert, stösst immer wieder auf dicke Stahltüren, die im Notfall Vorratsräume oder Fahrradkeller vor Katastrophen schützen können.

Es gab und gibt immer wieder Bestrebungen, dem Bunkerbau endlich einen Riegel vorzuschie-ben. Aber der Hinweis auf die hohen Bau- und Unterhaltskosten überzeugt nicht jeden. Zu schwer wiegt immer noch die Sorge vor einer nuk-learen Bedrohung. Wenn nicht durch Kriege - so die Argumentation – dann vielleicht durch Unfälle oder terroristische Akte. Dennoch war im März 2011 das Ende zum Greifen nah. Der Schweizer Bundesrat hatte sich schliesslich doch zu einer Aussetzung der Schutzraumpflicht durchgerungen. Doch schon im Juni gab es dann die Kehrtwende. Auslöser für das erneute Auflodern der Angst: Die Reaktor-Katastrophe in Fukushima.

Die Schweiz bleibt wohl vorerst Bunkerland.

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«Was für eine Welt könnten wir bauen, wenn wir die Kräfte, die ein Krieg entfesselt, für den Aufbau einsetzten. Ein zehntel der Energien, ein bruchteil des Geldes wäre hinreichend, um den Menschen aller Länder zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen und die Katastrophe der Arbeitslosigkeit zu verhindern.»

Albert Einstein, Briefwechsel mit Sigmund Freud

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BILDNACHWEISE

Seite 5 unbekannt www.vintag.es

Seite 8 The Sound of Music1965

Seite 11 unbekanntca. 1950 www.retronaut.com

Seite 13 unbekannt1943

Seite 16, Seite 17 Leo Fabrizio: Bunkers2004Infolio Verlag

Seite 20 – 21 Friedrich Tamms1943www.worldwar-two.net

Seite 25 William Vanderson1952 Getty Imagesbeforeitsnews.com

Seite 26 The New York Times1929livelymorgue.tumblr.com

Seite 29 unbekannt1917 ExclusivePixwww.epicy.com

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Seite 33 Oskar Schlemmer www.butdoesitfloat.com

Seite 34 Leonard Freed1979 Magnum Photos

Seite 39 unbekannt

Seite 43 Victor Bulla, 1937 commons.wikimedia.org

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… wird endlich gut.

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