Neunter Karmapa „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins … · 2015-09-29 · 9. Karmapa, Das Dunkel...

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Neunter Karmapa „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Mahamudra-Unterweisungen ‚Marig Münsel’ Teil Eins Unterweisungen von Lama Tilmann (Lhündrup) Möhra 2012 Die Seminar-Abschrift wurde nachträglich in der selben Reihenfolge geordnet wie die Inhalte im Kommentar des Neunten Karmapa. Die fehlenden Passagen werden in den kommenden Jahren unterrichtet. Einen tiefen Dank für die Arbeit an dieser Abschrift an Marianne Krobath, Silke Herrich, Hilde Schmied, Hannes Kugler, Hans Kugler und Isolde Wilding aus Graz sowie Claudia Oberste-Hedtbleck aus Bielefeld. Ohne sie gäbe es diesen Text nicht!

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Neunter Karmapa

„Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“

Mahamudra-Unterweisungen

‚Marig Münsel’

Teil Eins

Unterweisungen von

Lama Tilmann (Lhündrup)

Möhra 2012

Die Seminar-Abschrift wurde nachträglich in der selben Reihenfolge

geordnet wie die Inhalte im Kommentar des Neunten Karmapa. Die

fehlenden Passagen werden in den kommenden Jahren unterrichtet.

Einen tiefen Dank für die Arbeit an dieser Abschrift an Marianne Krobath, Silke

Herrich, Hilde Schmied, Hannes Kugler, Hans Kugler und Isolde Wilding aus Graz

sowie Claudia Oberste-Hedtbleck aus Bielefeld. Ohne sie gäbe es diesen Text nicht!

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Einleitung ............................................................................................................................... 4 Erläuterung des Titels..................................................................................................... 4 Meditationshaltung......................................................................................................... 4 Meditation ...................................................................................................................... 5 Empfehlungen zum Retreat ............................................................................................ 6 Morgenmeditation .......................................................................................................... 7

Einführung in den Text .......................................................................................................... 9

Samsara – Verstrickung ............................................................................................... 10 Ist Verwirklichung in einem Leben möglich?............................................................... 16 Höllenbereiche als pädagogisches Mittel? .................................................................. 17 Freude als pädagogisches Mittel .................................................................................. 17 Meditation .................................................................................................................... 18

Erster Teil: Die Vorbereitungen ........................................................................................... 19

1. Klare Ausrichtung und Hervorbringen vom Geist des Erwachens .............................. 19

Übung: Qualitäten der Erleuchtung.............................................................................. 19 Eigene Erfahrungen als Richtschnur ........................................................................... 24 Morgenmeditation ........................................................................................................ 25 Alle Wesen waren mein Vater, meine Mutter.............................................................. 28

Bedeutung und Wirkung der Vorbereitenden Übungen................................................... 31

Bemerkungen der Teilnehmer ...................................................................................... 32 Gesunde Ichbezogenheit............................................................................................... 33 Meditation .................................................................................................................... 35

Kriterien für den Erfolg unserer Praxis – Die vier Unermesslichen Qualitäten............... 35

2. Die Vajrasattva-Praxis.................................................................................................. 37

Die vier Kräfte.............................................................................................................. 38 Die eigentliche Meditation auf Vajrasattva.................................................................. 44 Fragen .......................................................................................................................... 45 Vajrasattva-Meditation................................................................................................. 48

5. Tod und Unbeständigkeit ............................................................................................. 50

Meditation .................................................................................................................... 58

Die drei Aspekte der Wirklichkeit ....................................................................................... 59

Imaginäres Erleben........................................................................................................... 60 Bedingt entstehendes Erleben .......................................................................................... 62 Nicht fassbares Erleben.................................................................................................... 62

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Zweiter Teil: Die Hauptpraxis .............................................................................................. 67 A. Geistesruhe ................................................................................................................... 67 1. Schlüsselunterweisungen zu Körper und Geist: Die Haltung .......................................... 67

Meditation .................................................................................................................... 71 Fragen .......................................................................................................................... 71 Meditation .................................................................................................................... 75

Geistesruhe entwickeln .................................................................................................... 75 Schlüsselpunkte für den Geist .......................................................................................... 80

Den verbrauchten Atem klären .................................................................................... 81 Meditation – Bewusstes Erzeugen von Gedanken ....................................................... 82 Erfahrungen der Teilnehmer ........................................................................................ 82 Übung: Gleichzeitiges Denken von 2 Gedanken ......................................................... 85 Erfahrungen der Teilnehmer ........................................................................................ 86

2. Den Geist mittels eines visuellen Objektes stabilisieren.................................................. 89

Übung: Unabgelenkte Präsenz ..................................................................................... 92 Abendmeditation .......................................................................................................... 93 Morgenmeditation ........................................................................................................ 94 Meditation .................................................................................................................... 95 Übung: Gedanken zählen ............................................................................................. 95 Erfahrungen der Teilnehmer ........................................................................................ 96 Übung: Volle Konzentration – Völlige Entspannung ................................................ 100 Erfahrungen der Teilnehmer ...................................................................................... 101 Umgang mit Aufgewühltsein und Dumpfheit ............................................................ 102 Sich als Künstler ganz vergessen – Erwachen? ......................................................... 104 Gleichzeitigkeit von hören, sehen, denken? ............................................................... 107 Morgenmeditation ...................................................................................................... 109

3. Vertiefen der meditat. Stabilität mittels anderer Sinneswahrnehmungen ...................... 109

Meditation .................................................................................................................. 112 Fragen ........................................................................................................................ 112 Übungen: Wahrnehmen der Gedanken – Bewusstes Denken .................................... 116 Erfahrungen der Teilnehmer ...................................................................................... 117 Meditation .................................................................................................................. 122

Plädoyer für die Dynamik .............................................................................................. 123

Meditation .................................................................................................................. 125 Abendmeditation ........................................................................................................ 126 Morgenmeditation ...................................................................................................... 126 Meditation .................................................................................................................. 127 Übungen: Gestaltungen und Geistbewusstsein .......................................................... 128 Erfahrungen der Teilnehmer ...................................................................................... 129 Abschlussrunde .......................................................................................................... 136 Widmung und Danksagung........................................................................................ 141

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Einleitung

Herzlich willkommen! Ich freue mich sehr, dass wir hier zusammenfinden, um gemeinsam Gewahr-sein zu entwickeln. Wir beginnen mit dem heutigen Abend eine Serie von Seminaren, die wir in den nächsten Jahren fortzuführen hoffen, zu einem kleinen Text des 9. Karmapa: „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“. Auf Tibetisch ma-rig mun-sel.

Heute Abend möchte ich nur kurz über den Titel sprechen und den Rest der Zeit werden wir medi-tieren, damit wir hier auch ankommen.

Das ist ein Mahamudra-Kurs. Mahamudra bedeutet großes Siegel, es ist die Praxis der Natur des Geistes. Wir können sagen: der Natur all unseres Erlebens. Die Praxis des Auflösens von mangelndem Gewahrsein führt uns in ein tiefes Gewahrsein dessen, wie die Dinge sind, was die wahre Natur unseres Erlebens ist. Damit wollen wir uns in diesen Unterweisungen und Meditationen befassen, sodass wir tatsächlich in diesem Kurs und dann zu Hause in tieferes Gewahrsein hineinfinden.

Es geht mir nicht darum, diesen kleinen Text schnell durch zu bekommen – im Tibetischen sind es bloß ein paar Seiten. Ich habe gedacht, wir nehmen uns fünf Jahre dafür. Wir haben keine Eile, wenn es länger dauert, dauert es eben länger. Worum es mir und sicherlich auch euch geht, ist, dass unsere Praxis tatsächlich Wirkung auf uns hat, Auswirkungen im Alltag, sodass wir mit einem neuen Blick schauen und mit vermehrtem Gewahrsein durchs Leben gehen. Da gibt es keinen Unterschied zwischen Alltag, Ferien und Kurs. Dass wir durch unser Leben mit mehr Gewahrsein gehen, immer offener und weiter.

Erläuterung des Titels tschag gya tschenpo – Mahamudra, munsel – das Auflösen des Dunkels, marigpa – mangelnden Gewahrseins. Marigpa wird nicht als Unwissenheit sondern als mangelndes Gewahrsein übersetzt. Damit ist gemeint, dass wir verdunkelt sind und nicht mit der vollen Klarheit unseres Gewahrseins leben. Es steht uns eigentlich viel mehr inneres Licht, innere Freiheit zur Verfügung als wir tatsächlich nützen. So wird es unser Anliegen sein, diese innere Klarheit freizulegen und mit allem aufzuräumen, was dieses Gewahrsein verhindert. Darum geht es, um nicht mehr.

Im Satipatthana-Sutra aus dem Palikanon spricht der Buddha darüber, dass es nur einen Weg gibt, Ekayana. Im Grunde gibt es nur ein einziges Fahrzeug, nicht Hinayana, Mahayana, Vajrayana. Es gibt nur einen Weg, das Entwickeln von sati, von Achtsamkeit oder Gewahrsein. Das ist der eine Weg. Einen anderen Weg des Erwachens gibt es nicht. Wenn das Gewahrsein voll präsent ist, ist das Erwachen vollständig. Wenn das Gewahrsein noch eingeschränkt ist, ist es nicht das volle Erwachen, dann ist es verschleiert.

Bei der Praxis dieses Gewahrseins handelt es sich nicht um etwas furchtbar Schwieriges. Es ist das Wegfallen all der Komplikationen, die normalerweise unseren Geist aufwühlen. Es ist ein Prozess des Vereinfachens, des Loslassens von Komplikationen, des Sich-Klären-Lassens des Geistes. Dabei ist es nicht so, dass jemand den Geist klären müsste, dass wir jemanden in unseren Geist einladen müssten, um die Schleier auszuräumen. Wir müssen aufhören, die Schleier zu produzieren. Das ist etwas ganz anderes. Wir können uns entspannen und sein lassen. Im Sein-Lassen klärt sich der Geist. Das ist, was mit Entwickeln von Gewahrsein bei Buddha Shakyamuni im Satipatthana-Sutra gemeint ist.

Meditationshaltung Richtet es euch gemütlich ein, mit geradem Oberkörper. Wenn ihr auf dem Stuhl sitzt, setzt die Füße gut auf dem Boden auf, mit etwas geöffneten Beinen, sodass sich der Körper aufrichten kann und dabei kleine Bewegungen möglich sind. Schaut bitte, ob ihr diese Beweglichkeit des Oberkörpers spürt, ob ihr mit den Hüften leicht kreisen könnt. Wenn die Knie in der Luft sind, dann geht das schlecht, man ist eingeengt. Das Kissen sollte so hoch sein, dass ihr gut mit den Knien auf den Boden

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kommt. Oder ihr sitzt auf einem Bänkchen, die Knie am Boden, das ergibt ein stabiles Dreieck. Auf der Basis dieses stabilen Dreiecks ist der Körper beweglich. Wir nützen diese Beweglichkeit während der Meditation.

Obwohl es heißt, ‚Wir meditieren wie ein Berg’, erlauben wir ganz kleine Bewegungen. Diese Be-wegungen der Wirbelsäule entspannen den Körper. Man sieht diese Bewegungen von außen nicht. Diese ganz kleinen inneren Bewegungen sollten wir überall zulassen. Wir lassen sie auch bei den Augen zu. Der Blick ist nach vorne und etwas nach unten gerichtet. Er ist gesammelt, aber wir fixieren nicht. Genauso, wie wir auch in den Hüften nicht fixieren und nicht festhalten. Der Blick ist gelöst nach vorne gerichtet und kann ein bisschen oszillieren, macht ganz kleine Bewegungen. Die Augen können ganz entspannen, weil sie sich ein wenig bewegen dürfen. Das ist ganz wichtig. Überall im Körper, wo es sich richtig anfühlt, könnt ihr während der Meditation kleine Bewegungen zulassen oder sie auch einfach einmal bewusst ausführen, um die Erleichterung zu spüren.

Gendün Rinpoche meinte, wir sollten, um die richtige Position zu finden, zunächst mit dem Becken nach vorne und nach hinten wippen, dann die Bewegungen kleiner werden lassen, bis wir die Mitte finden. Wir schaukeln auch seitwärts, bis wir unsere innere Achse gefunden haben. Diese Achse geht in der Vorstellung durch das Kissen hindurch nach unten und kommt oben, wo wir die Fontanelle hatten, heraus und setzt sich im Himmel fort. Dadurch kommt unser Kinn ein kleines bisschen nach unten. Wir schauen nicht nach oben, sondern spüren die Achse innerlich; dadurch senkt sich das Kinn ganz von selbst.

Meditation Lasst uns jetzt in dieser Haltung ruhen. – Wir beginnen, den Körper deutlicher zu spüren. – Wir spüren unsere Haltung. Wir können es uns jederzeit noch angenehmer einrichten. – Wir spüren den Kontakt mit dem Kissen, mit dem Boden, den Raum um uns herum und die innere Beweglichkeit der Wirbel-säule. – Innerhalb der vielen Körperempfindungen werden wir des Atems gewahr. Einatem und Ausatem sind unser Anker. Der Anker, der uns hilft, den Geist immer wieder zurück zu bringen, wenn er zu vagabundieren beginnt. – Einatmend sind wir einfach des Einatems gewahr und ausatmend sind wir des Ausatems gewahr. – Wir bemerken die kleinen Variationen in unserem Ein- und Ausatem, manchmal länger, manchmal kürzer; tiefer, flacher. – Schaut doch einmal, wo ihr überall den Atem spüren könnt. Angefangen an der Nasenspitze bis weit hinunter in den Beckenbereich. – Um die Aufmerksamkeit noch zu verstärken, versuchen wir, Anfang, Mitte und Ende des Einatems bis zum Umkehrpunkt wahrzunehmen. Wir verfolgen ganz genau Anfang, Mitte und Ende des Ausatems bis zum Umkehrpunkt. Wir lassen keine Phase des Atemzyklus entwischen. – Immer wieder kehren wir zu unserer Aufgabe zurück, den Atem zu verfolgen. – Das machen wir jetzt noch für 10 Atemzüge, danach kommt eine kleine Pause. 10 ganz bewusste Atemzüge. – Jetzt machen wir eine Pause, in der wir den Geist einfach frei lassen. Wir können die Körperhaltung anpassen. – Manche werden bemerken, dass der Geist in der Pause von selbst gesammelt bleibt. – Und weiter geht’s: Wir spüren den Körper. – Ein- und Ausatem. – Während wir einatmen, sind wir des gesamten Körpers bewusst, und wenn wir ausatmen, sind wir ebenfalls des gesamten Körpers gewahr. – Der Buddha spricht von pranakaya, von Atemkörper. Beim Einatmen sind wir des gesamten prana-kaya gewahr und beim Ausatmen ebenfalls. – Entspanntes, nicht wertendes Gewahrsein all dessen, was im Körper geschieht. – Oder einfacher noch: Ganz und gar Körper sein, körperliches Erfahren, ganz und gar körperlich präsent sein. – Wir brauchen keinerlei Anstrengung zu machen, nur immer wieder den Atem spüren und ganz und gar körperlich präsent sein, ohne irgendetwas festzuhalten. – Falls da doch eine kleine Anstrengung ist, gönnen wir uns jetzt eine kleine Pause, lockern den Blick, lockern die Schultern, die Hüften, strecken die Beine. –

Und dann lassen wir den Blick sich wieder sammeln. Es muss gar nicht immer am selben Ort sein. – Und wieder spüren wir den Körper und dann weiten wir unsere bewusste Wahrnehmung aus auf die anderen Sinnesbereiche. – Sehen, einfach sehen, ohne etwas anzuschauen. Einatmend sind wir sehend gewahr, ausatmend sind wir sehend gewahr. – Dabei sind wir des gesamten Gesichtsfeldes gewahr, nicht nur eines kleinen Bereiches. – Volle Präsenz im Sehen, ohne nach etwas zu greifen. –

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Körper spüren, sehen und nun auch das Hören. Volle Präsenz im Hören. Einatmend sind wir hörend gewahr und ausatmend sind wir hörend gewahr. – Hören, ganz freies Hören, ganz umfassendes Hören ohne zu greifen. – Spüren, Sehen, Hören, alle drei zugleich. Schmecken und Riechen gehören noch dazu. – Auch beim Riechen üben wir uns darin, zu riechen ohne nach etwas zu greifen. Frei von Anhaften und Ablehnen. – Und wieder machen wir eine Pause, bevor es zu anstrengend wird. – Wir richten es uns wieder ein, dass wir eine Weile möglichst unabgelenkt gewahr sein können. – Das Zurückfinden in die Meditation ist ganz einfach: Wir werden des Körpers gewahr, … spüren den Atem, werden des Ein- und Ausatems gewahr, spüren zugleich den gesamten Körper, … bleiben beim Ein- und Ausatem und entwickeln Bewusstheit in den Sinnen, … bleiben beim Ein- und Ausatem und entwickeln Bewusstheit im Hören, … riechen, … schmecken … und dann entwickeln wir die umfassende Präsenz all dieser fünf äußeren Sinne gemeinsam. Und mitten all dessen fließt der Einatem, fließt der Ausatem. – Eine gesammelte, nicht wertende Präsenz in allen fünf Sinnesfeldern zugleich. Mal mehr das eine, mal das andere, das ist vollkommen unerheblich. – Der Atem ist unser Anker, den wir immer wieder aufsuchen sobald wir hängen bleiben in irgendwelchen Sinneserfahrungen. – Nun wenden wir uns dem 6. Sinn zu, dem Denken, allen Geistesbewegungen. Die 5 Sinne gehören dazu, auch sie sind Bewegungen im Geist, geistige Bewusstheit. Aber dann gibt es auch andere Ge-danken, Kommentare, Erinnerungen, das Benennen von Erfahrungen und vieles mehr. – Ein nicht wertendes, waches Gewahrsein. Gewahres Sein, frei von Haften in den 6 Sinnesbereichen. – Natürliches, gelöstes Sein bei völliger Bewusstheit. –

* * *

Das war die Grundübung. Diese Grundübung wird uns den ganzen Kurs hindurch begleiten, und aus diesem gelösten, offenen, gewahren Sein heraus können wir uns den verschiedenen Aspekten des Erlebens zuwenden. Die Grundübung ist, wo immer wir sind die Sinne zu öffnen, also voll der fünf äußeren Sinne und dessen, was im Geist vor sich geht, gewahr zu werden. Und in all diesen Bereichen, d.h. in unserem gesamten Erleben dieselbe Haltung zu pflegen: gewahr zu sein, nichts wegzustoßen, aber auch nichts festzuhalten. Gewahr zu sein, kommen lassen, erleben und immer weniger Spannung aufbauen im Erleben. Immer weiniger kämpfen, immer weniger haben wollen. Raus aus dem existen-tiellen Kampf in unserem Sein, aussteigen aus dieser Anstrengung.

Wenn ihr jetzt merkt, dass allein das Sitzen schon körperlich anstrengend war, dann sucht euch schon in der nächsten Sitzung einen anderen Ort, eine andere Möglichkeit zu sitzen, damit euch dieses Retreat nicht zur Qual wird. Es ist so viel Platz an der Wand hier im Raum, ihr könnt euch auch zwischendurch anlehnen. Ihr könnt euch einen Stuhl bereitstellen und abwechseln. Wir brauchen dieses gelöste, entspannte Gewahrsein als Ausgangsbasis. Damit untersuchen wir die Wirklichkeit.

Natürlich gibt es Wege dahin, es gibt Wege, immer wieder in diese Ruhe zu kommen. Aber das Ein-fachste ist, mit dem Körper anzufangen, und dann erst mit den starken Sinnen zu üben. Oft nehme ich das Hören zuerst, heute habe ich mit dem Sehen begonnen. Vorübergehend können wir auch einmal mit geschlossenen Augen praktizieren und nur den Körper fühlen und dann hören. Im Riechen ist oft nicht so viel los, aber wir sind ja viele Menschen im Raum, da kommt dann bei geschlossenen Fenstern schon einiges zusammen. Beim Schmecken ist es dann meist nur ein Nachgeschmack, der meist gleich bleibt.

Aber im Denken ist viel los. – Das ist euch schon aufgefallen. Wir schauen uns das an. Ihr werdet ganz interessante Erfahrungen machen, das ist gar nicht so anders als mit den fünf äußeren Sinnen. Es geht darum, was wir daraus machen. Das schauen wir uns alles noch an. –

Empfehlungen zum Retreat Damit die Praxis einen gewissen Erfolg hat, sollten wir die Kommunikation nach außen möglichst unterlassen. Die Zeit, die wir hier gemeinsam haben, bleiben wir möglichst am Ort, praktizieren und spazieren. Diejenigen, die wirklich ins Retreat einsteigen wollen, sollten jenen, die auf einen Anruf

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warten, sagen, dass das heute der letzte Anruf ist. Wenn es nicht geht, dann müsst ihr die Kontakte nach draußen als Teil des Retreats betrachten.

Wichtig ist, keinen Stress zu machen, gut auszuschlafen, aber dann auch aufzustehen, wenn der Geist wach wird. – Richtig wach. Wenn die Vögel singen und wir wach werden, drehen wir uns nicht noch einmal um, sondern stehen auf und nutzen den Tag für die Gewahrseinspraxis. Dass wir um 7 Uhr hier zu meditieren beginnen, bedeutet nicht, dass man nicht schon um 5 oder 6 hier sein kann, um zu prak-tizieren. Der Raum ist immer offen. Da braucht ihr euch nicht an die Zeit zu halten.

Retreat bedeutet auch, dass wir nicht nur die ganze Zeit mit dem Geist beschäftigt sind, wir müssen uns auch um den Körper kümmern. Achtet beim Essen darauf, dass das Essen die Praxis unterstützt, was die Menge angeht und die Zusammensetzung. Auch Kaffee ist nicht unbedingt der super Hit bei der Meditation. Da müsst ihr schauen. Rohkost ist auch nicht unbedingt so gut.

Das andere betrifft das Reden und Schweigen. Der Buddha hat nicht Schweigen unterrichtet, das war nicht sein Anliegen. Er hat die edle Rede unterrichtet. Das Schweigen war für ihn ganz natürlich, wenn man nichts zu sagen hatte. Er hatte ziemlich klare Kriterien dafür, wann es was zu sagen gibt und wann nicht. Wenn wir diese Kriterien anwenden, dann sollten wir die meiste Zeit schweigen. Also kein Geschwätz, kein Reden über Politik, Unterhaltung, all das, was man so Geschwätz nennt.

Ich habe mir das überlegt und schlage euch vor, dass wir den größten Teil des Tages schweigend ver-bringen, außer in der Mittagspause. Nach dem Mittagessen ist auch eine schöne Zeit für Spaziergänge, sich auszutauschen. Es braucht dann aber die Disziplin, mit der 3-Uhr-Unterweisung das Reden wie-der einzustellen. Dann sitzen wir alle wieder hier im Raum und verbringen den Rest des Tages und den ganzen Morgen bis zum Mittagessen um 13 Uhr in Stille. Schaffen wir das?

Wenn wir das schaffen, haben wir ziemlich viel Zeit, um unabgelenkt gewahr zu sein und können trotzdem miteinander reden und uns austauschen. Was bei so einem Kurs ja auch ganz wunderbar ist, dass wir uns begegnen, kennen lernen und ein bisschen austauschen können. Aber das ist wirklich ein bisschen komprimiert.

Und dann gibt es ja auch welche, die unbedingt miteinander sprechen wollen. Denen empfehle ich, einen Spaziergang zu machen. Gebt euch Zeichen und verabredet euch. Dann ist das eben Teil eurer Praxis. Das ist dann ganz bewusst, ich weiß, dass ich mich mit diesem Menschen unterhalten möchte. Ich hab ein Anliegen, ich möchte mich austauschen. Mir tut es gut, dem anderen tut es gut, dann ist das Reden heilsam.

Das ist also meine Wunschvorstellung, ein lockerer Schweigekurs. Gelockert insofern, als in der Mittagspause auch im Haus geredet werden kann.

Ansagen zur Organisation oder ganz praktische, kleine Fragen sind überhaupt kein Problem. Macht euch bitte keinen Stress. Es geht um das Geschwätz und um die Unterhaltung. Man kann ruhig z.B. sagen: „Kannst du mir bitte das Salz rüber geben?“ Es ist aber auch eine gute Übung, solche Dinge einmal anders zu lösen.

Wir machen es uns einfach schön, sodass wir ganz viel Entspannung haben, ganz viel Ruhe. Jeder soll in seinem inneren Raum ruhen und einkehren können. Zu Mittag ist Zeit zum Reden. Wer zu Mittag auch schweigen möchte, kann sich ja sein Essen mit nach draußen oder aufs Zimmer nehmen.

Die Zeit ist ja sehr kurz und ihr kommt genauso wie ich aus einem sehr angeregten Alltag. Da ist es ganz gut, einmal auszusteigen. Gewahrseins-Praxis ist sehr stark eine Praxis der eigenen Verantwor-tung. Indem wir schweigen, schaffen wir Raum, in dem wir selber mehr gewahr sein können, und wir schenken auch den anderen Raum, indem wir sie nicht in unsere Dinge hineinziehen. Auch nicht mit Augenkontakt. Wir machen den anderen ein Geschenk, wenn wir die Stille einhalten, respektieren.

Morgenmeditation Wir sitzen aufrecht, und wenn wir unsere Haltung gefunden haben, wenden wir uns unserer Motiva-tion zu. – Wir erinnern uns daran, warum wir eigentlich hier sind. Was ist der Grund, dass ich mir jetzt

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eine Stunde lang Zeit nehme, Gewahrsein zu üben? – Wir erinnern uns an diese Gründe, welche auch immer es für uns sein mögen. – Wir verankern den Entschluss in uns, diese Stunde ganz dem gewahren Sein zu widmen. Jetzt gerade, für eine Stunde, brauche ich mich mit nichts anderem zu befassen, als vollkommen gewahr zu sein, präsent. – Ich verankere diesen Entschluss zum eigenen Wohl und auch zum Wohle anderer, dass diese Praxis des Gewahrseins auch anderen zugute kommt. – Und damit wenden wir uns dem Ein- und Ausatem zu. – Wir lassen den Atem auf den Atemzügen reiten, sind ganz eins mit ihnen, ganz bewusst. – Wir folgen dem Einatmen über die gesamte Dauer des Einatems, vom Anfang über die Mitte bis zum Ende und genauso auch für den Ausatem. – Wir interessieren uns für den Atem, als wäre es zum ersten Mal, dass wir atmen. – Einatmend sind wir voll gewahr – ausatmend sind wir voll gewahr. – Als Einstiegsübung, um uns auszurichten, uns zu konzentrieren, zählen wir 21 bewusste Atemzüge. – Wenn wir die 21 Atemzüge gezählt haben, zählen wir nicht weiter, sondern bleiben achtsam mit dem Atem verbunden. – Dann weiten wir unsere Wahrnehmung aus auf den gesamten Körper, der atmet. – Einatmend sind wir des gesamten Körpers gewahr – ausatmend sind wir des gesamten Körpers gewahr. – Durch dieses entspannte Gewahrsein beruhigen sich die Empfindungen in unserem Körper. Wenn wir wirklich entspannt sind und nicht kämpfen mit unseren Empfindungen, dann beginnen sie ruhiger zu fließen. – Der Buddha sagte es so: „Einatmend nehmen wir wahr, wie sich die körperlichen Gestaltungen beruhi-gen und ausatmend nehmen wir wahr, wie sich die körperlichen Gestaltungen beruhigen.“ – Wenn wir entspannt gewahr sind, entstehen angenehme Gefühle und angenehmes Empfinden. Auch das nehmen wir wahr, ohne daran fest zu halten. – Das Wahrnehmen dieses Wohlbefindens hilft uns, weiter zu entspannen. – Wenn der Hintergrund dieser Ruhe sich allmählich einstellt, bemerken wir, wie viel in unserem Geist eigentlich los ist. Der Buddha nannte das die geistigen Gestaltungen. Zu den geistigen Gestaltungen gehören die Wahrnehmungen der sechs Sinne. – Einatmend sind wir der geistigen Gestaltungen gewahr und ausatmend ebenfalls. –

Lasst uns jetzt die Grundübung machen, einen Sinn nach dem anderen ins Bewusstsein zu holen und diese nicht wertende Bewusstheit zu üben. – Zunächst das Körperempfinden. – Dann das Sehen. Weites, gewahres Sehen, ohne daran Gedankenketten zu hängen. – Einatmend sind wir sehend gewahr und ausatmend sind wir sehend gewahr. – Nun das Hören verbunden mit dem Ein- und Ausatem. – Ganz offene, weite Hörwahrnehmung, ohne auf irgendetwas zu reagieren. – Und nun das Riechen, verbunden mit dem Ein- und Ausatem. – Schließlich das Schmecken. – Und dann alle fünf äußeren Sinne zusammen. Spüren, sehen, hören, riechen, schmecken. – Nun der sechste Sinn. Da besteht die Aufgabe darin, zu bemerken, wenn wir etwas denken, wenn da Gedanken sind. Geistige Bewegungen, Gefühle, Mögen oder Nicht-Mögen, Bilder, die auftauchen. – Immer wieder kommen wir zum Atem zurück, was es uns erleichtert, präsent zu bleiben und uns nicht in Gedanken zu verlieren. – Den Körper spüren, sehen, hören, riechen, schmecken und der Bewegungen im Geist gewahr sein. All das nennen wir geistige Gestaltungen. Sie gestalten unser Erleben. – Wenn da Gewahrsein hinein-kommt, beruhigen sich die geistigen Gestaltungen. Jemand hustet, aber es hängt sich kein weiterer Gedanke dran. Wir hören dieses und jenes, und schon im Moment danach ist es vorbei. – Wenn sich die geistigen Gestaltungen beruhigen, beginnen wir den Geist selbst deutlicher wahrzuneh-men. Wie ist das eigentlich, was wir Geist nennen? – Wie fühlt sich unser Geist gerade jetzt an, unab-hängig von den Gestaltungen? Wie ist er? Ist er offen, weit? Ist er besorgt und eng? Oder müde, frisch? Genervt oder froh? Was für Stimmungen werden verspürt? – Einatmend erleben wir den Geist und ausatmend erleben wir den Geist. – Ist diese Bewusstheit getrübt oder ungetrübt? – Einatmen und ausatmen. Gewahrsein ist seiner selbst gewahr, und wenn das völlig entspannt geschieht, beruhigt es sich. Entspannt und offen. Bewusstheit ruht in sich selbst. – Und wieder geben wir dem Geist alle Freiheit, haften nicht an der Ruhe, an der Klarheit. – Einatmend befreien wir den Geist vom Zugriff des Haftens und ausatmend befreien wir den Geist. Wir lassen ihn frei. –

Pause. –

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Einatmend und ausatmend wenden wir unser Gewahrsein dem Wandel zu. Vergänglichkeit, Entstehen und Vergehen. – Einatmend sehen wir den Wandel in allen Bereichen unseres Erlebens und ausatmend sind wir des Wandels gewahr. – Die Wahrnehmungen der sechs Sinne in ständigem Wandel. – Wir sehen unser Festhalten, unser Reagieren. Wir erleben auch unser Loslassen und die Gelöstheit, die sich dadurch einstellt. –

* * *

Karmapa Wangtchuk Dorje hat in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts gelebt. Er hat drei Mahamudra Manuale geschrieben mit Hinweisen zur Praxis. Das ausführlichste ist „Der Ozean des wahren Sinnes“. Dieses ausführliche Werk bildet für uns das Rückgrat der Mahamudra-Übertragung in den Dreijahres-Retreats. Das hat uns Gendün Rinpoche ausführlich erklärt.

Das mittlere Manual ist das vorliegende: „Das Auflösen des Dunkels mangelnden Gewahrseins“, auf Tibetisch marig munsel. Im Unterschied zu dem großen Werk enthält es überhaupt keine Zitate. Es spricht nur direkt über die Praxis, in ganz gedrängter Form aber mit sehr vielen praktischen Hinwei-sen. Man könnte es als eine Zusammenfassung des großen Werkes betrachten, aber eigentlich dienen die beiden etwas unterschiedlichen Zwecken.

Das große wurde geschrieben, um es Lehrern der Kagyü-Tradition zu ermöglichen, Schüler anzuleiten und sie Stufe für Stufe zu führen. Das marig munsel hat eher den Charakter einer Anleitung für die Praktizierenden und verzichtet auf alles akademische Beiwerk. Da gibt es keine Querverweise zu irgendwelchen anderen Autoren oder zu Sutren und Tantras. Es geht nur um die Praxis selbst. Der Text nimmt auch häufiger Bezug auf Meditations-Erfahrungen, wie sie entstehen und wie man damit umgeht, wie man den nächsten Schritt geht.

Der dritte Text von Wangtchuk Dorje ist „Der Fingerzeig auf den Dharmakaya“, auf Tibetisch tschöku subtschik. In diesem Text wird in ganz knapper Form noch einmal diese Unterweisung gegeben. Der Text ist aber für unsere Zwecke etwas zu kurz. Er ist gut geeignet für diejenigen, die die anderen Texte studiert haben und sich an die Essenz erinnern wollen. Aber was das angeht, haben wir hier in Möhra bereits das Mahamudra-Gebet des 3. Karmapa studiert. Dieses Gebet bietet aus praktischer Sicht eine hervorragende Möglichkeit, uns immer wieder an die Essenz der Mahamudra-Praxis zu erinnern. Das steht euch ja zur Verfügung.

Zum marig munsel gibt es eine deutsche Übersetzung, die allerdings vergriffen ist, unter dem Titel „Diamantlicht des gewöhnlichen Geistes“ von Christian Loidl, in Zusammenarbeit mit Tina und Alexander Draszczyk. Die Übersetzung wurde aus dem Englischen gemacht, das von Alexander Berzin stammt. Das Englische ist selbst für Briten schwer verdaulich, schwer zu lesen. Ihr könnt diese Übersetzung durchaus benutzen. Der Vorteil dieser Ausgabe ist, dass sie Unterweisungen von Beru Khyentse Rinpoche enthält. Allerdings aus einer ganz frühen Unterweisung, die um 1975 in Bodhgaya gegeben wurde. Damals hatten viele der westlichen Schüler noch wenig Ahnung von diesen Praktiken. Alexander Berzin hat sich die Mühe gemacht, das alles herauszuschreiben, zur Verfügung zu stellen. Es ist also ein sehr schönes Pionierwerk.

Karmapa beginnt mit einer Hommage:

Einführung in den Text [2.1] Obwohl Du schon seit zahllosen [Zeitaltern] vollkommen erwacht bist, strahlst Du [immer wieder] Körper aus, um die zu Bezähmenden anzuleiten, und sogar das Hören Deines Namens befreit aus den Gefahren Samsaras, – von Herzen verbeuge ich mich vor der kostbaren Kagyü-Linie.

Diese Zeilen sind eine ganz typische Eröffnung eines tibetischen Kommentars. Ein solches Werk beginnt immer mit einer Ausrichtung, einer Preisung an den eigenen Lama und die Linie. Die Preisung drückt aus, dass der Autor den Text nicht aus eigenen Stücken schreibt und den Dharma erfunden hat, den er darstellt, sondern sich auf die Übertragungslinie bezieht.

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Der Wurzellama von Wangtchuk Dorje war der 5. Shamarpa, Köntchok Yänlag. Es ist anzunehmen, dass mit den ersten drei Zeilen die Reihe der Shamar Inkarnationen gemeint ist. Natürlich hatte der 9. Karmapa auch andere Lehrer, aber Shamar Köntchok Yänlag lebte noch bis 1583, da war Wangtchuk Dorje 27 Jahre alt. Es gab also ausreichend Zeit für eine Übertragung.

Die 4. Zeile bezieht sich auf die Meister der gesamten Kagyü-Linie bis dahin.

Jetzt die Erklärung der Worte: Obwohl Du schon seit zahllosen [Zeitaltern] vollkommen erwacht bist bezieht sich auf zwei Aspekte. Der eine ist, dass wir natürlich sagen können, dass jeder Geistesstrom eigentlich schon uranfänglich erwacht ist. Dass es nur vorübergehende Schleier sind, die unseren Geistesstrom verdunkeln. Aber spezifischer bedeutet es auch, dass die Reihe der Shamar Inkarnatio-nen, von denen es heißt, dass sie untrennbar von den Karmapas sind, als die Fortsetzung der Aktivität von voll verwirklichten Bodhisattvas aus früheren Zeitaltern betrachtet wird. Wir haben keine Mög-lichkeit das zu überprüfen, aber der Mythos ist, dass vor unzähligen, Abermillionen von Zeitaltern ein Bodhisattva die Erleuchtung erlangt hatte, seine Aktivität manifestiert hat und dass sich daraus dann eine lange, lange Kette von Bodhisattva-Aktivität ergeben hat.

Das Wunder daran ist, dass es möglich war, solche Manifestationen über so lange Zeit aufrecht zu er-halten. Es ist gar nicht einfach, sich immer wieder in einem Körper zu manifestieren, obwohl der Geist schon völlig jenseits aller Fixierung, jenseits aller Bedürfnisse ist. Es ist schwierig, überhaupt in diese Welt zurück zu kommen. Es ist das Wunder des Mitgefühls, das bewirkt, dass ein Geistesstrom, der eigentlich in die völlige Offenheit hinübergehen könnte, es trotzdem auf sich nimmt, sich immer wieder ganz konkret in Körpern unter uns Menschen oder auch in anderen Bereichen zu manifestieren, um die zu Bezähmenden anzuleiten.

Die zu Bezähmenden – düldja – sind wir, das ist unser wilder Geist mit all den Knoten – im Herzen und im Hirn, wo immer sie auch stecken. Diese Knoten machen uns sehr emotional. Wir müssen ange-leitet werden, damit wir in die Entspannung hinein finden, damit unser angespannter Geist entspannen kann. Das ist die Aufgabe aller Bodhisattvas.

Es heißt, dass die Segenskraft von Meistern wie Milarepa, Gampopa, den Shamar Rinpoches und Karmapas im Laufe dieser langen Kette von Manifestationen zum Wohle der Lebewesen so stark an-gewachsen ist, dass manche Praktizierende schon dadurch Befreiung erlangt haben, indem sie nur den Namen von einem dieser Meister gehört haben. Von einzelnen Praktizierenden heißt es, dass allein durch das Hören eines dieser Namen ihre Hingabe ihr Herz so stark geöffnet hat, dass in dem Moment die dualistischen Projektionen verschwunden sind und direktes Sehen der Natur des Geistes stattfinden konnte.

Samsara -Verstrickung Für das Wort Samsara hab ich eine neue Übersetzung, innerlich. Natürlich bedeutet das Daseinskreis-lauf, es ist das Leben in Subjekt-Objekt-Projektionen. Ein gutes Wort für das, was nahezu immer mit Samsara gemeint ist, ist Verstrickung. Verstrickung ist genau da, wo sich Samsara in unserem Alltag manifestiert. Wir wissen ja oft gar nicht: Wo ist denn Samsara in unserem Alltag? Wo ist es genau? Denn man sagt uns ja, es ist nicht die Welt. Die Welt ist nicht Samsara. Samsara spielt sich in unserem Geist ab. Wir könnten sagen: Samsara ist überall da, wo es an Gewahrsein mangelt, wo nicht rigpa, Gewahrsein, ist, sondern marigpa, Unwissenheit, mangelndes Gewahrsein. Das ist eine Möglichkeit, es auszudrücken.

Die andere Möglichkeit ist, zu sagen: Samsara ist überall da, wo wir verstrickt sind. Und das können wir noch etwas deutlicher spüren. Unsere Antennen für das, was unsere persönlichen Verstrickungen sind, werden auf dem Weg feiner und feiner werden. Aber da, wo ich mich heute schon verstrickt fühle, kann ich davon ausgehen, dass ich da wirklich fest in Samsara bin. Wo der Geist nicht frei ist, wo unser Herz nicht frei ist, da sind wir verstrickt. Und diese Verstrickung passiert immer durch Fixie-rung, wenn wir uns irgendwo verhaken und der Geist nicht im Fluss bleibt. Wir haken ein, und wo wir einhaken, verstricken wir uns.

Man kann von irgendeiner Sache oder einer zwischenmenschlichen Beziehung nicht sagen, sie sei per se Verstrickung. Es kommt drauf an, wie wir mit der Situation, mit der Aufgabe, mit der Beziehung umgehen. Ist es eine Verstrickung, die sich da abspielt? Sind wir gefangen darin? Oder führt es dazu,

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dass wir in größere Offenheit, Gelöstheit hineinfinden? Ist der Geist geweitet? Immer wenn der Geist sich weitet und öffnet, sind wir auf dem Weg heraus aus den Verstrickungen, heraus aus dem herben Samsara in feinere Formen hinein. Wir werden auch dort, wo wir schon gelöster sind, bemerken, dass wir uns in vielen Dingen immer noch verstricken. Unsere wachsenden Antennen lassen uns diese Verstrickungen dann spüren, bis hin zu den Verstrickungen in die vermeintliche Trennung in Subjekt und Objekt. Das sind dann ganz subtile Verstrickungen. Das alles ist Samsara.

Es kompliziert zu machen, wo einfaches Erleben stattfindet, das ist Samsara. Von daher arbeite ich jetzt häufiger mit dem Wort Verstrickung, weil das auf der emotionalen Ebene ganz einleuchtend ist. Wir können das spüren. Stricke fesseln, umwickeln. Wir können nicht frei sein. Das spricht für sich, und das können wir in unserer inneren Arbeit auch als Richtlinie nehmen. Wir würden zwar global gerne aus Samsara aussteigen, aber wo fangen wir genau an? Ich schlage vor, in den Bereichen größter Verstrickung. Dort lohnt es sich anzufangen.

Das Gegenteil von Samsara ist Nirvana. Das wird normalerweise als Frieden übersetzt. Manchmal, wenn es die Bedeutung von niroda zugeschoben bekommt, bedeutet es das Aufhören von Ver-strickung, das Aufhören aller Leid erzeugenden Tendenzen. Normalerweise bedeutet Nirvana Frieden. Und damit haben wir auch einen Begriff, den wir der Verstrickung gegenüberstellen können. Da, wo sich Verstrickung löst, stellt sich Frieden ein in unserem Erleben. Und damit wissen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wenn wir aus der Anspannung des Verstricktseins in die Offenheit des fried-vollen Erlebens hineinfinden. Das ist für uns die heilsame innere Richtung. Wenn sich Verstrickung auflöst, entstehen Gefühle von Freiheit und Freude.

Teilnehmer: Du hast gesagt, es lösen sich zum Schluss Verstrickungen in Subjekt und Objekt auf, wo wir schon gelöst sind?

Ja, das sind die feinsten Verstrickungen. Subjekt und Objekt sind immer drin, aber wir erleben die Subjekt-Objekt-Anspannung normalerweise gar nicht als schmerzhaft oder verstrickend. Sie ist für uns völlig normal. Wir erleben es nicht als Verstrickung, dass wir beide uns jetzt gerade als getrennt wahr-nehmen. Das ist eine ganz feine Ebene der Wahrnehmung. Manchmal wird sie krasser, z.B. im Gefühl von Trennung. Wenn ich mich getrennt fühle von einem geliebten Menschen, wird das in dem Mo-ment zu einem ganz starken Gefühl von Anspannung.

Teilnehmer: Ich spüre diese Dualität, wenn ich etwas machen soll. Ich mache was mit einem Objekt. Wenn ich das dann anschaue, sehe ich die Dualität deutlich.

Ja, das ist eine Dualität, die schon etwas feiner ist. Deine Antennen sind schon so weit gewachsen, dass du diese feine Dualität wahrnehmen kannst. Und wenn du sie wahrnimmst, kannst du auch damit arbeiten. Wir können immer nur mit den Aspekten der Wirklichkeit arbeiten, die wir wahrnehmen. Von daher brauchen wir mit dem Wort ‚schließlich’ nicht allzu streng umzugehen, es ist nur gemeint, dass es eine Bewegung hin zu Subtilerem ist. Es gibt ganz feine Formen von Dualität, die ihr auch wahrnehmen könnt, aber die einfach diese ständig beobachtende Instanz beinhalten – auch das unwill-kürliche Sehen. Wenn wir z.B. eine Wand sehen und uns von dieser Wand getrennt fühlen. Das sind noch subtilere Formen von Dualität.

Teilnehmerin: Wenn du sagst, wir sollen dort anfangen, wo die Verstrickung am größten ist, dann ist das aber auch der Bereich, in dem wir am wenigsten Freiraum haben. Ist es nicht leichter, dort zu beginnen, wo die Verstrickung nicht so stark ist?

Dann sagen wir vielleicht so: Dort wo es stark ist und auch was bringen könnte. Denn die größte Verstrickung ist schon herber anzugehen, nicht? Wäre dringend, aber ist nicht so leicht. Wir können also auch das relativieren. Wir arbeiten da, wo es uns möglich ist.

Meine Aussage hatte einen Grund: Praktizierende kommen gerne zu Kursen und wollen sofort an ihrem Beobachter arbeiten, gehen aber die groben Verstrickungen gar nicht an. Sie können keine Fort-schritte machen, wenn sie nicht auch die groben Verstrickungen bearbeiten. Gerade die grobe emotio-nale Verstrickung muss angegangen werden. Es gibt Schleicher unter uns. Sie versuchen, sich an den groben Dingen vorbei zu schleichen, weil die so schwierig sind. Sie meinen, sie könnten sich auf subtile Art und Weise irgendwie in Meditationszustände bringen – was ja auch zum Teil gelingt. Dann werden aber nie diese Hammer-Probleme in ihrem Leben angegangen, die so offenkundig sind. Jedem,

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jedem der uns kennt, springen die ins Auge, nur uns selber nicht. Wir machen unseren spirituellen Seitenweg. Deswegen hatte ich das etwas provozierend gesagt.

Ich habe in diesen vielen Jahren der Betreuung in den Drei-Jahres-Retreats so viele Menschen erlebt, die intensiv praktiziert haben. Es kommt aber nicht immer zu einem Bearbeiten der wichtigen emo-tionalen Dinge. Wir drücken uns davor, weil es ja weh tut. Wir sagen, es ist zu schwer, aber letzten Endes ist es gar nicht so schwer, wie wir uns das immer vormachen. Wir sollten nur den Mut auf-bringen und auch ermutigt werden, dran zu gehen.

Wir knabbern unsere Verstrickungen von allen Seiten an. Dabei arbeiten wir nicht an irgendwelchen abstrakten Verstrickungen. Wir arbeiten immer im Moment. Wir brauchen uns nur mit der Spannung beschäftigen, die wir gerade im Moment erleben. Es geht darum, diese in der jetzigen Situation erlebte Anspannung und Verstrickung in einen gelösteren Rahmen zu bringen. Immer eins nach dem anderen. Ich kann mich doch nicht hinsetzen und sagen: „Ich arbeite jetzt an meiner Verstrickung mit meinem Vater aus der frühen Kindheit!“ Die ist jetzt gerade nicht aktuell. Jetzt sitze ich hier und unterrichte. Ich muss also schauen, wie ich meinen Geist frei und gelöst halten kann, weil in dieser Situation andere Dinge anstehen. Immer kümmern wir uns darum, was gerade im Moment aktiv ist.

Teilnehmerin: Die Verstrickung an den eigenen Körper hat man ja immer mit.

Ja, das ist auch so eine. Das ist so was Fundamentales. Da können wir schon einwirken, indem wir weniger stark reagieren und uns nicht so sehr hineinziehen lassen, eine größere Offenheit entwickeln, etwas mehr Raum entwickeln mit den schmerzhaften Symptomen usw., die ständig auftauchen.

Teilnehmerin: Eine gute Methode ist doch, wenn man sich mit dem Tod beschäftigt und sich vorstellt, dass es jeden Moment sein kann. Da fällt dann vieles sofort weg.

Das ist eine ganz hervorragende Methode, sich aus vielen Verstrickungen zu lösen. Ist aber auch einer der geliebten Fluchtwege von Praktizierenden. Sich dem nicht zu stellen, dem ich mich zu stellen habe, weil ich ja heute oder morgen schon sterben könnte.

Auch dieser wichtige Ausweg aus der Verstrickung – der auch Thema des Kurses sein wird – wird wieder missbraucht, um sich der Verantwortung zu entziehen und die Aufgaben des Jetzt nicht gebüh-rend zu beachten. Wir haben das Gefühl, uns entziehen zu können, weil das einzig Wichtige ja der Tod ist und was dann danach passiert. Darauf richten wir uns aus. Und dann leben wir aber unter Umstän-den doch noch 40 Jahre weiter, aber immer mit dem Gefühl gleich sterben zu können. Wir kümmern uns nicht um das, was eigentlich ansteht, z.B. Familienbeziehungen – Kinder, Eltern, Geschwister, mit denen wir verkracht sind, was auch immer. Eigentlich sollte ja das Gewahrsein des möglichen Todes bewirken, dass wir uns sofort den größten Verstrickungen und den größten Aufgaben zuwenden und alles auflösen. Dass wir eine Energie freisetzen, die viel größer ist als sonst, um allen Verantwortun-gen gerecht werden zu können, um allem Rede und Antwort stehen zu können. Diese Energie ist freizusetzen. Das hast du sicherlich gemeint, aber ich wollte auch auf den anderen Aspekt hinweisen. Es ist mir im Unterrichten absolut ein Anliegen, immer auf die Fallstricke hinzuweisen, dort wo sich die Praktizierenden selber nicht auf die Schliche kommen.

Das war doch auch eine Methode der Kadampa-Meister. Das muss schon was Gutes an sich haben.

Das ist auch eine der hervorragendsten Methoden aller Meister angefangen von Buddha Shakyamuni. Deswegen haben wir auch heute Morgen über Vergänglichkeit meditiert. Das ist eine der wichtigsten Methoden überhaupt, aber wie alles andere – ihr wollt es vielleicht nicht glauben – kann sie miss-braucht werden. Um sich nicht dem Leben zu stellen, kann die Meditation auf den Tod auch miss-braucht werden. Eigentlich sollte sie das Gegenteil bewirken, dass wir uns ganz und gar dem Leben stellen. Das ist eigentlich die Hauptaufgabe der Praxis.

Man sieht die Auswirkungen bei Meditierenden mit jahrelanger Praxis sehr deutlich. Die fortgesetzte missbräuchliche Anwendung so einer Methode führt zu einer abnehmenden Fähigkeit, sich dem Leben stellen zu können. Statt sich mitten in eine schwierige Situation hinein zu begeben, stellt man sich lieber irgendwo mit einem Caravan in den Wald. Man geht raus aus der Situation. Man lebt aber doch Jahre weiter, und es hat dann trotzdem noch den Bruder, die Schwester, die Eltern und die Kinder, mit denen man unter Umständen in Konflikt lebt. Das ist schon spannend anzuschauen, wie sich über 20,

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30 Jahre hinweg aufgrund bestimmter Unterweisungen Lebensläufe entwickeln, wenn diese Unterwei-sungen ein wenig verkehrt aufgefasst werden.

Teilnehmerin: Gerade in Verbindung mit diesen Gedanken an die Vergänglichkeit empfinde ich es so, dass dieser Gedanke an sich ja so ein schrittweises Vertiefen ist. Und wenn du jetzt sagst, dass das auch ein Fluchtweg sein kann, dann empfinde ich das so, dass ich doch noch gar nicht so weit bin. Wenn das jetzt wirklich nachvollziehbar wäre, dann würde es auch dementsprechend was ändern. Aber es ist immer nur so ein Hingehen zur Vergänglichkeit, und es ist noch gar nicht so absolut da.

Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wenn wir einfach bei dem Thema bleiben, das Gewahr-sein auszuweiten – das ist ja dein und unser aller Anliegen –, dann dient die Unterweisung über Vergänglichkeit und Tod eigentlich dazu, unser Gewahrsein in diesen Bereich des Wandels, der jeder-zeit stattfindet, und auf alles auszudehnen. Das können wir, dazu ist jeder bereit.

Die Meditation über den Tod dient nicht dazu, uns von irgendetwas zu überzeugen, sondern nur dazu, dass wir gewahr werden, dass es ja doch leicht passieren kann, dass dieses Leben mal zu Ende geht. Dass wir also das, was wir aus unserem Gewahrsein hinaus geschoben haben, wieder reinlassen, nämlich die Zerbrechlichkeit unserer menschlichen Existenz. Dass wir uns dessen wieder bewusst werden.

So können wir jegliche Übung im Dharma als ein Ausweiten des Gewahrseins verstehen. Da, wo wir uns der Vergänglichkeit nicht bewusst sind, werden wir gewahr, wie sich alles wandelt, wie sehr alles der Vergänglichkeit anfällt. Da, wo wir den Tod nicht wahr haben wollen, werden wir uns gewahr wie omni-präsent er ist. Und wenn jemand in der Todesfixierung wäre, dann würden wir das Gewahrsein ausdehnen in den anderen Bereich, dass ja doch alles lebt, und dass es sich verändern kann, nur weil es lebt. Immer geht es darum, ein eingeengtes Gewahrsein auszudehnen.

Wenn jemand in einer verzweifelten Lebenssituation ist, dann werden wir nicht das Gewahrsein aus-dehnen in Richtung darauf, wie furchtbar es ist zu sterben. Wir werden das Gewahrsein ausdehnen in den Bereich hinein, wo die Frische des jetzigen Erlebens spürbar wird, wo die Sinne wieder aktiv werden. Wir bemerken, dass wir ja noch gar nicht gestorben sind, obwohl wir das schon so fühlen. Es geht immer darum, das Gewahrsein in die Bereiche hinein auszuweiten, die vernachlässigt worden sind. So kommen wir durch den buddhistischen Weg zu einem ausgewogenen, umfassenden Gewahr-sein.

Und da die meisten Vergänglichkeit und Tod weg schieben, ist das so eine wichtige Unterweisung geworden. Aber für diejenigen, die in einer exzessiven Betrachtung von Vergänglichkeit und Tod landen, muss man einmal über Stabilität sprechen. Über Ursache und Wirkung und dass sich vieles immer wiederholt und dass es sehr stabile, sehr fixe Formen von Ursache-Wirkungs-Ketten gibt, aus denen wir gar nicht ohne weiteres aussteigen können. Dafür wären wieder andere Aspekte gut, z.B. das Entstehen in Abhängigkeit.

Teilnehmer: Ist man sich in der Frische des Augenblicks der Vergänglichkeit bewusst?

In der Frische des Augenblicks, im direkten Erleben brauchen wir nicht extra noch auf Wandel usw. hinzuweisen. Das ist dann einfach klar.

Teilnehmerin: Wie merke ich denn, ob ich einem gravierenden Problem ausweiche? Wie gehe ich damit um? Ich merke ja auch, wenn sich die Dinge zum Positiven verändern, aber es kann ja auch sein, dass es Dinge gibt, die ich nach wie vor nicht wahrhaben möchte.

Ich weiß nicht, wie du es merkst. Ich merke das an so einem Zucken im Inneren. Irgendwo wird es ein bisschen brenzlig, es kommt eine stärkere Emotion im Zusammensein mit jemand anderem, oder irgendeine Situation ist ein bisschen knifflig. Und ich hab dann ganz schnell anderes zu tun und tue es mit einer riesigen Freude. Dem gilt es auf die Spur zu kommen. Das ist Inhalt der Praxis des Tschöd, wo Machikma wirklich den Fokus ganz darauf gelegt hat, dorthin zu gehen, wo es schwierig wird. Es geht um diese Grundhaltung, sich dem, wo man eine Hemmung spürt oder ein Zurückhalten, ein Aus-weichen-Wollen, zu stellen und da hinzugehen. So kannst du es vielleicht sehen. In meinem Erleben ist das so. Ich kann dir sonst keine äußeren Kriterien geben. Natürlich kann man die Liste aller Lebensbereiche durchgehen, aber im Grunde genommen geht es um diese emotionale Reaktion des

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Ausweichen-Wollens, wenn mir etwas unangenehm wird oder wenn mir ein Mensch unangenehm wird.

Es heißt aber auch nicht, dann darauf loszustürmen, sondern einfach nur mit Gewahrsein in die Situa-tion hinein zu gehen.

Teilnehmer: Zu diesem Missbrauch. Das ist ja die Verantwortung des Lehrers, oder?

Das kannst du wohl sagen. Es braucht beide, Lehrer und Schüler. Beide müssen intelligent zur Sache gehen. Beide müssen sehr bewusst sein über die Auswirkungen von bestimmten Ratschlägen, Hinwei-sen, Übungen, Haltungen. Die Schüler müssen selbstverantwortlich und kritisch bleiben und die Lehrer müssen auch sehr verantwortlich damit umgehen.

Es ist eine große Herausforderung, so einen Text oder überhaupt irgendetwas Traditionelles zu unter-richten, weil eine innere Übersetzung stattfinden muss. Wir haben ein etwas anderes Publikum vor uns als damals – wann auch immer das damals war – von dem wir den Kontext nicht kennen.

Aber um noch einmal auf Tod und Vergänglichkeit zurück zu kommen: Die Kontemplation darauf hat auf die allermeisten eine hervorragende, gute Auswirkung. Aber eben nicht auf alle und nicht in jeder Situation

Karmapa setzt fort:

[2.2] Nachdem ich mich hiermit vor meinem Guru und seiner Linie verbeugt habe, werde ich nun als Inspiration für Schüler, die nach Befreiung streben, ein wenig über den Einen Weg schreiben, den alle Buddhas gegangen sind: Mahamudra (das Große Siegel), das innerste Herz des Vajrayana.

Der Eine Weg, den alle Buddhas gegangen sind bedeutet, dass alle Buddhas Mahamudra praktiziert haben. Damit ist Gewahrsein gemeint, das Gewahr-Sein dessen, wie die Dinge sind. Das Gewahrsein der Natur aller Dinge und natürlich auch das Gewahrsein der Erscheinungsweise aller Dinge.

Wenn Karmapa so etwas schreibt, dann ist er sich völlig bewusst, dass dieser Ausdruck der Eine Weg – Ekayana – auch in einem anderen Zusammenhang benutzt wurde, er hat diesen Begriff nicht neu erfunden. Er bezieht sich damit auf die Gewahrseins-Praxis, die z.B. auch im vierfachen Kultivieren von Achtsamkeit im Satipatthana-Sutra beschrieben wird. Er stellt damit die Mahamudra-Praxis an den Ort, wo sie hingehört. Sie ist Gewahrseinspraxis – die Praxis des Gewahrseins der Natur aller Dinge –, und ohne das Gewahrsein der Natur aller Dinge, allen Erlebens, gibt es keinen Buddha. Darum sind alle Buddhas diesen Weg gegangen.

Dann beschreibt Karmapa Mahamudra als das innerste Herz des Vajrayana. Yana, das Fahrzeug, der Weg des vajragleichen Gewahrseins. Vajra heißt nicht wirklich Diamant. Das ist ein Irrtum. Vajra ist der Donnerkeil, das Zepter von Indra, mit dem der Gott Indra aus dem indischen Mythos in der Lage ist, den gesamten Planeten zu spalten, wenn er das möchte. In dem Sinn ist der Vajra diamantähnlich, hat aber eine ganz andere Bedeutung. Ein Diamant kann ja auch kaputt gehen. Vajra bedeutet wirklich unzerstörbar, eine Kraft, die alles andere übertrifft. Das ist mit Vajra gemeint, deswegen ist dieser Begriff schwer zu übersetzen.

Vajra ist in der indischen Mythologie das Zepter, mit dem Indra den Berg Meru, den Zentralberg des Universums spalten könnte. Es ist das stärkste Symbol überhaupt, das die indische Mythologie zur Verfügung stellt. Das hat nichts mit Steinen, Diamanten und dergleichen zu tun.

Unser Geist, unser Gewahrsein wird mit dem Vajra verglichen, weil dieses Gewahrsein alle Illusion, alle Täuschung durchtrennen kann, spalten kann, auflösen kann. Genauso wie auf der mythologischen Ebene das Zepter von Indra den Berg Meru spalten kann. Gemeint ist also hier die Kraft des vajra-gleichen Gewahrseins, jegliche Illusion, jegliche Täuschung zu zerstören.

Vajrayana ist der Weg des Eintretens in dieses Gewahrsein, das mit aller Täuschung aufräumt und benutzt Methoden, die möglichst schnellen Zugang zu diesem durchdringenden Gewahrsein schaffen. Vajrayana wird also nicht über die Methoden definiert sondern Vajrayana ist das Einsetzen des

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Gewahrseins der Buddhas. Nur das Gewahrsein der Buddhas ist ein voll entwickeltes Vajra-Gewahr-sein. Die Buddhas treten durch den Vajra-Samadhi in dieses Vajra-Gewahrsein ein.

Buddha Shakyamuni wurde in seiner letzten Meditation unter dem Bodhibaum durch die Versuchun-gen Maras noch einmal voll herausgefordert. Die Maras versuchten, ihn auf die eine oder andere Art und Weise in Verstrickungen hineinzuziehen. Verstrickung in Sinnesbegierden, Verstrickung in Stolz, Verstrickung in Angst, sie versuchten mit allen Mitteln, ihn noch einmal aus der Frische des Augen-blicks, aus der totalen Offenheit herauszuholen.

Der Vajra-Samadhi ist vollkommen unstörbar durch solche verstrickenden Kräfte. Und der Vajrayana ist der Weg, auf dem wir uns auf dieses Vajra-Gewahrsein eines Buddha beziehen und dieses Gewahr-sein zum Weg machen. Deshalb ist das Hauptmerkmal der Methoden, sich selbst als Buddha zu visualisieren mit all dem, was wir vom Vajra-Gewahrsein erahnen können, in die Situation hineinzu-gehen, die Situation zu leben. Zunächst einmal auf dem Kissen, aber dann auch in der Aktivität. Das ist Vajrayana.

Vajrayana ist das Andocken an das Vajra-Gewahrsein, das die eigentliche Natur unseres Geistes ist, und dann möglichst schnell und intensiv darin aufzugehen, was den Weg dann tatsächlich abkürzt, weil wir uns nicht so stark auf die Zweifel einlassen. Weil wir immer wieder in dieses Vertrauen hineinfinden, tatsächlich dieselbe Geistesnatur zu besitzen wie alle anderen Buddhas auch. Das ist der Vajra-Weg.

Was ist der Kern dieses Vajra-Gewahrseins? Was ist es eigentlich? Es ist identisch mit dem Mahamudra-Gewahrsein. Das sind Synonyme, Vajra-Gewahrsein und Mahamudra-Gewahrsein sind eins. Und wenn wir uns in der Yidam-Praxis selber als Buddha-Aspekt visualisieren, so praktizieren wir das Mahamudra-Gewahrsein, das Vajra-Gewahrsein aller Buddhas. Deswegen spricht Karmapa hier davon, dass es das innerste Herz des Vajrayana ist. Er schreibt dieses Werk ja als Vajrayana-Meister, als Meister dieses Weges, der sich dieser Methoden bedient, um im Vajra-Gewahrsein der Buddhas zu atmen. Und es ist ihm ein Anliegen, zu sagen: „Das, was ich euch hier darstelle, ist der Eine Weg aller Buddhas, es ist das Mahamudra, und es ist das innerste Herz aller Vajrayana-Unter-weisungen, das Vajrayana überhaupt.“

Wir nennen es auch Essenz-Mahamudra. Es gibt Sutra-Mahamudra, Tantra-Mahamudra und Essenz-Mahamudra. Damit ist dieser essentielle Zugang in das Gewahrsein, das völlig befreit, gemeint.

Teilnehmer: Wenn ich in der Frische des Augenblicks wäre, dann gäbe es keine Zukunft und keine Vergangenheit mehr. Dann dürfte es aber auch keine Phänomene geben, weil Phänomene entstehen, sobald ich anfange, aus dem Erleben herauszugehen.

Ja, das hast du richtig formuliert. Soweit dich die Sprache tragen kann, stimmt das, was du sagst. Da ist dann kein jemand mehr, der in der Frische des Augenblicks ist.

Sobald ich über etwas nachdenke, bin ich nicht mehr in der Frische des Augenblicks.

Genau, da ist keine Trennung mehr. Das frische, gelöste Sein, nicht getrennt von was auch immer unser Erleben ausmacht, das ist Mahamudra.

Das heißt, es taucht was auf, und es löst sich in sich selber auf. Und die vier Maras, das wäre ja die Verlockung, wieder ins Denken zu kommen.

Die Maras, die Gegenkräfte des Erwachens, versuchen uns aus dieser gelösten Frische herauszuholen in ein verstricktes Kämpfen und Wollen.

Dann gibt’s keine Nase, kein Auge, kein Ohr, keine Zunge, …

Ja, dann kannst du das Herzsutra spontan sprechen.

Auch da stellen wir uns nicht vor, dass es tatsächlich keine Nase und Zunge usw. gibt. Das ist nicht gemeint, sondern es gibt keine Wahrnehmung von einer getrennten Nase, es gibt nur das direkte Erle-ben.

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Dieser Herzensnektar aller Buddhas der drei Zeiten wurde von einem Ohr zum nächsten münd-lich weitergegeben, in einer Linie von Buddha [Shakyamuni] bis hin zu meinem Wurzel-Guru. Die ungeschmälerte Segenswärme dieser Schlüsselunterweisungen macht es möglich, in einem einzigen Leben die Einheit, die außergewöhnliche Verwirklichung des Vajradhara, zu erlangen.

Es ist ja bekannt, dass die spirituellen Lehren zur Zeit Buddhas in allen Traditionen mündlich weiter gegeben wurden. Das war nicht nur bei den buddhistischen Traditionen, es war bei allen so. Die Brahmanen hatten schon einige Schriften zur Verfügung – die Veden –, aber ansonsten wurde nicht viel aufgeschrieben. Diese mündliche Tradition hat sich auch fortgesetzt, als der Umfang der Unter-weisungen zunahm und einiges aufgeschrieben wurde. Das Wesentliche wurde immer mündlich gege-ben. Zum Teil wurde es aufgeschrieben, zum Teil nicht, aber diese mündliche Übertragung hat sich fortgesetzt bis heute.

Karmapa Wangtchuk Dorje schreibt aus dieser mündlichen Übertragung heraus und spricht hier davon, dass Segenswärme, Inspiration, die wie etwas Nährendes in uns erfahren wird, von diesen Unterweisungen ausgeht, und dass sie in der Lage ist, etwas in uns zu öffnen. Es sind Schlüsselunter-weisungen, wichtige Unterweisungen, wo ein Satz so Wesentliches klären kann, so Wesentliches in uns enthüllen kann, dass wir es als tiefen Segen erleben, mit diesen Unterweisungen in Berührung zu kommen.

Und wenn es uns tatsächlich möglich ist, Schlüsselunterweisungen zum eigenen Geist zu bekommen und sie umzusetzen, dann vollzieht sich der Weg so schnell wie es uns eben möglich ist. Wir können immer wieder zu den Lehrern gehen und weitere Unterweisungen erhalten, die die nächsten Schritte erleichtern. Bei jemand sehr Qualifiziertem, sehr Engagiertem ist es auch möglich, in einem einzigen Leben bis zur Verwirklichung eines Buddha zu kommen. Vajradhara – Dorje Tschang – steht hier für die Verwirklichung eines vollkommen Erwachten.

So war es auch bei Milarepa oder ähnlichen großen Meistern, wie uns die Lebensgeschichten erzählen, auch bei Gendün Rinpoche.

Ist Verwirklichung in einem Leben möglich?

Teilnehmerin: Diese Aussage, dass das in einem Leben passieren kann, hab ich nie richtig verstanden. Es sind doch ganz viele Leben vorausgegangen, wo sehr viel an Verdienst, Weisheit und Mitgefühl angesammelt worden ist. Wenn dann diese Verwirklichung stattfindet, dann kann sie ja nur in diesem Leben, in einem Moment stattfinden. Warum wird das immer so betont?

Gut, dass du das jetzt ansprichst. Diese Aussage hat schon immer zu Verwirrung geführt. Erst einmal ist klar: Das Leben, in dem Erleuchtung erlangt wird, ist immer das eine Leben, in dem Erleuchtung stattgefunden hat. Da kann man immer sagen, es ist in einem einzigen Leben passiert. Es gehen für jeden offenbar viele Leben voraus, in denen er schon praktiziert hat.

Diese Aussage meint, dass z.B. ein Erwachsener, der die ersten Instruktionen zur Arbeit mit dem eigenen Geist bekommt, zum Zeitpunkt des Empfangens dieser Instruktionen noch nicht auf einer der Stufen des Erwachens ist, sondern dass er – egal welche Arbeit in den Vorleben geleistet wurde – noch in einem unerwachten Zustand ist. Wenn es dann dank dieser Instruktionen möglich ist, all die Phasen des Erwachens zu durchlaufen, und den Geist zu enthüllen bis sich noch in diesem selben Leben das vollkommene Erwachen einstellt, das ist eigentlich damit gemeint. Dass wir zu Beginn des Weges in diesem Leben noch gewöhnliche, verschleierte Lebewesen sind, aber zum Ende dieses Lebens voll erwacht. Und das bezieht nicht mit ein, welche Vorarbeit schon geleistet wurde.

Beispiele dafür sind Praktizierende wie Milarepa, von denen man einerseits weiß, dass sie in früheren Leben ganz viel praktiziert haben, und andererseits sich in diesem Leben wieder total verstrickt haben, aber dann den Weg aus dieser Verstrickung heraus gefunden haben. Es bezieht sich also nicht auf die Vorarbeit. Es heißt, wir können in diesem Leben unter allergünstigsten Voraussetzungen aus völliger Verstrickung in völlige Freiheit finden. Eigentlich ist das die Aussage. Wir brauchen nicht immer an spätere Leben zu denken. Wir können uns ganz darauf ausrichten, in diesem Leben alles aufzulösen, aufzuarbeiten.

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Wenn wir merken, dass wir nicht ganz die Energie eines Milarepa aufbringen, dann wird es eben so weit es geht in diesem Leben gehen und dann geht es hoffentlich nächstes Mal aus erneuter Ver-strickung wieder ein bisschen weiter.

Höllenbereiche als pädagogisches Mittel?

Teilnehmerin: In manchen Texten wird ja mit den Höllenbereichen oder den anderen niederen Bereichen gedroht, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir dort wiedergeboren werden. Ich denke lieber, dass ich mache, was ich kann, und hoffe, dass ich im nächsten Leben wieder unter einigermaßen günstigen Umständen ein Mensch bin und den Dharma praktizieren kann. Aber wenn man das liest, dann fühlt man sich im ersten Moment motiviert, alles entsprechend auszurichten und nicht mehr den weltlichen Dingen nachzulaufen. Dann kommt aber bald der zweite Gedanke: Das schaffe ich ja nicht! Warum schreiben die Meister von diesen Bereichen?

Ja, ich kenn diese Wahrscheinlichkeiten auch nicht genau.

Ja, aber dann hättest du auch im Kloster bleiben sollen und nur praktizieren und nicht eine Beziehung eingehen.

Es kommt darauf an, wie wir mit der Meditation umgehen, welche Kräfte in uns aktiv werden. Um das Thema von Höllen und Hungergeistern zu verstehen, kannst du ja deine Kenntnis des menschlichen Geistes nutzen. Du kannst die Tendenzen für Verstrickungen erkennen. Und wenn wir im Moment des Todes nicht mehr diesen Körper zur Verfügung haben, sondern im Bardo einen sehr aktiven Geist haben, kann es durchaus leicht sein, dass – wenn starke Begierden oder starke Antipathien, also Hassgefühle, Aggressionen in uns dominieren – wir uns in dergleichen Alpträume verstricken. Das kann ziemlich leicht passieren. Das kennen wir ja aus dem Leben. In der Nacht passiert es uns ja auch.

Jetzt stell dir vor, der Geist ist so aktiv wie in der Nacht. Der Geist im Bardo wird verglichen mit dem Geist im Traum. Er hat ungefähr dieselbe Geschwindigkeit, dieselbe Intensität, alle Sinneswahrneh-mungen sind aktiv. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns aus einem Alptraum – falls er beginnt und sich verfestigt – noch lösen können, um in eine andere Sicht der Dinge hinein zu finden? Das erfordert schon ziemlich viel Übung. Das ist der Grund, dass uns die Meister so vor diesen Ab-gründen warnen. Es braucht einen Geist, der ganz stabil im Heilsamen verankert ist, um solche Szenarien zu vermeiden oder sich sogar daraus lösen zu können, falls sie sich einstellen. Ich verstehe das Thema immer so und nicht als Angstpädagogik. Es geht darum, wie stabil der Geist im Heilsamen oder in der Schau der Natur der Dinge verankert ist, und ob es uns gelingt, immer wieder in diese offenen, heilsamen Geisteszustände hinein zu finden. Darum geht es eigentlich.

Den Rest überlasse ich dann dir und euch. Da hat meine persönliche Geschichte gar nicht viel damit zu tun. Ich hab sogar das Gefühl, jetzt, wo mir jemand so nahe tritt, noch größeren Herausforderungen zu begegnen als im Kloster, und dass meine Herzenskräfte vielleicht noch stärker geschult werden. Aber das ist meine persönliche Einschätzung. Vielleicht bin ich auch auf dem Holzweg. Das Kloster ist auch nicht unbedingt der Ort, an dem das Gewahrsein am stärksten geschult wird. Es kann für lange Zeit so ein Ort sein, es kann aber auch ein Ort sein, an dem es zu einem Sich-zur-Ruhe-Setzen kommt, wo man sich in seinen Mustern einrichtet, die gar nicht mehr herausgefordert werden. Das muss jeder für sich selber sehen.

Die niederen Bereiche als pädagogisches Mittel einzusetzen, ist natürlich nicht so brillant. Wir wissen, dass Angstpädagogik auf die Dauer nicht so hilfreich ist wie eine positive Motivation. Aber so ganz darauf verzichten, die Wahrheit auszusprechen und auf diese echten Gefahren hinzuweisen, können wir auch wieder nicht. Wir sollten es vielleicht nicht als hauptsächliches Mittel einsetzen. Manche tibetische Lehrer der Vergangenheit – das passiert heute kaum noch – haben sehr viel über diese Angst machende Pädagogik gearbeitet. Die konnten sieben Tage am Stück damit verbringen, nur über die Höllenbereiche und die Wesen, die dort wiedergeboren werden, zu sprechen.

Freude als pädagogisches Mittel Besser ist es, sich die Qualitäten des Gewahrseins klar zu machen, und ich glaube, das ist auch genau das, was Buddha Shakyamuni gemeint hat, wenn er z.B. im Anapanasati-Sutra an drei Stellen davon spricht, sich der Freude und des Glücks bewusst zu werden, die durch das Entwickeln von Gewahrsein freigesetzt werden. Wenn wir das als unsere Hauptmotivation nehmen können, dass wir uns klar

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machen und uns immer wieder daran erinnern, wie schön das ist, im frischen, offenen Gewahrsein zu sein, dann wird uns das eine hoffentlich hinreichende Motivation sein, in die Praxis zu finden.

Von den sieben Erleuchtungsfaktoren, die der Buddha angesprochen hat, ist Freude der vierte Faktor. Freude steht in der Mitte dieser sieben Glieder und hat eine ganz zentrale Funktion. Der Pali-Ausdruck für Freude ist piti, im Tibetischen heißt es deva. Es ist die Freude am Erleben des sich öffnenden Geistes. Wenn der Geist beginnt, sich zu öffnen, zu entspannen, entsteht immer Freude.

Gendün Rinpoche hat als Lehrer immer mit dieser Freude gearbeitet. Er hat immer wieder diese Freude in den Vordergrund gestellt. Wir haben deswegen für das Video über Gendün Rinpoche ganz bewusst einen Vortrag ausgewählt, in dem er genau über diese Freude spricht. Das war seine Kern-unterweisung – mit der Freude in immer größere Freude zu finden.

Ich hab diese Freude heute Morgen in der Meditation auch kurz angesprochen, dieses Wohlgefühl zu spüren, und sich seiner zu bedienen, um noch weiter loszulassen, noch weiter zu entspannen. Das ist ein wunderbarer Weg. Wenn ich spüre, welche Freude Freigebigkeit freisetzt, dann habe ich nur noch Lust, freigebig zu sein. Es macht freudig, heilsam zu handeln, Geduld zu üben, mit Freude ans Werk zu gehen, auch wenn es schwierige Aufgaben sind. Meditative Stabilität setzt Freude frei und es macht froh, Dinge zu verstehen, zu durchdringen, also Weisheit zu entwickeln. Freude ist eigentlich der stärkste Faktor auf unserem Weg, weit stärker als die Angst vor möglichen Konsequenzen des man-gelnden Gewahrseins.

Diese Freude ist viel befreiender als wenn ich aus Angst praktiziere, denn die Angst hat einen ver-engenden Anteil. Angst bewirkt ja auch, dass wir uns zusammenziehen, wir machen zwar Anstrengun-gen, sind aber verspannt. Angst ist gut, um mit einer Situation abzuschließen: „Hey! So will ich nicht handeln, das darf nicht weitergehen! Das ist viel zu gefährlich. Damit muss ich aufhören!“ Die Weis-heit, die zur Furcht vor den Folgen unheilsamer Handlungen führt, hilft uns damit aufzuräumen, sie sein zu lassen. Aber dann braucht es eine noch viel stärkere positive Kraft, um die dann frei werden-den Energien auszurichten. Da ist die Freude am wachen, offenen Geist einfach das stärkste.

Teilnehmer: Lodjong, Paragraph 21!

Danke!

Meditation Spürt jetzt die Freude, aus dem begrifflichen Denken auszusteigen. Ihr könnt euch entspannen und braucht nichts mehr aufzunehmen. Wir nehmen diese Erleichterung als Eintritt in die Meditation. – Das ist begleitet von einer körperlichen Entspannung. Wir entspannen, weil wir nicht mehr zuhören. Der Geist löst sich. – Die Augen, die Ohren, alle Sinne entspannen sich. – Es entsteht eine gewisse Freude am einfachen Sein, am Sosein. –

* * *

[3.1] Wenn die Erklärungen der ungebrochenen Tradition der kostbaren Kagyü-Linie folgen, dann bestehen diese aus drei Teilen: Vorbereitungen, Hauptpraxis und abschließende Bemer-kungen.

In Bezug auf die Mahamudra-Praxis gibt es Vorbereitungen, dann die eigentliche Praxis – vorwiegend stille Meditation – und abschließend gibt Karmapa Bemerkungen zum Weg der Mahamudra-Praxis.

Was nun die Vorbereitungen angeht, das Ngöndro, so geht Karmapa einen etwas anderen Weg. Er beschreibt zunächst die vier Ngöndros – Zuflucht und Bodhicitta, Vajrasattva-Praxis, Mandala-Opfe-rungen und Guru-Yoga – und dann die vier allgemeinen Ngöndros – Kostbarkeit der menschlichen Existenz, Vergänglichkeit, Karma und Nachteile des Daseinskreislaufes. Das ist eine andere Reihen-folge.

Wir werden uns diesen Vorbereitungen stellen müssen, das gehört mit dazu. Ich möchte gerne heraus-arbeiten, um was es da eigentlich geht, wie das mit der Gewahrseins-Praxis zusammenhängt.

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Erster Teil: Die Vorbereitungen

1. Klare Ausrichtung und Hervorbringen vom Geist des Erwachens Eine ‚sichere Richtung einschlagen’ ist eine genauere wörtliche Übersetzung von kyab su drowa, was immer mit Zuflucht-Nehmen übersetzt wird. Drowa heißt gehen, su deutet die Richtung an. Wir gehen in die Richtung von kyab, einem sicheren Ort. Kyab ist ein Schutzort, normalerweise als Zuflucht übersetzt. Es ist eine sichere Richtung, kyab su drowa stellt eine Bewegung dar. Diese Bewegung ist nicht abgeschlossen, sie vollzieht sich ständig. Deswegen werde ich euch das jetzt antun, den Begriff der Zuflucht durch einen längeren Ausdruck zu ersetzten: eine sichere Richtung einschlagen. Das hat viel mehr mit uns zu tun.

Wir nehmen oder empfangen die Zuflucht ein Mal, zu Beginn der Sitzung dann noch einmal, und da-mit ist es dann abgehakt. Aber eigentlich geht es darum zu wissen, was unser Lebenssinn ist. Das ist der eigentliche Punkt. Worum geht es mir in diesem Leben und für die Zukunft, über dieses Leben hinaus? Wenn wir einem Freund, einer Freundin begegnen, die nicht wissen, warum sie eigentlich leben, dann ist das eine Frage der Zuflucht. Sie haben keine klare Richtung im Leben.

Ich hab mit euch ja schon häufiger solche Übungen gemacht, auch hier in Möhra, aber viel in Frei-burg. Es geht darum, dass wir uns klar werden, was denn unsere innere Ausrichtung ist. Und ohne das gibt es kein Mahamudra. Das geht nicht, wir müssen uns völlig klar darüber sein, wohin wir mit unse-rem Leben, mit unserer Praxis wollen, sonst werden wir nie Mahamudra verwirklichen. Ohne klare Ausrichtung praktizieren wir einmal so, dann wieder so, ein bisschen Gewahrsein, dann ziehen wir uns wieder einen rein und lenken uns ab, dann machen wir wieder einmal ein bisschen Gewahrseinspraxis. Das ist einfach nicht genau ausgerichtet, wir gehen einmal vorwärts, dann wieder rückwärts, rechts und links. Kyab su drowa ist eine geradlinige Entwicklung. Wer immer in der Zuflucht bleibt, bleibt immer mit seinem Lebenssinn verbunden und entwickelt sich dementsprechend innerlich geradlinig in diese Richtung – dort hin, was tatsächlich sicher ist. Äußerlich mag das Leben ganz schön viele Kurven aufweisen, aber innerlich ist die Zuflucht wie ein ganz klarer Kompass. Unser Kompass ist eingenordet, ist klar, wir wissen, wo wir hinwollen.

Übung: Qualitäten der Erleuchtung Jetzt bitte ich euch, ein Blatt Papier zu nehmen und aufzuschreiben, wo ihr eigentlich hin wollt. Schaut! Im spirituellen Sinne, im tiefen inneren Sinne: Was ist die Ausrichtung meines Lebens? Kyab bedeutet: „Wo möchte ich eigentlich hin?“ Wo möchte ich ankommen am Ende dieses Lebens, wo möchte ich eigentlich hin?

Als kleine Hilfestellung: Schreibt es als Qualitäten auf. Welche Qualitäten sind es eigentlich, die mich inspirieren, in Richtung derer ich mich ausrichten möchte? Alles andere macht nicht viel Sinn. Wenn ihr ‚Erleuchtung’ schreibt, das lass ich nicht durchgehen. Das müsst ihr näher mit Qualitäten versehen. Was sind denn die Qualitäten eurer Erleuchtung, die euch inspirieren? Welche sind es denn, die ihr tat-sächlich vorrangig freisetzen möchtet? Der Weg ins Erwachen ist ja nicht ein Weg, den wir für andere gehen und wo uns andere sagen, was wir da zu entwickeln haben. Wir gehen unseren spirituellen Weg und wir müssen selber unsere Zuflucht finden.

Teilnehmer: Ich versteh glaub ich das Wort Qualität nicht ganz. Mir fällt da Freigebigkeit ein, aber eigentlich ist es für mich so was wie da sein, aber das zählt ja nicht als Qualität.

Dann schrieb es so auf. Da sein, da schwingt was mit von einfach, einfach da sein. Da schwingt was mit von frei sein, unkompliziert. Schreib es vielleicht mit Adjektiven auf, vielleicht bist du damit noch näher dran an dem, was du spürst. Lass es einfach raus fließen, in welche Richtung du jeden Tag gehen möchtest, was deine innere Ausrichtung ist. – Es ist ganz geheim und privat, was ihr jetzt aufschreibt.

Teilnehmer: Kann man auch schreiben, wovon man weg will?

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Ja, das kannst du. Dann teile aber dein Blatt und schreib auf die eine Seite, wovon du weg möchtest, aber betone auch, wo du hin möchtest, als positive Ausrichtung. Du kannst mit dem anfangen, wovon du weg möchtest. Dazu gibt es dann ein Pendant, irgendetwas wird das Gegenstück sein zu dem, wovon du weg willst.

Aber das ist nicht so klar wie das, wovon ich weg will.

Dann lass ich euch jetzt einfach ausreichend Zeit, darüber zu kontemplieren, was denn das Gegenstück wäre zu dieser schwierigen Situation.

Es wäre gut, wenn ihr zehn Eigenschaften aufschreiben könntet. Eine Hilfsfrage könnte sein: Welche Qualitäten inspirieren mich so, dass ich in diesem Leben wirklich die Energie einsetzen möchte, um sie freizulegen? Dass ich ihnen wirklich mein Leben widmen möchte. Es sind Qualitäten, die mit uns selbst und mit unserem eigenen Geist zu tun haben. Und die werden sich natürlich in Beziehung zu anderen Menschen auswirken.

Die Liste mit euren Qualitäten, auf die ihr euch ausrichten möchtet, braucht heute nicht vollständig und endgültig zu sein. Die entwickelt sich im Laufe des Lebens. Das ist hier nur eine Bestandsauf-nahme, es ist die Richtung, in die wir jetzt gerade gehen wollen. Davon wird sich sicherlich einiges unser ganzes Leben hindurch ziehen und anderes wird vielleicht noch ergänzt.

Und jetzt sucht euch hier im Raum einen Menschen aus, dem ihr kurz die Qualitäten erklärt, die euch inspirieren. Sodass ihr sie ausdrückt und jemand anderem ein bisschen erzählt, was euch im Leben inspiriert, was euer Lebenssinn ist. Wer noch in Ruhe verweilen möchte und zu dieser Übung nicht bereit ist, darf einfach sitzen bleiben. Aber die anderen möchte ich sehr motivieren, das zu tun, denn im Aussprechen und nähren Beschreiben der Qualitäten gewinnen sie mehr an Kraft. Dann kann man eventuell auch noch vom anderen inspiriert in seine eigene Liste etwas einfügen und ein bisschen genauer hinspüren, was wir da eigentlich gemeint haben.

Zwei mal 10 Minuten, ich schlage dazwischen den Gong.

Schaut euch eure Liste noch einmal an. Schaut, ob es noch etwas hinzuzufügen gibt. Dann würde mich interessieren, ob noch etwas fehlt. Wenn ihr die Liste anschaut, ist das die Zuflucht? Ist das die Rich-tung, in die euer Weg geht? Was fehlt noch? Muss man noch etwas ergänzen?

Seid ihr zufrieden?

Teilnehmerin: Es geht nicht nur um die Richtung, sondern um das Ziel.

Na ja, Ziel und Richtung gehören zusammen, glaube ich. Sind das Qualitäten des Erwachens, die eure Ausrichtung ausmachen?

Teilnehmerin: Es stellt sich die Frage: „Wer will das?“

Und? Da gehen wir ganz einfach vor. Die Praktizierende, die jetzt gerade sagt: „Dafür macht es Sinn, zu leben.“ So einfach. Und wenn sie sich auf dem Weg in diese Qualitäten hinein verliert und auflöst, ist das nicht tragisch. So einfach können wir das einmal sagen.

Wenn ich z.B. Liebe oder Freigebigkeit auf der Liste stehen habe. Was macht denn aus diesen Qualitäten der Liebe und Freigebigkeit eine erwachte Qualität? – Deine Frage geht in die Richtung.

Teilnehmer: Wenn ich’s nicht mehr tue.

Wenn es nicht mehr ichbezogen ist. All diese Qualitäten, die ihr aufgeschrieben habt, werden automa-tisch zu erwachten Qualitäten, wenn sie nicht mehr aus einer Ichbezogenheit heraus gelebt werden. Das ist es, was noch fehlt. So wie eine Prise Salz. Um es zu einem wirklichen Lebensziel zu machen, das jetzt im Rahmen von Zuflucht seinen Ausdruck finden kann, ist es wichtig, dass sich diese Qualitäten natürlicherweise und spontan manifestieren, ohne von einem Ich gewollt zu werden, ohne diesen Dualismus, also die Spannung zwischen mir und anderen zu verstärken. Dann wird Weisheit z.B. zu einer wirklichen Qualität. Es ist nicht mehr jemand, der etwas weiß, der etwas verstanden hat

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und sich damit brüstet. Die Weisheit fließt dann als natürliches Verstehen in Situationen hinein. Genauso ist es mit der Liebe und mit allen anderen Qualitäten.

Wenn ihr euch diese Qualitäten anschaut, könntet ihr euch vorstellen, dass das die Beschreibung eines oder einer Erwachten ist? Dann lasst uns für fünf Minuten ein kleines Feuerwerk entfachen. Ruft jeweils eine Qualität, die euch inspiriert, in den Raum hinein. Hört dabei immer gut hin, dass ihr euch gegenseitig nicht das Wort abschneidet. Und hört gut auf die anderen. Wir hören so die Qualitäten des Erwachens der ganzen Gruppe. Einer ruft z.B.: „Einfachheit“. Ein anderer macht einfach weiter, aber hört hin. Wenn es nicht klappt, muss ich den Gong zu Hilfe nehmen. Wenn wir ein bisschen rück-sichtsvoll sind, dann könnt ihr einfach deutlich in den Raum hinein sprechen. Dann eine kleine Pause, und der Nächste kann rufen.

Geduld … Gleichmut ... Leichtigkeit … freudvoll sein …Mitfreude … Mut … Lebendigkeit … Warmherzigkeit …ungetrennt sein… innere Stille … Ruhe … Geduld mit mir selbst und mit den anderen … Vertrauen …heitere Gelassenheit … Aufgehen im einen Geschmack …Zufriedenheit im Hier und Jetzt …Freigebigkeit … freudige Anstrengung und Ausdauer …klare Wahrnehmung …Wahrhaftigkeit … Genügsamkeit … Spontaneität … Achtsamkeit … natürlich sein … gelöst sein … Verständnis für andere aufbringen … freundschaftlich sein … Klarsicht … Verstehen … Kontrolle aufgeben … im gegenwärtigen Moment sein … Vertrauen ins Leben … wach sein … Hingabe …Sein … Offenheit … Vereinfachung und Verlangsamung … achtsame Rede … Dynamik

Damit wird deutlicher, was mit Erwachen und Zuflucht eigentlich gemeint ist, die Ausrichtung auf diese Qualitäten, die wir in uns spüren und denen gegenüber wir so etwas wie ein Sehnen verspüren. Wir sehnen uns danach, dass sie sich befreien mögen, dass sie hervorkommen mögen, dass wir sie le-ben können. Dieses innere Streben ist der Motor in unserem Leben. Wenn dieses Gewahrsein, worum es uns eigentlich in diesem Leben und darüber hinaus geht, wach wird, das ist unsere Zuflucht.

Wir sitzen z.B. irgendwo in einer schwierigen Situation – in der Firma, in der Schule, zu Hause in der Beziehung, wo auch immer –, so ist der klassische Rat: „Erinnere dich in jeder Situation an die Zu-flucht – Buddha, Dharma, Sangha.“ Was bedeutet das eigentlich? Das bedeutet, sich an die Qualitäten des Erwachens zu erinnern, an genau das, was eigentlich meine Lebensinspiration oder Lebensmotiva-tion ist. Und dann z.B. in einem Streitgespräch bei diesen Qualitäten zu bleiben und sich immer wie-der auf diese Qualitäten auszurichten, sie nicht aus dem Herzen zu verlieren sondern dran zu bleiben. Dann lenkt unser ständiges Zufluchtnehmen unser Hören, unser Sprechen, unser Fühlen in eine heilsa-me Richtung. Wenn wir so mit der Zuflucht verbunden sind, können Wunder geschehen, weil wir immer wieder die klare Ausrichtung einschlagen. Immer wieder, wenn wieder zurückfallen, angreifen und uns verteidigen. Dann gewinnen Buddha, Dharma, Sangha ihre wahre Bedeutung. Buddha hat diese Qualitäten, Dharma hat diese Qualitäten und Sangha hat diese Qualitäten.

Teilnehmer: Ich habe vorhin was vergessen: Dharma-Belehrungen.

Das ist zwar in sich keine Qualität, aber etwas, worauf du dich ausrichtest. Dass du immer wieder deine Qualitäten nähren kannst durch Dharma-Belehrungen. Die Qualität, die da mitschwingt, ist Inspiration. Immer wieder die Inspiration des Erwachens zu verspüren, dass sie in dir wach wird.

Da wir diese Übung gemacht haben, hat es Sinn, euch vorzulesen, was hier steht. In diesem kurzen Text steht bloß eine Visualisation. Und die ergibt keinen Sinn, wenn sie nicht mit Inhalt gefüllt ist.

[3.2] Die Vorbereitungen beginnen mit dem Einschlagen einer sicheren Richtung (Zuflucht) und dem Hervorbringen der erwachten Geisteshaltung (Bodhicitta). – Im Himmelsraum vor uns vi-sualisieren wir einen wunscherfüllenden Baum, dessen Stamm sich in fünf Äste aufteilt. Auf dem mittleren sind die Meister der Linie, vor ihnen die Meditationsgottheiten, zu ihrer Rechten die Buddhas, hinten die Dharma-Texte und zu ihrer Linken die Mitglieder der Sangha. Jede dieser Gruppen ist von einer Vielzahl ihresgleichen umgeben.

[3.4] Wir selbst stehen [dem Baum gegenüber] zuvorderst als Anführer von allen Lebewesen, unseren früheren Müttern, die uns in Scharen umgeben. Wenn wir nun die Zuflucht (das Ein-schlagen einer sicheren Richtung) sprechen, stellen wir uns vor, wie sie alle mit uns wie ein Chor einstimmen. Wir rezitieren ein beliebiges Zufluchtsgebet, wobei wir daran denken, dass sämt-

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liche Lebewesen unsere Mütter und Väter waren. Mögen sie glücklich sein und frei von Leid und das unübertreffliche Erwachen erlangen. Wir erinnern uns daran, dass wir aus diesem Grund eine klare, sichere Richtung einschlagen und den Geist des Erwachens hervorbringen. Dann rezitieren wir: „Bis zum Erwachen nehme ich Zuflucht zu Buddha, zum Dharma und zur höchsten Gemeinschaft. Möge ich durch die Verdienste der Praxis von Freigebigkeit und der anderen befreienden Qualitäten zum Wohle der Lebewesen Buddhaschaft verwirklichen.“

Anschließend meditieren wir die vier Unermesslichen: „Mögen alle Lebewesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Mögen wir frei von Leid und dessen Ursachen sein. Mö-gen wir nie von der wahren, leidfreien Freude getrennt sein. Mögen wir bei nah und fern frei von Anhaften und Ablehnen in großem Gleichmut verweilen.“ – Schließlich meditieren wir, wie sich die Quellen der Zuflucht in Licht auflösen und mit uns verschmelzen.

Dies ist der erste Punkt: das Reinigen unseres Geistesstroms durch die Meditationen des Ein-schlagens einer sicheren Richtung (Zuflucht) und das Hervorbringen des Geistes des Erwachens (Bodhicitta).

Ihr merkt, dass diese zusammengefassten Instruktionen natürlich mit Inhalt gefüllt werden müssen. Was bewirkt denn das, wenn ich vor mir so einen Zufluchtsbaum visualisiere mit den Ästen, die in die vier Richtungen ausgehen und dem zentralen, wo in der Mitte unser Wurzellama sitzt und die anderen Gurus drum herum? Und davor soll ich jetzt Niederwerfungen machen, 111.000 oder noch mehr.

Was würde denn bewirken, dass diese Praxis tatsächlich transformierend auf mich wirkt? Das wäre, wenn ich mir so oft wie möglich beim Zufluchtnehmen – also beim Verbeugen, Rezitieren der Gebete – meine innere Ausrichtung vergegenwärtige. Dann wird das Zufluchtnehmen zu einer ganz tiefen Verankerung in meinem Geistesstrom.

Um es uns zu übersetzen: Im letzten Dreijahres-Retreat, dem Grundlagen-Retreat, aber auch schon in früheren Generationen, haben es die Praktizierenden so gemacht: Sie haben sich einen Pappkarton genommen und die Qualitäten drauf geschrieben, die sie inspirieren. Die Qualitäten, die ihr auf euren Listen stehen habt. Sie haben den Karton vor sich hin gestellt und ihre Niederwerfungen vor diesen Qualitäten gemacht. Sie haben sich also darauf ausgerichtet und manchmal sogar den Rezitationstext verändert und z.B. gesagt: „Ich verbeuge mich zutiefst vor der erwachten Liebe! Möge sie mich ganz und gar durchdringen und all mein Handeln bestimmen!“, „Ich tauche ein in den tiefen Respekt für alle Lebewesen. Möge Respekt meine Beziehung zu allen Menschen, zu allen Tieren prägen!“

Solche Gebete haben sie gemacht. Das ist ja eigentlich mit Zuflucht gemeint, dass wir an diese Qualitäten anknüpfen und uns ganz tief innerlich darauf ausrichten. Und dann macht es Freude, sich zu verneigen, sich hinzugeben in diese Offenheit hinein, in diese Freigebigkeit, in diese Liebe, sich der Weisheit zu öffnen. Dann kommt Segen. Wenn dann zum Schluss die Quellen der Zuflucht sich in Licht auflösen und mit uns verschmelzen, dann wird es zu einer Erfahrung, dass diese Qualitäten wirklich Einzug halten in unseren Geistesstrom, und dass wir in der Sicherheit ruhen, dass sie in uns verankert sind, dass sie erst einmal stimuliert wurden, aber auch nachhaltig stimuliert wurden, sodass sie in uns aktiv sind. Wenn wir das wieder und wieder ausführen, dann kommen wir in eine tiefe, innere Verbindung mit dem, was unser eigentliches Lebensziel ist, und das Ziel des gesamten spiri-tuellen Weges, das Erwachen selbst.

Wir können darüber diskutieren, ob so ein Baum, der aus einem wunderbaren See aufsteigt mit einem Ufer, an dem alle Lebewesen versammelt sind, die geeignete Visualisation für uns ist. Das lässt sich diskutieren. Das könnte sich vor eurem inneren Auge etwas anders darstellen. Aber was nicht diskutierbar ist: Es braucht eine Ausrichtung auf diese Qualitäten, um den Weg zu gehen.

Es braucht eine Entscheidung, und die muss uns immer wieder klar sein: Da will ich lang, egal was für Schwierigkeiten das Leben mir bringt. Egal wie hart es kommt, daran halte ich fest. Das ist wirklich die Zuflucht, das ist da, wo ich stehe und lebe. Und wo ich sage: „Hier stehe ich. Tut mir Leid, ich kann nicht anders!“ – (Wir sind in Möhra, Luther!)

Diese innere Klarheit ist gemeint, wenn es in den Kommentaren heißt: „Gebe die Zuflucht unter keinen Umständen auf, selbst wenn dir jemand viel Geld, Frauen, Reichtum, Einfluss, Herrschaft und was auch immer anbietet.“ Wir geben die Zuflucht nicht auf aufgrund von Begierde oder Angst. Wenn z.B. jemand sagt: „Wenn du die Zuflucht loslässt, dann hacke ich dir auch keinen Arm ab, schneide

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ich dir keine Finger ab, dann sperr ich dich nicht ein!“, diese Art von Angst ist hier gemeint. Die Zuflucht ist das Wertvollste und Kostbarste, was wir haben.

Diese innere Ausrichtung auf diese Qualitäten sollten wir nie aufgeben. Äußerlich kann man ab-schwören, Buddhist zu sein, aber diesen Qualitäten abzuschwören, das wäre unser eigenes spirituelles Grab. Dann macht das Leben keinen Sinn mehr. Wenn wir uns selber in unserer innersten Ausrichtung auf die Qualitäten untreu, fremd werden, dann haben wir uns selbst verraten. Wir haben dann das Wichtigste verraten, und müssen uns natürlich wieder um Heilung bemühen, wir müssen diese Quali-täten wieder ins Zentrum rücken.

Ich fass noch einmal zusammen: Was uns die Tradition äußerlich mit Zufluchtnahme und Visualisa-tion anbietet, kann man vielleicht ein bisschen anders ausschmücken. Aber innerlich ist daran nicht zu rütteln, denn um in dieses offene Gewahrsein hinein zu finden, was wir Mahamudra nennen, braucht es auf jeden Fall eine klare Ausrichtung. Wir müssen uns immer wieder, in allen Lebenssituationen auf dieses erwachte Gewahrsein ausrichten, das diese Qualitäten hat. Darum ist das hier die erste spirituelle Übung.

Ich selber habe diese Übung der Zuflucht mit den Niederwerfungen mit ungefähr Vierundzwanzig angefangen und hab diese 100.000 mehrfach ausgeführt. Vorher hatte ich nur stille Meditation prak-tiziert. Wesentlich ist, dass vor uns die Buddhaschaft erfahrbar wird. Wenn wir Gebete machen und die Niederwerfungen ausführen, ist wichtig, dass Buddha Dorje Tschang – Vajradhara – oder Karmapa oder Buddha Shakyamuni – wer auch immer für uns im Zentrum der Visualisation ist – für uns eine ausreichende Kraft besitzt. Wir müssen sie mit diesen Qualitäten füllen, damit sie für uns tatsächlich stellvertretend für diese Qualitäten stehen.

Wenn wir Vajradhara mit seinen Ornamenten betrachten, so stehen alle Attribute, alle Details der Darstellung für die Qualitäten des Erwachens. Die Schmuckstücke sind Ausdruck der Qualitäten des Erwachens, die für die sechs erwachten Qualitäten, die Paramitas stehen. Das Blau seines Körpers steht für den Dharmakaya, für den völlig offenen Geist jenseits aller Dualität. Die Strahlkraft steht für die Dynamik, die Lebendigkeit des Geistes, die im Vajrasitz gekreuzten Beine für die völlige Unbeirr-barkeit der Verwirklichung, den Vajra-Samadhi, der Schmuck für den Reichtum an Qualitäten usw.

Das Symbol, mit dem wir arbeiten, sollte die Kraft haben, uns an diese Qualitäten zu erinnern. Es gab Zeiten auf meinem Weg, da habe ich einfach nur einen Lotus visualisiert, weil ein einfacher Lotus für mich aussagekräftiger war als der gesamte Zufluchtsbaum. Zu anderen Zeiten war es einfach Milarepa, den ich visualisiert habe, weil ich mich mit Milarepa sehr intensiv beschäftigt habe und ich ganz inspiriert war von diesem Meister und seinen Gesängen. Manchmal war es Gendün Rinpoche. Das kann wechseln, es ist aber wichtig, dass wir diese Praxis mit echter Hingabe in diese Qualitäten hinein ausführen.

Buddha bedeutet der Erwachte, bodhi ist das Erwachen. Damit sind all die Qualitäten von Buddha Shakyamuni und all den anderen Erwachten gemeint, und damit diese in einer Repräsentation zusam-menfließen können, empfehlen die meisten Lehrer, auf Dorje Tschang zu meditieren, weil das die Vereinigung aller Qualitäten des Erwachens ist.

Die anderen Lamas, Gurus, Meister sind rundherum und erinnern uns an die Qualitäten, die wir aus den Leben ihrer Biografien erfahren. Sie stehen stellvertretend für alle anderen Erwachten.

Vorne, auf dem Ast, der zu uns zeigt, sind all die Meditations-Gottheiten, die Yidams, die ebenfalls für die Vielzahl der erwachten Qualitäten stehen. Von uns aus gesehen auf dem linken Ast sind all die Buddhas. Buddha Shakyamuni, der Medizinbuddha, all die anderen Buddhas, von denen wir gar nichts wissen. Sie sind hier stellvertretend für die 1002 Buddhas unseres Zeitalters und für all die anderen Buddhas.

Auf dem nach hinten zeigenden Ast sind Dharmatexte, von denen wir uns vorstellen, dass wir ihren Klang hören können, während wir uns verbeugen. Wir nehmen direkt Zuflucht in die Weisheit, in das liebevolle Gewahrsein, aus dem heraus diese Worte gesprochen werden, bevor sie aufgezeichnet werden. All die aufgezeichneten Worte, die im Hintergrund als Dharma in der Zufluchts-Visualisation sind, stehen für erlebte, erwachte Rede. Gendün Rinpoche betonte immer wieder, wir sollen uns vorstellen, dass wir diese Rede auch hören können, dass gerade die Unterweisung zu uns kommt, die

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wir im Moment brauchen. Das ist jetzt aktiv, es ist nicht alt und abgestaubt, sondern ganz dynamisch aktiv und spricht jetzt zu uns.

Auf dem Ast, der von uns aus gesehen nach rechts weist, ist die Sangha. Das sind die Vertreter der verschiedenen Sanghas auf dem Weg des Erwachens. Die acht großen Bodhisattvas stehen für den Mahayana-Sangha, Shariputra und Maha Maudgalyana stehen für die Sangha des Theravada- oder Pali-Buddhismus und all die andern, die zu diesen Gemeinschaften gehören, die über diese zwei-einhalb Jahrtausende hinweg den Dharma bewahrt, praktiziert und weitergegeben haben.

Da hinein nehmen wir Zuflucht, da hinein richten wir uns aus, und das macht Sinn, wenn wir die Qualitäten des Erwachens, der Erwachten verstanden haben. Wenn sie uns tatsächlich in der Tiefe in-spirieren.

Eigene Erfahrungen als Richtschnur

Teilnehmer: Zur Ausrichtung auf die erwachten Qualitäten. Das ist ja nur eine Vorstellung, weil man sie selber ja noch nicht kennt. Wir richten uns aus auf Vorstellungen. Da sind für mich noch Frage-zeichen. Wenn ich auf etwas Vorgestelltes meditiere, hindert mich das unter Umständen daran, zu dem Ziel zu kommen, weil meine Vorstellung falsch ist. Wäre es nicht eigentlich besser, anstatt in unseren Geistesstrom Bilder, Konzepte zu setzen, uns entlang unserer tatsächlich gemachten Erfahrungen entlang zu hangeln? Jede eigene, tatsächliche Erfahrung von Gewahrsein, Freude bringt uns da rein, die schafft ein bisschen Vertrauen und man möchte da weiter machen. Wäre es nicht sinnvoller, den Weg entlang dieser eigenen Erfahrungen zu gehen? Damit ich nicht in Gefahr komme, mir falsche Vorstellungen zu machen. Das Christentum ist ja voll davon. Man tut viele gute Sachen, um in den Himmel zu kommen. Wenn man das Tun weglässt und nur den Himmel versteht, dann ist da sogar was Richtiges dran. Was ich suche, ist eigentlich ein Weg, der sich entlang meiner konkreten Erfahrung geht. Ohne Konzepte.

Da stimme ich dir auch vollkommen zu. Ich erlebe, dass viele Praktizierende so voll mit Vorstellungen sind, die ihnen gelehrt wurden, dass sie den Kontakt zu ihrem eigenen Erleben sehr stark zurück geschraubt haben. Deswegen war es mir so wichtig, dass wir erst einmal mit dem eigenen Erleben und den eigenen Erfahrungen Kontakt aufnehmen und daraus unsere Richtung bestimmen, bevor wir mit Richtung weisenden Beschreibungen des Erwachens zu tun bekommen, die unser eigenes Erleben überfremden und wir uns auf ein Erwachen ausrichten, das gar nicht mehr ganz vollständig das ist, was wir so in uns spüren. Wenn da eine Entfremdung rein kommt, wenn wir zu stark mit Vorstellun-gen arbeiten, die nicht unserem eigenen Erleben entspringen, dann rächt sich das Jahre später. Genau das führt dazu, dass wir dann Jahre später einen Weg wieder aufgeben und sagen: „Das ist gar nicht mein Weg!“ Er wird als fremd erlebt, weil man ständig den Vorstellungen einer anderen Kultur oder von anderen Menschen gefolgt ist. Den Weg, der mit dem eigenen Erleben verbunden ist, wird man nie aufgeben. Für diesen eigenen inneren Weg ist es hilfreich, sich Vorstellungen zu entwickeln, die diese stabilisierende Kraft haben. Die brauchen wir.

Wir brauchen schon eine Ausrichtung unseres inneren Kompasses, aber eben mit den Erfahrungen, die uns tatsächlich tief inspirieren. Daran hangeln wir uns entlang und wir können uns die Ziele weit stecken. Z.B. hat jeder von uns Erfahrungen von Liebe, aber kaum haben wir einmal Erfahrungen einer Liebe, die völlig frei von Subjekt und Objekt, frei von Ichbezogenheit ist. Das ahnen wir, es ist vielleicht hier und da aufgeblitzt, aber darauf richten wir uns aus, weil wir es in der eigenen Erfahrung ahnen können, und dann verfeinern wir unsere Ausrichtung mit zunehmender Praxis. Solch ein Weg kann eigentlich nicht in die Irre gehen.

Ich möchte euch allen empfehlen, mehr als alles andere immer auf die Qualitäten zu schauen und immer mit dem eigenen Erleben in Verbindung zu bleiben. Das ist tatsächlich Mahamudra. Mahamu-dra lehrt sich und praktiziert sich aus dem Erleben heraus, nicht aus dem Vorstellen, nicht aus den Konzepten.

Teilnehmer: Wenn eine Pflanze wächst, dann können wir sie pflegen, dass sie wächst. Aber den Wachstumsprozess beeinflussen wir nicht. Die Ausrichtung ist doch nur deswegen möglich, weil uns bewusst ist, wohin wir uns ausrichten, d.h. kurz gefasst, das Mahamudra-Bewusstsein ist der eigentliche Motor unseres Kurses, nicht unsere willentliche Ausrichtung, die kommt dazu. Dass sozusagen da der Motor sitzt, weil – du sprichst ja auch von einer Kraft – eine Kraft hat immer ein

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Kraftfeld. Die Kraft kommt auf uns zu. Ein Kraftfeld hat auch ein Zentrum, Mahamudra-Bewusstsein ist ja auch Zentrum. Und das kommt auf uns zu. Das ist der aktive Vorgang, den wir aber nicht sozusagen bestimmen. Wir müssen das Herz aufmachen oder die Arme, um diese Kraft aufzunehmen, dass sie sich in uns manifestieren kann. Das ist für mich heute Morgen die persönliche Essenz, und ich glaube, mir hat eine gewisse Ergänzung gefehlt, die Aktivität, die von diesem Mahamudra-Zentrum auf uns ausgeht, weil sonst sind wir es, wir machen. Natürlich müssen wir die Umstände schaffen – wie bei der Pflanze.

Da ist jetzt viel drin. Die Ursache des Erwachens ist dieses Mahamudra-Gewahrsein, das schon in uns vorhanden ist. Das kommt nicht von woanders her. Das hast du auch so beschrieben. Erwachen ist nur möglich, weil all das ohnehin schon in uns angelegt ist. Das entsteht nicht als was Fremdes. Zum Beispiel mit der Pflanze: Das Klären unserer inneren Ausrichtung als menschliche Pflanze führt dazu, dass wir immer wieder auf geschickte Art dieses Pflänzchen wässern. Es ist ein Zuführen von Kraft. Je häufiger ich mich daran erinnere, welcher inneren Ausrichtung ich eigentlich folgen möchte, desto mehr hat dieses Mahamudra-Gewahrsein die Möglichkeit, sich in mir zu zeigen, desto mehr können sich die Qualitäten zeigen. Die Qualitäten werden nicht erzeugt, von niemandem. Ihnen wird nur erspart, dass sie immer wieder zugedeckt werden von verqueren Ausrichtungen. Dazu hast du einen Punkt sehr gut angesprochen: Dieses sich Öffnen für das, was sich ohnehin zeigen möchte. Ich bin aber nicht mit dir einig, dass eine Kraft auf mich zukommt. Es geht vielmehr darum, das, was ohnehin schon die Natur des Geistes ist, zuzulassen. Es kommt nicht auf mich zu, dieses Ich wird dabei gar nicht mehr spürbar sein. Aber – wenn man die dualistische Ausdrucksweise benutzen möchte – es ruft mich dazu auf, mich immer mehr zu öffnen. Sich dem zu öffnen, ist dann der Weg.

Das ist meinem Verständnis nach auch so mit dem Vajrayana. Diese Visualisationen von uns selbst als Buddha-Aspekte rufen uns auf dazu, Schranken fallen zu lassen, Barrieren schmelzen zu lassen. Auch hier bei der Auflösung des Zufluchtsbaumes können wir das Ganze in uns verschmelzen lassen, dass wir selber Segen erhalten. Eigentlich geht es um das Auflösen dieser Schranken.

Ich weiß nicht, ob ihr folgen konntet, aber das, was angesprochen wurde, ist das allererste Kapitel im „Kostbaren Schmuck der Befreiung“ von Gampopa, wo es heißt, dass die Ursache des Erwachens die Buddhanatur ist, das, was ohnehin schon die Natur unseres Geistes ist. Nur deswegen ist Erwachen möglich, nicht aufgrund von Willensanstrengung. Und weil das schon in uns ist, entstehen Ahnungen von dem, wie es sein könnte. Diese Ahnungen sind möglich, weil wir nicht getrennt sind von dem, was wir vermeintlich anstreben. Im Grunde genommen ist es ein Einkehren zu Hause. Wir ermög-lichen uns immer mehr, zu Hause zu sein mit unserem Sosein. Das ist der Weg, der sich vollzieht. Das Ankommen zu Hause ist im Grunde genommen der Weg, den man den Weg des Erwachens nennt. Es ist kein Weg irgendwohin. Die Qualitäten kommen mehr und mehr zum Vorschein, zeigen sich und man nennt das aufwachen. Erwachen zu dem, was ist. Und am Ende des Weges ist das, was unsere Basis war, die Frucht geworden. Das ist Mahamudra: Basis, Weg und Frucht. Frucht und Basis sind eins, aber dazwischen vollzieht sich ein Weg, der diese Basis ganz freilegt. Wenn sie freigelegt ist und gelebte Wirklichkeit ist, dann ist sie das Erwachen.

* * *

Morgenmeditation Wir nehmen uns die Zeit, uns tief mit unserem eigentlichen Anliegen spiritueller Praxis zu verbinden, mit dem, was wir sonst Zuflucht nennen, mit der inneren Richtung, in die wir in diesem Leben und nach Möglichkeit auch in folgenden Leben gehen werden. – Worauf richten wir uns eigentlich wirk-lich aus? Was ist heute Morgen – jetzt – mein Anliegen innerhalb des Anliegens, das mein Leben steuert? –

Visualisation:

Während wir dann die Zeilen der tibetischen Gebete sprechen – Zuflucht, Bodhicitta, die Vier Uner-messlichen und das Gebet an den Lama – stellen wir uns vor, dass unser Vater rechts neben uns sitzt, unsere Mutter links neben uns, dass all die Mitglieder unserer Familie um uns versammelt sind – unse-re Brüder, Schwestern, die Generation vor uns, die Generation mit uns und nach uns –, dass unsere

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Freunde da sind. Wir stellen uns vor, dass sie alle um uns herum versammelt sind. Den Menschen, mit denen wir Schwierigkeiten haben, geben wir einen speziellen Platz, sie kommen direkt vor uns mit Blick nach vorne auf den Zufluchtsbaum, der sich inmitten eines wunderbaren Sees erhebt mit völlig klarem, frischem Wasser. – In diesem Baum mit seinen fünf Ästen sind alle Quellen der Inspiration versammelt, die uns in dieser Ausrichtung auf das Wesentliche stärken, von denen Segen ausgeht. Das ist ein Baum des Erwachens, ein Bodhibaum, in dem die erwachten Meister und Meisterinnen zu sehen sind, von dem aus Unter-weisungen zu hören sind. Unterweisungen, die uns nähren auf unserem Weg – uns und alle Lebewe-sen, die um uns herum versammelt sind. Alle Lebewesen, die in diesem Leben und in vergangenen Leben bereits mit uns verbunden waren, um die wir uns gekümmert haben, die sich um uns geküm-mert haben in vielfältigen Konstellationen. – Nehmt euch Zeit, den Zufluchtsbaum zu visualisieren und auch die unübersehbare Menge an Lebewe-sen um uns herum. – Der Baum des Erwachens reicht weit in den Himmel hinein, füllt das gesamte Gesichtsfeld aus, ist transparent, strahlt Licht aus, ist völlig lebendig, frisch. In seinem Zentrum ist das Erwachen selbst mit seinen Formen von einem Buddha wie z.B. Buddha Shakyamuni oder Dorje Tschang oder aber auch als offener, freier Raum des Erwachens, unfassbar und unbeschreiblich mit all den Qualitäten, die uns am Herzen liegen. – Und dann sprechen wir die Zuflucht zusammen mit allen Wesen.

Rezitation: Zuflucht, die Vier Unermesslichen

Jetzt konzentrieren wir uns auf die Präsenz des Buddha im Zentrum des Zufluchtsbaumes:

Rezitation: Gebet an den Lama

Der Wurzellama im Zentrum des Zufluchtsbaumes, der die Einheit aller Zufluchtsobjekte darstellt, löst sich in Licht auf und verschmilzt mit uns. Seine Präsenz verweilt in unserem Herzen, ohne dass wir konkret etwas zu visualisieren hätten. Wir stellen uns vor, dass es jetzt der Lama ist, der in uns medi-tiert. Wir müssen gar keine persönliche Anstrengung aus dem Ich heraus machen. Diese Qualitäten wirken in uns. – Wir achten auf die Schlüsselpunkte der Körperhaltung, die im Vajrasitz oder in der Bodhisattva-Hal-tung verschränkten Beine, die völlig gerade Haltung des Oberkörpers, die Hände etwas unterhalb des Nabels ineinander gelegt, der Blick leicht gesenkt entlang der Nasenspitze, das Kinn ein wenig nach innen gezogen, sodass der Hals etwas gebeugt ist – ein leicht gebeugter Haken. Die Schultern sind geöffnet, Lippen und Zunge völlig entspannt. – Wir genießen die Präsenz, die durch diese aufrechte Körperhaltung entsteht und fassen den tiefen Ent-schluss, uns weder mit vergangenen Angelegenheiten zu beschäftigen noch mit zukünftigen und auch nicht mit der Gegenwart. Wir lassen den Geist natürlich und entspannt im Gewahrsein des Erlebens aller sechs Sinnesbereiche – frei von Annehmen und Ablehnen, ohne irgendetwas zu erzeugen. – Wenn der Geist abschweift, bringen wir ihn zum Atem zurück, zu unserem Anker. –

Einatmend sind wir gewahr und ausatmend sind wir gewahr. – Wir bemerken die Anstrengung, die sich im abgelenkten Denken verbirgt und kehren immer wieder zurück in entspannte Präsenz, frei von Haften, frei von Sorgen, frei von Furcht. Wir bemerken, wie sich der Geist zusammenzieht und wie er sich wieder öffnet. Wir bemerken den Unterschied zwischen Fixierung und Gelöstheit. – Gelegentlich – wenn sich unser Geist wieder im begrifflichen Denken verfangen hat – betrachten wir die Natur des Erlebens. Wir betrachten den imaginären Aspekt des Erlebens, wie sich Bilder formen, verdichten und aufbauen, wie innere Welten entstehen, Welten der Wahrnehmung, die doch ganz indi-viduell sind. Wir betrachten, wie all dies bedingtes Entstehen ist, bedingt durch Umstände, Auslöser, Ketten von Bedingungen, wo eines das andere bedingt und wo alles im Wandel ist, in steter Verän-derung und als solches nicht fassbar, und dennoch vollkommen deutlich. Deutliches Erleben, ohne dass irgendetwas darin je bleiben würde. –

– Wer eine kleine Pause braucht, kann sich gerne bewegen. Die anderen meditieren einfach weiter. –

Mahamudrapraxis ist das Verweilen in der Sicht, im Erkennen. Wir erkennen, wir sehen, dass alles Erleben geistiger Natur ist. –

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Wir sehen, dass dieses Erleben sich von seiner Natur her ständig wandelt, als solches nicht fassbar ist. Wir sehen, dass es sich spontan formt, dass es immer wieder zu neuem Erleben kommt. Wir sehen, dass sich all dieses Erleben auch von selbst wieder auflöst, dass es gar nichts zu tun gibt, um es aufzu-lösen. – Gewahrsein, die Natur unseres Erlebens, tiefe Gelöstheit, tiefer Frieden, völlige Offenheit. –

Immer wieder bemerken wir die unnötige Anstrengung, das unnötige Fixieren. Wir erlauben dem Geist sich zu öffnen, in natürlich gelöstes Sein einzutreten. –

Einatem, Ausatem, Körperempfindungen, hören, sehen, riechen, schmecken, Bewusstheit, all das bedarf keines Ergreifens. Wir brauchen nicht zu kämpfen. – Rezitation: Widmungsgebete

* * *

Und wieder nehmen wir uns einen Moment Zeit, um uns daran zu erinnern, in welche Richtung wir gehen möchten, warum wir in diese Richtung gehen möchten und wen wir alles mitnehmen. –

Das sind Momente, in denen wir überlegen, was Erwachen für uns bedeutet, in denen wir uns ent-schließen, dem Erwachen die höchste Priorität in unserem Leben einzuräumen und das Geschenk des Erwachens auch anderen zu ermöglichen, insbesondere unseren Feinden, jenen Menschen, die schwie-rig für uns sind. –

Bodhicitta geht noch ein Stück darüber hinaus: Das ist der innere Entschluss, diesen Weg weiter zu gehen, ihn den anderen zu öffnen bis auch das letzte Lebewesen diesen Weg ins Erwachen gefunden hat, den Weg in die vollständige Freiheit. –

Um diese Geisteshaltung zu unterstreichen, rezitieren wir anschließend an Zuflucht und Bodhicitta die Vier Unermesslichen mit dem Wunsch, dass wir alle in Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut hinein finden. Dabei steht Gleichmut für Weisheit, für die Offenheit des Geistes, die sich einstellt, wenn wir bei nichts mehr in Anhaftung und Ablehnung verfallen. –

Visualisation:

Wir stellen uns noch einmal vor, dass wir von allen Lebewesen umgeben sind, der Vater zur Rechten, die Mutter zur Linken, die für uns schwierigen Personen vor uns. Wir alle richten uns zusammen auf das Erwachen aus, den Baum des Erwachens vor uns. – Vielleicht mit Buddha Shakyamuni, so wie wir ihn uns vorstellen, oder mit all den anderen Meistern und Meisterinnen, die uns inspirieren. Wir spüren die Kraft und die Inspiration, die von all diesen Vorbildern des Erwachens ausgehen und richten uns aus, den Weg in dieses Erwachen hinein zu gehen. Voller Zuversicht, dass es uns möglich ist, dass die Natur unseres Geistes genau dieselbe ist wie die Natur des Geistes aller Buddhas und dass das Erwachen nicht zu warten braucht. Es ist da, wenn sich alle Verspannung, alles Fixieren aufgelöst haben. –

Mit solchen Gedanken, mit solcher Gewissheit und mit solchem Vertrauen sprechen wir die traditio-nellen Gebete:

Rezitation: Zufluchtsgebet, Die Vier Unermesslichen, Guru-Yoga

Ich lese euch noch einmal die Instruktionen zur Zuflucht vor:

Im Himmelsraum vor uns visualisieren wir einen wunscherfüllenden Baum, dessen Stamm sich in fünf Äste aufteilt.

Dieser Baum ist wunscherfüllend, weil es sich um den Bodhibaum handelt. Bodhi – das Erwachen – ist vergleichbar mit einem wunscherfüllenden Juwel. Wenn wir wirklich ins Erwachen eintreten und ganz in der Natur des Geistes aufgehen, sind alle Wünsche erfüllt. Das nennt man auch den wunsch-losen Zustand. Der Buddha nannte diesen Zustand tatsächlich „das Wunschlose“. Das war einer der Ausdrücke, die er benutzte, um über Nirvana zu sprechen. Und bodhi ist das Erwachen, in dem alle Wünsche in Erfüllung gehen. Dieser Baum steht für das Erwachen selbst. Ich nehme an, dass die Tat-sache, dass ein Zufluchtsbaum visualisiert wird, mit dem Bodhibaum zu tun hat, unter dem Buddha Shakyamuni das Erwachen erlangt hat. Lange Zeit war ja das Blatt des Bodhibaumes ein wichtiges

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Symbol für das Erwachen und den buddhistischen Weg. Und so steht dieser Baum mit allem, was sich in diesem vorgestellten Baum befindet, für das Erwachen selbst und für dessen Qualitäten.

Auf dem mittleren sind die Meister der Linie, vor ihnen die Meditationsgottheiten, zu ihrer Rechten die Buddhas, hinten die Dharma-Texte und zu ihrer Linken die Mitglieder der Sangha. Jede dieser Gruppen ist von einer Vielzahl ihresgleichen umgeben. Wir selbst stehen zuvorderst als Anführer von allen Lebewesen, unseren früheren Müttern, die uns in Scharen umgeben. Wenn wir nun die Zuflucht sprechen, stellen wir uns vor, wie sie alle mit uns wie ein Chor einstimmen. Wir rezitieren ein beliebiges Zufluchtsgebet, wobei wir daran denken, dass sämtliche Lebewesen unsere Mütter und Väter waren.

Alle Wesen waren mein Vater, meine Mutter Dieser Punkt, dass alle Wesen unserer Mütter und Väter waren, bereitet mir auch beim Unterrichten manchmal noch Probleme. Ich kann das nicht sehen, ich kann ja nicht überprüfen, ob ihr nun wirklich alle meine Mütter und Väter wart – und umgekehrt. Aber die Vorstellung, dass ihr das für mich wart und ich das für euch war, dass wir und alle, die wir treffen, das füreinander waren, ist eine total hilf-reiche Vorstellung.

Wenn ich in einem öffentlichen Verkehrsmittel sitze mit gänzlich Unbekannten neben mir und mir gegenüber, stelle ich mir vor, dass da meine Schwester, mein Vater, Bruder, meine Mutter oder meine Tochter, mein Sohn sitzen. Mir einfach nur vorzustellen, dass diese Möglichkeit besteht, ist schon sehr hilfreich. Dadurch entsteht eine Bereitschaft, mich auf den anderen einzulassen. Was ich mir dann denke, ist, dass diese Menschen ja für jemand anderen Sohn und Tochter und möglicherweise Mutter bzw. Vater oder Großvater, Großmutter sind, dass sie also für jemand anderes dieses Rolle ausfüllen. Auf jeden Fall sind sie alle Söhne und Töchter, da kommt keiner drum rum. Von jemand anderem haben sie ganz spezielle Zuwendung erhalten – hoffentlich – und für andere Menschen sind sie ganz wichtig. Auch wenn mir eine Person auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so gefällt, gibt es sicher jemanden, der genau diese Person total mag, sich sogar in sie verliebt oder die Liebe einer Mutter oder eines Vaters erlebt.

All diese Überlegungen helfen mir, diesen anderen Menschen in seinem Beziehungsgeflecht zu erah-nen und zu erspüren. So verringert sich der Unterschied zwischen dem anderen und mir. Die Distanz wird geringer, weil ich ja auch in so einem Beziehungsgeflecht lebe. Und dann denke ich weiter: So wie ich mir wünsche, geliebt zu werden und lieben zu können, so wünscht sich das der andere aller Wahrscheinlichkeit nach auch. Ich glaube, mit dieser Annahme liegen wir nicht allzu falsch, dass – auch wenn es ganz verdeckt sein mag – bei jedem Menschen der Wunsch zu finden ist, geliebt zu werden. Und auch lieben zu können und zu dürfen, dass die eigene Liebe angenommen wird und sich ausdrücken kann. Ich habe noch keinen Menschen getroffen, bei dem das nicht der Fall wäre. Man muss manchmal ein bisschen kratzen und Geduld haben, dass das zum Vorschein kommt, aber es ist doch bei allen Menschen der Fall.

Wenn ich die andere Person in ihrem Wunsch nach Zuwendung und Liebe sehe, in ihrem Wunsch, im Austausch zu sein und sich angstfrei anvertrauen zu können, dann erlebe ich mich der anderen Person gegenüber noch verwandter. Wenn ich das kontempliere, entstehen sehr warme Gefühle in mir, die die immer noch bestehende äußere Distanz innerlich überbrücken. – Wir sind dabei vielleicht noch gar nicht ins Gespräch gekommen. Das ist einfach nur ein inneres Empfinden, bei dem ich mit einer unnötigen Distanz aufräume. Und ich weiß immer noch nicht, ob sie früher meine Mutter oder mein Vater waren. Aber ich bin emotional schon ganz viel näher gekommen und kann dann auch mit weiteren Gedanken spielen.

Z.B, dass wir alle von der selben Luft auf diesem Planeten abhängig sind, wir die selbe Luft atmen, dass wir das selbe Wasser trinken, dass wir von der selben Erde ernährt werden, dass wir uns auf der selben Erde bewegen, dass wir alle von Hitze und Kälte abhängig sind. Ich kontempliere unsere Ab-hängigkeit von all den Elementen, die uns umgeben. Und das gilt genauso für irgendeinen chine-sischen Beamten, der wieder einen unsinnigen Befehl erlassen hat, wie für meine nächsten geliebten Angehörigen. Wir sind so unglaublich voneinander abhängig. Wir atmen dieselbe Luft mit allen Lebe-

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wesen auf diesem Planeten. Denselben Bedingungen gegenüber ausgeliefert zu sein, öffnet mein Herz weiter.

Wir können so tun, als wären wir unabhängig, aber wir sind es nicht. Niemand kann sich von diesen Bedingungen abkapseln. – Ich weiß immer noch nicht, ob sie meine Mutter oder mein Vater waren – aber ich nähere mich an. Sie haben auch eine Mutter und einen Vater gehabt.

Was macht es eigentlich aus, dass ich meinem Vater und meiner Mutter gegenüber spezielle Empfin-dungen habe? Dann kontempliere ich darüber. Es ist die Zuwendung, die sie mir geschenkt haben, dass sie sich um mich gekümmert haben. Und was macht es aus, dass ich als Mutter oder Vater ande-ren solche Zuwendung entgegenbringe? Das ist so, weil diese kleinen Menschen, die Kinder unsere Hilfe brauchen. Da ist ein ganz klarer Impuls, da zu sein, ohne sich vorrangig um sich selbst, sondern erst einmal um das Wohl des Kindes zu kümmern. Dann kontempliere ich, wie ich selber einmal klein war, wie derjenige, der mir gegenüber sitzt, einmal klein war, wie wir alle einmal so hilfebedürftig waren und irgendjemand sich um uns gekümmert hat.

Wenn ich das in mir und im anderen zulasse, dann sehe ich, dass wir alle einmal Kinder waren und dass wir alle Eltern brauchten. Und je mehr ich das kontempliere, desto mehr entsteht auch die Be-reitschaft, Eltern zu sein für andere, die Hilfe brauchen. Ich kann mich hineinbegeben in eine Haltung, in der ich denke: „Ja, wenn es auch nur eines oder wenige Leben vor diesem gab, dann könnte es immerhin sein, dass dieser Jemand sich einmal um mich gekümmert hat.“

Ich weiß nicht, ob es unzählige Leben gegeben hat, ich weiß es einfach nicht. Ich nehme es an, weil die Lehrer es sagen. Es könnte ja sein. Es macht auch keinen Sinn, bloß weil ich in dieser Familie ge-boren wurde, dass ich meinen Schwestern und Brüdern, meinem Vater und meiner Mutter so eine ganz spezielle Liebe entgegenbringe und meine Liebe nur auf sie begrenze. Eigentlich hat jeder solche Empfindungen in seiner Familie – in seiner Zufallsfamilie – und es macht keinen Sinn, sich so aus-schließlich um die eigenen Kinder zu kümmern und die Nachbarskinder zu vernachlässigen. Die Bedürftigkeit ist bei allen Menschen gleich. Jeder braucht Zuwendung und jeder hat auch die Fähig-keit zu solcher Zuwendung und kann sie auch umsetzen.

Mit solchen Gedanken taste ich mich allmählich in eine Welt hinein, über die man verkürzt ausge-drückt sagen kann: „Jeder Mensch ist mein Bruder und meine Schwester. Jeder Mensch ist mein Vater, meine Mutter, ist mein Sohn, meine Tochter.“ Das sind knappe Formulierungen für eine Geisteshaltung, in der wir beginnen, uns um andere zu kümmern und uns auf sie einzulassen, als wä-ren sie das. Wir brauchen nicht zu sagen, dass sie es sind, aber wir sind bereit, so zu tun, als wären sie es. Es geht uns was an, was die anderen Menschen erleben.

Dabei steigen wir aus dem normalen samsarischen Verhaltensmuster aus, in dem wir meinen, dass uns nur das was angeht, was uns ganz unmittelbar betrifft, weil es zur eigenen Familie, zur eigenen Grup-pe, zum eigenen Clan gehört. Wenn mich das Erleben des Menschen, dem ich jetzt gerade begegne, genauso betrifft wie das Erleben anderer, so ist das eine ganz andere Haltung als die übliche. Ich kann vielleicht nicht sehr viel tun und muss auch realistisch bleiben in dem, was ich anbieten kann, aber jetzt gerade lasse ich es zu einer vollen Begegnung kommen. Ich lasse mich darauf ein, als wäre da meine Mutter, als wäre da mein Vater.

Wenn wir jetzt noch die Weitsicht hätten und frühere Leben sehen könnten und dann unter Umständen sehen würden, dass sie tatsächlich einmal unsere Mutter und unser Vater waren und sich mit großer Hingabe um uns gekümmert haben, dann würde das diese Haltung noch verstärken. Aber das ist Glaube. Da können wir dann anderen glauben, die uns das sagen, aber wir selber wissen es nicht. Trotzdem können wir diese Haltung praktizieren, als würden alle, denen wir begegnen, zu unserer eigenen Familie gehören. Als hätten sie sich irgendwann einmal als Eltern um uns gekümmert und als hätten wir uns schon einmal so um sie gekümmert, als wären wir ihre Eltern gewesen. Und obendrein noch, als wären wir einmal ihre Geschwister oder auch ihre Partner gewesen. Wir können uns vorstellen, wie vielfältige Bande in einer Vielzahl von früheren Leben schon möglich waren.

Selbst wenn wir überhaupt nicht an frühere Leben glauben, so können wir doch mit diesem Gedanken etwas anfangen, wenn wir uns drauf einlassen, die Menschlichkeit im anderen zu spüren. Jeder von uns war einmal ein Baby, dann ein Kind, später ein Jugendlicher und ist jetzt erwachsen. Wenn wir diese Menschlichkeit im anderen ganz spüren und uns ganz darauf einlassen, dann finden wir eine

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Brücke zu diesem Bodhicitta-Gedanken, bei dem wir jeden Menschen so betrachten, als wäre er unser nächster Angehöriger, um den wir uns auch genauso kümmern. Wir würden unsere Tochter oder unseren Sohn nicht achtlos in Schwierigkeiten stecken lassen. Wir lassen normalerweise auch unsere Eltern nicht achtlos in Schwierigkeiten stecken. Wir kümmern uns um sie.

Diese Haltung, uns wirklich zu kümmern, weiten wir aus soweit wir können und schließen dabei nie-manden aus. Realistisch ist, dass wir uns um die kümmern, denen wir begegnen. Dort sind wir als erstes angesprochen. Aber im Herzen öffnen wir uns dafür, dass ganz viele in unser Leben treten können und dass wir uns um alle kümmern. – Von der Perspektive her sogar über unseren Tod hinaus, in späteren Leben – falls es solche gibt. Wir werden uns weiter kümmern und allen das Schönste und Kostbarste schenken, das es überhaupt gibt. Das wird hier unter dem Wort Erwachen zusammen-gefasst.

Das sind dann Liebe, Mitgefühl, sich wirklich einlassen, tiefes Verständnis und all die Qualitäten, die damit einhergehen. Dieses alles zu eröffnen, das ist Bodhicitta, es ist der Wunsch, überhaupt keine Schranken zu setzen. Das ist dann der Geist aller Buddhas, die sich sagen, dass sie so lange wieder kommen, bis auch das letzte Wesen ins Erwachen, in seine eigene Geistesnatur gefunden hat.

Ich wollte das ansprechen, weil es so oft in den Texten vorkommt und manchmal zu einer Floskel gemacht wird. Und ich denke doch, die meisten von uns haben ziemliche Mühe damit, zu spüren, was eigentlich damit gemeint ist. Die Brücke für mich ist, sich auf die Menschlichkeit, auf das fühlende Herz im anderen und natürlich in uns selber einzulassen und darin die Verbindung zu schaffen: Das Herz im anderen ist genauso empfindlich wie unser eigenes Herz und hat dieselben Bedürfnisse, wie wir sie auch verspüren. Darin sind wir uns so gleich, dass wir sagen können, wir sind von derselben Familie. Das ist die Grundhaltung, die hinter den Worten ‚alle Lebewesen sind unsere Mütter und Väter’, steht.

Mögen sie glücklich sein und frei von Leid und das unübertreffliche Erwachen erlangen. Wir erinnern uns daran, dass wir aus diesem Grund eine klare, sichere Richtung einschlagen und den Geist des Erwachens hervorbringen. Dann rezitieren wir: „Bis zum Erwachen nehme ich Zuflucht zu Buddha, zum Dharma und zur höchsten Gemeinschaft. Möge ich durch die Ver-dienste der Praxis von Freigebigkeit und der anderen befreienden Qualitäten zum Wohle der Lebewesen Buddhaschaft verwirklichen.“ Anschließend meditieren wir die vier Unermesslichen: „Mögen alle Lebewesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Mögen wir frei von Leid und dessen Ursachen sein. Mö-gen wir nie von der wahren, leidfreien Freude getrennt sein. Mögen wir bei nah und fern frei von Anhaften und Ablehnen in großem Gleichmut verweilen.“

Diese vier Wünsche sind eigentlich vier Kontemplationen. Wer sie ausführlich machen möchte, kann bei jeder dieser Kontemplationen so üben, wie es Buddha Shakyamuni schon im Pali-Kanon beschrie-ben hat:

Man verbindet sich mit der Qualität der Liebe, schickt dann diese Liebe in die vier Hauptrichtungen aus – nach vorne, nach rechts, nach hinten, nach links, dann in die Zwischenrichtungen und dann nach oben und nach unten – und stellt sich dabei vor, dass alle Lebewesen in allen Richtungen des Univer-sums von dieser Kraft berührt werden, diese Qualität in sich freisetzen und ganz darin aufgehen. Wenn wir das wirklich üben, kann dies in einen Samadhi der Liebe hineinführen.

Genauso erklärt es der Buddha auch für das Mitgefühl. Wir verbinden uns mit dieser Qualität bis sie ganz spürbar ist, dann weiten wir sie in alle zehn Himmelsrichtungen aus und gehen in den Samadhi des Mitgefühls ein. Dann tun wir das Gleiche für die Freude – es muss nicht in derselben Sitzung sein – und dann für diesen tiefen Gleichmut, in dem es kein Anhaften oder Ablehnen mehr gibt, in dem der Geist vollkommen offen ist. Und auch das weiten wir aus in alle Himmelsrichtungen und stellen uns vor, dass alle Lebewesen davon erreicht werden.

Buddha Shakyamuni hat diese Meditation der Vier Unermesslichen – so weit wir das im Pali-Kanon nachvollziehen können – als den königlichen Weg beschrieben, um in tiefe Meditation einzutreten – Vor einigen Jahren haben wir im Kurs über die Vier Unermesslichen in Freiburg die Vier Unermess-lichen Stück für Stück praktiziert. Es gibt eine Abschrift von diesem Kurs.

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Nichts befreit den Geist mehr von Ichbezogenheit, als das Eintreten in die Kraft von Liebe und Mit-gefühl, und dann noch gepaart mit Freude und Gleichmut. Wer es in der Meditation wirklich leicht haben möchte, tut gut daran, immer wieder diese Kraft zu stärken: Gar nicht für sich selber zu meditie-ren, sondern es meditieren zu lassen aus dem tief gefühlten Herzenswunsch heraus, dass es einfach allen gut gehen möge, dass alle ins Erwachen hineinfinden, wobei wir uns vergessen können. Dann wird Meditation ganz, ganz leicht. Sie wird so leicht, dass wir uns wundern. Der Grund ist, dass wir uns selbst vergessen haben. Alle Schwierigkeiten in der Meditation kommen nur daher, dass wir uns ständig um uns selber drehen. – Wir haben uns vergessen, ohne uns tatsächlich vergessen zu haben, denn wenn wir in Liebe und Mitgefühl aufgehen, dann sind wir die Ersten, denen es gut geht. Das ist nicht ein heroisches Sich-Selbst-Vergessen und Hintanstellen der eigenen Bedürfnisse, sondern unsere Bedürfnisse sind an erster Stelle erfüllt. Wir sind so gesättigt und genährt, wenn unser Geist in Liebe und Mitgefühl aufgeht, aber wir vergessen uns darin. Wir vergessen uns darin, weil wir eins sind, mit der Erfahrung von Liebe und Mitgefühl.

Als Inspiration für die Meditation im Kontext der Vorbereitenden Übungen ist die Zuflucht vor uns – mit z.B. Buddha Shakyamuni. Wir können uns vorstellen, dass er gleichzeitig mit uns die Praxis der Vier Unermesslichen ausführt.

Schließlich meditieren wir, wie sich die Quellen der Zuflucht in Licht auflösen und mit uns verschmelzen.

Zum Abschluss der Praxis löst sich der Bodhibaum, der Zufluchtsbaum, mit all den Qualitäten der Erwachten, die wir dort visualisiert haben, in Licht auf. Dieses Licht verschmilzt als Regenbogenlicht mit uns und darin ruhen wir und meditieren darin weiter. Da kommt dann das begriffliche Denken zu einem Stopp, es hält inne, und wir sind in natürlicher Praxis.

Soviel also zu der ersten Übung, dem 1. Punkt, wo Karmapa schreibt:

Dies ist der 1. Punkt: das Reinigen unseres Geistesstroms durch die Meditationen des Einschla-gens einer sicheren Richtung (Zuflucht) und das Hervorbringen des Geistes des Erwachens (Bodhicitta).

Bedeutung und Wirkung der Vorbereitenden Übungen Mir stellt sich jetzt die Frage, wie wir das denn jetzt machen mit unserem Mahamudra-Kurs. Habt ihr denn alle schon die Vorbereitungen praktiziert? Habt ihr alle schon intensiv Zuflucht und Verbeugun-gen und dergleichen praktiziert? Wenn nicht: Wie machen wir denn das? Und wenn ja: Hat es denn überhaupt was gebracht?

Ein klassischer tibetischer Meister wie Gendün Rinpotsche hat diese Frage so gelöst, dass diejenigen, die tatsächlich die Möglichkeit dazu hatten, von ihm sehr ermutigt wurden, diese formelle Übung auch auszuführen. 111.000 Verbeugungen zu machen, begleitet von Zufluchtsrezitationen und sich dabei immer ganz tief mit den Qualitäten des Erwachens zu verbinden, also aus jeder Verbeugung einen wirklichen Akt der Hingabe zu machen, des sich Öffnens. Aber er hat auch vielen Shine, Lhagtong und Mahamudra gelehrt, ohne darauf zu bestehen, dass sie diese Vorbereitung in der klassischen Form ausführen. Er sagte mir dazu: „Die werden dann später noch merken, dass sie die Vorbereitungen brauchen, dass es ohne die gar nicht geht. Aber sie haben schon einmal ausreichend etwas über die Praxis mit dem Geist gehört. Sie spüren dadurch ein starkes Bedürfnis, tiefer in die Meditation einzu-treten und merken dann, dass sie immer an Grenzen kommen. Und diese Grenzen sind die Grenzen einer ziemlich sturen Ichbezogenheit.“

Die Vorbereitenden Übungen räumen genau damit auf. – Sollten sie eigentlich. Ich weiß auch nicht, woran es liegt, dass das nicht immer der Fall ist. Das hat was mit der Qualität unsere Praxis zu tun. Es hat damit zu tun, dass wir die Praxis immer wieder umfunktionieren, sodass sie für unseren Ego-Trip instrumentalisiert wird, damit wir der Niederlage ausweichen. Niederlage in dem Sinne, dass das Ich sich mit gar nichts brüsten kann in der Praxis, dass es einfach nur loszulassen hat. Denn alle Qualitäten, die in der Praxis auftauchen, sind gerade nicht dem Ich zuzuschreiben. Sie zeigen sich immer dann im besonderen Umfang, wenn die narzisstischen Tendenzen zurücktreten und diese Ich-

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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bezogenheit nicht besonders aktiv ist. Dann zeigt sich Liebe, dann zeigt sich spontane Freigiebigkeit. Das zeigt sich genau dann.

Wie machen wir denn das? Wie machen wir das, dass uns die Dharma-Praxis tatsächlich transformiert und wir diese Hinweise, die hier stehen, tatsächlich auch beherzigen, ohne dass es wieder zu einem neuen Ego-Trip kommt, einem spirituellen Ego-Trip?

Bemerkungen der Teilnehmer

Teilnehmerin: Vielleicht gibt es eine Möglichkeit zu merken, dass man diesen Ego-Trip hat und sich dafür nicht zu verurteilen, sondern sich an diesem Punkt, an dem man gerade ist, anzunehmen. Ich glaube, wenn man das Ngöndro schon hinter sich hat, dann ist die Gefahr auch groß, dass man sich sagt: „Ich darf diesen Ego-Trip nicht haben!“ und sich dadurch so eine Strenge entwickelt.

Damit macht man alles nur noch schlimmer.

Mir scheint das sehr wichtig, weil ich die Tendenz dazu habe, mich selbst zu verurteilen. Wenn ich es dann schaffe, mir Milarepa oder Lama Gendün vorzustellen, wie sie mich anlächeln, nach dem Motto, es ist eh o.k., gut dass du es merkst, dann…

Ich sehe darin eine gewisse Leichtigkeit, einen gewissen Humor. Das Lächeln ist ein annehmendes Lächeln – nicht verwitzelt – ein guter Humor, bei dem wir über uns selber lachen können und sagen: „O.k. Jetzt geht’s wieder weiter.“ Mit einem gütigen Lachen.

Ich kann das voll unterstützen. Habt ihr noch andere Bemerkungen dazu? Wie geht ihr mit euch selber um? Ihr kennt das ja, wovon ich spreche, ihr wisst das genau. Also was machen wir? Ich bin jetzt auch nicht derjenige, der die großen Lösungen hat. Ich weiß auch nur, dass es darum geht, aufrichtig zu sein mit mir selbst, so wie du es beschrieben hast. Immer wieder zu schauen und es nicht noch schlimmer zu machen, indem ich mich dafür schuldig fühle.

Teilnehmerin: Also ich brauche viel Geduld mit mir selber. Geduld ist außerordentlich wichtig. Ich bin jetzt schon so lang dabei, aber ich mache einfach weiter. – Widersprüche zu sehen und trotzdem dabeizubleiben.

Teilnehmerin: Ich habe das bei mir so beobachtet, dass da so ein Anspruch ist, so eine Bewertung, dass es noch was Besseres gibt. Ich praktiziere jetzt schon fast 20 Jahre Ngöndro und habe erst in den letzten 5 bis 6 Jahren Tiefe erfahren. Für mich war das dann so, dass der Anspruch weg gewesen war und da nur noch so ein SEIN war in diesen Vorbereitenden Übungen. Also ich kann mir für mich nicht noch etwas Tieferes vorstellen, dass immer mehr so ein Verständnis aufkommt. Ich mache mir keinen Zeitdruck, dass ich sage, ich müsste da fertig werden oder sonst was. Ich fange immer wieder bei der Zuflucht an, wenn ich das Bedürfnis habe, oder bei Dorje Sempa. Ich mache den Teil, den ich inner-lich mehr verstehen möchte, ich kontempliere darüber, ich verweile darin. Ich wüsste für mich nichts Tieferes. Das kann bis zum Ende meines Lebens so gehen.

Ich mache es auch so. Ich fange immer wieder von vorne an, immer wieder die Grundlegenden Ge-danken. Ich erinnere mich ganz einfach immer wieder, wie kostbar jetzt gerade die Situation ist, wie vergänglich sie ist, dass es darauf ankommt, wie ich mit ihr umgehe. Dass es darauf ankommt, den Geist aus Verstrickungen zu lösen, mich auf das Erwachen auszurichten und alle mit auf die Reise zu nehmen und mich dem zuzuwenden, der mich gerade nervt. So fange ich immer wieder von vorne an. Immer wieder. Ich kenne auch keinen anderen Weg.

Der eine Weg, den ich nicht mehr gehe, ist, dass ich mir direkt die Leerheit aller Erscheinungen an-schaue. Das halte ich für eine Sackgasse. Den Weg bin ich früher gegangen, aber das ist ein Trick. Es ist nicht sehr hilfreich, sich ins Letztendliche zu flüchten. Die Schau des Letztendlichen kommt dann schon, sie kommt. Aber erst einmal kaue ich die Sachen auf der relativen Ebene durch und gehe immer wieder schön Schrittchen für Schrittchen. Immer wieder von Anfang an. Und das geht ja auch. Wenn wir vertraut sind mit diesen Schritten, dann geht das schon. Jeder Schritt führt zu einer gewissen Öffnung, klärt ein bisschen und ist eigentlich ein Genuss. Und dann darf der letzte Schritt ruhig sein, das aus der letztendlichen Perspektive zu betrachten. Aber nicht zu früh! Sonst bilde ich mir da was ein, das ist dann nur eine konzeptionelle Leerheit. Es ist gar nicht das Erleben der nicht fassbaren Natur aller Dinge, sondern es ist etwas, was ich mir aus der Erinnerung wieder sage und dann meine,

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dass ich jetzt alles los lasse, weil ich mich ja erinnert habe, aber ich habe es nicht direkt gesehen. Gut, das war aber nur ein Einblick, wie ich es nicht mache. Was habt ihr denn noch für Bemerkungen dazu?

Teilnehmerin: Mir ist das Vertrauen in den Dharma total wichtig. Das Vertrauen zur Buddha-Natur. Sobald ich im Vertrauen bin, ist alles wieder leichter.

Wie findest du in das Vertrauen, wenn du praktizierst? Wie findest du da hinein?

Teilnehmerin: Tief im Inneren ist es einfach da.

Du erinnerst dich daran und dann erspürst du es.

Teilnehmerin: Ja, genau.

Ich nenne es manchmal „die kleine Flamme des Vertrauens“, die wir irgendwo erwischen und da, wo das Vertrauen noch intakt ist, da richten wir unsere Aufmerksamkeit hin, und dann beginnt es wieder stärker zu werden. So erleb ich das. Was habt ihr noch für Erfahrungen damit?

Gesunde Ichbezogenheit

Teilnehmer: Ich möchte ein Plädoyer für die Ichbezogenheit halten. Ich denke, die Ichbezogenheit ist ein Hinweis darauf, dass wir für uns Strukturen entwickeln müssen, um die Ichbezogenheit los zu werden. Die Ichbezogenheit nicht direkt anzugehen, zu bekämpfen, sondern sie als indirektes Zeichen ansehen, um unser inneres Wachstum zu fördern. Also eine positive Ichbezogenheit.

Ja, sehr gut. Eigentlich brauchen wir mit dieser gesunden Ichbezogenheit auch gar nicht aufzuräumen.

Ja, auch wenn sie nicht gesund ist, verweist das auf etwas, dass wir irgendetwas bei uns innerlich be-arbeiten müssen.

Das tut es auf jeden Fall. Du sprichst aus einem etwas anderen Hintergrund, in dem das, was du mit ‚Ich’ beschreibst, auch sehr viele ganz natürliche Funktionen hat in unserem Alltag. Wo das Ich sogar das ist, was strukturierend und erkennend wirkt – die Fähigkeit zur Anpassung. Ist das so? Sprichst du aus diesem Ich-Verständnis heraus?

Auf den paradoxen Selbstschutz-Effekt möchte ich nur für mich hinweisen.

Ich sitze auf der Leitung. Beschreib mir den Selbstschutz-Effekt des Ichs noch einmal.

Wenn ich keine Strukturen für mich entwickelt habe, dann sehe ich eine Gefahr, dass ich dann, wenn ich meine Ichbezogenheit „loslasse“ – obwohl das natürlich nur ein Pseudo-Loslassen ist – in bestimmte Verdrängungs-Bahnen komme, weil ich diesen Zustand im Grunde genommen gar nicht aushalten kann. Und das fördert dann diese Abwehrmechanismen – Schleier kann man auch sagen – und ich kann mich dann in einer Sackgasse wieder finden.

Ja, es ist dieser erste Satz: Wenn ich keine Strukturen entwickelt habe.

Ich muss ja auch für die Erleuchtung Strukturen entwickeln!

Ja, selbstverständlich!! Das merken die meisten gar nicht, dass wir ja dabei sind, Bahnungen, Struktu-ren zu schaffen, im Sinne eines heilsamen Verhaltens, einer hilfreichen Sicht auf Erfahrungen, die zu Verständnis führen. Das sind ja alles Strukturen, derer wir uns dann in unserem weiteren Handeln bedienen. Das merken die meisten gar nicht. Die Praxis von Achtsamkeit, von Gewahrsein ist in höchstem Maße Struktur bildend und kräftigend auf ein Ich, auf eine Persönlichkeit. Das ist aber ein anderer Begriff von ‚Ich’ als der, der mit Ichanhaften beschrieben wird.

Schauen wir uns an, was die sechs Paramitas, diese sechs befreienden Qualitäten eigentlich bewirken: Es heißt, dass die sechs befreienden Qualitäten alle aus Mitgefühl heraus geboren sind, aus einem Sich-Einfühlen-Können. Daraus heraus wird freigiebig gehandelt, wird heilsames Verhalten gepflegt. Schädliches wird unterlassen, Geduld wird geübt. Es kommt zu einer Ausdauer auch in Schwierig-keiten, gepaart mit Freude. Es kommt zu der Fähigkeit, dass der Geist sich sammelt und konzentriert, dass er unabgelenkt verweilen kann, mit der Fähigkeit hinzuschauen, wodurch Verstehen bzw. Weis-heit entsteht.

Das sind alles Qualitäten, die höchst strukturierend wirken. Ein Buddha ist in diesem Sinne ein ganz gesundes Ich. Ein Erwachter hat in dieser Hinsicht ein völlig gesundes Ich. Dieses Ich ist nicht das,

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was aufgelöst wird. Das sind die Kraft gebenden, strukturierenden Kräfte, die in einer Persönlichkeit wirken und die unbedingt gestärkt werden müssen. Die lösen wir nicht auf. Wenn wir vom Auflösen der Ichbezogenheit sprechen, dann geht es um die Annahme eines unabhängigen, stabilen Ichs: „Ich, der ich so bin für immer! Ich!“ Diesem Ich wird eine übertriebene Bedeutung beigemessen, was zu einem ständigen Konflikt mit der Umwelt führt, einem ständigen Haben-Wollen und nicht-Haben-Wollen, also einem Kampf mit anderen, um das, was wir haben wollen.

Es ist ein Kampf gegen die Vergänglichkeit, gegen den Wandel, der dem Ich zusetzt und immer wie-der zu unangenehmen Überraschungen führt. Es ist ein Sich-Verschließen gegenüber allem, was meine Unabhängigkeit, Autonomie in Frage stellt, was meine Wichtigkeit in Frage stellt, wo ich nicht wichtig genommen werde. Dieser Kampf, diese Verstrickung ist Ausdruck von einer Überbewertung dessen, was wir Ich nennen, im Vergleich zur Realität, die sich wandelt, die bedingt ist, in der wir von anderen abhängig sind, in der wir nicht die Wichtigsten der Welt sind, auch für andere nicht das Zentrum der Welt darstellen.

Das gilt es aufzulösen. Und wenn wir das auflösen, stärken wir zugleich die Kräfte, von denen ich zuerst gesprochen habe. Und wenn diese Kräfte sich melden, dann ist das ein echter Schutz für uns. Das ist ja die Weisheitsstimme, die sich da meldet. Gendün Rinpotsche nannte das einfach das „Dharma-Ich“. Er sagte einmal in so einem saloppen Gespräch: „Wer geht eigentlich den Weg der Ich-Auflösung? Es ist das Dharma-Ich, das uns den Weg in der Dharma-Praxis führt, und diesem Dharma-Ich müssen wir Raum geben. Das ist unsere Weisheitsstimme.“ Die erübrigt sich mit der Zeit. Das Dharma-Ich ist jetzt nicht etwas Neues, das wir zu kultivieren hätten. Es ist die Summe all dieser Kräfte, die im Feld unserer Beziehungen Sinn und Struktur gebend wirken. Da brauchen wir kein neues, dickes Ich draus zu machen, aber es ist etwas, das uns sagt: „Hey, du bist auf dem Holzweg!“

Wer oder was sagt uns das eigentlich? Das sind die warnenden Stimmen, die Kräfte in uns, die Weisheits- und Mitgefühlskräfte, Kräfte der Einsicht, die solche Gedanken entstehen lassen, die uns aufmerksam machen: „Hier läuft etwas schief.“ Das ist also keine Funktion, die wir aufzugeben hätten, sondern eine Funktion, derer wir uns bedienen. Wir stärken jetzt diese Funktion unter anderem durch die Übung, uns immer wieder an unsere Prioritäten zu erinnern, was man auch Zuflucht nehmen nennt. Eine klare Richtung einzuschlagen und diese Richtung auch durchhalten zu können. Das ist ja eine Fähigkeit, die wir brauchen, eine Konstanz der inneren Ausrichtung. Egal, was sich sonst im Leben zeigt, wir gehen durch alle Situation mittels dieser inneren Ausrichtung. Dafür brauchen wir eine gewisse Zähigkeit. Das ist eine gesunde Sturheit. Ein Dabeibleiben bei dem, was uns in der Tiefe unseres Wesens das Allerwichtigste ist, ein Klarhalten der Prioritäten.

Auch wenn wir merken, dass sich unser Herz zusammenzieht, weil jemand uns gerade etwas Unliebes gesagt hat oder sich aus unserer Sicht ein bisschen schwierig verhält, dann merken wir: „Hey, das Herz, meine Gefühle, die sich jetzt zusammen ziehen, der Geist, der jetzt eng wird – das tut weder mir gut noch dem anderen.“ Da ist ja auch eine innere Stimme die mir sagt: „Schau doch mal, was du tun kannst, um das Herz jetzt wieder öffnen zu können.“ Das ist dieses Dharma-Ich, das ist eine Struktur gebende Kraft ins uns, die in eine Richtung wirkt, ins Erwachen hinein.

Diese Kräfte sind in uns aktiv und sie werden gestärkt durch das Hören, Lesen und Praktizieren von Unterweisungen, durch all das, was wir so Dharma-Praxis nennen. Da werden diese Kräfte gestärkt und sie beginnen immer mehr Kraft freizusetzen und ganz hartnäckig immer dort zu wirken, wo wir normalerweise ausweichen würden. Es ist also keineswegs so, dass Dharma-Praxis uns zu einem x-be-liebigen Handeln und Sein führt, wo alles möglich ist und sich alles irgendwie auflöst in einen sturk-turlosen Raum hinein, sondern es werden neue Bahnungen geschaffen. Es werden neue Ausrichtungen verfolgt, bis diese heilsamen Ausrichtungen tatsächlich kraftvoller sind als die alten, impulsiven Reaktionsmuster, die uns immer wieder in Verstrickungen geführt haben.

Dank dem letzten Beitrag hab ich das jetzt noch einmal ein bisschen ausgeführt. Merkt ihr, was für eine Arbeit wir eigentlich machen? Um wieder auf unseren Lehrer Gendün Rinpotsche Bezug zu neh-men. Er beschrieb das so: „Wir wechseln von einem Alptraum in einen guten Traum.“ Und in diesem guten, heilsamen Traum können wir dann tatsächlich erwachen zu der nicht fassbaren Natur aller Erscheinungen. Aber es wird gestaltet. Wir sind dabei, uns der Gestaltungen, der Geisteskräfte zu bedienen, um aus einem Alptraum einen guten Traum zu machen. In diesem guten Traum, diesem

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heilsamen Traum sind heilsame Kräfte aktiv. Also nicht etwa ein Loslassen von allem und dann komme was wolle und wir sind irgendwie das Blatt im Wind unseres Karmas, unserer Impulse und wir lassen los, was wir loslassen können und halten uns fest, wo wir grad noch was erwischen... Überhaupt nicht!

Jemand, der den Dharma praktiziert, wird immer stabiler. Er wird immer stabiler, weil er immer flexibler wird, immer klarer, immer geschickter im Umgang mit den Situationen, um die innere Richtung beizubehalten.

Es sind viele Paradoxe. Es sind unglaublich viele vermeintliche Paradoxe, die wir da hören und denen wir auf dem Dharma-Weg begegnen.

Meditation Es gibt tatsächlich nur eine einzige Praxis: gewahr zu sein. Jetzt gerade voll gewahr zu leben. – Wie fühlt es sich an zu sein, jetzt gerade. –

* * *

Kriterien für den Erfolg unserer Praxis – Die vier Unermesslichen Qualitäten Was auch immer wir an Dharma praktizieren, was auch immer wir auf dem Weg des Erwachens eine spirituelle Praxis nennen, sollte zu einer Verstärkung der vier Unermesslichen führen, der Qualitäten von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut.

Um herauszufinden, ob wir mit unserer Praxis auf dem richtigen Weg sind, können wir selber die Messlatte anlegen: Führt unsere Praxis dazu, dass mehr Liebe in unser Leben kommt? Lieben und geliebt werden – Liebe annehmen zu können gehört genauso dazu wie Liebe zu schenken. Ist mehr Glück in unserem eigenen Geistesstrom und im Geistesstrom anderer zu spüren? Das ist es ja, was wir wünschen: Mögen alle Lebewesen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Dharmapra-xis sollte bei uns und in unserem Umfeld dazu beitragen.

Das heißt nicht unbedingt, dass sich die Bedingungen verbessern, aber wie wir mit denselben Bedin-gungen umgehen, ist anders als früher. Daran können wir sehen, ob unsere Praxis Früchte bringt. Obwohl die Bedingungen vielleicht gar nicht leichter geworden sind, kommen wir doch leichter damit zurecht und es kommt auch häufiger vor, dass unsere Geisteshaltung und unser Handeln andere be-glückt. Das ist Ausdruck von Liebe. Liebe nicht in einem sentimentalen, romantischen Sinn. Mit Liebe ist eine Haltung gemeint, die Glück, ein freudiges, glückliches Sein überall dort unterstützt, wo es uns möglich ist.

Mitgefühl ist als ein sich Einfühlen-Können gedacht, ein Mitschwingen-Können. Speziell dort, wo es schwierig ist, wo Leid ist. Mitgefühl trägt dazu bei, dass dieses Leid leichter zu tragen ist. Indem wir mitfühlend auch an alle anderen denken, die in einer ganz ähnlichen Situation sind, werden wir selber durch dieses Mitgefühl aus unserem eigenen Leid rausgeführt in ein viel breiteres Annehmen-Können von Schwierigkeiten. Das erleichtert deutlich, das eigene Leid zu tragen. Und wir können anderen dieses Mitgefühl auch schenken, indem wir mitfühlend da sind und ihnen helfen, ihr Leid leichter zu tragen. Dort, wo wir es können, machen wir es tatsächlich auch leichter, verringern also Ursachen des Leides.

Die größte Ursache von Leid ist das Fixieren, das Festhalten, das sich Identifizieren. Der Glaube, dass es ewig dauert, dass das Leid wirklich ist, dass wir unter einer wirklichen Last leiden. Dabei ist der Geist viel freier, als wir glauben.

Das alles ist Mitgefühl. Unsere Dharmapraxis sollte dazu führen. Diesen Maßstab können wir anwen-den. Halten in unserem eigenen Geist tatsächlich leichtere, glücklichere Zustände Einzug? Sind Ge-fühle von Liebe in unserem Herzen? – Wir können das Wort Liebe auch ersetzen durch Freude am Glücklichsein anderer oder Freude am Glücklichsein. –Haben wir Leichtigkeit im Herzen? Ist unser Herz offen oder verschließt es sich uns selbst und anderen gegenüber?

Damit kommen wir auch schon zur dritten Qualität, zur Freude. Freude ist fast das wichtigste Zeichen für Dharmapraxis überhaupt, denn Freude erfahren wir nur dann, wenn eine gewisse Leichtigkeit im Geist ist. Freude verschwindet sofort, wenn der Geist schwer und eng wird. Wir können nicht freudig

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sein und gleichzeitig einen engen Geist haben. Die beiden gehen nicht zusammen. Damit ist keine überschwängliche Freude gemeint, es ist eine gelöste, gelassene, auch heitere Offenheit des Geistes, die völlig unbeschwert ist. – Mit Freude ist hier also eine Unbeschwertheit des Geistes gemeint.

Es ist auch eine neidlose Freude, ein sich Mitfreuen-Können an der Freude anderer. Unser Herz geht noch mehr auf, wenn wir andere in glücklichen Umständen, in freudigen Umständen sehen, wenn wir mitbekommen, wie andere heilsam handeln oder sich heilsam miteinander austauschen. All das macht uns umso freudiger. Das sollte Dharmapraxis bewirken. Wenn wir über die Jahre unserer Dharma-praxis zurückblicken, dann sollten wir schon das Gefühl haben: „Doch, heute fällt es mir leichter, mich mitzufreuen. Ich bin häufiger in leichten Geisteszuständen. Liebevolle Gefühle, mitfühlende, empathische Regungen sind mir durch die Dharmapraxis vertrauter geworden.“ – Oder überhaupt durch meinen Lebensweg. Es gehört ja alles zu unserem Weg, nicht nur die formelle Praxis.

Vielleicht bin ich ein wenig gleichmütiger geworden. Wir haben dieses schöne Wort Gleichmut im Deutschen, was sehr exakt das tibetische tang-nyom übersetzt. Damit ist eine innere Ausgeglichenheit gemeint, weder Hochmut noch Schwermut, kein Übermut. – Mut kommt von Gemüt, Gleichmut hat nichts mit Mut zu tun, es ist ein ausgeglichenes Gemüt. Und das kommt nur, wenn das reaktive, impulsive Verhalten nachgelassen hat. Dann stellt sich Gleichmut ein.

Gleichmut ist Ausdruck von Weisheit. Reaktionen bleiben nämlich nur dann aus, wenn wir erkennen, dass sie nichts bringen, dass wir mit unserem impulsiven Reagieren die Situation verschlimmern, dass wir impulsiv reagieren, weil wir in Fixierungen sind. Überall da, wo wirkliche Erkenntnis, wo Weis-heit Einzug hält, kommt es zu einem gleichmütigeren Umgang mit Situationen, weil wir nicht mehr in dem Glauben sind, dass sie für ewig anhalten; dass sie wirklich so schlimm sind, wie sie ausschauen; dass sie uns zwingen, so und so zu handeln. Wir entdecken mehr Möglichkeiten, mit den Situationen umzugehen.

All das ist Ausdruck von Weisheit, bis hin zum Durchschauen der Täuschung, dass es da ein Ich zu verteidigen oder aufzubauen und zu nähren gäbe. Es löst sich auch die Täuschung auf, dass wir wirk-lich getrennt sind von anderen, dass wir uns getrennt glauben. Auch die Täuschung zu meinen, wir wären autonom und unabhängig, löst sich auf. Wir sehen unsere Abhängigkeit von allem und jedem, und auch das trägt zu Weisheit bei. – Das alles bewirkt Gleichmut. Wir sind viel ausgeglichener in allen Situationen. Vorlieben und persönliche Abneigungen lösen sich auf, unser freundliches Herz öffnet sich immer mehr auch für Unbekannte, sogar auch für Menschen, die uns Schwierigkeiten bereiten. All das gehört zu diesem Gleichmut.

Das sind vier handfeste Kriterien, die uns zeigen, ob unsere Dharmapraxis tatsächlich schon Früchte trägt. Wenn wir da hinschauen, dann ist es nicht immer so überzeugend. Da gibt es Bereiche, die ziemlich zäh sind, die sich nicht so schnell verändern, wie wir das gerne hätten. Wir wären ja gern von heute auf morgen der liebevolle, empathische, freudige, völlig gleichmütige Mensch, den sich alle wünschen. – „Das liegt ja nicht an uns!“ – Wenn das so sein könnte, wären wir das schon gerne! Prin-zipiell haben wir nichts dagegen. Was bewirkt denn, dass wir es nicht sind, obwohl wir uns das zum Teil schon ein Leben lang wünschen?

Wir müssen zugeben, dass es doch schwieriger ist, als wir gedacht haben, ein so freudiger, liebvoller Mensch zu werden. Da sind starke Muster in uns aktiv. – Ich schlage mich mit starken, starken Gewohnheiten herum, fühle mich ihnen zum Teil ausgeliefert. Hinter diesen Mustern verbergen sich Ängste, Unsicherheit, mangelndes Vertrauen, vor allen Dingen auch mangelndes Selbstvertrauen, mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Qualitäten, die ich zum Teil gar nicht sehe, die ich gar nicht wahrhaben kann, selbst wenn andere davon sprechen. Gelegentlich sind Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut da, sie fließen gelegentlich, aber dann wieder verschließt es sich. Und dazu braucht es manchmal so wenig. Nur eine kleine Bemerkung oder nur eine Vermutung in meinem Geist reicht manchmal schon aus, und schon verschließe ich mich angstvoll und gehe in Schutzhaltung. Ich gehe in Verteidigungshaltung und bin gar nicht mehr der, der ich so gerne wäre.

Teilnehmer: Jemand hat einmal ein schönes Bild für diese Muster gegeben: Unsere Erfahrungen machen in eine Art Ebene, die bei einem Kind noch da ist, erst Bäche und dann immer größere Flüsse und dann Flussbette hinein. Diese Flussbette sind unsere Muster, darin fließt unsere Energie, da

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kommen dann kleinere Bäche dazu usw. Diese Flussbette zu verändern, ist nicht so leicht. Je älter wir sind und je stärker diese Muster sind, desto tiefer sind die Flussbette, und wir müssen eben schauen, dass wir diese Energie da wieder rauskriegen.

Ja, irgendwie müssen wir sie da rauskriegen. Damit bin ich ganz einverstanden! Das Bild mit diesen tiefen Flussbetten ist total treffend. Ich hätte jetzt das Bild von einem Acker mit tiefen Furchen, die immer tiefer werden. Eine Furche wird dann schließlich zu einem Hohlweg, … Das sind ganz, ganz tiefe Bahnungen. Als ich einmal völlig verzweifelt war und Gendün Rinpoche fragte, wann ich da denn jemals den Weg raus finden könne, sprach er davon, dass wir wie auf Gleisen sind, auf Schienen. Er sagte: „Wenn du auf Schienen bist, dann bist du völlig darin gefangen.“ Und dann meinte er auch: „Glaub nicht, du könntest eine kleine Kursänderung vornehmen, solange du wie auf Schienen funk-tionierst! Da gibt’s nur eins: stoppen und rückwärts fahren.“ Das war damals sein Bild.

Teilnehmer: Oder eine Weiche stellen.

Genau, Weiche stellen! Die Weichen braucht es, und wir können Weichen einbauen. Wir sind tatsäch-lich in der Lage, neue Bahnungen, Weichen und neue Stränge zu schaffen. Die heutigen Hirnforscher würden sagen, das sind dann sogar auch synaptische Bahnungen. Die werden so rasch genutzt, dass es schwierig ist, da nicht reinzufallen. Wir brauchen neue Wege, mit Situationen umzugehen, und werden die so häufig wie es geht nutzen. Dann wächst vielleicht Gras über die alten Schienen, bzw. die alten Furchen füllen sich wieder und sind nicht mehr ganz so tief und nicht mehr ganz so leicht zugänglich und werden nicht mehr so häufig benutzt. Es ist jedenfalls eine ziemliche Arbeit.

Und eine ganz neue Bahnung, von der ich heute sprechen möchte, ist die zweite vorbereitende Übung. Deswegen habe ich so weit ausgeholt: Es geht um die Dorje-Sempa-Praxis, die Vajrasattva-Praxis.

Es geht darum, diese Verstrickungen aufzulösen auf eine Art und Weise, die ganz neu ist, die anders ist, die eine neue Bahnung legt. Die meisten von euch kennen die Praxis mit dem Buddha-Aspekt oder Yidam Dorje Sempa oder Vajrasattva. Ich werde sie nachher noch erklären, sie ist die nächste Praxis der vorbereitenden Übungen. Aber da hier von Karmapa auch wiederum nur die Visualisation nieder-geschrieben wurde, muss ich unbedingt noch eine ganze Menge zum Sinn dieser Praxis erzählen.

2. Die Vajrasattva-Praxis Es geht in dieser Praxis um Vertrauen, um Selbstvertrauen. Es geht um das Vertrauen in unsere Buddhanatur, in unsere Buddhaqualitäten. Und genau dort, wo wir am wenigsten Vertrauen haben, wo unsere größten Verstrickungen sind, soll etwas Neues entstehen.

Ganz kurz zusammengefasst, visualisieren wir in der Vajrasattva-Praxis Buddha Vajrasattva über uns. Durch unsere Hingabe und Mantrarezitation wird sein Buddhaherz angeregt, sodass ein Bodhicitta-Nektar von ihm in uns einströmt. Im Bewusstsein all unserer Fehlleistungen, Übertretungen, schäd-lichen Handlungen laden wir das Bodhicitta ein, die Identifikation mit diesen Handlungen, mit diesen Mustern aufzulösen. Sie strömen dann wie ein schwarzer Nektar aus uns raus, ein schwarzer Strom von all dem Dunklen, das in uns aktiv ist. Am Schluss der Praxis sitzen wir in völligem Vertrauen, dass wir ganz und gar mit Bodhicitta angefüllt sind, dass unser gesamter Geist, unser Körper, unser ganzes Wesen durchdrungen sind vom Geist des Erwachens. Wir spüren total, dass all die Qualitäten des Erwachens in uns vorhanden sind. Wir akzeptieren das nicht nur, sondern wir erleben es. Wir sitzen in der Fülle dieser Qualitäten, jenseits aller Angst, frei von allen Schuldgefühlen. Für den Mo-ment des Erlebens sind wir befreit von allem, was uns aus der Vergangenheit belastet.

Wenn die Dorje-Sempa-Praxis richtig ausgeführt wird, ist sie unglaublich effektiv. Sie hat eine Inten-sität, die ich mit keiner anderen Praxis vergleichen kann, was das Auflösen dieser alten Verstrickun-gen angeht. Aber wir müssen sie auch mit diesem Verständnis ausführen, und wir müssen vorbereitet sein dafür. Wenn sie nur einfach rezitiert wird, ohne dass die innere Arbeit stattfindet, hat sie diese Auswirkungen nicht. Sie ist deshalb als vorbereitende Übung gedacht, weil sie alles aus dem Weg räumt, was uns in diesem Netz der Verstrickungen zurückhält und so verhindert, dass wir in das offene Gewahrsein von Mahamudra eintauchen können.

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Diese karmischen Verstrickungen sind durch unser Handeln mittels Denken, Reden und physischem Handeln entstanden. Wir haben Kräfte in Bewegung gesetzt, die uns immer wieder einholen, uns zu-rückhalten und immer wieder in die alten Muster zurückziehen. Und das veränderte Bewusstsein, das es braucht, um ins Mahamudra-Gewahrsein einzutreten, ist zumindest einmal eine Ahnung davon, dass wir ganz frei und unbelastet sein könnten. Diese Ahnung – wenn nicht sogar Gewissheit – braucht es, um Nutzen zu haben von Unterweisungen, die uns immer wieder ermutigen, einfach Buddha zu sein, das Erwachen hier und jetzt zu erfahren. Das geht gar nicht, solange uns die Stricke unserer karmischen Vernetzung aus Schuldgefühlen, Negativität, Begierde-Verhaftung, Hass, angst-vollen Besetzungen, Traumata, usw. gefangen halten. Das wirkt! Und diesem Wirken können wir uns normalerweise nicht entziehen, wir müssen es auflösen.

Die Vajrasattva-Praxis ist eine Konfrontation mit unseren Schatten bei gleichzeitigem Begehen neuer Wege im Umgang mit diesen Schatten. Der radikal neue Weg ist das Einströmen von Bodhicitta-Nektar, von Licht, einem lichten Gewahrsein all dieser erwachten Qualitäten an die Orte, wo vorher Verstrickung und Dunkel waren, bis wir uns selber als Vajrasattva fühlen können. Am Ende der Praxis verschmilzt Vajrasattva mit uns, wird total eins mit uns und wir fühlen uns untrennbar vom völlig reinen Geist aller Buddhas.

Aber dass diese Praxis nicht einfach bloß ein Überstülpen wird von einem Bewusstsein, das wir zwar sehr gerne hätten, aber dann unter Belastungen gar nicht aufrechterhalten können, dafür muss ganz viel passieren. So manche haben die Vajrasattva-Praxis zu ihrer Lebenspraxis gemacht, weil sie genau damit arbeiten möchten.

Natürlich bräuchte es für eine komplette Beschreibung unendlich viel Zeit, weil es darum geht, uns aller nichtheilsamen Handlungen und Muster bewusst zu werden und da hinein das neue Gewahrsein einzuladen. Und das ist ein zu großer Schritt. Wenn uns etwas bewusst wird, was wir „ausgefressen“ haben oder was uns belastet, wo wir uns verstrickt haben, dann ist es uns normalerweise gar nicht möglich, in ein Gewahrsein hinüber zu wechseln, in dem all das aufgelöst ist. Während uns das bewusst wird, sitzen wir ja in der Furche, wir sitzen in dem Flussbett. Es fällt uns z.B. auf, dass wir jemandem Unrecht getan haben, dass wir in einer Situation stark ichbezogen gehandelt haben und dem anderen wegen unseres eigenen Vorteils wirklich Unrecht getan haben. Zunächst einmal wissen wir nicht recht, wie wir damit umgehen können. Wir haben jemandem richtigen Schmerz zugefügt. Da sind die vier Kräfte ganz wichtig, um die Ackerfurchen abzugraben und den Weg zu bahnen, auszu-steigen aus dieser Identifikation mit den Schuldgefühlen. Wie lösen sich Verstrickungen, Schuldge-fühle auf?

Die vier Kräfte Ich erkläre euch noch einmal die vier Kräfte der Reinigung, die vier Kräfte eines vollständigen Be-kenntnisses. Es ist ganz einfache Psychologie, die der Menschheit seit Jahrtausenden bekannt ist.

1) Es muss mir bewusst werden, was ich überhaupt getan habe. Die Verstrickung muss mit ihren nicht-heilsamen, schädlichen Auswirkungen bewusst werden. Es muss also ein Bewusstsein dafür entstehen, was ich mit einer bestimmten Verhaltensweise tatsächlich für eine Kaskade ausgelöst habe, zu wel-chem Leid sie führt – in mir, beim anderen und im Umfeld. Dieses Bewusstsein muss so stark werden, dass ich mein Verhalten zutiefst bereue, dass ich mit meinem ganzen Wesen nach anderen Handlungs-möglichkeiten suche. Das ist der erste Schritt – Bekennen, das Bewusstwerden, das zu einem tiefen Bereuen wird. Die Tibeter nennen das shagpa, das bedeutet soviel wie „offen legen“. Es muss offenkundig werden.

Das Beste ist, unser Handeln nicht nur vor uns selber zu enthüllen und dazu zu stehen, sondern es sogar noch jemandem zu sagen, es mit jemandem zu teilen. Ein Bekennen ist ein Offenlegen vor Zeugen. Wir legen offen, was uns durch den Geist geht. Heute haben Therapeuten, Lamas oder der-gleichen oft diese Funktion, Bekenntnisse entgegenzunehmen. Früher war das im Beichtstuhl so.

Die eigentliche Funktion ist, dass es voll ins Bewusstsein steigt und dass wir auch mit jemandem darüber sprechen können oder uns selber darüber klar werden, was die Auswirkungen eines solchen Handelns sind. Dass es uns graust, dass es uns ganz anders wird, weil uns bewusst wird, was wir unbe-wusst oder nicht voll bewusst getan haben. Das wird uns jetzt ganz bewusst, und wir bereuen es. Aber das Bereuen reicht noch nicht, es fehlt noch was. Gut, ich kann bereuen, dass ich jemanden umge-

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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bracht habe. Aber es stellt sich die Frage: „Ja, wirst du es denn wieder tun? Wirst du, wenn du mich beklaut hast, mich wieder beklauen? Ist ja nett, dass du es bereust, aber wenn du wieder einmal Geld brauchst, wirst du es dann wieder tun?“ Und dann kommt der zweite Schritt:

2) Der eindeutige Entschluss, nicht wieder so zu handeln mit dem Wissen, dass ich alles dransetzen muss, nicht wieder so zu handeln. – Ich kann nicht einfach pro Forma versprechen: „Es wird nie wieder vorkommen!“ Das machen Kinder. Wir werden auch sagen „Es soll nie wieder vorkommen“, aber dann braucht es auch noch mehr. Denn so schwach wie wir sind, mit unseren Mustern, die noch aktiv sind, braucht es mehr als das.

Es braucht Unterstützung und es braucht Hilfsmittel, um mit den alten Mustern aufzuräumen. Das sind die Schritte drei und vier. Man nennt das die Kraft der Stütze und die Kraft des Heilmittels, des Gegenmittels. Das erste ist die Kraft des Bekennens, Bereuens, das zweite ist die Kraft der Umkehr, des Entschlusses, nicht wieder so zu handeln, das dritte ist die Kraft der Stütze und das vierte ist die Kraft des Heilmittels.

3) Mit Kraft der Stütze sind im Dharma Zuflucht und Bodhicitta gemeint. Sie sind die Stütze. Was ist die eigentliche Stütze? Da hilft uns wieder, dass wir Zuflucht schon genauer definiert haben. Es ist die Kraft der inneren Ausrichtung. Wir müssen die innere Ausrichtung stärken. Es muss uns klar sein, wo-rum es uns wirklich geht im Leben. Wir verzichten lieber einmal auf etwas, als zu klauen, weil uns zum Beispiel die Qualität der Freundschaft und des Vertrauens in zwischenmenschlichen Beziehungen weit wichtiger ist als der persönliche Vorteil, den wir durch ein bestimmtes Verhalten aus der Situa-tion rausziehen könnten. Wir bleiben treu, obwohl sich gerade ein Seitensprung anbietet, weil uns die Qualität der Treue, dem Partner/der Partnerin offen in die Augen schauen zu können, viel wichtiger ist als der kurze Genuss eines Seitensprungs. Qualität wird betont, die innere Ausrichtung wird betont – die Zuflucht – und letzten Endes sind das die Qualitäten des Erwachens. Es geht mir darum, wirklich ins Erwachen zu kommen. Und alles, was dazu beiträgt, ist mir weitaus wichtiger, als die persönlichen Vorteile, die ich durch dieses oder jenes Handeln haben könnte.

Teilnehmerin: Für mich ist diese neue Ausrichtung bei großen und gravierenden Situationen ja relativ leicht. Das kann ich klarstellen und da gehe ich mit der ganzen Kraft rein. Viel schwieriger empfinde ich es aber bei Dingen, die so klein und subtil sind, wo ich zwar in der Situation auch erkenne, dass ich Negatives verursache und diese Negativität natürlich auch total bereue. Gleichzeitig merke ich aber auch, dass ich eigentlich noch gar nicht die Bereitschaft habe, davon zu lassen, weil es noch immer eine bestimmte Lebenssicherheit gibt. Mit den großen Dingen geht es ja eh leicht.

Das ist schon einmal sehr schön, dass du die großen Dinge leicht lassen kannst! Erst räumen wir natürlich mit den großen auf, und dann wird die Feineinstellung immer stärker. Wenn wir feine Muster bemerken und noch nicht voll motiviert sind, mit ihnen aufzuräumen, müssen wir uns noch deutlicher anschauen, was sie für Auswirkungen haben. Daraus kommt die notwendige stärkere Motivation, die stärker sein muss als das Gewohnheitsmuster, so zu handeln. Und wir brauchen dann erneut ein Be-wusstsein für die Qualitäten, die gefördert werden, wenn wir nicht so handeln. Das ist der dritte Punkt.

4) Wir brauchen Gegenmittel, Heilmittel: Methoden, anders vorzugehen. Wir müssen neue Wege entdecken, und genau da können wir einander in einer Sangha, in einer Gemeinschaft unglaublich helfen: Dass wir füreinander Stütze sind, miteinander sprechen, uns austauschen und miteinander Gegenmittel und Wege finden. Da ist noch ein unglaublicher Bereich zu bearbeiten. Vieles geschieht ja über Rede, über Kommunikation. Wir sind ungeschickt, und obwohl wir es gar nicht wollen, tun wir anderen durch die Art wie wir sprechen manchmal so weh. Wir verletzen die Gefühle anderer.

Wir können neue Wege der Kommunikation lernen, die z.B. mit der Giraffensprache von Rosenberg sehr schön beschrieben werden, gewaltfreie Kommunikation usw. Das hilft unglaublich. Wir sollten diese Methoden nutzen und uns darin schulen, aber wir sollten auch ganz gezielt schauen, was denn die alten Muster immer wieder anspringen lässt und sie auch verstärkt. Wir wenden uns diesen Ängs-ten, Interpretationen und Sichtweisen, die zu dieser Art von Verhalten führen, zu. Auch das müssen wir angehen. Nicht nur das Neue muss gebahnt werden, sondern auch die Kräfte, die das Alte immer wieder auslösen, müssen gezielt angegangen werden. Es ist eine richtige Arbeit.

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Teilnehmerin: Wenn ich jetzt auf so einen subtilen Punkt komme bei Dorje Sempa und nicht zu diesem Entschluss komme, es wirklich nicht mehr zu tun, dann … Dann fehlt noch was! … Habe ich dann die Praxis umsonst gemacht?

Du bist in der Praxis, du hast sie einfach noch nicht abgeschlossen. Du hast sie nicht umsonst gemacht, die Praxis geht noch weiter, sie ist noch unvollständig. Wir können eine Praxis gar nicht abschließen. Es ist ein Ideal zu glauben, eine perfekte Praxis machen zu können – das gibt’s überhaupt nicht. Wir können nur sagen: „Aha, ich bin damit im Prozess und schaue immer feiner hin, wo es mich zurück-hält, was denn immer wieder bewirkt, dass ich im Alten lande.“ Ich kümmere mich darum, mir sowohl Heilmittel, vorwärts gerichtete Methoden zu erarbeiten, mir Wege zu erarbeiten um z.B. anders zu kommunizieren, als auch Mittel zu finden, um aufzulösen, was die alten Prozesse immer wieder anspringen lässt. Auch da muss Licht ins Dunkel. So manche von uns würden dann so gerne hinüber springen, wenn sie gerade am Furchenrand ankommen: „Und jetzt bin ich Dorje Sempa, und alles ist in Ordnung!“ – Wenn das nicht geht dann bin ich halt Tara. – Und dann muss die Welt aber auch in Ordnung sein. Dann bewirkt irgendwas, dass ich wieder einmal abgelenkt und unaufmerksam bin, und schon – flutsch – bin ich wieder der alte Tilmann. Ich denke mir: „Wo ist denn der Dorje Sempa hin? Eben war er doch noch ganz überzeugend da!“

In dieser Weise findet normalerweise unsere Praxis statt und so manche geben dabei irgendwann auf, weil sie es satt haben. Es baut sich immer wieder eine Illusion auf von „Es könnte die Welt doch eigentlich so gut sein.“ Das sind unsere Erfahrungen in den Sitzungen, die gut laufen. Wir haben das Gefühl, wir kommen in ein ganz weites, offenes Gewahrsein: Die Welt ist perfekt, ich lebe im Para-dies. Ich bin in Dewachen! … Und in der nächsten konkreten Situation sind wir wieder in die alten Muster reingerutscht, weil wir uns ihnen nicht ausreichend zugewendet haben.

Teilnehmer: Ist es nicht ein Wirken von Praxis, dass ich merke, dass ich in die alten Muster falle?

Genau, da hast du völlig recht. Dass wir es überhaupt bemerken und die Alternative schon spüren, das ist das Wunderbare an der Praxis. Der Irrtum ist, dass wir meinen, es wäre so leicht, da hinüber zu wechseln. Und dass wir daran verzweifeln, weil uns das nicht gelingt und dann denken, irgendwas wäre an der Praxis oder an uns verkehrt. Dabei fehlen uns einfach Zwischenschritte. Und ich bin jetzt grade mit diesen Zwischenschritten zugange, ich habe die vierte Kraft noch nicht vollständig erklärt.

Teilnehmer: Was Allgemeines und dann noch was ganz Konkretes. Ich weiß nicht, ob bei den Qualitä-ten Bescheidenheit, Demut, Soheit genannt worden sind. Für mich ist Gendün Rinpoche ein gutes Beispiel, das Modell für Bescheidenheit. Ich glaube, es ist hilfreich, auch gewisse Dinge anzunehmen, also ein Plädoyer für alte Flussbette. Denn die alten Flussbette muss ich überhaupt erst einmal in ihrem Sosein akzeptieren. Und das ist die Bescheidenheit. Das ist für mich Passivität, da nehme ich ja was an. Und ich kann nicht meine Buddhanatur annehmen, wenn ich diesen bescheidenen Schritt nicht gehen kann. – Das ist natürlich eine persönliche Erfahrung aber auch eine Erfahrung mit anderen Menschen

Und jetzt zum Konkreten: Du sprichst von anderen Methoden, außerhalb dieses Raumes. Natürlich kann so ein verlängertes Wochenende nicht allen Funktionen nachkommen, aber man könnte ja auch zum Beispiel Erfahrungen, die wir hier gemacht haben – Ich hab vorhin Küchenarbeit gemacht und dabei zwei wesentliche Erfahrungen gemacht, eine persönliche und eine interaktionelle – hier in diesem Raum besprechen. Denn mein Gefühl ist, dass wir dem Konkreten gerne ausweichen und dann springen nach – Dewachen. Das könnte ent-ängstigend wirken und manchen den Mut zu anderen Methoden geben.

Das verstehe ich total. Ich weiß nur nicht, wie es genau laufen kann, wie es möglich ist, mit so vielen Menschen in solche Prozesse zu gehen. Dass das konkret Erlebte hier einfließen kann und dass es nicht außerhalb des Raumes was zu suchen gibt, ist mir auf jeden Fall ganz wichtig. Die Arbeit, die wir während dieses Kurses ganz intensiv machen, ist ja, die feinen Mechanismen des Geistes anzu-schauen und feiner gewahr zu werden, sodass wir allmählich auch die kleineren Fische wahrnehmen, nicht nur die großen. Jetzt einen interaktiven Prozess zu starten, würde den anderen Prozess wieder etwas ausbremsen. Ich bin dabei, euch eher in die Stille hineinzuführen, in das stille Hineinschauen in den Geist, wo jeder den ganzen Tag über viele kleine Erfahrungen macht. Eigentlich bräuchte es zu-sätzlich noch Raum, um sich auch darüber auszutauschen. Dazu bräuchten wir etwas längere Retreats.

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Aber um diese Anregung aufzunehmen: Bitte tauscht euch untereinander über diese Dinge aus. Nutzt in der Sangha, der Gemeinschaft der Praktizierenden, die Gelegenheit und sprecht nicht einfach nur über allgemeines sondern auch über die kleinen, wichtigen Erfahrungen. Da, wo man stecken geblie-ben ist, in einer Sackgasse gelandet ist, und da, wo sich Neues aufgetan hat, wo eine neue Möglichkeit sichtbar wurde. Teilt diese Erfahrungen miteinander. Ich werde mir überlegen, wie ich das in zukünf-tigen Jahren auch wirklich mit euch tun kann. Es ist mir ein großes Anliegen, das auch im Konkreten zu tun.

Damit noch einmal zurück zur dritten und vierten Kraft, die vom Dharma her angesprochen werden. Die Kraft der Stütze war die innere Ausrichtung, die Zuflucht, und dann wird immer noch das Bodhicitta angeführt. Wenn ich die Kraft des Bodhicitta auf die ganz alltägliche Ebene bringe, dann ist es die völlige Entschlossenheit, jedem, dem ich begegne, heilsam zu begegnen und keinem, dem ich begegne, schädlich oder nichtheilsam zu begegnen. Das ist die einfachste Ebene von Bodhicitta. Wenn ich die Freude daran, jedem heilsam zu begegnen und das auch zu tun, immer tiefer in mir verankere, dann ist das eine unglaubliche Stütze, um mit allem aufzuräumen, was nicht heilsam ist – Ver-strickung, schädliches Handeln. Nichtheilsames Handeln wirkt belastend. Heilsames Handeln wirkt nie belastend. Ist euch das schon einmal aufgefallen? Heilsames Handeln hinterlässt uns mit einem freien Geist, und das ist wunderbar. Und so möchten wir es ja eigentlich mit allem haben, in jeder Situation.

Indem wir uns in dieser inneren Ausrichtung auf die Qualitäten des Erwachens und der Motivation, stets heilsam zu wirken, tief verankern, räumen wir bereits ein ganzes Feld auf, in dem es dann immer unwahrscheinlicher wird, dass uns die Kräfte in schädliches Handeln hineinführen. Aber es ist immer noch möglich, denn es braucht noch die vierte Kraft, die Kraft der Heilmittel.

In den traditionellen Texten wird eine Vielzahl von Heilmitteln aufgezählt – aus dem Bereich der Interaktion, der inneren Bewusstwerdung, bis hin zum Gewahrwerden der imaginären, bedingten und nicht fassbaren Natur der Phänomene. Es gibt eine große Spanne an Methoden, die als Heilmittel in Frage kommen. Konkret muss ich mich fragen: „Was tue ich, um bei einem Muster oder bei einem Handeln, das mir bewusst wird, die Wahrscheinlichkeit des Auftauchens eines solchen Handelns dras-tisch zu senken – gegen Null hin? Was kann ich aktiv tun, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass ich wieder so handle?“ Im Rahmen der vorbereitenden Übungen ist die Vajrasattva-Praxis selbst das prinzipielle Heilmittel. Sie gehört in diese vierte Kategorie, und zur ihr gehört, dass die ersten drei Schritte ebenfalls vollzogen wurden. Für jedes Muster, jede belastende Handlung und jede Ver-strickung, die uns bewusst werden, praktizieren wir zunächst die ersten drei Schritte [des Bereuens, der Umkehr und des Stärkens der Stütze] und visualisieren dabei oder anschließend den einströmen-den Nektar als das Heilmittel. Dabei öffnen wir uns für das erwachte Gewahrsein und tauchen in diese Qualitäten ein – das ist das eigentliche Heilmittel, aber es gibt viele Methoden.

Teilnehmer: Ich denke, dabei ist das Heilmittel die Entscheidung, die Praxis zu machen. Da entschei-de ich mich ja. Was dann kommt, welche Qualitäten sich dann entwickeln, das ist das eine, aber die Entscheidung, etwas Altes zu machen oder diese Praxis, das ist ja schon eines der Heilmittel.

Ja, das gehört mit dazu. Was ich euch hier beschrieben habe, ist Teil dieses heilsamen Prozesses – vom ersten bis zum letzten Punkt und alles was zwischendurch passiert.

Teilnehmer: Ich bin z.B. in einer Situation, wo ein altes Muster wieder greifen würde. Du sagst – wenn ich es richtig verstanden habe – dass in dem Moment, wo ich mich aber entschieden habe, die Praxis zu machen, in dem Augenblick…

Ach so meinst du das. Jetzt verstehe ich, was du meinst. In dem Moment hörst du ja auf, in dem Muster weiter zu funktionieren und wendest dich der Praxis zu, ja klar.

Wir müssen mit jedem unserer Muster durch diesen heilsamen Prozess gehen. Wir können uns nichts ersparen, wir können nicht springen. Unsere Generation von Praktizierenden hatte irgendwo noch die Erwartung, dass wir vollständig anders werden würden, wenn wir das alles einmal gemacht haben. Gendün Rinpoche sprach immer von einem riesigen Hausputz, den man dann gemacht hat, wenn man die 111.000 Vajrasattva-Mantras mit der Visualisation praktiziert hat. „Das wirkt ja so super, dann sind wir so kräftig durchgereinigt und es braucht nur noch 21 Mantras jeden Tag, dass sich kein Staub

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ansammelt.“ – Ja, irgendwie ist es dann doch nicht ganz so. Wir müssen diese Praxis in jedem Moment ausführen. Es ist nicht mit einem Mal erledigt und dann abends vor dem Schlafen einmal kurz durchputzen und alles ist in Ordnung. Wir müssen die Praxis die ganze Zeit ausführen.

Teilnehmer: Dieses Feld zum Auflösen der Muster ist doch eigentlich das klassische Feld der Psycho-therapie. Insofern wäre doch auch hier nahe liegend, die Erfahrungen unserer westlichen Psychothe-rapie zu benutzen, um die Muster aufzulösen.

Ja, das sollten wir auf jeden Fall tun. Psychotherapie ist ein enormer heilsamer Verstärker für das, was wir im Moment nicht alleine leisten können. Wo Vertrauen entsteht, wo Klarheit, Weisheit entstehen, wo wieder eine Leichtigkeit einzieht, wo Bewegungsfreiräume zunehmen, da wirkt Psychotherapie heilsam. Wir nehmen da dieselben Kriterien wie auch für die Dharmapraxis. In unserem Umfeld gibt es auch Freunde, zu denen wir gehen können, die uns für eine Weile beistehen können, aber es kommt der Zeitpunkt, wo wir alleine weitermachen müssen.

Teilnehmer: Dein Engagement in essentieller Psychotherapie ist dann im Grunde genommen Dharma-praxis mit Unterstützung westlicher Psychotherapie?

Ja, so kannst du es ausdrücken. – Für mich ist alles Dharma, was ins Erwachen führt. Und therapeu-tische Begleitung trägt dazu bei. So einfach ist das. Manche Dharmalehrer haben das Gefühl, alle Methoden müssten schon im traditionellen Dharma zu finden sein und neue Methoden sind eher mit Skepsis zu betrachten. Das ist daneben. Der Dharma hat sich im Laufe der Jahrtausende ständig um neue Methoden bereichert und erweitert. Wir brauchen da überhaupt keine Trennungslinie zu ziehen. Was im Dharma zentral ist – deshalb setze ich mich für die essentielle Psychotherapie ein – ist, dass die Ausrichtung ins Erwachen nie vergessen wird, sie zieht sich wie ein roter Faden durch alles durch. – Ob es demjenigen, der zu uns kommt, bewusst ist oder nicht, aber dem Begleiter geht es immer da-rum, die Wege ins Erwachen zu öffnen, auch wenn die konkrete therapeutische Aufgabe sehr viel begrenzter ist.

Teilnehmer: Dann ist essentielle Psychotherapie eher eine Unterstützung auf dem Weg zum Erwachen, denn es gibt ja auch andere Therapierichtungen, bei denen Erfahrungen aus Buddhismus oder Yoga genutzt werden, damit z.B. Geschäftsleute ihre Bankgeschäfte besser machen können, was nicht unbe-dingt in Richtung Erwachen geht und was auch nicht unbedingt die Heilsamkeit für andere Menschen einschließt.

Ja, das ist eine andere Gewichtung.

Teilnehmer: Im Grunde genommen stimmt dann der Begriff essentielle Psychotherapie eigentlich nicht, außer du nimmst Psychotherapie auch als Begriff für ‚Weg zum Erwachen’.

Wieso nicht?

Teilnehmer: Psychotherapie ist ja Therapie, die eigentlich nicht unbedingt was mit Erwachen zu tun hat. Wenn jetzt das Hauptziel der essentiellen Psychotherapie das Erwachen ist…

Ja, du bringst jetzt eine andere Diskussion ein. Wir haben natürlich gute Gründe, warum wir das so genannt haben. Einfach nur knapp beantwortet: Da, wo du einmal konsequent mit heilsamem Handeln beginnst und immer tiefer aufs Essentielle schaust, landest du in einem Weg des Erwachens. Wenn wir immer motiviert sind, weiter heilsam zu wirken, öffnend, befreiend zu wirken, dann landen wir in einem Weg des Erwachens. Da tut sich eine innere Dynamik des Heilsamen auf, die begleitet oder er-möglicht wird, dadurch dass es immer mehr um die fundamentalen, die essentiellen Aspekte geht und die Randaspekte eher weniger betont werden. Es geht immer tiefer, es geht auch um die Hilfe in Hinblick auf den Tod, auf Vergänglichkeit. Es geht um die Hilfe in Hinblick auf die grundlegenden Fixierungen, die Leid auslösen. Wenn es darum geht, wenn der Blick aufs Essentielle gerichtet ist, dann wird das zu Dharma.

Teilnehmerin: Das machen ja viele andere Psychotherapierichtungen auch.

Selbstverständlich. Das ist ja keineswegs in Abgrenzung formuliert.

Teilnehmer: Therapie kann ja oft auch helfen, gerade wenn man Muster hat, wo man nicht weiter-kommt oder wo man sich mit diesen Ängsten überhaupt nicht auseinandersetzen kann. Da sind ja zum Beispiel Familienaufstellungen total hilfreich, um an diese Muster überhaupt erst mal ranzukommen.

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Gerade mit Dorje Sempa habe ich auch festgestellt, dass ich da so mit Verhaltensmustern arbeite und gar nicht an diesen tief gelagerten Ängsten oder Schmerzen, die man hat, woraus das alles entsteht, und darum finde ich auch, dass Therapie eine ganz nützliche Sache ist, ergänzend dazu.

Bevor wir die Diskussion noch weiter ausdehnen. – Es ging mir genau darum, dass wir mit der Vajrasattva-Praxis nicht einfach innerlich sagen: „O.k., tut mir leid! Vajrasattva schick deinen Segen und ich mach’s nie wieder.“ Das führt zwar zu einem vorübergehend guten Gefühl, aber ist noch nicht wirklich die Lösung, und die Kommentare weisen auch darauf hin. Ein Ernstnehmen dieser Kräfte, die ich euch beschrieben habe, bewirkt, dass wir uns wirklich Gedanken machen: „Wo liegen denn die Ursachen für wiederholtes Handeln in diesen Mustern, und wie kann ich sie tatsächlich auflösen?“

Teilnehmerin: Das war gestern so eindrücklich, was du von Gendün Rinpoche gesagt hast, dass wir den Alptraum in einen guten Traum verwandeln sollen. Ich merke bei mir, dass immer so moralische Lichter aufblitzen, wenn es darum geht, besser zu werden, gut zu werden durch das Verbessern von Samsara. Und das sollen wir ja eigentlich nicht. Und trotzdem, wenn ich an diesen Ausspruch mit dem Alptraum und dem guten Traum denke, dann geht es schon darum, sich mit Samsara zu beschäftigen und Samsara in gewisser Weise zu verbessern. Aber wir dürfen eben diese Ausrichtung nicht aus dem Blickwinkel zu verlieren.

Denn ich möchte natürlich auch leichter, besser, freudiger leben. Für mich geht es eigentlich darum, so eine Achtsamkeit zu entwickeln, dass ich nicht immer wieder in die kleinen Fallen reintappe. Wo ich dann hinterher denke: „Wieso hast du das jetzt wieder gesagt?“ Immer dieses: ‚hast wieder’. Und da denke ich, für mich ist die Entwicklung von Achtsamkeit im Moment der springende Punkt, und da immer feiner und immer differenzierter wahrzunehmen, was bei mir los ist.

Das Entwickeln von Achtsamkeit ist der Kernfaktor. Ohne das geht es nicht. Achtsamkeit ist über-haupt das, was uns ermöglicht zu bemerken, was in uns aktiv ist. Aber auch da muss ich ein kleines b-Moll anbringen: Wenn du z.B. zu dir im Nachhinein über ein Gespräch sagst: „Wäre ich da doch ein bisschen achtsamer gewesen, dann hätte ich das nicht so gesagt!“, dann fehlt da noch was. Das ist immer noch die Achtsamkeit, die dich in die Lage versetzt, dich zurückzuhalten, dir ein bisschen auf die Finger zu klopfen, bevor es zu spät ist, und eine andere Richtung zu gehen. Diese Achtsamkeit ist noch nicht das befreiende Gewahrsein; sie hat hier nur eine feine Beobachterfunktion, die Schlim-meres verhindert.

Um zu wirklicher Freiheit zu finden, brauchen wir ein Gewahrsein, das die Motoren des Handelns durchtränkt: die Motivation und die Sichtweise. Es mag uns z.B. passieren, jemandem schnippisch zu antworten oder uns aus Angst zu verteidigen statt wirklich hinzuhören. Um diese Muster aufzulösen, muss das Gewahrsein in die Bereiche unseres Seins hineinwirken, wo die Motivationen, Interpretatio-nen und Sichtweisen entstehen, die dann bestimmte Verhaltensweisen auslösen. Wenn uns Motivation und Sichtweise helfen, in einer gelösten Wahrnehmung zu sein – mitfühlend, liebevoll, angstfrei, ohne zu fixieren und zu vergegenständlichen – dann braucht es die erste Form der kontrollierenden Acht-samkeit gar nicht mehr. Sie kann dann wegfallen, weil die Tretminen bereits entschärft wurden. Die beobachtende Achtsamkeit brauchen wir solange wir durch ein Tretminenfeld gehen. Aber wenn alle Tretminen ausgeräumt sind, kannst du da herumlaufen, wie du willst. Dann kannst du Purzelbäume schlagen. Das ist der Unterschied, auf den ich hinaus möchte.

Es geht tatsächlich darum, in uns noch tiefer das Gewahrsein hineinzubringen, und zwar annehmend. Nicht, dass wir aufräumen und anders sein müssten! Es geht um ein Gewahrsein, das so tief anneh-mend und von Weisheit durchdrungen ist, dass die dualistischen Muster selbst durchschaut werden und an sich kein Problem mehr darstellen. Wir brauchen nicht wirklich jemand anders zu werden, wir brauchen nur diesen Mustern nicht mehr auf den Leim zu gehen. Das ist eine andere Sichtweise als zu meinen, wir müssten ein ‚anderer’ Buddha werden. Wir werden Buddha als dieser Mensch, der wir sind, auch mit unseren – dann von Fixierung bereinigten – Charaktermerkmalen. Wir sind jeder für sich ein ganz typischer Buddha. Wir bleiben auch vom Charakter her noch erkennbar, aber dieser Charakter löst kein Leid mehr aus. Das ist anders.

Da ist auch so eine feine Linie, um die es mir geht und von der vorhin ein Teilnehmer gesprochen hat: das Annehmen der alten Flussbette und der alten Furchen. Wenn ich sage, wir müssen raus aus der

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Furche in eine andere Bahnung, spreche ich noch sehr dualistisch. Diese Formulierung kommt noch sehr aus einem Ablehnen der bestehenden Furche heraus. Man kann den Prozess auch noch feiner darstellen als ein Erkennen der Furche, in der wir sind. Durch das Gewahrsein kommt es wie zu einem Verlangsamen des Stromes in dieser Furche, die Mechanismen greifen nicht mehr so. Es ist nicht so, dass sich alles aufgelöst hat, aber es ist nicht mehr schwerwiegend, es führt nicht mehr zum selben Verhalten. Wir können noch ganz stark Begierde-Impulse, Stolz-Impulse, Angst-Impulse spüren, aber im Anspringen dieser Impulse, die normalerweise zu ganzen Mustern und Furchen beitragen, ist schon so viel Gewahrsein und ein solches Annehmen – es ist nicht mehr mit Angst besetzt und es ist kein Kampf mehr da –, sodass sie in unserem Gewahrsein verpuffen. Es ist nicht notwendig, wirklich etwas Neues zu schaffen, sondern das Alte kann sich manifestieren, ist angenommen und löst nicht mehr all die Reaktionen aus, die sonst mit zum Spiel gehören.

Konnte ich mich da verständlich ausdrücken? Das ist das, was ich mit imaginärer, bedingter und nicht fassbarer Wirklichkeit meinte. Wir brauchen den dualen Bereich gar nicht zu verlassen, wir müssen ihn durchschauen.

Teilnehmer: Würde das nicht bedeuten, dass es reicht, wenn sich das Gewahrsein mehr und mehr verstärkt, dass man sich gar nicht so sehr mit den Mustern beschäftigt?

Ja, ich verstehe was du meinst. Ich habe auch versucht, auf meinem Praxisweg das Gewahrsein zu verstärken, ohne mich meinen Mustern zuzuwenden.

Ich meine, nicht so hart mit diesen Mustern arbeiten, sonst kämpfe ich ja ständig mit diesen Mustern…

Ja, da hast du völlig recht, vielleicht können wir ja weich mit diesen Mustern arbeiten! Ein liebevolles Gewahrsein! Für mich verdichtet sich das in diesem Wort: ein weiches, liebevolles Gewahrsein, das in alle Bereiche hinein wirkt und nicht darauf abzielt, dass wir jemand anders werden müssen. Es geht einfach darum, dass dieses liebevolle Gewahrsein immer wieder alles durchdringt, was sich manifes-tiert. Da können wir auch einmal Angst haben, wir können auch manchmal ärgerlich sein, aber es führt dann nicht mehr zu all den Folgeerscheinungen.

Ich habe auf meinem eigenen Weg Fehler gemacht, indem ich sehr stark dieses Gewahrsein betonte und nicht so voll entschlossen war, mich den Mustern zuzuwenden. Irgendwie muss ich diese beiden zusammenbringen. Ich muss dieses liebevolle Gewahrsein in den Mustern, mit den Mustern ent-wickeln. Ich habe das Gefühl, dass dieser Ansatz mehr integriert.

Teilnehmer: Ich hatte jetzt das Bild mit diesem Flussbett und jetzt werden wir gewahr, jetzt ist es so dass der Strom nicht mehr so strömt. Es ist eine Verlangsamung. Dadurch ist eine neue Form möglich, die aus uns kommt oder aus der Situation. So ist für mich das Bild jetzt. Ich denke, dann ist wie wir sind gar nicht mehr so wichtig, sondern dass es neu ist.

Ja, dem kann ich zustimmen. Lass dieses Bild einfach weiter in dir wirken, da kann noch ganz viel Kreatives passieren mit dem Bild. Es kann ruhig die alte Furche bleiben, aber es fließt ein anderer Strom drin. Es gibt so viele Möglichkeiten, was wir mit dem Bild als solchem anfangen können. Es kann zu einer Verlangsamung kommen, es kann ja auch einmal einfach innehalten. Es gibt Möglich-keiten, wo wir mit uns selber und unseren Mustern nicht so am Kämpfen sind, so als ob wir immer anders werden müssten.

Die Vajrasattva-Praxis ist richtig verstanden kein Austauschen von Schwarz gegen Weiß, sondern dass die Qualitäten des Erwachens im normalen Erleben zum Vorschein kommen. Also kein Austauschen, sondern ein Entdecken von dem, was die wahre Natur des Erlebens ist.

Die eigentliche Meditation auf Vajrasattva [4.4] Auf dem Scheitel unseres Kopfes meditieren wir unseren Guru als Vajrasattva mit weißem Körper, geschmückt mit den Merkmalen und Zeichen [eines erhabenen Wesens]; seine rechte Hand hält einen Vajra am Herzen und die linke eine Glocke an der Hüfte. Dann wenden wir uns an ihn: “Guru Vajrasattva, bitte reinige unsere Negativität und Schleier!“ und legen unsere Fehler mit [der Rezitation von] einem Bekenntnis unserer Wahl offen. Dann stellen wir uns vor, wie weißer Nektar von der großen Zehe seines [rechten] Fußes herabströmt, durch den Scheitel

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in uns eintritt und den ganzen Körper füllt. Er treibt all unsere Negativität und Schleier nach außen, bis wir überall nur noch von Nektar gefüllt sind. Erfreut, löst sich schließlich der Guru in Licht auf [und verschmilzt mit uns]. Wir meditieren, wie sein Körper, seine Rede und sein Geist untrennbar mit unserem Körper, unserer Rede und unserem Geist vermischt sind.

Dies war der zweite Punkt: das Reinigen von Negativität und Schleiern durch die Rezitation und Meditation von Vajrasattva.

Da steht nur soviel drin. In den anderen Texten steht sehr viel mehr, es ist hier wirklich nur eine Zu-sammenfassung. Karmapa gibt uns gerade die wesentlichen Erklärungen zur Visualisation. Ich bitte euch auch, mir zu verzeihen, dass ich jetzt nicht die Erklärungen zur Vajrasattva-Praxis gebe. Einige von euch haben sie ja schon erhalten und es gibt hier im Zentrum wirklich viele Lamas, die euch die Praxis erklären können.

Es geht mir jetzt um den Zusammenhang zwischen Vajrasattva-Praxis und Mahamudra-Praxis. Der Zusammenhang besteht darin, dass wir nicht in die Weite des Mahamudra-Gewahrseins eintreten kön-nen, solange uns Selbstzweifel, Schuldgefühle und unaufgelöste Verstrickungen zurückhalten. Und nachdem wir mit der ersten Praxis der vorbereitenden Übungen eine sichere, klare Richtung einge-schlagen haben und auch die Motivation entwickelt haben, tatsächlich den Weg zum Wohle aller Lebewesen zu gehen, geht es im nächsten Schritt darum, das aufzulösen, was uns ständig zurückhält und immer wieder in Verstrickungen landen lässt. Und das ist die Vajrasattva-Praxis.

Ich selber habe die Vajrasattva-Praxis – und tue es immer noch – mit unglaublicher Freude praktiziert und habe selber immer wieder von dieser Praxis riesigen Segen erfahren. Ich kann mich erinnern, dass ich nach dem ersten Ausführen dieser Praxis vor Freude und Segen auf dem Rücken gelegen bin, weil ich mich wie ein Kind nur noch überwältigt fühlte von der Intensität dieser Praxis. Ich führe die Praxis immer noch aus, sehe sie aber ein bisschen anders als damals. Inzwischen habe ich Drei-Jahres-Re-treats, auch Sechs-Jahres-Retreats betreut, im Kloster gelebt, wo alle täglich Vajrasattva ausführen. Alle haben – zum Teil mehrfach – diese Vajrasattva-Praxis ausgeführt, und ich muss trotzdem fest-stellen, dass es – wenn sich in den Drei-Jahres-Retreat-Zentren immer wieder die Positionen verhärtet haben – nicht die Vajrasattva-Praxis war, die das aufgelöst hat, sondern das direkte Gespräch, der Austausch auf dem Hintergrund des Anschauens der eigenen Muster.

Das Anschauen der eigenen Muster in der Praxis ist entscheidend und sehr, sehr hilfreich. Es braucht dann aber auch das Heraustreten aus dem eigenen Schutzraum, es braucht den Kontakt mit anderen, den Austausch, das Bekennen vor anderen. Wir müssen hören, was uns andere über unsere Fehler oder vermeintlichen Fehler zu sagen haben, was ihnen an uns nicht gefällt. Und damit müssen wir dann wirklich über einen längeren Zeitraum arbeiten. Es ist dann nicht mit einem Gespräch schon erledigt, sondern da findet eine richtige Arbeit statt.

Fragen

Eben wurde mir eine Frage gestellt, die sich vielen stellt, wenn sie mit der Vajrasattva-Praxis arbeiten:

Wir sind hoch motiviert, mithilfe der Praxis wirklich auch mit unserem engen Herzen aufzuräumen. Wir setzen uns z.B. hin und haben gerade irgendeinen Ärger gehabt. Wir haben uns über jemanden geärgert, und das Herz ist eng. Wir machen die Praxis und stellen uns vor, wie das Mantra von Vajra-sattva sich zu drehen beginnt, wie sich vom HUNG im Herzen Vajrasattvas der Nektar bildet, über die Mondscheibe überströmt und das Herz von Vajrasattva und dann den ganzen Körper von Vajrasattva erfüllt. Wir praktizieren bis die Intensität dieser Erfahrung so stark wird, dass aus der Zehe von Vajrasattva der Segensnektar direkt durch die Scheitelöffnung in uns strömt. Wir öffnen uns dafür und in dieser Öffnung gehen wir so weit wie wir nur können. Und trotzdem öffnet sich nicht immer alles, da ist noch ein Rest. Wie gehen wir mit diesem Rest um, was ist dieser Rest? Wie geht es da weiter?

Ich habe als hilfreich erfahren, in der Praxis vor und zurück zu gehen. Wir stellen uns nicht einfach vor, dass das Negative rausgespült wird und das Gute, das Weiße dorthin kommt, wo vorher Schwarz war. Wir bleiben an der Grenze von Schwarz und Weiß, wir gehen vor und zurück. Das heißt, ich gehe hinein in meine Gedanken des Ärgers, der Ablehnung, der Kritik und des Verletztseins. Ich halte diese

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Gedanken eine Weile und öffne mich dann der Sichtweise eines Buddha. Wie würde Vajrasattva das erleben?

Ich öffne mich zum Beispiel der mitfühlenden Schau des Anderen. O.k., das weicht mich ein bisschen auf. Ich gehe wieder zurück und spüre: Was hat das mit meinen Gefühlen gemacht? Da bleibt immer noch ein Rest. Ich gehe wieder zurück und tauche z.B. verstärkt ein in die Weisheitssicht und beginne zu verstehen, wie sich das bei mir alles aufgebaut hat und wie ich mich in dieser imaginären Welt verfangen habe. Dieser Aspekt der Weisheit beginnt wieder, einen Teil der noch bestehenden Härten aufzulösen.

Ich gehe wieder zurück und merke, dass ich immer noch im Groll bin: „Der hat mich doch unfair behandelt und wenn ich das so weiter gehen lasse und nichts dagegen tue, dann wiederholt sich das!“ Dann gehe ich wieder zurück und gehe wieder in das Vajrasattva-Gewahrsein hinein und denke dann: „Ja, und wenn es jetzt wieder passiert, ist es dann so schlimm? Wie kann ich denn damit umgehen, wie sieht es dann aus?“

Und so gehe ich immer wieder vor und zurück und bleibe an der Grenze zwischen dem vermeintlichen Schwarz und Weiß, bis dieses Gewahrsein wirklich beginnt, das gesamte Erleben von dem, was da war, zu durchdringen. Ich bin dem Ganzen nicht aus dem Weg gegangen, sondern habe es voll ins Bewusstsein geholt mit all seinen Nuancen und es tatsächlich zum Inhalt der Praxis gemacht und nicht zu etwas, das lästig ist und was ich so schnell wie möglich loswerden muss. Aber ich brauche Zeit dafür, und es kann sein, dass ich mich in dieser einen Sitzung wirklich nur damit befasse. Aber es kommt zu einem gründlichen Hinschauen, und es kommt zu einem Hineinspüren in das, was Vajra-sattva eigentlich wirklich ist.

Es heißt hier: Wir meditieren unseren Guru als Vajrasattva über dem Kopf. Das bedeutet, der innere Gedankensprung ist, uns in die Sichtweise unseres Lamas, unserer Meisterin oder unseres Meisters zu versetzen. Wie würde Karmapa das sehen? Wie würden Machikma – um eine Meisterin zu nennen – oder Khandro Rinpoche mit dieser Situation umgehen? Ich stelle mir das vor. Es ist ein kreativer Prozess, um in eine andere Sichtweise hineinzufinden. Aber ich stülpe mir diese Sichtweise nicht über, sondern ich bringe diese Sichtweise hinein in diese – man kann sagen durchaus berechtigten – Gedanken, Gefühle der Angst, des Ärgers, des Schützenwollens. Ich bringe sie da hinein und gehe vor und zurück. Wenn es sich dann gelöst hat, lasse ich es los und dann kann das Gefühl entstehen, dass Vajrasattvas Nektar, also das Bodhicitta, ganz Einzug gehalten hat in mir, in meinem Herzen, dass wirklich alles weiß ist. Dann kommt es zum Verschmelzen von Vajrasattva.

Teilnehmerin: Und während des ganzen Prozesses rezitiere ich das Mantra weiter?

Na ja, wenn du kannst, wenn du geübt darin bist, rezitierst du es weiter. Ansonsten machst du einmal eine kleine Pause und stellst es dir einfach so vor. Mach es nicht zu anstrengend für dich, so wie es halt möglich ist. – Gibt es noch andere Fragen dazu?

Teilnehmerin: Nicht genau dazu, sondern noch zu etwas von vorhin. Du hast gesagt, dass irgendwann der Punkt kommt, wo der Charakter kein Leid mehr auslöst. Ich kann mir vorstellen, dass ich bestimmte Anteile von meinem Charakter so bearbeiten kann, dass es da dann kein Leid mehr gibt, aber ich glaube, es kommen immer wieder Anteile meiner Person zum Vorschein, die Leid verur-sachen. Freud hat ja einmal gesagt: ‚Therapie ist, neurotisches Elend in allgemeines Leid zu über-führen.’ Das ist, denke ich, genau die Grenze der Psychotherapie, wo Dharma weitergeht und mehr die anderen mit einbezieht und gleichzeitig auch immer wieder eine Inspiration ist, Kraft ist, um Heilmittel, Gegenmittel zu suchen, den eigenen Charakter, das eigene Leid, wie immer man das nen-nen möchte, zu bearbeiten. Ich weiß nicht, ob meine Frage deutlich geworden ist.

Ja, ich muss mich da ein bisschen zurücknehmen, ich habe das zu verkürzt formuliert. Ich lebe nicht in der Illusion, dass ich oder irgendjemand einmal so sein könnte, dass durch unser Sein kein Leid mehr ausgelöst wird, denn Leid ist so vielfältig. Allein schon, dass wir heilsam handeln, wird andere ärger-lich machen. Oder in anderen wird z.B. dadurch Leid entstehen, dass sie mich nicht manipulieren können. Oder dass ich so unabhängig bin, dass es ihnen schon leidvoll ist, mit so einer Unabhängigkeit konfrontiert zu sein. Oder, oder, oder, … Es gibt so viele Situationen, die ich auch erlebt habe, wo Meister oder freie Menschen doch Leid ausgelöst haben, weil es einfach dazugehört. Wir können gar nicht leben, ohne auch leidvolle Erfahrungen anderer mit auszulösen, dafür mitverantwortlich zu sein.

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Aber ich meinte damit, dass wir Momente von Ärger erleben können, weil wir vielleicht ursprünglich einmal so ein Ärgertyp waren – ich war früher so ein Ärgertyp und bin sehr schnell angesprungen –, wobei jetzt der Ärger aber so eine Leichtigkeit bekommt. Man kann einfach einmal rausprusten, es kommt aber mit so einer Leichtigkeit rüber, dass niemand mehr daran Schaden nimmt. Oder wenn man ein Stolztyp ist – auch das kenne ich gut in mir, alle Typen kann man ja nicht sein … – und die stolzen Züge auch mit so einer Leichtigkeit gelebt werden, dass sie nicht mehr belastend wirken für andere, da sie mit soviel Gewahrsein durchdrungen sind, dass sie nicht mehr zu den krassen narziss-tischen Erscheinungsformen führen.

Thrungpa Rinpoche hat das einmal so beschrieben, dass man beginnt, seine Emotionen als Ornamente, als Schmuck zu tragen. Diese Ausdrucksweise kommt aus dem Vajrayana. Man sagt z.B. der Heruka, also der Yidam, trägt seine Kleshas wie als Schmuck. Sie sind so mit Gewahrsein durchdrungen, dass sie zum Weg des Erwachens werden. Das war im Hintergrund aktiv in mir, als ich diesen Satz vorhin gesagt habe.

Teilnehmerin: Was du vorher beschrieben hast, diesen Prozess dass man so hin und her wechselt, und vielleicht noch das Mantra rezitiert, das wäre doch ein Beispiel für diese parallelen Gedankenketten, oder?

Parallel, hm, es ist ein Wechsel. Es entsteht eine Stimmung. Wir sind innerhalb der Vajrasattva-Praxis in einem sehr heilsamen Feld und können uns trauen, das Unangenehme, vor dem wir normalerweise weglaufen, da sein zu lassen. Das darf da auftauchen und wird einer neuen Sichtweise zugeführt. Es wird mit Gewahrsein durchdrungen, es kommt Mitgefühl hinein, ein Annehmen. Es ist ein Grenzgang zwischen den Welten, der Welt der erwachten Sichtweise und der Welt der verstrickten Sichtweise. Da bewegen wir uns. Mir kommt es jetzt eben darauf an, zu betonen, dass wir vor unseren Verstrickungen und vor unseren Mustern nicht weglaufen, sondern ihnen die Möglichkeit geben, sich ganz und gar in diesem Gewahrsein zu zeigen.

Teilnehmerin: Mir kommt vor, gerade wenn diese Welten so verschieden sind, und man in der einen ist, scheint die andere irgendwie noch so durch.

Ja, das ist übrigens eine ganz normale Erfahrung für alle, die Vajrayana praktizieren. Wir praktizieren unseren Yidam, sind z.B. dabei, Tschenresi zu meditieren oder hier Vajrasattva und gleichzeitig sind wir doch noch verbunden mit unserem normalen Körper, unseren normalen Gedanken, und zugleich ist die Yidampraxis da. Es geht eben auch da um das Durchwirken unseres normalen Seins mit der erwachten Sichtweise, das ist die Aufgabe. Dabei entsteht dieses Erleben, dass ich mich einerseits zwar als Tschenresi visualisiere, als Tara oder als was auch immer und zugleich noch deutlich spüre, dass ich Tilmann bin. Das ist nicht schizophren. Das ist schon sehr heilsam.

Teilnehmer: Könntest du in dem Zusammenhang noch was sagen über spirituellen Stolz? Dieser Begriff ist schon aufgetaucht, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstehe.

Jetzt muss ich grade mal klären, meinst du spirituellen Stolz, wie ich ihn jetzt in den Unterweisungen einmal erwähnt habe oder meinst du diesen Stolz des Yidams?

Teilnehmer: Ja, genau.

Diesen göttlichen Stolz der Yidampraxis, den meinst du. Für die, die den Ausdruck noch nicht so ken-nen: Es wird im Rahmen der Yidampraxis davon gesprochen, dass wir ganz und gar zu diesem Buddha-Aspekt werden sollen. Wir entwickeln ein Selbstbewusstsein, wo wir innerlich zu der Über-zeugung gelangen, „Ich bin Tara!“ oder „Ich bin Tschenresi.“ Das wird entwickelt bis hin zu einer Gewissheit frei von Zweifeln. Diese tiefe Gewissheit nennt man den Vajrastolz oder den göttlichen Stolz, in dem Sinne Yidamstolz. Das ist wieder so typische Vajrayana-Ausdrucksweise. Das ist das Ende des wirklichen Stolzes, des Stolzes, der uns in Verstrickungen hineinführt. Dieses Selbstbe-wusstsein ist das Ende von Verstrickung.

Im Vajrayana werden die Wörter oft bewusst paradox benutzt, um uns aufmerksam zu machen darauf, dass gesundes Bewusstsein der Qualitäten, die nichts mit einem Ich zu tun haben, die gesunde Form von Stolz, von Präsenz ist, die das Erwachen kennzeichnet. Wohingegen der Stolz im Alltag, wo wir uns mit vermeintlichen Qualitäten identifizieren, die wir als ein Ich zu haben glauben, Leid erzeugend ist. Das führt zu Verstrickung. Mit dem Stolz der Gottheit ist ein offenes, freies, nicht haftendes Ge-

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wahrsein gemeint, in dem die Qualitäten frei fließen. Da gibt es niemanden mehr, der überhaupt nur den Gedanken hätte, ein Ich zu sein, ein Ich in Abgrenzung. Es ist einfach erlebte Präsenz im Fluss all dieser erwachten Qualitäten. Das ist eigentlich damit gemeint.

Teilnehmer: Also ich würde es dann eher mit „Würde“ bezeichnen als mit „Stolz“, Stolz hat für mich schon eben auch einen tückischen Beigeschmack.

Ja, deswegen wird der Begriff ja benutzt. Du versuchst jetzt, der Vajrayana-Ausdrucksweise auszuweichen. Das ist aber extra provozierend so formuliert, so dass wir uns Zeit unseres Lebens Gedanken darüber machen, was es denn eigentlich ist. Es wird auch von Vajra-Begierde gesprochen. Von Vajrayogini wird gesagt: mit Vajra-Begierde umfängt sie die Welt. Was ist denn damit gemeint? Wir wollen doch raus aus der Begierde, das ist doch Samsara, was ist denn da gemeint? Weiche daher dieser provozierenden Sprache nicht aus, sondern durchdringe sie mit Verständnis. Wenn du jetzt Würde einführst, dann ist das Ganze so abgeschwächt, dass es nicht mehr den Saft hat wie die ursprüngliche Sprache. Vajrastolz sieht vielleicht außen nach einer stolzen, einer würdevollen Präsenz aus, ist aber innen frei von jeglicher Fixierung.

Jetzt lasst uns ein wenig zusammen meditieren. Ich bin euch jetzt eigentlich eine Vajrasattva-Medita-tion schuldig, oder?

Vajrasattva-Meditation Wir setzen uns wieder bequem hin, können uns auch anlehnen. – Wir erinnern uns daran, was unsere innere Ausrichtung ist, die Ausrichtung unserer Zuflucht, das Erwachen mit all seinen Qualitäten. – Wir rufen uns die wichtigsten Qualitäten in Erinnerung. – Wir stellen uns vor, dass die Qualitäten des Erwachens Form annehmen. Zunächst eine weiße Licht-sphäre, von der Licht ausstrahlt, vorwiegend weiß aber mit allen anderen Farben des Regenbogens ebenfalls versehen. Diese Lichtsphäre kommt über unseren Kopf, strahlend wie eine Sonne. – Für diejenigen, die weiter gehen möchten: Ihr könnt euch vorstellen, dass diese Lichtsphäre die Form eines Buddha annimmt. Im Vajrasitz, mit zwei Armen, aufrecht, leuchtend, die rechte Hand ist vor dem Herzen und hält einen Vajra – Zeichen für die geschickten Mittel des Mitgefühls –, die linke liegt an der Hüfte mit einer nach oben gewendeten Glocke – Zeichen für die alldurchdringende Weisheit. Vajrasattva ist geschmückt mit einer Scheitelkrone, einem Diadem, mit Ohrringen, drei verschiedenen Halsketten, funkelnd, juwelenbesetzt; mit Armreifen, Reifen an den Handgelenken, den Fußgelenken, an den Knöcheln; mit einem Gürtel aus Gold, von dem Verzierungen herabhängen. – Diese vielen Schmuckstücke stehen für den Reichtum an Qualitäten, die der erwachte Geist natürlicherweise besitzt. – Vajrasattva ist strahlend weiß, transparent. Sein Gesicht ist friedlich, einladend, seine Hal-tung ist würdevoll, geschwungen, die vollkommene Präsenz des Erwachens. – In seinem Herzen ist eine flachliegende Mondscheibe, auf der sich die Silbe HUNG befindet. Darum herum befindet sich das Mantra, nach außen gerichtet, von außen lesbar. Wir nehmen erst einmal nur das kurze Mantra: OM BENZA SATO HUNG. – Vajrasattva sitzt oberhalb unseres Scheitels und vereint in sich die Qualitäten aller Buddhas, aller er-wachten Meister und Meisterinnen der drei Zeiten. – Es ist nicht wichtig, ihn deutlich zu sehen. Wir können immer wieder auch zu der weißen Lichtsphäre zurückkehren oder uns einfach auf sein Gesicht konzentrieren oder auf den Vajra vor seinem Herzen, die Glocke in seiner linken Hand. Was auch immer wir mit dem inneren Auge sehen können. – Vajrasattva ist über unserem Scheitel und wir nehmen uns einen Moment Zeit, um an unsere Ichbezo-genheit zu denken. An die vielen Male, wo wir anderen Schmerzen zugefügt haben; wo wir nicht aus Respekt gehandelt haben; wo wir gefangen waren in Stolz, Begierde, Hass, Eifersucht, Ängsten, Rivalität, und natürlich in mangelndem Gewahrsein. – Wir nehmen uns Zeit, das zu spüren, bis wir ganz davon betroffen sind. – Das Ausmaß von Leid, das ich in diesem Leben schon bewirkt habe, ist tatsächlich groß. Und ich möchte nicht wissen, was ich in früheren Leben getan habe. Aus diesem Bewusstsein heraus, wende ich mich an Vajrasattva und spreche innerlich: „Bitte hilf mir! Zeige mir den Weg! Wie geht der Weg ins Erwachen? Bitte reinige all meine Negativität und Schleier! Bitte hilf mir, dass ein offenes Ge-wahrsein, der Geist des Erwachens, in mich einzieht!“ –

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Mit diesem Wunsch beginne ich das Mantra OM BENZA SATO HUNG oder OM VAJRASATTVA HUNG innerlich zu rezitieren. – Ich rezitiere OM BENZA SATO HUNG innerlich immer weiter und wende mich damit ohne weitere Worte inständig an die Quelle des Erwachens, die zu sprudeln beginnt. – Die Silbe HUNG im Herzen von Vajrasattva ist diese Quelle des Erwachens. Sie beginnt zu sprudeln mit weißem Lichtnektar und ich rezitiere innerlich weiter OM BENZA SATO HUNG und stelle mir vor, wie Vajrasattva ganz von diesem Nektar angefüllt wird, bis der Nektar aus seiner rechten großen Zehe heraus fließt, direkt in meinen Scheitel hinein. Und ich öffne mich ganz und gar für diesen Segen, für die Präsenz des erwachten Geistes. OM BENZA SATO HUNG – Während der Nektar in mich eintritt, bleibe ich gewahr, was gerade heute, jetzt hier auf diesem Sitz die Enge in meinem Geiste, in meinem Herzen ausmacht und lade den Nektar ein, genau dorthin zu fließen, wo diese Enge spürbar wird. OM BENZA SATO HUNG – Ich nehme die Fixierung, das Muster, die Enge, die jetzt grade am deutlichsten spürbar ist und bringe die vier Kräfte zur Anwendung, während ich weiter den Nektarstrom fließen lasse. Ich bekenne, ich lege offen und finde die Bereitschaft, nicht daran festzuhalten. Ich erinnere mich daran, was die wahre Ausrichtung in meinem Leben ist, die Zuflucht, und lasse Bodhicitta meine Widerstände, meine Mus-ter umspülen. OM BENZA SATO HUNG – Das ist so, als wären meine Widerstände, meine Gedanken, meine Fixierungen wie Salzkristalle, die sich jetzt im Strom auflösen und den Körper nach unten hin verlassen. Ich spüre immer wieder hin, was noch übrig ist, bringe es ins Bewusstsein und öffne mich weiter für das Bodhicitta. OM BENZA SATO HUNG – Und wenn ich spüre, dass es in mir weich wird, dann tritt der Nektar immer tiefer, füllt den ganzen Brustraum, den Bauchraum, bis in die Beine, in die Füße, in die Zehen und spült mich ganz durch. Er tritt durch alle Poren nach außen und fließt in den goldenen Urgrund. OM BENZA SATO HUNG – Wir lassen zu, dass sich Entspannung und Offenheit ausbreiten. OM BENZA SATO HUNG – Und immer wieder, wenn wir Gedanken spüren, etwas, das noch verhakt, verstrickt ist, wenden wir uns an Vajrasattva und bitten um Unterstützung, um Klärung. OM BENZA SATO HUNG – Wir öffnen uns ganz für die Sichtweise des letztendlichen Bodhicitta wie auch des relativen Bodhi-citta, für Weisheit und Mitgefühl. OM BENZA SATO HUNG – Und wenn wir in einem wirklichen Gefühl von gelöster Wahrnehmung angekommen sind, dann schließen sich die Poren und der Nektar steigt in uns auf, füllt unser ganzes Wesen, sprudelt über, berührt den Fuß von Vajrasattva und fließt außen an uns herab, sodass wir innen und außen ganz von Bodhicitta-Nektar durchdrungen sind. OM BENZA SATO HUNG –

Wir verweilen noch eine Weile in dem Gefühl, dass sich alle Ängste, alle Schuldgefühle, alle Ver-strickung aufgelöst haben. Der Nektar sprudelt noch weiter. Und dann sagt Vajrasattva zu uns: „Liebe Tochter, lieber Sohn, es ist alles in Ordnung.“ Er löst sich in Licht auf, dieses Licht verschmilzt ganz mit uns und wir ruhen, ohne weiter zu rezitieren, in der Gewissheit, dass die erwachten Qualitäten unser wahres Wesen sind. – (Hier beginnt die Mahamudra-Meditation)

Das war ein kleiner Versuch, euch die Praxis nahe zu bringen. Gibt es Fragen dazu?

Teilnehmer: Ich hätte noch eine Frage zu diesem Bearbeiten von Mustern. Du hast betont, wie wesent-lich das ist, sich jedes Muster anzusehen. Wird es dann so sein, dass das vorherrschende Muster, das gerade bemerkt wird, bearbeitet wird, oder gibt es da Muster, an denen ich bleibe?

Gendün Rinpoche hat uns empfohlen, erst einmal zwei Durchgänge zu machen, wenn wir die Vajra-sattva-Praxis zu einer regelmäßigen Praxis im Rahmen des Ngöndro machen. In einem ersten Durch-gang gehen wir einmal rückwärts und identifizieren die großen Klopse, wo wir uns in unserem Leben wirklich fehl verhalten haben. Wir holen die Handlungen, die Verhaltensweisen, wo wir anderen geschadet haben, ins Bewusstsein und gehen so zurück und dann noch einmal nach vorne. Das kann Tage und Wochen brauchen, bis wir uns die großen Dinge angeschaut haben.

Dann hat er uns einen zweiten Durchgang empfohlen. Wir schauen uns an, wo die Kräfte der Begierde aktiv waren, wo die Kräfte der Abneigung, der Aggressivität, des Hasses aktiv waren, wo die Kräfte von Eifersucht und Neid aktiv waren. Damit gehen wir noch einmal unsere Lebensjahre durch. Wenn wir das gründlich gemacht haben, haben wir schon sehr viel gesehen. – Es wird natürlich subtiler als

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das, was meine Worte ausdrücken können, es kommen komplexe Situationen in Erinnerung, Sachen aus der Kindheit, frühe Geschichten, kürzer zurückliegende Geschichten.

Dann beginnen wir immer stärker mit dem jetzt gerade anstehenden Material zu arbeiten, das uns sozusagen im Alltagsgeschäft belastet. Und immer wieder tauchen auch noch frühere Geschichten auf. Die Vajrasattva-Praxis bleibt da noch nicht stehen. Sie wird in der Arbeit mit dem, was den Geist jetzt gerade eng macht, immer subtiler, bis wir Vajrasattva-Praxis tatsächlich als Mahamudrapraxis begrei-fen und mit der jetzt gerade bestehenden dualistischen Fixierung arbeiten. Wir bringen da das Gewahrsein hinein, lassen da hinein los, bis es wirklich Vajrasattva ist, der praktiziert. Da geht es dann gar nicht mehr um Bekennen usw., das hört alles auf. Es ist das Eintreten in dieses Gewahrsein selbst.

Wir arbeiten damit, wie wir immer wieder aus diesem Gewahrsein rausfallen und wie wir uns wieder da hinein öffnen können. So entwickelt sich die Vajrasattva-Praxis im Laufe vieler Jahre vom Gröbe-ren, am stärksten Belastenden bis hin zum Subtilen. Sie geht immer mehr an die Wurzeln dessen, was wir zunächst einmal an Handlungen sehen. Wir sehen zunächst heilsame und nichtheilsame Handlun-gen. Später beginnen wir die Emotionen zu sehen. Dann beginnen wir, hinter den Emotionen die emo-tionalen Muster zu sehen. Und dann beginnen wir, hinter den Mustern die ganze grundlegende Un-sicherheit, die Angst und das mangelnde Gewahrsein zu sehen. Immer mehr richtet sich die Praxis auf diese subtileren Schichten aus und kann auf diese Art als ganzer Weg des Erwachens genutzt werden.

Was bleibt, ist, dass wir immer mit dem arbeiten, was ansteht. Wir springen dann nicht mehr hin und her, sondern das, was grade ansteht, taucht im Bewusstsein auf. Gendün Rinpoche sagte uns zum Beispiel: „Jeder Gedanke, der auftaucht, enthält auf die eine oder andere Art eine Fixierung. Erkenne diese Fixierung und lade da hinein das Gewahrsein von Vajrasattva ein!“ Man arbeitet also mit jedem Gedanken, der auftaucht und rezitiert weiter. Jeder Gedanke löst sich in dieser Vajrasattva-Praxis auf wie die berühmten Schneeflocken auf dem heißen Stein. Es gibt also eine ganz große Spanne von Anwendungsmöglichkeiten für diese Praxis.

Teilnehmer: Ich wollte nur sagen, es war für mich jetzt sehr gut, weil ich mich als Handelnde, als Täterin gesehen habe. Ich rutsche bei Dorje Sempa schnell in diese Opferhaltung, als würde mir was angetan. Diesen Schwenk habe ich jetzt gerade deutlich gehabt, danke.

Es ist einfach passiert. Ich glaube, ich habe nichts dazu getan. Schön.

Wer sich wirklich intensiver mit dieser Praxis befassen möchte, kann ja die Dharmalehrer um die ausführlicheren Unterweisungen bitten. Um diese Praxis ausführlicher ausführen zu können, braucht man auch eine Ermächtigung, eine Initiation. Sie hat im Grunde genommen die Aufgabe, uns mit dem Segen der transformierenden Praxis zu verbinden. Es geht in einer Ermächtigung darum, dass der Meister, der diese transformierende Erfahrung gemacht hat, uns die Gewissheit übertragen kann, dass wir tatsächlich die Natur von Vajrasattva haben, damit diese Gewissheit in uns entsteht und wir in der privaten Praxis an sie anknüpfen können. In der individuellen Praxis knüpfen wir an die Erfahrung während der Ermächtigung an, schon einmal erahnt, gespürt zu haben, worum es eigentlich in der Praxis geht. Eine Ermächtigung hat ihren Sinn erfüllt, wenn wirklich solch eine Erfahrung, eine Ahnung in der Übertragung entstanden ist.

5. Tod und Unbeständigkeit [7.5] Wenn wir nicht über Unbeständigkeit meditieren, werden wir uns nicht von der Ver-strickung mit diesem Leben abwenden. Wenn wir uns nicht davon abwenden, finden wir keine Befreiung aus Samsara.

Das ständige Beschäftigtsein mit diesem Leben, die Verstrickung damit, beruht auf dem Glauben, dass es hier etwas Beständiges gibt und dass es sich lohnt, sich darum ständig zu kümmern. Es hat mit Annahmen zu tun, die den Dingen, um die wir uns kümmern – den Beziehungen, den Gegenständen – eine höhere Beständigkeit beimessen, als sie tatsächlich haben.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel: dieses Haus hier, das Dharmazentrum Möhra. Zum Zeitpunkt des Erwerbs war es in einem desolaten Zustand, und jetzt sieht es proper aus, ziemlich gut. Wie lange wird es wohl so gut aussehen? Das hängt davon ab, über welche Bereiche wir sprechen, aber alle Bereiche

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werden in dreißig Jahren erheblich gelitten haben, einige noch viel schneller. Die Frage ist: Wenn dieses Leben, das ich habe, nur von kurzer Dauer ist, wie viel Energie setze ich während dieses relativ knappen Lebens ein, um mich um die Instandhaltung eines Hauses zu kümmern? Es macht natürlich mehr Sinn, wenn es sich um ein öffentliches Zentrum handelt, wo ganz Viele davon profitieren. Aber wie stark setze ich mich für die Pflege meines Zuhauses ein?

Da sind Dharma-Praktizierende immer in einem Abwägen. Das Wichtigste muss zuerst kommen, das weniger Wichtige muss zurücktreten. Das ist ein logischer Grundsatz, dem jeder zustimmen würde. Aber was ist denn nun das Wichtigste? Das Wichtigste können wir herausfinden, wenn wir daran denken, wie schnell wir unter Umständen sterben werden.

Hierzu heißt es [bei Nagarjuna im Brief an einen Freund, Vers 55]: „Vieles kann diesem Leben schaden – es ist vergänglicher als eine vom Wind auf dem Wasser herumgetriebene Luftblase. Es ist ein großes Wunder, dass auf das Ausatmen ein Einatmen folgt und dass wir vom Schlaf wieder erwachen!“

[8.1] Ganz allgemein sind alle bedingten Phänomene ohne Bestand.

Das gilt für alles. Wie fest es auch ausschauen mag, was immer durch Bedingungen zustande gekom-men ist, wird sich unter dem Einfluss von wieder wechselnden Bedingungen verändern. Wenn die Temperatur erheblich erhöht wird, wird selbst diese Klangschale wieder schmelzen. Oder sie wird durch das Einwirken anderer Kräfte deformiert. Sie ist zwar ein relativ stabiler Gegenstand, aber auch nicht unbegrenzt.

Insbesondere aber ist das Leben von uns wandernden Geschöpfen so vergänglich wie eine Luft-blase – man weiß nie, wann es zu Ende sein wird. Es gibt nicht einmal die Gewissheit, dass wir nicht jetzt gleich sterben.

Es ist mir noch nicht passiert, dass jemand während einer Dharma-Unterweisung gestorben ist. Soll aber schon passiert sein. Mir ist schon einmal jemand kollabiert. Es gibt keine Gewissheit, dass es nicht einmal passiert, dass in einer Dharma-Unterweisung jemand stirbt. – Unser lieber Lama Djangchub, ein Retreat-Kollege von Lodrö und mir, ist direkt im Anschluss an eine Mahakala-Puja im Tempel von Le Bost umgefallen, war bewusstlos, ist mit dem Hubschrauber abtransportiert worden und ein paar Tage später gestorben. Einfach so, Herzversagen. Er hatte eben noch gelacht und ge-scherzt, dann hat ihn das Aorten-Aneurysma erwischt, von dem niemand wusste.

Der Tod kann uns jederzeit ereilen, wir wissen nicht wann. Wir wissen nicht, ob es einen von uns in den nächsten Minuten erwischt, heute oder am nächsten Tag. Wir wissen es nicht. Eine Frau z.B. konnte nicht kommen, weil sie auf dem Weg hierher einen Autounfall hatte.

Dieses Gefühl wach zu halten, dass wir es nicht wissen, ist ein wesentliches Korrektiv zu dem Glau-ben: „Es wird schon nichts passieren!“ Es heißt deswegen nicht, dass etwas passiert. – Das möchte ich wirklich betonen: Es passiert nicht, bloß weil wir daran denken. Das ist kein magisches Denken wie: „Wenn ich an Tod denke, dann kommt der Tod.“ So ist es nicht. – Ich denke schon seit vielen Jahrzehnten täglich an den Tod und bin immer noch nicht gestorben. Es ist befreiend, an den Tod zu denken, immer wieder dieses Bewusstsein hereinzuholen in unser Leben.

Dieser eine Satz, ‚Es ist ein großes Wunder, dass auf das Ausatmen ein Einatmen folgt und dass wir vom Schlaf wieder erwachen!’, ist schon ganz schön intensiv. Natürlich kennt ihr alle diese Unterweisung. Ich nehme an, dass ihr alle versucht, sie umzusetzen. Es wirkt lebensverändernd: „Wenn es so sein kann, dass ich bald sterbe, weil es eine echte Möglichkeit ist, dass es so passiert, dann muss ich alles erledigen, all das tun, was ich vor dem Tod noch tun möchte, und zwar schleunigst.“ Ich bin jetzt 53 und kann nicht so tun, als würde ich jetzt noch 30 Jahre leben. Vielleicht lebe ich auch länger, aber es sind auch schon Klassenkameraden von mir tot.

Teilnehmer: Das gibt aber Stress, ich muss unterwegs auf das Leben schauen und mich auch noch auf den Tod vorbereiten.

Ja, du wirst dich wundern! Das geht noch weiter, du musst dich auch noch darum kümmern, was nach dem Tod ist. – Du wirst merken, dass es sehr entspannend wirkt. Es werden dadurch die Prioritäten klar, und das befreit uns dann von vielem Unnötigen. Plötzlich können wir den Garten ein kleines

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Bisschen verwildern lassen, das Haus hält und ist dicht, ist auch zu heizen. Das reicht dann auch, man braucht nicht mehr. – Wenn die Nachbarn nicht mitspielen, muss man halt auswandern.

Die Kleidung ist auch schon von vorgestern, darum brauchen wir uns auch nicht so zu kümmern. Das ist nicht die absolute Priorität. Das Auto fahren wir bis es nicht mehr geht oder wir geben es ab, bevor es uns Probleme macht. Es beginnt sich alles zurechtzurücken. Die Dinge beginnen etwas normaler zu werden, und ich denke, auch etwas gesünder. Wir steigen aus Zwängen aus, aus Ideen, wir hätten sehr viel Zeit und wir hätten immer noch Zeit auch noch dieses Shopping zu machen und auch noch den Film anzuschauen, sich auch noch da im Haus zu kümmern. Man tut dieses und jenes und das Leben vergeht, und zwar rasant.

Ich bin schockiert, dass ich schon 53 bin. Obwohl ich die ganze Zeit über Vergänglichkeit kontemp-liere, bin ich schockiert. Ich habe dieses Leben bis jetzt ganz bewusst gelebt, doch es ist einfach wahn-sinnig schnell vergangen. Die Zeit wird knapp, auch wenn man sich ein normales Leben zugesteht. Ich kann die Zeit nicht mit Unwichtigem vertun. Dazu habe ich keine Zeit. Für das, was mir wichtig ist, möchte ich ganz viel Zeit haben und nicht unter Stress sein. Ich möchte nicht das Wichtige in irgend-eine Ecke meines Lebens reinklemmen, damit es irgendwo noch seinen Platz hat, und dabei dann auch noch unter Stress sein.

Das wirkt überall hinein, in alle Bereiche, z.B. sich hinzusetzen, eine Unterweisung zu geben, und dann einfach zu sitzen und stille Meditation zu machen. Die Zeit dafür zu haben, erst einmal anzu-kommen, da zu sein, nicht schon wieder zum Effektivitäts-Stress mit Worten den Raum, die Zeit füllen zu müssen.

In Dharma-Häusern oder auch in Privathäusern kann man sehen, inwieweit das Bewusstsein der Ver-gänglichkeit tatsächlich vorhanden ist. Es ist immer ein gutes Zeichen, wenn es sich eine Gruppe einfach und praktisch einrichtet: leicht zu pflegen, funktional, öffnend für den Geist, aber auch nicht mehr, nicht überladen, viele Details und dieses und jenes.

Im Tod nützt uns nichts außer dem Dharma, denn bedeutungslose Aktivitäten für dieses Leben führen nicht jenseits der Ursachen von Leid.

Was meint Karmapa mit dem Satz ‚Im Tod nützt uns nichts außer dem Dharma’? Was ist die Essenz des Dharma? Was ist Dharma?

Teilnehmer: Gewahrsein.

Ja, genau! Gewahrsein. Im Tod nützt uns nichts außer dem Gewahrsein, dem Verständnis, den Ge-wissheiten, dem Herzen, all das, was wir entwickelt haben und was zur Befreiung beiträgt. Damit ist nicht eine Religionszugehörigkeit gemeint. Es ist auch nicht gemeint, dass dann jemand an unserer Seite sitzen muss und uns irgendwelche Dharmatexte vorliest. Die Dharmatexte helfen uns dann auch nicht mehr viel. Die können uns noch an was erinnern, wir müssen sie aber auch zurück lassen. Dieser Dharma ist nicht gemeint.

Man unterscheidet in Dharma der Lehre oder Übertragung und Dharma der Erkenntnis. Hier ist der Dharma der Erkenntnis gemeint. Das, was wir wirklich verstanden haben, das, worauf wir uns verlas-sen können als unser tiefstes innerstes Geistestraining, wenn wir sterben. Das braucht es. Und wenn ich die Ansicht teile, dass im Tod nichts anderes als eine entwickelte Gewahrseinspraxis nützt, wo krieg ich die denn dann her? Die krieg ich ja nicht in den letzten zwei Monaten des Krankseins kurz vor meinem Tod! Das braucht ja mehr. Oder wenn es dann ein Unfall sein sollte, und ich gar keine Zeit habe, mich vorzubereiten, dann muss die Gewahrseinspraxis ja schon da sein, die muss ja schon entwickelt sein.

Was passiert denn im Tod überhaupt? Da ist ein Übergang. – Ich spreche jetzt aus der Sichtweise, dass es der Körper ist, der stirbt, dass es nicht der Geistesstrom, das Gewahrsein ist, das zum Erliegen kommt. Ich will hier nicht darauf eingehen, warum ich vom Weitergehen des Gewahrseins überzeugt bin. Ich spreche einfach aus dieser Perspektive heraus, dass es im Tod zu einer Trennung von Körper und Geist kommt und der Geist, das Gewahrsein, das Erleben ohne körperliche Verankerung weiter geht. Das ist vergleichbar mit den Zuständen im Traum nachts, wo der Körper auch stillgelegt ist – zwar gelegentlich mitzuckt, sich aber alles Erleben unabhängig von äußeren Sinneswahrnehmungen

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abspielt. Der Geist, die mentale Fähigkeit, ist in der Lage, alle Sinneswahrnehmungen im Traum zu produzieren, ohne dass die äußeren Sinne aktiviert sind. Träumen findet im sechsten Sinn statt.

Teilnehmerin: Kann man nicht vielleicht auch sagen, dass das die Aktivität des Gehirns ist, und wenn das Gehirn tot ist, dann ist da nichts mehr?

Das überlasse ich dir. In dem Fall brauchst du dich auf nichts vorzubereiten.

Nein! Das ist ein Argument, das andere Leute darauf einbringen.

Ja, deswegen wollte ich jetzt auch nicht darauf eingehen. Dafür müsste ich einen ganzen Kurs anbie-ten, um dem wirklich Rechnung tragen zu können. Ehrlich gesagt, kenne ich mich auch nicht genug mit dem Gehirn aus, um wirklich die Grenzen aufzeigen zu können. Aber was ich kenne, ist Traum-Yoga und eine ganze Menge Phänomene, anhand derer zu sehen ist, dass der Geist nicht an die Lebensorgane gebunden ist. So viel kann ich schon einmal sagen.

Ich weiß, dass das ein wichtiger, zu klärender Punkt ist. Ich wünsche mir auch, einmal ein Buch über Tod und Wiedergeburt schreiben zu können und dieser Frage wirklich nachzugehen. Auch all den Einwänden Rechnung zu tragen und zu schauen, wie man sich denn als normal logisch denkender Mensch vorstellen kann, was im Sterbeprozess passiert und ob es ein Weiterleben danach gibt. Das lassen wir jetzt einfach beiseite.

Wenn es weitergeht, der Körper zurück bleibt und sich im Geist weiteres Erleben abspielt, ohne an einen Körper gebunden zu sein, dann braucht es ein sehr geschultes Gewahrsein. Es braucht Kräfte, die in diesem Gewahrsein aktiv sind, die dieses Gewahrsein davor bewahren, sich in Verwirrung zu verfangen und nach Möglichkeit die Natur dieser Erscheinungen, die Natur dieser Bardo-Träume, der Träume im Zwischenzustand, zu durchschauen, sie zur Praxis von Mitgefühl, zur Praxis von Weisheit, von intuitiver Einsicht zu nutzen und so in immer freiere Geistesräume vorzudringen. Das ist die Möglichkeit, die wir in der Zeit unmittelbar nach dem Tod haben.

Über das Sterben selbst brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, das schafft jeder.

Teilnehmerin: Wir sind ja im Sterben schon trainiert.

Ja, aus der Sicht kann man es auch sehen. Wir haben es ja schon x-mal gemacht. Das kriegen wir auf jeden Fall hin. Was dann danach kommt, ist viel entscheidender. Wie die Reise weiter geht. Da gibt es schon zu bedenken, wie weit wir unseren Geist entspannen können, aus sich aufbauenden Spannungen wieder lösen können, aus Projektionswelten lösen können. So wie im Traum. Diese Fähigkeit braucht es.

Was es auch braucht, sind heilsame Muster. Heilsame Reaktionen auf Situationen, auf Wahrnehmun-gen, die sich einstellen, damit wir innerlich positiv reagieren und nicht mit Aggressivität, mit starkem Festhalten, starker Identifikation, wodurch sehr herbe, schwierige Erfahrungen entstehen.

Diese beiden Aspekte sind für gewöhnlich gemeint, wenn es heißt, Im Tod nützt uns nichts außer dem Dharma. Es sind der Dharma der Erkenntnis und die heilsame Praxis eines ganzen Lebens, die zu ganz starken heilsamen karmischen Kräften führt. Auf der bedingten Ebene sind es diese Muster, die kar-mischen Kräfte, die sehr heilsam geworden sind, sehr offen, stark von Liebe und Mitgefühl geprägt. Und der andere Aspekt ist Weisheit, die Einsicht, die uns begleitet. – Mit der Praxis von Geistesruhe und eben Einsichtspraxis.

Was meint Karmapa mit ‚Bedeutungslose Aktivitäten für dieses Leben führen nicht jenseits der Ur-sachen von Leid’?

Jenseits von Leid ist ein Synonym für Befreiung, für Befreiung von Leid, für Nirvana. Was sind die Ursachen von Leid?

Teilnehmerin: Ichanhaften.

Wenn wir tief schauen, dann Ichanhaften.

Teilnehmer: Dualität

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Ja, und wenn wir eher an der Oberfläche schauen?

Teilnehmer: Gier, emotionale Verstrickung, nicht-heilsames Handeln

Also Handeln aus der Dualität, aus emotionaler Verstrickung heraus, aus Gier, Hass und Verblendung heraus. Das sind Ursachen für Leid.

Was wären bedeutungslose weltliche Aktivitäten?

Teilnehmer: Die acht weltliche Dharmas – Lob und Tadel, Ruhm und Schande, Gewinn und Verlust, Glück und Leid. – Was ist mit Hoffnung und Furcht?

Hoffnung und Furcht gehört nicht in diese Aufzählung hinein. Das Verfolgen von Zielen um Gewinn zu haben, um anerkannt zu sein, um berühmt zu werden, um gelobt zu werden und deren Gegenteile zu vermeiden – nicht kritisiert zu werden, nicht beachtet zu werden, nicht zu verlieren, kein Leid zu erfahren – ist weltliches Handeln. Das ist eigentlich mit Verstrickung gemeint.

Wie ist es denn so mit bedeutungsloseren weltlichen Aktivitäten?

Teilnehmer: Ablenkungen.

Ja, nehmen wir doch irgendwelche Ablenkungen. Es brauchen ja nicht immer gleich die großen schäd-lichen Handlungen zu sein. Aber: Sonntags ‚Tatort’ zu schauen. Je nachdem, welcher Schauspieler kommt usw.

Teilnehmerin: Du kennst dich aus!

Ich kenn mich überhaupt nicht aus, ich hab eine Beziehung!

Diese Aktivitäten wie z.B. unser geliebter ‚Tatort’ am Sonntagabend oder Fußball, Shoppen, … führt das zur Befreiung von Leid? – Ich wollte nicht eure negativen Projektionen wecken sondern einfach nur fragen: „Wann führt denn etwas jenseits von Leid?!“ Das ist ja die eigentliche Frage.

Teilnehmerin: Wenn keine Anhaftung dabei ist.

Gendün Rinpoche machte das so: Wir im Kloster haben uns überlegt, einen Fernseher für den Grup-penraum anzuschaffen. Er lachte und sagte: „Natürlich könnt ihr. Ist doch alles Mahamudra!“ Dann schaute er uns noch ein bisschen länger an und sagte: „Ja, beim ersten Mal sitzt er noch da und rezitiert Manis zum Film. Dann kommt eine spannende Szene und ihr vergesst auf die Mala. Dann rezitiert ihr wieder einige Mantras usw. Beim zweiten Mal liegt die Mala schon im Schoß und ihr seid schon dabei, euch über die Schauspieler zu unterhalten. Und beim dritten Mal bringt ihr die Mala schon gar nicht mehr mit!“ Und genauso war es!

Wir tun dann noch so! Wir verkaufen uns dann noch für eine Weile unsere Ablenkung als Praxis und halten irgendwie noch so eine Pseudo-Praxis aufrecht, sodass wir beim Spiel Bayern-München gegen Chelsea auch ein bisschen für Chelsea sind. „Wenn die dann besser gespielt hätten, dann wäre es ja fair gewesen, wenn sie gewonnen hätten. Es ist eben Dharma-Praxis, dass man dem anderen auch ein bisschen Vorteil lässt. – Wenn er ihn verdient hat.“ – Führt das denn jenseits von Leid? Und das ist die Frage, das ist die Priorität.

Wie viele von uns hier im Raum haben schon Krebs gehabt und sind nur dank der modernen Medizin noch am Leben? Oder wie viele hatten andere Krankheiten oder Unfälle und wären ohne moderne Medizin bereits tot? Viele haben noch eine Gnadenfrist bekommen, indem sie aus einem Riesendi-lemma geholt wurden. Das ist schon ganz erstaunlich. – Trotzdem, obwohl wir eine Gnadenfrist bekommen haben, wir wissen auch nicht für wie lange, ist es mit unseren Prioritäten nicht so ganz klar.

Der Zeitpunkt dieses Überganges ist die Möglichkeit, sich erneut ganz schön und schlimmer noch als in diesem Leben zu verstricken oder er ist auch die Möglichkeit, in sehr offene, weite Geisteszustände einzutreten. In Bedingungen hineinzugehen, in denen wir den weiteren Weg der Befreiung gehen könnten. Das spielt natürlich eine Rolle. Und selbst wenn ich einfach nur glücklich sterben möchte, das kann ja auch schon eine Motivation sein. Sterben zu können und auf ein Leben zurückzublicken, auf das ich total zufrieden bin und angesichts des Todes nichts bereue. Auch das kann schon eine gute Motivation sein, um Prioritäten zu klären.

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Blöd ist, wenn man auf dem Sterbebett liegt und man hat viel zu bereuen, man hat das Wesentliche nicht getan. Ein Blick zurück auf ein Leben, das man nicht so gelebt hat, wie man es sich eigentlich vorgenommen hat.

Es kann jeder für sich überlegen, was bedeutungslose weltliche Aktivitäten sind. Aber hier ist bedeutungslos zu verstehen in Hinblick auf das Ende des Satzes, auf das, was nicht jenseits der Ursachen von Leid führt, ist bedeutungslos. So einfach ist das. Es steht also im Satz selber drin, was bedeutungslos ist. Freundschaften können zum Erwachen beitragen oder einfach Ausdruck von ver-strickenden Tendenzen sein. Das kommt wirklich darauf an, wie wir sie nutzen, was für eine Qualität wir in diesen Beziehungen pflegen. Und so ist es eigentlich mit allen Dingen.

Nichts ist per se gut oder schlecht, es kommt immer darauf an wie wir es leben, wie wir es nutzen, wie wir es pflegen. Was wir innerlich damit machen. Es ist nicht per se Verstrickung, dass man sich nett anzieht. Das kann auch einfach ein Geschenk an andere sein, wirklich aus dieser Motivation. Es kann aber auch Eitelkeit sein. Es kann sein, dass man die Blicke auf sich ziehen möchte oder einfach gut dastehen möchte, dass man Angst hat, anders zu sein. Das muss jeder selbst herausfinden. Es muss jeder selbst herausfinden, welche Motivationen zu welchen Handlungen führen. Und da können wir dann sehen, ob sie in Hinblick auf das Auflösen der Ursachen von Leid und das Eintreten in Befreiung und Erwachen bedeutungslos sind oder eben nicht. Das sei jedem selbst überlassen.

Es ist nicht so, dass man sagen kann: „Fernsehen ist schlecht!“. Nein! Fernsehnen ist fantastisch, ein fantastisches Instrument. Richtig eingesetzt, könnten wir das für den Dharma super gebrauchen. Wir können es für den Weg des Erwachens gebrauchen. Wir können darin natürlich studieren, wie sich Filme aufbauen und in sich zusammenfallen, wie Wirklichkeitsglaube entsteht und wie er wieder aufgelöst wird, usw. Natürlich können wir das, aber wir brauchen es nicht jeden Tag.

Das überlasse ich euch, euer Leben zu untersuchen, wo vielleicht Bedarf ist, ein bisschen genauer hinzuschauen.

Geloben wir uns also, dass wir jedes Mal, wenn uns auch nur für einen Moment Gedanken an Nahrung, Kleidung und andere Anliegen dieses Lebens ablenken, sofort an [die notwendige Vor-bereitung für] den Tod denken.

Da wird er jetzt wirklich streng!

Teilnehmerin: Das wichtigste Wort ist doch ‚ablenken’, oder?

Genau, das ist das wichtige Wort.

Weil wenn man den Fokus nicht verliert, dann ist es ja in Ordnung.

Ja, völlig richtig! Du hast sofort das richtige Wort in dem Satz entdeckt. Wenn es sich so in den Vordergrund schiebt, dass wir vom Wesentlichen abgelenkt sind, von unserer Gewahrseins-Praxis. Das ist der springende Punkt.

Teilnehmer: Wenn das Dharma für unser normales Leben sein soll, dann ist die reale Situation, dass wir ja nicht nur für uns sorgen. Wir haben Kinder, und für die müssen wir durchaus schauen, dass wir Nahrung haben, Kleidung usw. Da haben wir Verantwortung.

Ja, selbstverständlich!

Und wir sind ja nicht im Kloster, weit abgeschieden usw.

Sind wir nicht, und selbst im Kloster sollten wir uns um andere kümmern. Wir leben nicht in einer abgeschotteten Welt, wo man einfach so tun kann, als wäre man zu nichts verpflichtet, bekommt Nahrung aber kümmert sich kein Bisschen darum, Nahrung z.B. auch anzupflanzen oder irgendetwas beizutragen, dass es zu solchen Bedingungen kommt. Darüber muss man sich einmal Gedanken machen. Wer Familie hat, wer Kinder hat, muss sich diese Gedanken an die Vergänglichkeit auf eine besondere Art und Weise durch den Kopf gehen lassen. Die Entscheidungen werden andere sein als die eines Alleinstehenden. Wir brauchen gar nicht von Mönchen und Nonnen zu sprechen, wir brauchen nur von Alleinstehenden zu sprechen.

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Das Nachdenken über Vergänglichkeit vollzieht sich also im Rahmen unserer Verpflichtungen, Ver-antwortungen, unserem sozialen Netz. Innerhalb dieses Netzes werden wir versuchen, unser Leben zu vereinfachen, überschaubar zu machen aber auch klar, und verantwortlich zu handeln, so, dass für uns und unsere Angehörigen möglichst viel Zeit für das Wesentliche bleibt. Das ist die Richtung: mög-lichst viel Zeit für das Wesentliche zu haben. Das, was jetzt ‚nicht wesentlich’ genannt wurde, ist wesentlich, weil es zum Leben wesentlich ist. Nahrung ist wesentlich, Kleidung ist wesentlich, Schlaf ist wesentlich, ein Dach über dem Kopf ist wesentlich. Es sind nur Wenige, die sich da weiter frei machen können. Ein Minimum braucht eigentlich jeder. Das sind minimale Bedürfnisse. Was wir wesentlich nennen, ist, den inneren Raum zu haben, plus die Zeit und die Energie, die innere Arbeit der Transformation, das Geistestraining zu machen im Sinne von Gewahrseins-Praxis, mit dem Gewahrsein immer weiter und tiefer zu kommen. Dafür wollen wir uns innere uns äußere Räume frei-schaufeln. Das ist das Anliegen von jemandem, für den das Entwickeln von Gewahrsein die höchste Priorität hat. Der wird sagen, alles andere ordnet sich dem nach. Es bleibt jedem selbst überlassen, ob das höchste Priorität ist oder zweitrangige Priorität. Wo das dann in der Prioritätenliste steht, wird entscheidende Auswirkungen haben darauf, wie wir unsere Zeit einteilen, wie wir unsere Lebensräume gestalten. Man kann es so zusammenfassen: Angesichts des möglicherweise baldigen Todes richte ich mir mein Leben so ein, dass jetzt möglichst viel Zeit für das Wesentliche ist, dass ich möglichst viel Zeit finde, jetzt! Jetzt, solange noch Zeit ist. Wir ihr das dann füllt, okay, das sei jedem überlassen.

Ruft ihr auch eure Angehörigen an, wenn ihr nach einer längeren Fahrt angekommen seid?

Teilnehmer: Ja, ungern!

Ja, aber sie würden gerne wissen, und wir tun es, weil mit jeder Fahrt ein Risiko verbunden ist. – Eigentlich müssten wir sie auch nach kurzen Fahrten anrufen, die sind auch nicht ungefährlich. Die meisten Unfälle passieren sehr nahe am Wohnort. Aber wir haben schon dieses Bewusstsein, dass es jederzeit vorbei sein kann. Mir ist vor zwei Wochen bei einem Überholvorgang mit 140 ein Reifen geplatzt. Das ist zum Glück bei dieser Art von Auto nicht so schwerwiegend. Obwohl ich den Reifen ordnungsgemäß aufgepumpt hatte. Das sollte uns wach machen. Das kann jederzeit jedem von uns passieren, niemand ist davor gefeit.

Teilnehmer: Das ist auch eine Hilfe, diese Gedankenketten, diese Verhaftungen abzubauen an Schreckensvisionen, was denn alles passieren könnte. An die Vergänglichkeit zu denken, relativiert das dann, wenn man sich ständig Sorgen macht, vor Fehlern Angst hat usw.

Ja, sofort zu relativieren. Darum geht es auch. Diese Art von Kontemplation, wo es wirklich um das Sterben und das kurze Leben geht, soll relativieren helfen, was uns sonst so wichtig erscheint, aber angesichts des Todes nicht mehr wichtig ist. Das andere, was angesichts des Todes wichtig wird, soll bestimmungsgerecht in den Vordergrund gerückt werden, denn das ist wirklich wichtig. Wenn ich sterbe, will ich mit meinen Familienangehörigen im Einvernehmen sein. Das ist eines von den wichtigen Dingen. Es ist nicht das Allerwichtigste, aber es ist wichtig.

Angesichts des Todes zeigt sich bei jedem von uns, was uns denn eigentlich wichtig ist.

Lesen wir noch einmal diesen letzten Satz Karmapas, dieses Versprechen, das wir uns selber geben könnten: ‚Geloben wir uns also, dass wir jedes Mal, wenn uns auch nur für einen Moment Gedanken an Nahrung, Kleidung und andere Anliegen dieses Lebens ablenken, sofort an [die notwendige Vor-bereitung für] den Tod denken.’

Das ist schon intensiv. Wollen wir das wirklich so stark ins Zentrum unseres Gewahrseins, unseres Bewusstseins holen? Das ist eine Vorbereitung für Mahamudra, nicht? Es hat irgendetwas mit Mahamudra zu tun, was wir hier besprechen. Ist das etwas, dass wir uns so quasi am Riemen reißen, sobald wir beginnen, anderen Dingen eine übermäßige Bedeutung beizumessen?

Teilnehmerin: Kannst du das erläutern, bitte?

Ja, ich dachte, ich hätte das schon. Wenn z.B. eine Riesenrolle zu spielen beginnt, ob wir in den Ferien wegfahren oder hier bleiben. Was auch immer, nimm was du willst. Nimm, was letzten Endes, wenn du wirklich hinschaust, eigentlich unwichtig ist. Es ist so die Beigabe im Leben, auf Urlaub fahren zu

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können, eine Zugabe. Es ist eine Zugabe, sich eine neue Garderobe kaufen zu können. Es ist eine Zugabe, noch ein zweites Auto zu haben oder schon das erste ist auch eine Zugabe des Lebens. Schauen wir doch einmal hin, für was wir uns einsetzen, für was wir uns krumm legen im Leben. Was zählt denn wirklich? Wenn wir merken, dass wir beginnen, viel Energie in diese Dinge zu investieren, dann… Ist es jetzt klarer geworden?

Teilnehmerin: Ich finde, dass hier Tod und Leben unheimlich eng zusammengehören, weil ich die Meditation präsent habe und mein Leben vereinfache, verlangsame, und diesen Aspekt im Hintergrund habe, dann gewinne ich doch sehr viel an Lebensqualität, und dann stimmt das ja zusammen.

Ja, ganz eindeutig! Wir gewinnen unglaublich an Lebensqualität. Und wenn du jetzt bitte noch ausführst, was unsere Meditation an Qualität gewinnt. Siehst du den Zusammenhang auch schon von dieser Kontemplation mit unserer Meditation?

Ich könnte mir vorstellen, dass die Meditation dann auch einfacher wird, weil nicht so viel im Geist revoltiert.

Ja, genau! Weil wir nicht mit so vielen Dingen beschäftigt sind. Und wenn sie uns in den Sinn kommen, werden sie direkt gesehen als was sie wirklich sind: nicht so wahnsinnig wichtig. Nicht so, dass ich jetzt die eigentliche Kernpraxis, um die es mir geht, zurückstellen müsste, um mich dem zu widmen. Sondern umgekehrt: Das muss warten, weil ich jetzt mit dem Eigentlichen befasst bin. Und jemand, der voll im Gewahrsein der Vergänglichkeit lebt, und obendrein noch Bodhicitta im Herzen hat, der hat’s in der Meditation so leicht. Der Geist bleibt einfach dabei, weil die anderen Dinge nicht mehr greifen. Die ichbezogenen Projekte greifen nicht mehr, diese weltlichen Interessen und das alles greifen nicht mehr. Der Geist bleibt stabil in der Praxis.

Wenn wir analysieren: Was sind denn nun die Gedankenketten, was sind denn die Dinge, die uns immer wieder ablenken? Dann müssen wir zugeben, dass das ganz viel mit diesem Bereich zu tun hat, dass wir die Vergänglichkeit nicht wirklich sehen und dass wir Bodhicitta nicht wirklich im Herzen haben, also eine Motivation, für alle dazusitzen und zu praktizieren, sondern uns immer um uns selber drehen. Um uns selber und um unser Leben. Das ist damit gemeint. Ich und mein Leben. Mein Leben und ich. Ich und mein Leben. …Es ist frustrierend, wenn wir hinschauen. Es ist tatsächlich so. Ist es so? Was würde uns sonst in der Meditation ablenken? Haben euch schon einmal die Sorgen anderer abgelenkt? Nein! Es sind unsere eigenen Sorgen. Und warum sind es unsere eigenen Sorgen? Ich und mein Leben, mein Leben und ich. … Das kommt uns so banal vor.

Ich höre es fast: „Was redet denn der Lhündrup da? Das ist ja ganz normal, man muss sich doch Sorgen machen, das gehört doch zum Leben mit dazu!“ – Muss man das? Nicht wirklich. Wir können die Dinge an ihrem Ort lassen.

Du bist Lehrer, mein Bruder ist auch Lehrer. Es gibt Probleme in der Schule, entweder im Kollegium oder mit Schülern. Es ist heute grausam schwer, Lehrer zu sein. Muss ich das mit in die Meditation nehmen? Eigentlich nicht. Ich könnte. Ich könnte darüber kontemplieren und nach Lösungen suchen. Das ist eine Möglichkeit. Aber wenn ich mich dem nicht konkret stelle und nicht wirklich darüber nachdenken möchte, als Dauerbrenner brauche ich die ständigen Probleme in der Schule nicht mit nach Hause zu nehmen und nicht mit in die Meditation. Genauso wenig wie eine Analytikerin das mit nach Hause zu nehmen braucht. Das ist nicht notwendig. Ein Arzt nicht, ein Bauer nicht, niemand. Niemand braucht die Probleme mitnehmen in die Gewahrseins-Praxis, weil die Lösungen dort zu suchen und zu bewerkstelligen sind, wo das Problem ist. Dem wenden wir uns zu für eine begrenzte Zeit. Aber wenn es da nicht weiter geht, dann hat sich’s. Dann kommen wir erst wieder auf das Prob-lem zu sprechen, wenn wir neue Elemente haben und wir wieder neu darüber nachdenken können. Und bis dahin muss es ruhen.

Teilnehmerin: Ich habe ein Problem mit dem Rasenmähen. Meine Nachbarin verlangt es von mir, ich hab zu wenig Zeit, ich möchte lieber praktizieren, dann ist wieder schlechtes Wetter…

Das Ich möchte nicht Rasen mähen, aber aus Liebe zu deiner Nachbarin mach es doch. Du kannst es doch zu deiner Praxis machen. Einfach für die Nachbarin und nicht, weil du es um dein Haus schön haben möchtest.

Ich denke halt, das ist Zeitverschwendung. Ich möchte ja Zeit zum Praktizieren haben.

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Nein, du kannst hier an deinen Mustern arbeiten, da bist du echt in der Praxis. Ich sehe dich schon beim Rasenmähen – „Muss denn das sein?!“ – richtig in der Praxis, dann kriegst du auch Stress mit dem Aufladen, … Ich sehe die Praxis schon, das tut richtig gut.

Ich hab kein Problem mit dem Mähen, ich möchte mich nur mehr der Praxis widmen.

Ja dann ist das gut. Also, wenn das Ich nicht will und du es trotzdem machst, dann bist du echt in der Praxis.

Ich wollte es einfach prinzipiell wissen.

Prinzipiell ist das ein guter Weg. Wenn ich nicht will und es aber aus Liebe zu anderen machen, das ist eine gute innere Richtschnur. Das ist eine Praxis.

Aber vorhin hast du gesagt, es ist besser man praktiziert und vermeidet unnötige Dinge.

Ich sage ja: Wenn du dann beim Mähen noch in deinen Geist schaust und dabei deine Gewahrseins-praxis aufrechterhältst, das ist so hilfreich. Ich hab meiner Mutter auch den Rasen gemäht. Ich finde das so überflüssig. Die hat da 2 mal 20 m² Rasen und ich muss mit dem Elektromäher da drüber, obwohl das Gras noch recht kurz ist. Das könnte gut noch kniehoch werden! Da steht Lama Tilmann im Garten seiner Mutter und mäht den Rasen für sie und die Nachbarn, damit es schön aussieht. Ich kenne die Situation. Und dann musst du auch noch aufpassen, dass du die Schnur nicht überfährst. – Du hast ja einen Akku, von daher bist du ja gut drauf.

Ihr versteht? Der Weg geht da lang, wo die Herausforderung ist. Die Herausforderung für unsere ich-bezogenen Muster.

Ich hab ja jedes Jahr gemäht, ich möchte nur jetzt nicht mehr, und mich auf die Praxis konzentrieren.

Also jetzt kommst du bald unter Verdacht, dass da doch ein ichbezogenes Muster dahinter ist. Wer so lange den Knochen festhält…

Im Retreat hab ich meine Sitzungen, wann soll ich dann mähen?

In der Sitzung. Das ist, was ich versuche, rüberzubringen.

Das wollte ich eben wissen. Jetzt ist es klar.

Du erinnerst dich doch wie das mit Gendün Rinpoche war. Der hat doch unsere Intendanten auch mähen geschickt. Das war doch Teil der Praxis, das weißt du doch!

Ja, im zweiten Retreat hab ich auch gemäht. Gut! Daran können wir anknüpfen. Ganz zu Anfang, als Thierry der Intendant war und sich um alles gekümmert hat, da haben die RetreatlerInnen gleichzeitig mit ihm drinnen OM MANI PEME HUNG rezitiert, während er die ganzen Flächen gemäht hat. Das war Gemeinschaftsarbeit, da waren alle am Mähen beteiligt.

Meditation Ich werde in die Stille den letzten Absatz unseres Textes lesen. Ich werde Pausen machen und ihr könnt praktizieren, was beschrieben wird. [8.4] Zähle gelegentlich deine Angehörigen und Freunde auf, die bereits gestorben sind. Wir erinnern uns daran, wer von unseren Bekannten und Freunden tatsächlich bereits gegangen ist, insbesondere auch Menschen, die unser Alter hatten. – Denke daran, auf welche Weise sie gestorben sind. – Wie ihr Körper zum Friedhof gebracht wurde und wie schließlich nichts von ihrem Körper übrig blieb. – Asche oder unter dem Boden versenkt, von Würmern aufgefressen. – Bedenke, dass auch dein Körper keine andere Beschaffenheit hat, und versetze dich in ein Gewahrsein des Todes, so wie jemand, der den Händen eines Henkers übergeben wird. – Versuche zu spüren, als wärest du es, der gerade die Diagnose eines fortgeschrittenen Krebses eröffnet bekommt. – Die daran anknüpfende Frage ist: Was würde ich ändern? Um was würde ich mich kümmern, Lass dich durch nichts von diesem Gewahrsein deines möglichen Todes ablenken, gib alle Ver-strickung mit diesem Leben auf und versenke dich ganz in diese Betrachtung. – Dies ist der fünfte Punkt: die Kontemplation von Tod und Unbeständigkeit.

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Die drei Aspekte der Wirklichkeit Diese Unterweisung außerhalb des eigentlichen Themas soll helfen, ein tieferes Verständnis von dem, was wir ‚Wirklichkeit’ nennen, zu entwickeln. Sie kommt aus der Yogacara-Schule von Asanga-Maitreya und liegt der Mahamudra-Sichtweise zugrunde. Die drei Aspekte der Wirklichkeit – im Englischen the three natures – zu kennen, wird für eure Meditation sehr hilfreich sein.

Man sagt doch immer: „Die Mahamudra-Praxis ist die Meditation in der Schau der Natur aller Dinge, in der Schau der Natur des Geistes.“ Wenn wir zu erfassen versuchen, was mit Geist gemeint ist, dann finden wir Gewahrsein. Wir finden die Fähigkeit gewahr zu sein, in jedem Moment des Erlebens. Dieses bewusste Erleben, das von Moment zu Moment stattfindet, nennen wir Gewahrsein. Auch wenn keine Gedanken da sind, ist doch Erleben da, und zwar von diesem gewahren Sein zwischen den Gedanken, die wir bewusst wahrnehmen können. Dazwischen ist immer noch Bewusstheit, und auch das ist eine Form des Erlebens. Wir können eigentlich das Phänomen Geist nicht trennen von dem, was wir Erfahrung nennen. Gewahrsein und die Erfahrung des Gewahrseins sind untrennbar mit-einander verbunden.

Dieses unmittelbare Erleben, in dem wir nicht einmal mehr Subjekt und Objekt unterscheiden können, ist der Stoff, aus dem unsere Existenz gewoben ist. Das ist der Stoff, aus dem unser Leben besteht. Das ist Erleben, Erleben und wieder Erleben, immer natürlich gewahr sein, immer mit Bewusstheit verknüpft. Wo keine Bewusstheit ist, findet auch kein Erleben statt. Erleben ohne Bewusstheit gibt es nicht. Es wird erlebt, weil es bewusst wird. Wir können darüber spekulieren, was denn sein mag, wenn kein Erleben stattfindet, aber wo wir etwas auszusagen haben, sind wir bewusst, da bemerken wir etwas, es findet ein Erleben statt.

Und was ist das nun? Ist das wirklich? Ist das nicht wirklich? Gibt es dieses Erleben wirklich oder gibt es das nicht? Diese große Frage hat die Menschheit schon vor langer Zeit beschäftigt.

Die Diskussionen von Buddha Shakyamuni mit seinen Schülern sind uns bekannt. Dem Buddha ging es damals vor allem um die Aussage: „Erleben an sich ist immer prozesshaft.“ Das war die erste, wichtigste Aussage. Erleben ist vergänglich. Es gibt nichts Stabiles, es gibt nichts Bleibendes im Erleben. Das ist ganz offenkundig, jeder kann das nachvollziehen. Die Beobachtung, dass es in diesem steten Prozess des Erlebens nichts Stabiles gibt, führt auch zu dem Schluss, dass es kein stabiles Selbst, kein stabiles Ich gibt als etwas, das getrennt wäre von diesem Prozess des Erlebens.

Das hat Buddha Shakyamuni z.B. mit den fünf Skandhas beschrieben. Das Erleben von Körper, Empfindungen, Unterscheidungen, Gestaltungen und den verschiedenen Bewusstseinszuständen, all das ist in Bewegung, all das ist Erleben.

Diese Aussage über den Wandel und die Abwesenheit von Stabilität wurde später speziell von Nagarjuna weiter herausgearbeitet: Alles Erleben ist in seiner Natur leer, d.h. hat nichts von einem Wesenskern an sich, der irgendwie stabil wäre. Es gibt nichts in diesem Erleben, das immer so bleiben würde. – Den Ausdruck Leerheit hat auch der Buddha schon verwendet.

Diese Aussage, dass alle Phänomene leer sind, dass alle Erscheinungen leer sind, dass alles Erleben leer ist, bedeutet: All das hat keine Substanz, ist nicht fassbar, ist ohne Wesenskern. Für uns ist das aber ein Paradox, denn wir leben doch, es gibt uns doch! Da findet doch was statt. Da ist doch was. Da ist doch wirklich was da.

Was ist denn nun da? Was ist es denn, was wir als gelebtes Erleben abspeichern und dann sagen: „Doch, der Tilman, der war wirklich da! Der saß wirklich vor uns. Das war keine Illusion.“ Was war denn da eigentlich?

Gleichzeitig ist aber dieses Erleben der Situation selbst – wenn ich z.B. euch hier vor mir anschaue – nicht fassbar. Es bleibt leer in seiner Natur. Und das hat nach oder ungefähr zeitgleich mit Nagarjuna zur Formulierung von drei Aspekten oder drei Naturen der Wirklichkeit geführt, vermutlich zum ersten Mal beschrieben im Sandhinirmocana Sutra.

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Man nimmt an, dass dieses Sutra im 2. Jh. n. Chr. in schriftlicher Form aufgetaucht ist. Die ersten Übersetzungen ins Chinesische sind bereits im 4. Jh. entstanden, also muss das Sutra in Sanskrit in Indien vorher in Umlauf gekommen sein. Das Sandhinirmocana Sutra ist eines der drei, vier wesent-lichen Sutras, auf denen die Cittamatra- und Yogacara-Schule beruhen und ist Grundlage für die Mahamudra Sichtweise. Die Mahamudra Sichtweise hat sich aus dem Madhyamaka von Nagarjuna und der Yogacara-Lehre von Asanga und seinen Mitstreitern entwickelt.

Im Folgenden werde ich beschreiben, wie man dort mit dem Begriff ‚Wirklichkeit’ umgeht. Das ist die Antwort darauf, dass es da doch tatsächlich etwas gibt. Es gibt ja was. Es werden drei Aspekte der Wirklichkeit unterschieden:

Der imaginäre Aspekt, der bedingte Aspekt und der nicht fassbare Aspekt. Der letzte Aspekt – yongdrub im Tibetischen – ist wörtlich übersetzt einfach der vollkommen nachzuweisende Aspekt. Vollkommen nachzuweisen bedeutet, dass nichts nachzuweisen ist, dass nichts zu fassen ist. Ich ver-einfache diesen Ausdruck und nenne diesen Aspekt die nicht fassbare Natur der Wirklichkeit.

Diese drei Aspekte dessen, was wir unser Erleben nennen, sind nicht drei verschiedene Wirklichkei-ten. Es ist eine Wirklichkeit, die aus drei verschiedenen Blickwinkeln beschrieben wird.

Imaginäres Erleben ist ein eingebildetes Erleben. Es bedient sich innerer Bilder. Um wirklich zu verstehen, was damit gemeint ist, müssen wir auf den Prozess der Wahrnehmung eingehen. Imaginär ist nicht abwertend ge-meint. Es bedeutet, dass ein konstruktiver Prozess stattfindet, in dem etwas Neues entsteht, was nicht mehr das eigentliche, ursprüngliche Erleben ist.

Ich erkläre euch das anhand von Sinneswahrnehmung: Wenn ich spreche, produziere ich Schallwellen. Die Schallwellen kommen an unsere Ohren und bringen das Trommelfell zum Vibrieren. Das Trom-melfell überträgt über Hammer, Amboss usw. Druckwellen in das Innenohr. Durch die Druckwellen werden dort Nervenzellen depolarisiert, sie leiten ihre Depolarisation über Neuronen weiter in den auditiven Kortex. Im Kortex werden aus den Depolarisations-Wellen Lautempfindungen zusammen-gesetzt.

Diese Lautempfindungen können gegeneinander unterschieden werden, verdichten sich im Vergleich mit früher gemachten Empfindungen zu Gruppen von Lauten, denen wir dann obendrein aufgrund von Lernprozessen eine Bedeutung geben. Wir denken als erstes: „Es handelt sich um eine menschliche Stimme.“ Allein das zu unterscheiden, ist schon eine enorme Leistung. Wir erkennen weiter, dass die menschliche Stimme spricht, dass sie nicht einfach nur labert, sondern offenbar etwas mit Sinn wie-dergibt. Wir können die Sprache weiter unterscheiden, reihen die Laute aneinander und merken, dass es sich um Silben handelt, die Worte ergeben. Es findet ein Entziffern dieser Laute statt, was zu einem Verstehen des vermeintlich Gesagten führt.

Ihr habt eben gesehen, dass sich zwischen Schallwellen und dem Verstehen der Schallwellen ein un-glaublicher Prozess abspielt, wo es zu einem inneren Abbild dessen kommt, was vermutlich gesagt wurde. Das ist unsere Entschlüsselung dieses Phänomens. Sobald wir ein Wort missverstehen, kommt es zu einer anderen Entschlüsselung oder zu gar keiner. Wenn wir in einem anderen Sprachraum geboren wurden, können wir gar nichts mit dem Gehörten anfangen. Diese Entschlüsselung findet in einem ganz komplizierten Prozess statt, und zwar bei allem, was wir hören. Jedes Geräusch geht über Schallwellen, Synapsen, elektrische Depolarisation von Zellen und bewirkt im Gehirn eine Stimula-tion von spezialisierten Gehirnzellen, die dann ein inneres Bild zusammensetzen, und dieses Bild hat eine gewisse Autonomie.

Hört einfach hin: [klatscht in die Hände]

Könnt ihr in eurer Erinnerung den Laut reproduzieren? Könnt ihr das Klatschen noch einmal innerlich hören? Das ist das Abbild des Klatschens. Das Klatschen selber als solches zu erkennen, ist schon eine erhebliche Leistung des Gehirns, aber es auch noch reproduzieren zu können, bedeutet, dass wir es jetzt noch im Nachhinein mit anderen verwandten, ähnlichen Lauten vergleichen können.

[klatscht wieder]

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Ihr könnt jetzt z.B. diese beiden Arten von Klatschen vergleichen. Ihr habt alle den Unterschied ge-hört. Diese Fähigkeit, mit inneren Abbildern sogar noch im Nachhinein ein Erleben zu unterscheiden, nennt man die imaginäre Ebene, den imaginären Aspekt des Erlebens.

Wir arbeiten mit inneren Bildern, wir vergleichen gar nicht das wirkliche Erleben. Das ist schon längst vorbei. Das eigentliche Erleben entzieht sich unserem direkten Zugriff, es ist immer ein dekodiertes Erleben. In jeder Form von Wahrnehmung handelt es sich um ein dekodiertes Erleben, das zu einem inneren Abbild führt. – Bei unserem Beispiel ist es ein Hörbild, das wir tatsächlich sinnvoll in Be-ziehung setzen können zu anderen abgespeicherten Hörbildern. Und das alles ist imaginär. All das ist kein direktes Erleben mehr. Es ist aber ein Erleben, es ist ein unbestreitbares Erleben.

Wenn ich innerlich ein Lied oder eine Sinfonie höre oder den Gesang einer zwitschernden Amsel, so ist das ja auch ein Erleben. Auch wenn es äußerlich nicht stattfindet, ist es ja trotzdem ein Erleben. Es kann mich sogar in die eine oder andere Richtung beeinflussen, es kann mich glücklich oder traurig stimmen. Dieses Erleben hat richtige Auswirkungen, aber wir müssen zugeben, dass es sich um ein imaginäres Erleben handelt.

Unser Gehirn mit all seinen Erfahrungsfunktionen und Gewohnheitsmustern konstruiert sich in diesem Bereich ein Hörerleben. Das ist ein Aspekt unserer Wirklichkeit und trifft für alles Hörerleben zu.

Kurz der Prozess des Erlebens beim Sehen: Was passiert beim Sehen? Es ist irgendetwas da draußen, das bewirkt, dass Licht unterschiedlich stark reflektiert wird. Diese unterschiedlich starken Reflexio-nen von Licht – Lichtwellen-Photonen – treffen auf die Retina. Und was passiert in der Retina? Depo-larisation. Es wird wiederum in einen elektrischen Impuls umgewandelt, was vorher gar kein elek-trischer Impuls war. Es wird da schon dekodiert. Es kommt zu typischen Depolarisationen von ganz feinen Nervenzellen, die über Zwischenstufen zum visuellen Kortex gelangen, dort entschlüsselt wer-den und aus den komplexen Eindrücken, die vom linken und vom rechten Auge aufgenommen wer-den, schaffen wir im Gehirn eine Tiefenwahrnehmung. Wir können Hintergrund und Vordergrund unterscheiden. Wir schaffen Formwahrnehmungen, wir setzen zu Linien zusammen, wir setzen Farb-felder zusammen. Wir vergleichen diese Farbfelder, die sich dann mit dreidimensionalem Sehen zu Formen zusammensetzen, mit anderen bereits erlebten Farbfeldern und geben ihnen Namen, wir identifizieren sie: Das ist eine Wiese. Das ist ein Haus. Das ist der und der Mensch usw. – Das wird ganz fein. Wir vergleichen verschiedene Gesichtsausdrücke mit früher gesehenen Gesichtsausdrücken und sagen: „Das ist ein trauriges Gesicht.“, „Aha jetzt bist du gerade nicht gut drauf.“ Wir nehmen ganz nuanciert wahr. Wir können uns dann auch mit der visuellen Erinnerung an Früheres erinnern. Wir können uns erinnern, wie die Knospe heute Morgen war, jetzt ist sie aufgeblüht. Wir können das alles miteinander vergleichen und sind in einem visuellen Erleben, was aber nicht das eigentliche ursprüngliche Erleben z.B. der Retina ist. Es ist in diesem Prozess etwas Neues entstanden. Es haben sich innere Bilder geformt, visuelle Bilder.

Noch einmal ein kleines Beispiel: Schaut kurz her [macht eine Bewegung mit der Hand]

Könnt ihr meine Handbewegung erinnern? Ihr könnt das, jeder kann das! Jeder kann innerlich etwas wiederholen. Dieser Prozess, eine Bewegung zu verfolgen, besteht aus unzähligen visuellen Ein-drücken, die zu einer schlüssigen Bewegung zusammengesetzt werden. Wir schaffen eine Kontinuität zwischen verschiedenen Momenten des Erlebens, und das ist eine Leistung der inneren Bilder. Wir können sogar bewegte Bilder widerspiegeln lassen, wir können Filme in uns wiederholen.

Wir können innerlich solch reiche Welten aufbauen, dass wir Bewegung sehen und zugleich hören, riechen, spüren. Und das ist alles z.B. wie im Traum. Im Traum sind alle Sinne aktiviert. Wir können im Traum sogar reden, hören, verschiedene Sprachen hören und verstehen. Alles, was wir im Traum können, ist Zeichen dafür, was wir auch tagsüber machen. Wir leben in einer Welt, die von uns ge-schaffen wurde in dem Sinne, dass sie von uns aufgrund unserer Lebenserfahrung dekodiert und mit Sinn versehen wurde.

Jeder hier im Raum hat eine ganz andere Vergangenheit, andere Sprach-Erfahrung und andere Um-welt-Erfahrung als ich. Aufgrund dieser Unterschiede werden wir dieselbe Situation unterschiedlich wahrnehmen. Wir werden sie nämlich unterschiedlich dekodieren. Die Filter, die aktiviert werden, um Erfahrungen zu vergleichen, sind nämlich bei jedem von uns leicht unterschiedlich. Wir haben genü-gend Überlappungsraum, um uns alle noch gemeinsam im selben Raum zu spüren. Diese Überlappung

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macht es möglich, dass wir kommunizieren können. Aber wenn wir genauer hinschauen, dann erlebt jetzt jeder die Worte, die ich sage, etwas anders und jeder kommt heute Abend mit einem anderen Ge-fühl aus dieser Unterweisung. Das nennt man den imaginären Aspekt des Erlebens, weil es auf Imagi-nation, also auf Bildgebung beruht – visuelle Bilder, Hörbilder, Geruchsbilder, Geschmacksbilder, taktile Bilder und gedankliche Bilder.

Wenn ich das abstrakte Wort ‚Freiheit’ sage, entsteht bei jedem von uns ein Verstehen, und wir mei-nen, wir verstehen alle dasselbe. Aber was für innere Erfahrungsbilder wir mit dem Wort Freiheit verbinden, ist durchaus individuell verschieden. So leben wir auch in gedanklichen Bilderwelten, und das nennt man den imaginären Aspekt unseres Erlebens. Und dieser imaginäre Aspekt unseres Er-lebens hat dazu geführt, dass manche sagen: „Alles ist Illusion, alles ist imaginär. Alles ist bloß Imagi-nation!“ Wir sagen dann: „Nein, es gibt gar nichts anderes.“ Man kann nicht aussteigen. Ist euch das klar, dass es unmöglich ist, da auszusteigen?

Viele haben in der Dharmapraxis die naive Tendenz, zu meinen, man müsste die eigenen imaginären Produktionen verlassen. Sie meinen, diese imaginären Produktionen seien Samsara, und man müsste doch zur ursprünglichen Sinneswahrnehmung zurückkehren. – Das geht gar nicht. Die ursprüngliche Sinneswahrnehmung ist uns nicht möglich, aber es gibt eine einfachere Form des Erlebens, die wir den bedingten Aspekt nennen. Das ist der zweite Aspekt der Wirklichkeit.

Bedingt entstehendes Erleben Es ist bedingt durch Ursache und Wirkung. Ein Beispiel: Es entsteht Kontakt von etwas, das Licht reflektiert, also einem visuellen Objekt, einem funktionierenden Auge und einem visuellen Bewusst-sein. Durch das Zusammenkommen dieser drei Faktoren entsteht ein visueller Eindruck. Das ist die bedingte Ebene. Dieser Ebene kann man sich auch nicht entziehen. Solange diese Faktoren zusammen kommen, entsteht da etwas.

Das Gleiche gilt für alle anderen Sinne auch, inklusive des sechsten Sinnes. Im mentalen Sinn führen auch bestimmte Stimuli dazu, dass Assoziationsketten ausgelöst werden, dass Erinnerungen wachgeru-fen werden, dass ein Verstehen von Worten passiert. Wenn ich jetzt z.B. aus dem Kontext heraus einfach „Kuh“ sage, dann entsteht in jedem von euch ein bedingtes Erleben. Ihr sucht nach der Be-deutung von diesem Wort. Die meisten werden an das Tier, die Kuh, denken. Es könnte aber auch das „Q“ aus dem Alphabet gemeint sein.

Aber es entsteht ein bedingtes Erleben, dem sich niemand entziehen kann, solange Hörwahrnehmung stattfindet. Das ist die bedingte Ebene der Wirklichkeit. Viele dachten, auf diese Ebene der bedingten Erscheinung zu gehen, wäre die Lösung, um aus dem Imaginären auszusteigen. Das ist aber nicht der Fall, denn auch dieses bedingte Wahrnehmen der Sinne ist bereits imaginär.

Wenn wir genau hinschauen, ist all unser imaginäres Erleben bedingtes Erleben. Es gibt kein imaginä-res Erleben, das nicht durch irgendwelche Faktoren bedingt wäre. Immer tragen irgendwelche Fakto-ren als Ursachen und Bedingungen dazu bei, dass wir diese oder jene Interpretation eines bedingten Erlebens haben. Es bleibt im Rahmen der Bedingtheit.

Das meinte der Buddha, wenn er sagte, dass nichts wirklich Substanz hat, dass alles leer ist von einer letztendlichen Wirklichkeit, und weiters mit der Unterweisung, dass alles bedingt ist, dass alles abhän-gig entsteht. Dass es nichts gibt, das nicht abhängig entstehen würde. Das führt uns zwangsläufig zur dritten Aussage, dass alles Erleben nicht fassbar ist.

Nicht fassbares Erleben Erleben ist nicht fassbar als ein wirklich existierendes Etwas, weil es von unzähligen Faktoren abhän-gig ist und sich unter dem Einfluss dieser sich wandelnden Faktoren ständig ändert. Etwas, das ständig im Prozess ist, ist nicht fassbar genauso wie ein Fluss, ein Bach. Ein Bach ist in seiner Natur als Bach nicht fassbar, weil die Natur des Baches das Fließen ist und wir es nur als ein Ding, als ein Objekt

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beschreiben können. Wenn wir einen Bach anhalten würden, wäre es kein Bach mehr. Es ist nicht die Natur des Baches, stillzustehen.

So ist es mit allen Dingen: Wenn wir sie beschreiben, geben wir ihnen eine vermeintliche, stabile Be-zeichnung, die uns darüber hinwegtäuscht, dass es sich um einen Prozess handelt. Wir sagen ‚Tilmann’ und denken, wir hätten etwas klar beschrieben, aber eigentlich ist alles nur Prozess an die-sem Menschen. Egal welchen Menschen wir beschreiben. Wenn wir z.B. etwas als Tisch bezeichnen, erschaffen wir die Illusion von etwas Stabilem, aber eigentlich ist das individuelle Phänomen, das wir hier mit dem allgemeinen Wort ‚Tisch’ bezeichnen, etwas in ständigem Wandel Befindliches, was nur durch unser Erleben zugänglich wird und in diesem Erleben ebenfalls dynamisch ist.

Die einzige stimmige Aussage über dieses dynamische Erleben, über das, was wir Wirklichkeit nen-nen, ist, dass es nicht fassbar ist. Es ist bedingt entstehend, es ist imaginär. Alles Imaginäre und be-dingt Entstehende ist nicht fassbar, weil es imaginär und bedingt entstanden ist.

Somit haben wir mit diesen drei Aspekten die Beschreibung ein- und derselben Wirklichkeit. Alles von dem, was wir unser Erleben nennen, ist imaginär. Es findet immer über innere Abbildung statt. Die Abbilder entstehen schon in dem Moment, wo wir meinen, etwas zu sehen, wo wir meinen, etwas zu hören. Schon da handelt es sich um ein Bild. Es ist aus der Sinneswahrnehmung in die mentale Wahrnehmung gekommen, und dort wird es wahrgenommen als etwas mit Form, Farbe, Klang. Es wird differenziert von anderen Klängen, differenziert vom Raum herum und von der Stille. All diese Differenzierungen, die zur Identifikation von Sinneswahrnehmungen führen, sind nur möglich auf-grund innerer Abbilder. Es ist also alles imaginär, alles ist bedingt entstanden und nichts von all dem ist fassbar. – Fassbar in dem Sinne, dass man es festhalten könnte, mit einer gewissen Substanz, einem Wesenskern, dass man ihm eine bleibende Existenz geben könnte.

Das sind die drei Aspekte der Wirklichkeit, wie sie im Yogacara beschrieben werden. Auf dieser Grundlage hat der 3. Karmapa gelehrt, z.B. das Mahamudra-Gebet, das wir durchgenommen haben. Auf dieser Grundlage haben der 7., 8. und 9. Karmapa ihre Mahamudra-Manuale verfasst. Das ist die Grundlage der Sichtweise der Kagyü – und Nyingma – Schule.

Teilnehmer: Was ist denn mit dem bewussten Wahrnehmer, ist der fassbar? Der ist ja immer da.

Das ist aber eine Konstruktion in deinem Geist, dass du von einem bewussten Wahrnehmer sprichst. Was ist denn nun tatsächlich dran an diesem bewussten Wahrnehmer?

Du sagst ja, dass Erleben nur erlebbar ist, weil man es bewusst wahrnimmt.

Ja, weil bewusstes Erleben stattfindet, sonst könnten wir gar keine Aussagen treffen. Aber daraus einen bewussten Wahrnehmer zu konstruieren, ist ein imaginäres Produkt, bedingt entstanden, weil wir dieser Fähigkeit eine gewisse Stabilität zuordnen wollen. Also nennen wir das einmal einen Beobachter, also den Wahrnehmer oder das Subjekt.

Das ist auch imaginär.

Ja, du merkst es doch! Es ist ein sprachliches Produkt, um etwas zu beschreiben, was gewahr sein ist, gewahres Erleben, aber daraus einen Wahrnehmer oder ein Ich oder sonst etwas zu machen, ist Teil dieser inneren Bilder, mit denen wir arbeiten.

Aber ich kann doch die Bilder, die ich jetzt innerlich und äußerlich wahrnehme, wahrnehmen.

Ja, das bestreitet ja keiner.

Das ist so eine Konstante.

Ja, dass ständig Bilder aufsteigen und vergehen, dieser Wandel ist die einzige Konstante.

Nein, der es wahrnimmt.

Den musst du mir erst mal zeigen, abgesehen vom Erleben.

Wenn das wahr wäre, dann könnte ich ja gar nicht sagen, dass ich imaginär was erlebe.

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Das ist ein Postulat. Genau darum geht es in der Mahamudrapraxis, diese Postulate sich einmal anzu-schauen. Was ich vorhin zusammengefasst habe, ist ein höchst anspruchsvolles Thema, aber im Grun-de genommen ist es ganz einfach: Es gibt das Erleben. Und der normale Mensch unterscheidet in diesem Erleben zwischen Erlebendem – also dem Bewusstsein, dem Beobachter – und dem Erlebtem. So funktionieren wir. Aber wir müssen das überprüfen.

Gibt es die beiden getrennt? Gibt es irgendeinen Beweis im Erleben, dass die beiden getrennt sind? Du sprichst mit einem Brustton der Überzeugung davon, dass da jemand da sein muss, weil ja sonst irgendwie was passiert. Ich weiß ja nicht genau was, und ich sage dir: Nein – untersuche das!

Dass die getrennt sind oder nicht, kann sein, aber die Bilder z.B. ändern sich ja ständig, aber der Wahrnehmer ja nicht. Oder beim Hören: Ich höre ja ständig etwas anderes, aber trotzdem nehme ich wahr.

Also die Qualität des Wahrnehmens begleitet alles Wahrnehmen. Das ist es, was du sagen möchtest: Die Qualität von Bewusstheit, von Gewahrsein begleitet alle Erlebensprozesse.

Genau, dann ist ja das die Qualität des Wahrnehmens.

Wenn du aus der Qualität des Wahrnehmens jetzt jemanden machen möchtest, der wahrnimmt, dann machst du aus einer Qualität ein Ding, dann substantivierst du das. Das ist verständlich, weil wir so funktionieren, aber das entspricht nicht dem Erleben.

Aber ich muss ja kein Ding daraus machen, dass ich sage, das ist eine Person oder ein Ich. Aber das ist doch vorhanden.

Ja, das ist es: bedingt vorhanden. In jedem Moment des Wahrnehmens ist Wahrnehmung, ist Gewahr-sein, bedingt vorhanden.

Das ist für mich imaginär.

Ja, das ist imaginär. Dass wir überhaupt zu einem Konzept darüber gelangen können, das ist schon innere Abbildung.

Aber wenn es imaginär wäre, dann wäre es auch etwas Kognitives.

Ja, natürlich! Du sprichst ja darüber.

Aber wenn es etwas Kognitives ist, das hört ja dann praktisch mit dem Moment meines Todes auf.

Keine Ahnung, nicht spekulieren!

Doch, das Imaginäre ist ja eine Produktion meines Gehirns und das ist ja eine Kondition meiner Neu-ronenarbeit. Wenn Wahrnehmung auch eine Produktion meiner Neuronen ist, dann ist der Geist mit dem Tod meines Gehirns ja verschwunden.

Ich sage ja nicht, dass das nur dieses oder jenes ist. Nach dem, wie ich es und viele andere vor mir und gleichzeitig untersucht haben, kann ich nur sagen, dass wir im Erleben keine Trennung zwischen einem Wahrnehmer und Wahrgenommenem finden können. Wo Wahrnehmen stattfindet, ist immer Gewahrsein, weil Wahrnehmen stattfindet. Die beiden gibt es nicht getrennt. Wenn es die beiden ge-trennt geben würde, dann müsste es den Wahrnehmer geben, auch wenn die Wahrnehmung aufhört. Das ist aber unlogisch, das gibt es nicht. Es gibt keinen Wahrnehmer ohne Wahrnehmung. Die beiden treten nie getrennt auf, das können wir nicht beobachten.

Das ist ja klar. Was ich meine, ist, dass es sich ständig ändert.

Ich bin natürlich in dieser Thematik geschult, und dieser Dialog ist jetzt unfair. Aber du greifst immer wieder zurück auf das Ich, das sich dann plötzlich einschleicht. Es ist dann doch wieder das Ich, das alles wahrnimmt. Das ist doch der Wahrnehmer. Wenn wir eben gesagt haben, dass es den Wahr-nehmer nicht unabhängig von der Wahrnehmung gibt, dann müssten wir das jetzt auf das Ich übertra-gen. Es gibt das Ich nicht unabhängig von der Wahrnehmung. Das Ich ist Erleben, das Ich, das wir normalerweise vom Erleben abspalten, ist das Erleben selbst. Es gibt es nur im Erleben.

Ich ist ja nur ein anderer Ausdruck für Beobachter, Wahrnehmer, Denker, was auch immer. Da gibt es so viele Varianten. Ich und Erleben sind immer nur gleichzeitig da. Du erweist uns hier einen unheim-

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lich großen Dienst, indem du so mit mir diskutierst. Wir können das Ich tatsächlich als einen Strom des Erlebens definieren.

Wenn ich wahrnehme, habe ich immer ein Gefühl, dass ich da bin.

Ja, weil Wahrnehmung stattfindet, haben wir das Gefühl, da ist doch was.

Genau, das ist der Punkt.

Daraus konstruieren wir uns die Annahme von einem Ich, das wahrnimmt. Wir machen aus dem Gewahrsein, das in jedem Moment des Erlebens da ist, weil es die durchgängige Qualität ist, etwas, als wäre es unabhängig vom Erleben. Da es als Qualität in jedem Moment des Erlebens da ist, denken wir, was in jedem Moment des Erlebens da ist, muss doch unabhängig vom Erleben sein. Das ist es aber gar nicht. Das ist das Konstrukt, das wir in unserem Geist erschaffen. Und das ist der Fehler, der dann zu den ganzen Auswüchsen der Dualität führt.

Das ist jetzt nicht schlimm, aber wir sollten verstehen, dass diese dualistischen Annahmen eines Ichs getrennt von einem Erleben, tatsächlich konzeptuelle Erschaffungen sind, die im Erleben selber nicht zu finden sind. Im intensiven Erleben z.B. eines Klanges oder einer visuellen Erfahrung löst sich die vermeintliche Trennung auf zwischen jemandem, der beobachtet und etwas, das beobachtet wird.

Das ist das direkte, unmittelbare Erleben, und das ist so einfach und so unkompliziert. Wir machen daraus ein Erleben, das zwei Aspekte hat, wo wir uns dann mit dem Konstanteren identifizieren. Da finden Prozesse statt, wo dieses Gewahrsein sich für das Ich hält und das andere, das Wandelbare, sagt, „Das ist das Nicht-Ich, das ist das Wahrgenommene, das andere.“ Wir geraten dadurch in eine Spannung zwischen dem mit sich selbst identifizierenden Gewahrsein und dem vermeintlich anderen Erleben. Und daraus entsteht der ganze Salat von Samsara.

Ich sehe das schon, dass ich wahrnehme als Erleber und, dass Erleber und Erlebtes gleichzeitig funktionieren. Das hängt auch zusammen, das trenne ich nicht ab.

Also wenn das zusammenhängt, und wenn du es nicht abtrennst, wenn die beiden, die du formulierst, nie getrennt zu beschreiben und zu finden sind, dann sind sie nicht getrennt. Dann sind die nicht zwei.

Nein, die sind nicht zwei, aber das Erleben ändert sich ständig, wobei sich das Wahrnehmen nicht ändert.

Wie kann sich denn das Wahrnehmen nicht ändern, wenn das Erleben sich nicht ändert? Die Qualität der Bewusstheit ändert sich nicht.

Genau!

Das ist es, worauf du hinaus willst.

Es läuft aber gleichzeitig mit dem Erleben ab, wobei sich das Erleben ständig ändert und es ist nichts getrennt. Das sehe ich auch so, aber da ist immer so ein Gefühl im bewussten Wahrnehmen, dass da etwas ist.

Ich glaube, wir haben für heute Abend die Möglichkeiten ausgeschöpft, und jetzt geht es tatsächlich darum – und das ist Mahamudra Praxis – in das direkte Erleben hineinzufinden. Das ist es, was jetzt ansteht. Es geht darum, den interpretierenden Zugriff auf das Geschehen zu entspannen und das Erle-ben, das Gewahrsein selbst immer bewusster hervorkommen zu lassen, unverzerrt durch die vielen Interpretationen. Möglichst viel weglassen und immer genauer hinschauen, um was es sich eigentlich bei dem, was wir Erleben oder Wahrnehmung nennen, handelt.

Das ist der Weg der Mahamudra-Praxis. Den kann uns niemand abnehmen. Nur da gelangen wir zu den direkten Erfahrungen, die dann im Nachhinein – wie jetzt bei mir – zu der Überzeugung führen, die auch begrifflich und konzeptuell ausgedrückt werden kann. Das ist etwas Nachgeordnetes. Man kommt nicht durch logische Schlüsse zu dieser Gewissheit, sondern weil das einfache Erleben eben so ist. Man kann sich mit den Begriffen noch vertun, aber im Erleben gibt es kein Vertun. Mit den Begriffen kann man sich verheddern, man kann wieder Dinge sagen, wo andere mit Recht auch sagen: „Nein, so nicht!“ Aber im Erleben selbst ist es unglaublich einfach.

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Diese Einfachheit zu erfahren, ohne die Verzerrungen des begrifflich interpretierenden Apparates, dessen wir uns normalerweise bedienen, ist unglaublich hilfreich. Warum?

Weil in dem Moment völlig klar ist, dass alles Erleben imaginär ist, dass alles Erleben bedingt ist und dass alles Erleben unfassbar ist. Darin kollabiert unsere normale emotional belastete Weltvorstellung. Das sich Aufbauen von Emotionen findet nicht mehr statt, weil es als imaginär, als bedingt und als nicht fassbar durchschaut wird. Da kollabieren nicht nur die Ich-Vorstellungen. Alles, was damit zusammen hängt, kollabiert in diesem tiefen Erkennen, und es ändert nichts an der Wirklichkeit. Das ist das Irre! Wir brauchen gar nicht auszusteigen aus der dualen Welt.

Wir brauchen nicht auszusteigen aus der Kommunikation von Subjekt und Objekt. Sie braucht nur durchschaut zu werden, als das erkannt zu werden, was sie ist. Dadurch entsteht Freiheit. Wir brauchen keine andere Wirklichkeit. Wir brauchen nicht woanders hin, wir brauchen keine anderen Menschen zu werden. Wir brauchen nicht anders zusammen zu leben mit anderen, sondern nur zu durchschauen, was es tatsächlich ist, was diese Wirklichkeit für eine Natur hat. Darum geht es, und das ist die absolut befreiende Botschaft, die Grundlage für die Aussage: „Samsara und Nirvana sind eins.“ – Weil Samsara imaginär, bedingt und unfassbar ist.

Mehr braucht es nicht, damit völliger Frieden im Geist entsteht. Wir brauchen nicht woanders hin. Diese Beschreibung ist so genial, weil all diese Tendenzen, Befreiung irgendwo anders zu suchen als im augenblicklichen Erleben, zusammenbrechen. All diese Fluchtmechanismen vor einem falsch ver-standenen Samsara lösen sich auf. Es gibt keine andere Befreiung als die in dem Moment des Erlebens jetzt gerade. Das ist die Konsequenz von dem tiefen Erkennen dieser verschiedenen Aspekte der Wirklichkeit.

Also Schluss mit dem Suchen einer Leerheit irgendwo anders! Schon Nagarjuna hat es genauso ausge-drückt. Es ist seit ihm nichts Neues dazugekommen. Nur ist das hier eine noch nuanciertere Formulie-rung, die eben nicht ausklammert, dass es tatsächliches Erleben gibt. Sie verneint es nicht, sie bejaht es. „Ja, es gibt Erleben.“ Dieses Erleben ist eben bedingt und drückt sich in Bildern aus, und nichts von all dem ist fassbar. Aber das verneint nicht, dass es dieses Erleben gibt. Das ist etwas differen-zierter als zu sagen, „Alles ist Illusion.“ Das ist damit nicht gemeint. Es ist tatsächliches Erleben, aber mit den drei Qualitäten.

Ich halte diese Unterweisung für sehr hilfreich. Es geht im Mahamudra darum, sich diesem Verständ-nis anzunähern. Das ist der springende Punkt.

Karmapa hatte mir empfohlen, über dieses Thema die letzten beiden Winter-Retreats zu meditieren. Ich habe erst in diesem Jahr richtig kapiert, was es damit auf sich hat. Karl Brunnhölzl spricht in seinen Übersetzungen häufig über diese drei Aspekte der Wirklichkeit, aber es hat bei mir bis vor kurzem noch nicht so richtig geklappt. Aber jetzt ist es klar, diese Erklärung ist total hilfreich.

Als drei beschrieben und doch eine Wirklichkeit, nicht verschiedene Wirklichkeiten und keine, die gegen die andere ausgespielt werden könnte. Es gibt keine bessere und keine schlechtere Wirklichkeit.

Dann lasst uns noch ein bisschen meditieren, ein bisschen verdauen.

Teilnehmerin: Ich habe eine Geschichte über den 16. Karmapa gehört. Ihm ist einmal ein Stift runter gefallen, und er hat durch den Tisch gegriffen und ihn aufgehoben. Wie ist das möglich?

Wie soll ich denn das wissen?

Jetzt möchte ich da eine Antwort.

Jetzt möchtest du eine Antwort. Nehmen wir mal an, dass es so war.

Früher hat es mich geschaudert vor so einer Vorstellung, mittlerweile schon nicht mehr.

Also meditieren wir noch freudig entspannt in der imaginären Natur aller Dinge.

* * *

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Zweiter Teil: Die Hauptpraxis

Hier geht es erst einmal um die Praxis der geistigen Ruhe, Shamata. Und wie auch in dem anderen Text des 9. Karmapa geht es zunächst um die essentiellen Punkte in Bezug auf Körper und Geist. Die Körperhaltung ist immer ein sehr herausforderndes Kapitel, weil viele daran verzweifeln, dass sie diese Sieben-Punkte-Haltung, die hier erklärt wird, nicht einnehmen können. Aber wir können einige wichtige Punkte dieser Haltung praktizieren und auch für andere Körperhaltungen daraus lernen.

[14.1] Die Hauptpraxis hat zwei Teile: A. Geistesruhe (Shamata) und B. Intuitive Einsicht (Vipashyana).

A. Geistesruhe

1. Schlüsselunterweisungen zu Körper und Geist: Die Haltung Was das Entwickeln von Geistesruhe angeht, so gibt es allgemein gesagt viele Methoden, um meditative Versenkung (Samadhi) hervorzubringen. Wenn wir aber mit einer bestimmten Schlüsselunterweisung vertraut sind, werden keine Hindernisse und Blockaden in unserer Pra-xis auftauchen. Frei von Fehlern beim Kultivieren von Geistesruhe und Intuitiver Einsicht werden sich die Erfahrungen und Verwirklichungen des natürlichen, zeitlosen Gewahrseins an-strengungslos zeigen.

Die Unterweisung in der Körperhaltung von Vairocana ist eine Methode, um ohne Anstrengung die meditativen Versenkungen der Entwicklungs- und Vollendungsphasen und die Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtdenken hervorzubringen. Anfänger sollten deshalb folgende Schlüsselpunkte zur Körperhaltung beherzigen:

Die Einleitung ist also sehr intensiv und sagt: Kümmert euch gar nicht um so viele andere Methoden. Wenn ihr diese Sieben-Punkte-Haltung einnehmen könnt, dann habt ihr eine Methode, die euch ganz, ganz viele Hindernisse erspart und mit der ihr anstrengungslos in Shamata und Vipashyana hineinfin-det. Wenn man die Sieben-Punkte-Haltung kann, ist sie anstrengungslos. Man kann eine Weile darin bleiben, und sie hilft dann sehr, den Geist zur Ruhe zu bringen. Als ich sie gelernt habe, war es kaum möglich zu denken. Sie hat alles begriffliche Denken unterbunden und den Geist tatsächlich sehr schnell geöffnet. Wenn man diese Unterweisung früh genug, in jungen Jahren erhält, unser Körper sich daran gewöhnen kann und wir viel Zeit haben, ist diese Schlüsselhaltung extrem effektiv.

Ich möchte das Kapitel nicht überspringen, wir können ja schauen, welche Schlüsse wir daraus für unsere Haltung für ziehen können. Ich sehe einige von euch in einer Körperhaltung sitzen, die noch nicht optimal ist. Die Knie sind nicht auf dem Boden, das Ganze ist nicht stabil und offensichtlich auch nicht bequem, weil ihr immer wieder die Beine bewegen müsst. Eine Körperhaltung muss so sein, dass wir den Körper wirklich ablegen können, dass wir uns gar nicht mehr um ihn zu kümmern brauchen und der Geist frei ist für die innere Arbeit. Das ist der wesentliche Punkt. Wir sollten uns wohl fühlen und es sollte eine Haltung sein, die eine Öffnung und Beruhigung des Geistes unterstützt. – Nicht in Richtung Einschlafen, nicht in Richtung Aufwühlen, sondern wirklich eine Klarheit und Offenheit.

Die Haltung besteht aus sieben Schlüsselpunkten:

• [14.3] Um die nach unten ausscheidenden subtilen Energien unter Kontrolle zu bringen, bringe die Beine in die Vajra- oder in die Sattva-Haltung.

Bei der Vajra-Haltung hält man beide Füße nach oben, wobei der rechte über dem linken liegt. Mir wurde erklärt, dass die Lotushaltung die Beine umgekehrt hält, zuerst den rechten und dann den linken hoch. Bei der Bodhisattva-Haltung liegt das rechte Bein vor dem linken flach auf dem Boden. Man

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kann diese Sieben-Punkte-Haltung auch mit der Bodhisattva-Haltung einnehmen. Es geht. Ihr müsst selber schauen, ob es für euch geht. Wenn man ein hohes Kissen hat, dann wird es schwierig, weil man leicht abrutscht.

Eine Zwischenlösung ist der halbe Vajra, da wölben sich die Oberschenkel noch einmal ein bisschen anders. Damit geht die Sieben-Punkte-Haltung leichter als in der Bodhisattva-Haltung.

Das sind also die drei Beinhaltungen, die empfohlen werden, um die unteren Energien zu halten. Schaut, ob ihr eine dieser drei einnehmen könnt, das wäre sehr, sehr hilfreich. Egal, was ihr mit dem Oberkörper macht, schaut, dass ihr mit den Knien auf den Boden kommt. Die geeignete Vorgehens-weise, um zu schauen, ob man mit den Knien auf dem Boden bleiben kann, ist, nach vorne zu wippen und sich dann so viele Kissen unter zu schieben, bis man – wenn man sich wieder zurück fallen lässt – immer noch mit den Knien auf dem Boden ist, ohne Spannung. Dann habt ihr den Vorteil, dass ihr oben diese Freiheit spürt, nicht so in euch zusammenzufallen.

Wenn man das geübt hat, dann kann man auch ganz flach sitzen. Das ist aber gar nicht unbedingt zu empfehlen, denn wenn man ganz flach sitzt, kommt es wieder zu einer Blockade in den Hüften, die bewirkt, dass wir im Kreuz Energie aufbringen müssen, um das Kreuz zu halten und gerade zu sitzen. Mit einem Kissen bleibt der Körper ganz von selber aufrecht. Die Idee, man solle lernen, ohne Kissen zu sitzen als Beweis für yogischen Fortschritt oder ähnliches, ist nur ein Beweis für Stolz. Man kann es sich wirklich leichter machen, indem man schaut, welches Kissen dafür geeignet ist, einen ganz ent-spannt aufrecht sitzen zu lassen.

Wer mit verschränkten Beinen sitzt, sollte nach Möglichkeit mit den Knien den Boden berühren. Wenn das nicht möglich ist – in ein paar Jahren ist es bei mir auch so weit – dann sollte man sich auf einen Stuhl setzen und die Füße flach am Boden aufsetzen. Dann haben wir eine ganz ähnliche Hal-tung als wenn wir am Kissen auf dem Boden sitzen würden, bloß dass die Beine nach unten gehen. Wer auf dem Boden sitzen möchte, sollte sich unter beide Knie Kissen legen sodass die Beine abge-legt werden können und nicht noch eine Kraft brauchen, um in der Höhe gehalten zu werden. Die unteren Energien in unserem Becken kommen gar nicht zur Ruhe, wenn wir diese Anspannung auf-rechterhalten müssen.

• Damit die subtilen Energien des Erd-Elementes im Zentralkanal verweilen, strecke deine Wirbelsäule wie ein fein zulaufendes Rohr.

Der Zentralkanal ist nicht die Wirbelsäule. Er ist eine energetische Körpermitte. Innerlich stellt sich das Gefühl ein, als hätte man eine Verbindung, ein Rohr, das von unten bis oben in den Kopf hinein-geht. Es fühlt sich alles ganz, ganz gerade an. Diesen Punkt können wir auch berücksichtigen, ohne dass wir die Arme durchstrecken. Wir können mit dem Oberkörper völlig gerade sitzen. – Völlig gerade bedeutet nicht, dass die leichte Lenden-Lordose ausgeglichen werden sollte. Es ist damit nicht gemeint, dass wir alles gerade ziehen, sondern dass wir das Gefühl von aufrecht haben.

Diese ersten beiden Punkte sind für uns möglich. Sogar auf dem Stuhl können wir es uns so einrichten, dass die Haltung der Beine und des Oberkörpers diesen beiden Punkten entsprechen.

• Um die subtilen Energien des Wasser-Elementes in den Zentralkanal zu führen, halte die Hände unterhalb des Nabels in der Versenkungs-Mudra.

• Richte zudem die Schulterblätter auf und bringe sie näher zusammen.

Das ist eine Korrektur für die Menschen, die mit nach vorne gewölbten Schultern sitzen. Im Grunde geht es darum, dass vorne eine Gerade gespürt wird. Wir spüren eine aufrechte Gerade und quer dazu wie bei einem Kreuz eine Gerade bei den Schultern. Die Schultern ziehen weder nach hinten noch nach vorne, sie bleiben in der Mitte. Wenn wir in unserer Gewohnheitshaltung nicht in der Mitte sind, kommt dadurch die Brust ein bisschen heraus, aber auch nicht stark. Es gibt selten Menschen, die eine Überstreckung nach hinten haben. Es kommt häufiger vor, dass der Körper ein bisschen zusammen-fällt und dass dadurch in der Herzgegend zu wenig Raum ist. Das Strecken des Oberkörpers und das Öffnen der Schulterblätter führen dazu, dass die Energien in diesem Bereich sehr viel besser zirku-lieren. – Auch das ist im Bereich unserer Möglichkeiten.

Im Zen werden die Hände etwas unterhalb des Nabels mit sich berührenden Daumen ineinander gelegt und in der Luft gehalten. Sie werden also nicht im Schoß abgelegt. Das ist keine schlechte Haltung,

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aber sie geht mit einer gewissen Anstrengung einher. Zen ist dafür bekannt, dass es ein sehr kraftvoller Weg ist. Es wird sehr viel mit Kraft und Durchhaltevermögen gearbeitet. Im Mahamudra legen wir die Hände ab, damit wir auch diese zusätzliche Anstrengung nicht haben. Wir können natürlich, wenn wir müde oder schläfrig werden, die Hände etwas aufheben und die Daumen ineinander legen. Das Be-rühren der Daumen ist auch nicht notwendig. Wir können sie einfach aufeinander ablegen. Das korrespondiert mit den Beinen. Wenn der rechte Fuß auf dem linken Bein liegt, dann liegt auch der rechte Daumen über dem linken. Da besteht eine innere Symmetrie.

Ihr könnt übrigens für die Hände ein kleines Kissen in den Schoß legen.

• Um die subtilen Energien des Feuer-Elementes in den Zentralkanal zu führen, halte den Hals leicht gebeugt wie einen Haken.

Das Kinn ist ein bisschen nach unten und nach innen gerichtet, wodurch die Fontanelle tatsächlich den obersten Punkt unseres Kopfes bildet. Auch das lässt sich praktizieren. Es wird darauf hingewiesen, weil es manche gibt, die mit weit offenem Kinn praktizieren und tatsächlich in ein Ungleichgewicht der inneren Energien kommen. Es ist sehr schwer, die Energien zu sammeln, wenn das Kinn nach oben gestreckt und im Nacken eine Beugung ist. Durch das leichte Einziehen des Kinns ergibt sich das Gefühl, dass die inneren Energien ein bisschen gezügelt sind, sie werden nicht so ganz frei laufen gelassen. Diese kleine Zügelung in der Haltung hat eine große innere Wirkung.

• Um die subtilen Energien des Wind-Elementes in den Zentralkanal zu führen, halte den Blick etwas gesenkt entlang der Nasenspitze, wobei die Augen weder weit offen noch geschlossen sind.

Nasen sind so unterschiedlich, dass der Blick bei manchen tatsächlich im Himmel landen würde und bei anderen auf den Boden abstürzen würde, wenn man diese Anweisung wörtlich nehmen würde. Es ist hier gemeint, dass wir den Blick leicht gesenkt haben. Wir brauchen die Nase überhaupt nicht im Blickfeld zu haben. Das geht zusammen mit dem Kinn, das etwas eingezogen ist. – Auch das können wir lernen. Wenn wir meditative Versenkung praktizieren wollen, nehmen wir diese Haltung ein.

• Zunge und Lippen sind natürlich entspannt oder die Zunge liegt am Gaumen.

Wichtig ist, dass die Lippen entspannt sind. Eine andere Unterweisung erklärt das so: Lass die Lippen sich ein bisschen öffnen, sodass – wenn du wolltest – du einen feinen Luftstrom zwischen den Lippen einatmen könntest. Wir atmen nicht durch den Mund, aber wir lassen die Lippen entspannt, nicht zu-sammengepresst. Das hat sehr entspannende Wirkung. Wir sind nämlich oft im Mundraum verspannt, ohne es zu bemerken. Wir können auch darauf achten, wo sich die Zunge befindet, wenn sie sich entspannt. Meistens liegt sie dann am oberen Gaumen. Ihr könnt dann schauen, wo sie bei geschlos-senem Mund ist.

Das waren also sechs Punkte, die von fast jedem befolgt werden können. Wer dann noch einen oben drauf geben möchte, kann diese Armhaltung einnehmen. Dabei drücken wir die Daumen auf das untere Segment des Ringfingers. Das Drücken auf diese Punkte hilft, die Energien gut zirkulieren zu lassen. Wir können den Ringfinder um den Daumen legen, um ihn festzuhalten. Dann legen wir die Handgelenke jeweils auf den weichen Teil des Oberschenkels und streckten die Arme durch, wobei das Gelenk ganz durchgedrückt wird bis es einrastet und sich nicht mehr bewegen kann. Das ist für Frauen normalerweise einfacher als für Männer, weil sie leichter überstreckbare Gelenke haben. Dabei merken wir, dass seitlich ein gewisser Druck auf den Brustkorb kommt.

Das kann für diejenigen, die nicht damit üben, eine erfrischende Haltung für ein oder zwei Minuten sein. Es geht aber nur, wenn man mit den Beinen flach am Boden sein kann.

Teilnehmerin: Das ist für den Rücken anstrengend.

Das ist der Fall, wenn der Rücken verspannt ist. Wenn man sich dran gewöhnt, wird die Wirbelsäule ein bisschen auseinander gezogen und auch alle Muskeln. Ich habe mit der Zeit bei dieser Haltung einen oder zwei Zentimeter gewonnen. Zu Anfang war es mir völlig unmöglich, die Arme durchzu-drücken, das ging überhaupt nicht. Ich sagte Gendün Rinpoche, dass das nicht gehen kann. Später ging es ganz einfach. Da war dann in der Zwischenzeit mehr Raum in der Wirbelsäule entstanden und das ist auch gewollt. Es entsteht Raum in der Wirbelsäule, alles wird gedehnt, das tut dem Rücken sehr

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gut, das tut der Wirbelsäule gut und es tut den inneren Organen total gut. Denn die haben durch diese Dehnung viel Raum für die Verdauung, es zirkuliert alles viel besser.

Teilnehmer: Ist nicht trotzdem Anspannung um die Schultern herum?

Nein, das ist wie ein Kleiderständer, in den man sich abhängt. Da hängt der Mantel dann am Kleider-ständer, und man braucht sich nicht mehr um ihn zu kümmern. Das sieht anstrengend aus, da ist aber keine Anstrengung in den Schultern.

Teilnehmer: Ich hab am Anfang die Schultern ein bisschen nach vorne getan. Da hab ich gemerkt, dass das nicht richtig ist. Es gibt ein ganz anderes Gefühl, wenn man sie etwas nach hinten tut, das ist für den Körper und für einen selber gut. Man darf nicht übertreiben, wenn man die Schultern zu weit nach hinten tut, dann…

Das ist ein selbst gemachtes Rezept. Die Schultern sollten gerade sein, weder nach hinten noch nach vorn. Gerade! Die Anweisung, sie zurück zu geben war nur als Korrektur gemeint, dass sie gerade werden!

Vergesst also diesen Punkt, das war nur für die jungen Leute. Wir halten uns an die sechs ersten Punkte. Die können wir auch in unserem Alter noch einnehmen.

Ich wiederhole:

1. Verschränkte Beine mit den Knien auf dem Boden – Gefühl eines stabilen Dreiecks 2. Aufrechte Wirbelsäule 3. Die Hände unterhalb des Nabels ineinander gelegt mit geraden Schultern 4. Das Kinn leicht nach unten und innen geneigt 5. Der Blick entlang der Nase nach vorne gerichtet, ohne die Nase zu betrachten 6. Die Zunge, die Lippen, der Mundraum sind entspannt

Teilnehmerin: Du hast extra darauf hingewiesen, dass man nicht durch den Mund einatmet. Ich hab mir in letzter Zeit angewöhnt, durch Nase und Mund zu atmen.

In unserer Mahamudra-Tradition ist es tatsächlich so, dass wir durch die Nase atmen. Ich hab Vieles aus verschiedenen Yoga-Traditionen gehört, z.B. den kombinierten Atem – einatmen durch den Mund, ausatmen durch die Nase. Es gibt Kombinationen. Aber bei uns wird das Atmen durch die Nase ge-lehrt, ich kenne es nicht anders. Weiß jemand von den anwesenden Dharma-Lehrern mehr dazu?

Lama Sherab: Im Kumnye wird ein kleines bisschen durch den Mund mit eingeatmet. Aber haupt-sächlich atmet man durch die Nase, wie du es vorhin beschrieben hast.

Du hast es dir sicher so angewöhnt, weil es dir gut tut, nicht? Ich kenn es eben nur durch die Nase. Ich würde das nicht für so wichtig nehmen, schau einfach, wie es sich für dich anfühlt.

Teilnehmerin: Ist es auch in Ordnung, die Hände auf den Knien zu halten?

Ja, das ist auch in Ordnung. Beobachtet aber den Unterschied dieser beiden Haltungen. Vorhin wurde die Haltung erklärt, um in die meditative Stabilität einzutreten. Tatsächlich öffnet uns die Haltung mit den Händen auf den Knien energetisch mehr als die Haltung mit geschlossenen Händen. Sie ist des-wegen sehr gut geeignet, um Entspannung zu bewirken, aber um wirklich in Sammlung zu bleiben, ist es meistens sinnvoller, die Hände zusammenzulegen. Übe mit beiden Haltungen und schau auf den Unterschied. Es ist ganz erstaunlich, was so kleine Unterschiede bewirken können.

Teilnehmer: Ich hab die Erfahrung gemacht, dass der Körper, wenn man in der Meditation wirklich loslässt, eigentlich all diese Punkte von selber einnimmt. Wenn ich z.B. am Anfang die Hände auf den Knien halte, weil es entspannender ist, nach zehn Minuten ist es mir plötzlich angenehmer, wenn ich die Hände in den Schoß lege. Und nach den nächsten zehn Minuten gehen sie plötzlich von selber hoch. Und selbst diese Haltung mit den Geierflügeln für kurze Zeit einzunehmen, tut den Schultern gut. Ich hab immer versucht, zu schauen, was mein Körper selber macht und ihm zu vertrauen. Dabei hab ich bemerkt, dass, wenn ich innerlich loslasse, dann genau die Haltung eingenommen wird, ohne dass ich es tun muss. Das kommt von innen heraus.

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Ja, unser Körper macht ganz viel von selber. Er zeigt es uns, wenn wir es ihm erlauben, uns zu führen. Es ist ganz gut, von den Erfahrungen anderer Praktizierender zu hören, damit wir uns dafür öffnen, aus unseren normalen Sitz- und Bewegungsmustern auszusteigen und etwas zuzulassen, was unser Körper normalerweise nicht tut.

Für jemanden, der etwas gekrümmt sitzt, wird es lange dauern, bis die Wirbelsäule aufrecht ist. Aber wer diese aufrechte Haltung einmal kennen gelernt hat, wird sehr schnell in die Aufrechte kommen. Sobald mein Körper und auch mein Geist wieder eine gewisse Frische haben, möchte mein Körper in die Aufrechte. Er sucht sie sich, die Herzgegend sucht sich die Öffnung. Bei den Händen ist es auch so. Ich kenne das auch, dass der Moment kommt, wo es sich richtig anfühlt, die Hände in den im Schoß zu legen, wenn sie vorher auf den Knien waren. Ich kann dir also nur zustimmen.

Vertraut eurem Körper auch da. Erlaubt ihm, euch zu führen. Aber achtet auf eine gute Haltung. Durch eine gute Haltung könnt ihr euch viel ersparen. Gut bedeutet eine Haltung, die den Geist und seine Frische, seine Präsenz unterstützt.

Meditation So wie wir es bereits geübt haben, spüren wir den Körper, öffnen uns dann für sehen, hören, riechen, schmecken. Immer verbunden mit dem Gewahrsein des Einatems und des Ausatems. –

* * *

Fragen

Teilnehmerin: Ich sitze weitaus am besten, wenn ich den Unterschenkel auf einem Fuß ablege. Dabei ist allerdings das Knie nicht am Boden. – Jetzt habe ich Bedenken bezüglich der Erleuchtung. Aber es kommt mir so am stabilsten vor.

So wie du da sitzt, ist es gut. Du hast eine stabile Unterlage, ein stabiles Dreieck. Das ist gut.

Teilnehmerin: Wie lange soll man denn in dieser Sieben-Punkte-Haltung bleiben?

Da gibt es keine Grenze. Du kannst so lange drin sitzen, wie es sich gut anfühlt. Wenn man länger so sitzt, kann es sein, dass die Finger blau anlaufen, weil die Zirkulation etwas nachlässt. Aber selbst das macht nichts.

Hält man die Daumen an die Fingerwurzel oder an das Fingerglied?

Der Daumen ist am unteren Fingerglied knapp unterhalb des Gelenks, also nicht an der Wurzel.

Teilnehmerin: Zum Blick. Mir geht es besser, wenn ich eher gerade aus schaue oder mehr nach oben schaue als auf den Boden.

Welcher Blick dir gut tut, kannst du sehr an deiner inneren Aktivität merken. Wenn der Geist ruhig ist, dann können wir den Blick ruhig heben. Wenn der Geist dadurch in stärkere Aktivität kommt, empfiehlt es sich, den Blick wieder zu senken. Der Blick in die Weite ist der Mahamudra-Blick. Jetzt geht es noch um die Sammlung des Geistes. Verschiedene Phasen in unserer Praxis, in unserem Leben können auch mit verschiedener Blickrichtung einhergehen. Für die Sammlung schauen wir eher nach unten, wenn der Geist sich gesammelt hat, können wir den Blick fast in die Horizontale heben und dann können wir tatsächlich auch damit üben, den Blick ganz zu öffnen, ganz in die Weite zu schauen. Allerdings ist dann wichtig, dass wir nicht an den Sinneserfahrungen haften.

Du hast erwähnt, dass du auch mit Dzogchen in Berührung gekommen bist. Im Dzogchen wird in die Weite geschaut, aber nicht im Trektschö. Wenn du das praktizierst, sammelst du den Blick auch mehr.

Teilnehmerin: Bei mir wird der Blick manchmal verschwommen. Das kann für fünf Minuten sein aber dann auch wieder weniger. Und wenn ich vor mich hinschaue, dann kommt ein Moment, wo dann das, was im weiteren Blickfeld ist, z.B. die Matte hier, in die Mitte rutscht, so als wenn ich sie schieben würde.

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Das hängt damit zusammen, dass der Blick noch nicht ganz entspannt ist. Wenn wir einfach normal schauen, dann fixieren wir. Wenn wir den Blick entspannen, beginnt er unscharf zu werden, und wenn wir noch weiter entspannen, dann klärt er sich wieder. Das ist also ein Durchgangsphänomen, ein Zeichen für eine Entspannung, die noch nicht tief genug ist. Es könnte aber auch sein, dass deine Augenmuskeln unterschiedlich starken Zug haben. Das kommt bei einzelnen Menschen vor, und es kommt dann tatsächlich zu einem Schielen, weil nicht mehr korrigiert wird. Normalerweise schaut man in so einem Fall mit einer unbewussten Korrektur.

Aber bei den allermeisten Praktizierenden ist es so, dass sie vorübergehend diese Unschärfe erleben, zum Teil auch noch nach der Meditation, bis sich das wieder korrigiert. Dieses Phänomen löst sich aber völlig auf, wenn sie weiter entspannen und noch natürlicher werden.

Ich glaube nicht, dass du etwas falsch machst. Es ist nur, dass sich die Augenmuskeln in dieser Ent-spannung lösen, und bis die auch in der Entspannung zu einem scharfen Bild führen, braucht es eine ganze Weile. Ich hab da auch eine lange Durchgangsphase gehabt, wo ich unklar gesehen habe.

Das heißt während der Meditation sollte es eigentlich wieder scharf werden? Ich sehe den Boden schon in seinen Strukturen und so.

Ja, es wird dann ganz entspannt, nicht fixiert aber scharf.

Teilnehmerin: Wenn ich in die Weite schaue, dann gibt es einen Moment, wo die Farben ganz klar und brillant werden. Dabei erschrecke ich und das ist dann wieder weg. Wenn ich wieder entspannt bin, dann kommt diese Brillanz wieder.

Das kommt so plötzlich, dass du fast erschrickst? Du schaust dabei gerade in die Weite? Ich kenne das unabhängig von der Blickrichtung. Dass die Farben so ganz frisch und lebendig werden, ist ein Zeichen für beginnendes Shine. Das ist ein Zeichen für Geistesruhe, ein normales Zeichen. Aber dass es dich erschrickt? Das scheint sehr plötzlich einzutreten.

Was macht denn da den Schrecken aus? Beobachte das in diesen Tagen weiter, lass es zu, beobachte. Sag ja dazu, wenn es passiert und stell dich darauf ein. Vielleicht erschrickst du dann gar nicht mehr.

Ich kenne die Erfahrung, so wie du sie beschreibst, nicht. Es gehört zur sich entwickelnden Geistes-ruhe dazu, dass die Farben unheimlich brillant und wie selbst leuchtend werden. Du bist allerdings die Erste, die sagt, dass sie darauf mit einem Schrecken reagiert. Deswegen weiß ich auch nicht, ob es ge-nau dasselbe ist. Wenn du es noch einmal so erlebst, schau hin und wenn du noch einmal erschrickst, dann schau noch einmal hin und frag dich, was es denn eigentlich war, was dich erschreckt hat. War es, weil es so klar war und nicht so klar sein sollte?

Teilnehmerin: Ich könnte im Lotussitz sitzen, es schmerzt mich aber relativ bald. Also sitze ich meist im halben Lotus. Soll ich den vollen Lotus weiter üben oder soll ich es so belassen? Ich sitze so relativ stabil.

Ich glaube nicht, dass du den vollen Lotus zu üben brauchst. Wichtig ist, dass du so stabil sitzt, dass du allmählich deine Beinhaltung vergessen kannst, dass die Beine einfach abgelegt sind. Ich zögere damit, euch zu raten, den vollen Lotus oder Vajra zu üben, weil euer Körper weiß, was ihm gut tut. Sobald wir ein bisschen forcieren – wir sind auch nicht mehr ganz die Jüngsten – kommen wir schon in den Bereich hinein, wo wir es vielleicht einfach übertreiben.

Teilnehmer: Ich meditiere immer mit einem Teelicht. Dabei habe eine ganze Zeit hindurch zwei Teelichter gesehen. Einigermaßen überraschend sehe ich seit Ende letzten Jahres nur noch ein Teelicht. Wenn ich eine Phase habe, in der ich zwei Teelichter sehe, soll ich es dann so belassen und nicht auf ein Teelicht fixieren?

Ja, belasse es so und nimm es als Hinweis, noch weiter zu entspannen. Genau das habe ich vorher ge-meint. Das ist die Schlussfolgerung.

Ich glaube, da liegt ein grundlegendes Element drin. Ich kenne diesen Impuls und hatte immer das Bedürfnis, mir dieses Phänomen von einem Facharzt für Neurologie einmal erklären zu lassen, was mit mir los ist mit diesem beunruhigenden Element.

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Ich kann das nachvollziehen, mir ging es auch so, und es ist erstaunlich. Ich habe in letzter Zeit viel meditiert. Da war ein gemusterter Teppich vor mir, das Muster wurde dann ziemlich verschwommen, und mit weiter zunehmender Entspannung wurde es wieder klar.

Egal, was es dann ist, es gibt da verschiedene Erfahrungen, und es ist gut, sie mit jemandem, der da-rauf antworten kann, zu klären. Doppelt sehen passiert, wenn wir den Blick entspannen. Das hängt damit zusammen, dass sich die Augenmuskeln entspannen und nicht mehr den Fokus einrichten, die Parallaxe löst sich auf.

Teilnehmer: Sollten bei der Haltung die Ellenbogen durchgedrückt sein? Wenn ich sie durchdrücke, habe ich mit verschiedenen Dingen ein Problem. Erst einmal schnallen die Arme vor die Rippen, und dann rutsche ich ab.

Ja, all diese Probleme entstehen, wenn wir die Ellenbogen durchdrücken, aber genau das ist die Hal-tung. Es gibt Praktizierende, die diese Unterweisungen erhalten haben und dann die Haltung üben, ohne die Ellenbogen durchzudrücken. Das fühlt sich angenehm an, aber sie kommen dadurch nicht in den Nutzen dieser Haltung. Das ist dann einfach eine Haltung, die die Wirbelsäule etwas streckt, aber der wirkliche Nutzen wird so nicht erzielt. Es kann geradezu zu einem Hindernis werden, weil man Spannung aufrecht erhält, man kann nicht loslassen.

Teilnehmerin: Ich habe seit meiner Operation auch lichtempfindliche Augen. Ich bin etwas ver-zweifelt, denn wenn ich den Blick senke und entspanne, fangen die Augen trotzdem an zu brennen. Dann ist das Bedürfnis da, die Augen zu schließen. Ich weiß aber, dass sie nicht geschlossen sein sollen und falle wieder aus der Entspannung raus. Es besteht auch die Gefahr einzuschlafen. Und so bin ich ständig im Wechsel, komme aber nicht richtig in die Entspannung hinein.

Du könntest es mit einer Sonnenbrille versuchen. Aber es spricht nichts grundsätzlich dagegen, auch mit geschlossenen Augen zu meditieren. Das macht den Geist nicht dumpf sondern wir üben dann nicht so mit dem Sehen. Es wird uns schwerer fallen, die Meditation in Situationen hineinzubringen, wo wir mit Visuellem in Kontakt sind. In der Theravada-Tradition wird meist mit geschlossenen Augen meditiert. Das führt dazu, dass der Geist ein bisschen nach innen geht. Ich selbst erlaube mir auch die Augen zu schließen, wenn sie müde und angestrengt sind. Wenn ich dann eine Weile mit geschlossenen Augen meditiere, kommt wieder eine Frische zurück und dann öffnen sie sich wieder.

Für dich wäre es gut abzuwechseln, dass du die Augen entspannen und nicht mehr zu kämpfen brauchst. Wenn du bemerkst, dass sie frisch sind, öffnest du sie wieder und so hast du den Vorteil von beiden Möglichkeiten.

Früher öffnete sich der Blick und ging dann in die Weite. Das war so schön.

Vielleicht kommt es ja wieder. Jetzt kannst du einfach abwechseln.

Teilnehmerin: Ich habe das Problem mit den Augen auch. Heute Morgen haben sie so getränt, dass ich sie einfach zumachen musste. Nach einer gewissen Zeit konnte ich sie wieder öffnen. Wenn ich die Augen schließe, dann habe ich ja auch Sinneswahrnehmungen, ich sehe Farben und Kreise. Damit kann ich ja auch üben, das wahrzunehmen und wieder loszulassen.

Hast du ständig Wahrnehmung bei geschlossenen Augen?

Jetzt nicht mehr, aber als ich angefangen habe zu meditieren. Das war spannend. Es ist weniger geworden, aber es kommt schon noch.

Ja, dann hast du viel zu üben. Das gilt für alle. Ich war vorhin müde und hab auch die Augen zufallen lassen. Das ist an sich kein Problem. Wir können das Gewahrsein auch mit geschlossenen Augen halten.

Der Vorteil der Meditation mit offenen Augen besteht darin, dass wir lernen, auf visuelle Reize nicht zu reagieren und im Gewahrsein zu bleiben, egal was im visuellen Feld passiert. Diese Fähigkeit brauchen wir als Bodhisattvas. Wenn ich diese Fähigkeit nicht entwickle, ist es in Situationen, in denen ich hilfreich sein möchte, schwierig, innerlich die Meditation weiterzuführen, z.B. wenn ich un-terrichte und spreche. Wenn die Meditation an geschlossene Augen gekoppelt ist und eventuell noch an stillen Raum und spezielle Bedingungen, dann ist es umso schwieriger, die Meditation in den All-tag, auch in den helfenden Alltag hineinzutragen. Bodhisattvas, die anderen beistehen wollen, müssen

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irgendwann lernen, mit offenen Sinnen zu praktizieren, weil das ja die Situationen sind, in denen sie anderen begegnen.

Teilnehmerin: Ich kann am besten sitzen, wenn ich ein Bein eingeschlagen und das andere ausge-streckt habe und mich anlehnen kann. Ich habe eine starke Spannung in den Beinen, was durch diese Haltung verbessert wird. Ich denke aber immer, dass das verkehrt ist.

Das ist doch in Ordnung. Schau einfach drauf, dass du dich mit geradem Oberkörper anlehnst und nicht durchhängst. Die Kissen sollen dich so weit stützen, dass dein Oberkörper gerade bleibt. Geh dabei mit dem Gesäß möglichst nahe an die Wand, damit der Winkel nicht so steil wird. Also ange-lehnter Oberkörper und trotzdem gerade.

Ich musste lange in dieser Haltung meditieren, weil ich mir gegen Ende des ersten Jahres meines zweiten Retreats den Meniskus beschädigt hatte. Ich musste den Rest des Retreats mit ausgestreckten Beinen meditieren. Da ist es nicht einfach, auf das Anlehnen zu verzichten. Es ist angenehmer, sich anzulehnen, aber es geht. Wir können auch in dieser Haltung Fortschritte machen.

Teilnehmer: Noch einmal zum Blick, wie geht der im Verhältnis zur Nase?

Die ausführliche Anweisung ist: Vier Finger breit vor der Nasenspitze und dann verläuft der Atem im Bogen nach unten. – Jetzt haben wir euch also das Leben kompliziert gemacht.

Ich hab mir vor kurzem in der Meditation gedacht, wenn der Blick sich so öffnet, dann sieht man ja alles, dann sieht man auch die Nase. Vielleicht ist diese Anweisung mit der Nase gar nicht so gemeint, dass man da hinschaut, sondern es ist dieser offene Blick gemeint. Es soll vielleicht so an der Nase vorbei durch Loslassen, Entspanntheit.

Also ich sehe die Nase immer. Sie ist ja da. Es braucht keinen speziellen Blick, um meine Nase zu sehen.

Wenn ich normal schaue, sehe ich auch meine Nase. Aber meistens ist es ja so, dass ich konzentriert irgendwo hinschaue, und dann sehe ich die Nase nicht.

Das ist klar, weil du konzentriert bist. Aber sobald dich deine Nase interessiert, siehst du sie, ihren Schatten, egal. Es geht aber wirklich nicht darum, die Nase zu sehen. Es geht nur darum, eine Ab-wärtsrichtung zu beschreiben.

Teilnehmerin: Was ist zu beachten, wenn man z.B. auf dem Stuhl sitzt?

Wenn die Beine zusammen sind, entsteht eine Enge in der Hüfte. Wenn wir die Beine öffnen, entsteht eine Beweglichkeit in der Wirbelsäule, und darauf kommt es an. – Das ist dann so ähnlich wie wir es beim Sitzen auf dem Boden mit diesem Dreieck haben. – Man stellt die Beine auswärts und nimmt sich für die Füße eine Unterstützung, am besten für jeden Fuß ein Kissen, um die Füße gut abstellen zu können. Es ist gut, wenn am Knie ein rechter Winkel entsteht, die Knie sollen auf keinen Fall höher als die Hüfte sein. Die Füße sind flach auf dem Boden – keine Imitation des Schneidersitzes. Der Rücken ist nicht angelehnt, der Körper ist aufrecht. Und dann können wir schauen, wie wir die Hände platzieren, sodass sie bequem liegen. Man hat natürlicherweise eher die Neigung, die Hände auf die Knie zu legen. Alles andere ist gleich wie auf dem Boden.

Wenn sich Frauen mit offenen Beinen nicht gut fühlen, dann können sie ein Tuch darüber legen. Es ist auf jeden Fall hilfreich, mit etwas geöffneten Beinen zu sitzen. Ihr merkt es sofort, wenn ihr es aus-probiert. Man hat das Gefühl von einer größeren Kraft. In der Zen-Tradition spricht man ja auch von einem Kämpfergefühl, einer Präsenz wie von jemandem, der in eine gefährliche Situation hineingeht. Genauso auch in der Sitzhaltung am Boden. Auch da können wir schauen, wann denn dieses Gefühl von einer ganz wachen Präsenz entsteht wie von einem Samurai, der in eine Situation hineingeht, in der er nicht weiß, aus welcher Richtung die Gefahr kommt. Diese wache Präsenz in alle Richtungen ist ganz hilfreich.

Über die Sitzhaltung am Stuhl habe ich mich ausführlich mit Fred von Allmen abgesprochen, der selber immer am Stuhl sitzend meditiert. Ganz viele Schüler in den Vipassana-Zentren meditieren auch auf dem Stuhl. Was ich jetzt gesagt habe, scheint die Quintessenz zu sein von dem, was hilfreich ist. Eher ein bisschen abwärts mit den Knien, auf keinen Fall aufwärts. Da müssen wir größer Ge-

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wachsenen darauf achten, dass wir nicht auf zu niedrigen Stühlen sitzen. Die meisten haben das umgekehrte Problem.

Auch das Sitzbänkchen bietet uns eine Möglichkeit, die wir einbeziehen sollten. Dazu kann ich leider nicht viel sagen, weil ich es zu wenig benutzt habe.

Teilnehmer: Beim Bänkchen besteht der Nachteil, dass man die Beine zusammen hat, man hat das Gefühl eher eingeengt zu sein, kann aber gut aufrecht sitzen. Es fühlt sich anders an.

Teilnehmerin: Das kommt vielleicht auch auf die Körpergröße an. Ich sitze auch oft auf dem Bänkchen und kann die Beine relativ gut auseinander halten. Ich sitze da ziemlich stabil.

Meditation Wir folgen wieder dem Ein- und dem Ausatem. – Einatmend und ausatmend sind wir all dessen gewahr, was in den sechs Sinnen vor sich geht. – Wir achten darauf, nirgends zu fixieren, uns in nichts zu versteifen und überall den Fluss zuzulassen, ohne uns zu verfangen. – Fließendes Gewahrsein im fließenden Erleben. – Immer wieder schauen wir, ob wir irgendwo Spannung aufbauen und ob es die auch wirklich braucht. Wir schauen, ob wir noch etwas tiefer entspannen können. – Falls wir Gedanken bemerken, die etwas schwieriger loszulassen sind, können wir den Ausatem be-nutzen und sie mit dem Ausatem gehen lassen. – Am Ende des Ausatems ist eine Pause, eine Offen-heit. Dann geht es von selbst weiter. –

* * *

Achtet darauf, was sich jetzt bei euch bewegt, wo ihr Spannung aufgebaut habt.

Karmapa beendet diese Passage mit den Worten:

[15.2] Dank dieser Schlüsselpunkte für die Körperhaltung klären sich die Bewegungen des be-grifflichen Denkens von selbst und viele Qualitäten wie nicht-begriffliche Präsenz und der-gleichen erscheinen. Allein durch das Beherzigen dieser Schlüsselpunkte für den Körper werden Körper und Geist freudig, ruhig und ausgeglichen.

Wenn wir diese Haltung einnehmen und in ihr ruhig verweilen, kommt der Geist tatsächlich für eine Weile zur Ruhe oder wird zumindest sehr viel ruhiger. Das ist immer wieder erstaunlich. Zu Anfang denken wir oft. „Wie kann denn das sein, wie soll ich denn damit jemals zurechtkommen?“ Aber der Geist kommt zur Ruhe.

Was wir mit diesem ruhigen Geist tun, das werden wir uns in den folgenden Sitzungen anschauen.

* * *

Geistesruhe entwickeln Gestern haben wir uns mit den Schlüsselunterweisungen zum Körper befasst. Wir sind sie heute Mor-gen in der Meditation noch einmal kurz durchgegangen: das Verschränken der Beine in Vajra- oder Bodhisattva-Haltung, die gerade, aufrechte Wirbelsäule, die Hände unterhalb des Nabels in Medita-tionshaltung, die Schulterblätter aufgerichtet und hinten etwas näher zusammengeführt, damit die Schultern wirklich gerade sind. Der Hals ist leicht gebeugt, als wäre da ein Haken, der ein bisschen die Energien hält. Der Blick ist entlang der Nasenspitze etwas gesenkt und die Augen sind dabei weder weit offen noch geschlossen, also ein entspannter Blick, und Zunge und Lippen sind natürlich ent-spannt.

Im Anschluss daran schreibt Karmapa:

[15.2] Dank dieser Schlüsselpunkte für die Körperhaltung klären sich die Bewegungen des be-grifflichen Denkens von selbst und viele Qualitäten wie nicht-begriffliche Präsenz und der-gleichen erscheinen.

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Mit dergleichen meint Karmapa, dass ein Wohlgefühl entsteht, zusätzlich Klarheit, Freude. Es kommt auch zu weiteren Qualitäten, die dadurch ausgelöst werden, dass Vertrauen natürlicherweise zunimmt, sich Frieden und Ruhe im Geist breit machen. Karmapa fährt fort:

Allein durch das Beherzigen dieser Schlüsselpunkte für den Körper werden Körper und Geist freudig, ruhig und ausgeglichen.

Wir sollten diese Hilfe nutzen, über den Körper eine Wirkung auf den Geist erzielen zu können. Oft nutzen wir das nicht ausreichend. Wir sitzen ein bisschen krumm, ein bisschen schief, sacken ein wenig zusammen und haben dann Mühe, zu geistiger Frische zu finden, weil der Körper das nicht unterstützt. Wenn wir bei aufgewühltem Geist ausreichend Geduld haben, für eine Weile die eben beschriebene entspannte, aufrechte Haltung aufrecht zu erhalten, dann kommt dieser aufgewühlte Geist sehr viel leichter zur Ruhe. Er kommt eigentlich fast immer zur Ruhe. Es sei denn, da sind wirk-lich ganz starke Kräfte des Anhaftens in uns, die uns immer wieder in diese Gedankenketten hinein holen. Aber normalerweise stellt sich innerhalb einer Viertelstunde die Wirkung ein. Wir müssen nur dabei bleiben.

Wir haben eine doppelte Wechselbeziehung zwischen Körper und Geist. Wir können mit dem Körper den Geist beeinflussen, und wir können mit dem Geist den Körper beeinflussen. Das geht in beide Richtungen. Es ist nicht so, dass Mahamudra-Meditation wirklich von der Haltung abhängig wäre. Wir können in jeder Körperhaltung meditieren, und in jeder Stellung können wir erwachen. Es ist keines-wegs so, dass das Erwachen in der idealen Sitzhaltung stattfinden wird. Das Erwachen findet dann statt, wenn sich für einen Moment die Fixierungen auflösen, und wir einfach so sind – das Gewahrsein einfach so ist, wie es ist.

Und das kann irgendwann passieren: mitten in der Aktivität wie auch bei der Meditation. Es kann beim Einschlafen passieren, also im Liegen. Es kann beim Aufwachen passieren, es kann im Gehen passieren, es kann im Stehen passieren. All das ist möglich. Es ist nicht so, dass Mahamudra-Praxis an die Haltung gekoppelt wäre. Aber wenn es darum geht, den Geist zu klären, zu öffnen, dann ist die Haltung schon sehr hilfreich. Genauso wie es bei den verschiedenen Formen zu stehen sehr hilfreich ist, ausgewogen und innerlich flexibel zu stehen, ohne die Beine anzuspannen und die Gelenke zu verriegeln. Also auch beim Stehen gibt es Formen, die hilfreicher sind für die stehende Meditation. Und auch beim Gehen ist es so, dass es Formen des Gehens gibt, die es uns leichter machen, in die Meditation beim Gehen hineinzufinden. Und auch beim Liegen ist es so, dass es Formen des Liegens gibt, wo das etwas leichter ist.

Es gibt also in jeder Körperstellung Haltungen, die mehr unterstützend wirken als andere. Wobei aber keine Körperhaltung an sich ausschließen würde, dass der Geist in völlig offenes Gewahrsein hinein-findet. Wir sollten also nutzen, dass wir über den Körper den Geist beeinflussen können.

Wenn wir diese Möglichkeit nicht haben, weil wir angelehnt und mit ausgestreckten Beinen sitzen müssen, weil es gar nicht anders geht, dann nutzen wir die Arbeit mit dem Geist, um auch dem Körper gut zu tun. Egal in welcher Haltung wir gerade sind, wenn wir uns der geistigen Übung widmen, werden wir bemerken, dass der Nutzen im Körper ankommt. Wir merken, wie sich Wohlgefühl im Körper einstellt, als würden die subtilen Energien harmonischer fließen. So nennt man das dann.

Was wir eigentlich merken, direkt spüren, ist, dass das Ziehen und Zerren, dass die Blockaden, die wir sonst spüren, sich in ein eher sanftes Vibrieren verwandeln. Dass dort, wo vorher stechende und ziehende Schmerzen waren, breitere, wärmere Gefühle entstehen, dass kalte Bereiche warm werden, dass Bereiche in unserem Körper, die wir vorher gar nicht gespürt haben, lebendig werden. Es ist ein subtiles Vibrieren überall im ganzen Körper zu spüren, und mit der Zeit beginnen sich die körper-lichen Energien so auszugleichen, dass der gesamte Körper wie eine feine, lebendige Energie empfun-den wird. Der Körper fühlt sich leicht an, er ist nicht mehr schwer. Wir brauchen nichts zu tun, um seine aufrechte Position zu erhalten und es ist ein harmonisches Feld zu spüren. Das können wir tatsächlich erleben. Wir können es erleben durch die Kraft des Geistes oder auch weil wir ausdauernd in einer hilfreichen Haltung gesessen oder gelegen sind. Das sollten wir nutzen, weil sich dadurch Qualitäten des Geistes zeigen.

Wenn sich diese Qualitäten zeigen, der Geist tatsächlich offener, ruhiger, friedvoller wird, dann machen wir vermehrt mit der Arbeit im Geist weiter. Wir lassen den Körper einfach wie er ist, wir

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brauchen uns nicht weiter um ihn zu kümmern. Wir richten dann unsere Aufmerksamkeit, unser Gewahrsein mehr und mehr auf das Erleben selbst. Das Gewahrsein wendet sich den geistigen Gestal-tungen, dem Geist zu, und beginnt die Natur der Wirklichkeit anzuschauen, bzw. sie zu untersuchen. Der Körper tritt zurück.

Der Körper hat seine Ruhe gefunden und ist einfach der Hintergrund, auf dem sich unsere Praxis ab-spielt, und erlaubt uns, immer feiner wahrzunehmen, was im Geist eigentlich los ist. Vorher waren wir noch sehr damit beschäftigt, uns richtig hinzusetzen, mit den Knien zurechtzukommen, mit den Ver-spannungen in den Schultern, dem Bauch, dem Rücken und so weiter. Das hat sich alles beruhigt. Da ist nichts mehr, was unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, und ganz natürlicherweise bemerken wir, wie viel wir eigentlich denken und was da alles an Sinneseindrücken ist. Wenn wir das wahrnehmen ohne zu beurteilen, also ohne uns in haben-wollen und nicht-haben-wollen zu verstricken, in anneh-men und abweisen, dann beruhigt sich auch das. Dann kommt es zu weniger starken Gedanken, die Gedankenketten hören auf, wir kommen immer leichter wieder zurück in eine einfache Präsenz und die Hintergrund-Qualität des Geistes kommt stärker zum Vorschein.

Zunächst sind es die Bewegungen des Geistes, die sich zeigen, wenn der Körper ruhig wird. Das nennt man die geistigen Gestaltungen. Sie gestalten unser Leben, diese aktiven Kräfte werden als Erstes gesehen. Dabei entsteht dann ganz typisch die Erfahrung: „Du meine Güte! Was ist da alles los!“ Der eigene Geist wird wie ein Wasserfall erfahren. Das ist ja ein ständiges Kommen und Gehen von allen möglichen Eindrücken, Gedanken, Erinnerungen, ohne aber sich allzu sehr darin zu verfangen. Und wenn wir entspannt bleiben, dann beruhigt sich das einfach, wir nähren es ja nicht. Dieses Feuerwerk beruhigt sich allmählich und es beginnen auch Hintergrundgefühle spürbar zu werden.

Der Buddha nennt das ‚das Kultivieren von Achtsamkeit auf den Geist selbst’. Da wird spürbar, ob ich gerade entspannt oder verspannt bin, ob der Geist eng oder weit ist, ob er freudig oder traurig ist, ob er immer wieder im Greifen ist oder in der Gelöstheit. Im Satipathana-Sutra bringt der Buddha eine Menge solcher Begriffspaare, die einen Raum aufspannen, in dem ich z.B. merke: „Heute bin ich ziemlich angespannt. Da ist eine Hintergrundsorge, irgendwas wühlt mich noch auf. “ Das kommt dann hinter all dem anderen zum Vorschein. Ich bemerke vielleicht, dass ich ein bisschen herab gestimmt bin, so ein bisschen. Ich kann es nicht richtig traurig nennen, aber der Geist ist nicht so frisch. Oder ganz im Gegenteil bemerke ich, dass der Geist jetzt völlig frisch ist, ganz lebendig, nichts belastet ihn, er ist weit offen. Diese Hintergrund-Qualitäten des Geistes kommen zum Vorschein. Das ist dann ganz natürlich der Fall, wenn wir nicht mehr mit den vielen einzelnen Gedanken beschäftigt sind.

Wenn sich das weiter entspannt, weil wir auch darauf nicht einsteigen, dann kommt es sogar zu Erfah-rungen, dass wir Räume wahrnehmen, in denen nicht wirklich gedacht wird. Es findet Wahrnehmung statt, da ist Erleben, aber ohne dass es zu verbalisierten Gedanken kommt. Es kommt also nicht mehr zu inneren Satzbildungen, als würden wir mit uns selber reden. Wir bemerken dann, dass es ein nicht-verbales Denken gibt. Das sind die kleinen Fische. Die verbalen Gedanken sind die großen Fische im Teich, im See unseres Gewahrseins. Die kleinen Fischchen, die vielen kleinen Regungen, die nonverbal stattfinden, die kommen dann zum Vorschein. Zunächst denken wir, da wäre gar nichts zwischen den großen Fischen, aber dann merken wir, dass zwischen den großen Fischen eine Menge kleiner Fische rumwuseln und unglaubliche Auswirkungen haben. Da sind viele kleine Impulse, die wir wahrnehmen, die aber nicht mehr zu innerlichen sprachlichen Formulierungen führen.

Wir merken dann, dass die Sätze, die uns durch den Geist gehen, relativ klobig sind im Vergleich zu den kleinen Fischchen. Und wir brauchen gar nicht mehr in Sätzen zu denken, sondern merken, dass es sogar völlig ausreicht, in diesem Nonverbalen zu bleiben, wenn wir denken wollen. Mit unglaub-licher Geschwindigkeit lässt sich da denken. In dieser Übergangsphase war es bei mir so, dass ich manchmal mitten in einem verbalen Gedanken aufgehört habe, weil ich merkte: „Der Gedanke war ja schon längst gedacht! Jetzt kommt nur die nachträgliche verbale Formulierung, damit ich es auch merke, dass ich gedacht habe.“ Es ist so völlig überflüssig! Der Gedanke ist schon längst gedacht, führt aber wie zur Selbstbestätigung noch zu einer Ausformulierung im Denken. Diese Ausformulie-rungen kommen zum Erliegen, und trotzdem hört das Denken nicht auf, die geistigen Bewegungen gehen weiter.

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Wir gehen jetzt in den nonverbalen Bereich hinein, der vom normalen Menschen kaum wahrge-nommen wird. Wenn wir diesem nonverbalen Bereich nicht so viel Nahrung geben, wenn wir nicht drauf einsteigen, das einfach so aufblitzen lassen und dem nicht weiter folgen, dann beruhigt sich auch dieser nonverbale Bereich. Und tatsächlich tauchen dann Räume auf, in denen auch keine kleinen Fische zu bemerken sind. Das ist, wenn die Präsenz das Gewahrsein selbst wahrnimmt. Gewahrsein erlebt sich selbst, ohne etwas als Gegenstand zu haben, etwas, was gerade passiert. Wenn es uns mög-lich ist, darin zu verweilen, ohne nach etwas greifen zu müssen, ohne Sinneswahrnehmungen heranho-len zu müssen und denken zu müssen, dann treten wir in den Bereich ein, den man die Samadhis nennt, die meditativen Versenkungen.

Das beginnt in diesem Bereich, wo sich auch die kleinen Flitzgedanken beruhigt haben. Dann entsteht tiefere innere Ruhe. Und darin können wir eigentlich nur verweilen, wenn wir keine starken Impulse haben, uns selbst unsere Existenz beweisen zu müssen. Das hat sich weitgehend entspannt. Es ist ein Gewahrsein, das immer noch einen dualen Charakter hat, ein Gewahrsein, das sich noch auf fein beobachtende Art des Erlebens gewahr ist. Es ist noch nicht zu einer völligen Einheit mit dem Erleben gekommen. Es ist noch eine gewisse Spannung zwischen Subjekt und Erleben spürbar, also zwischen dem Gewahrsein, das vermeintlich etwas anderes ist als das gewahre Sein, das da erlebt wird, aber es ist schon möglich darin zu verweilen, ohne den Geist weiter aufzuwühlen. Die Kräfte von Hoffnung und Furcht, Anhaftung und Ablehnung sind schon so weit beruhigt, dass man jetzt von wirklicher Geistesruhe spricht.

Das sind so die Stufen der Geistesruhe, durch die wir hindurch gehen. Wir können diesen ruhiger werdenden Geist immer besser einsetzen, um das Erleben selbst zu untersuchen, um zu schauen, was es denn mit den interessanten, existentiellen Fragen so auf sich hat. – Gibt es ein Ich, ein Selbst oder nicht? Was könnte es denn sein, was könnte es nicht sein? Was ist die Natur eines Gedankens? Was bewirkt es eigentlich, dass ein Gedanke sich auflöst? Was bewirkt, dass ein Gedanke entsteht? Wie kommt es zu einer Emotion? Wie kommt es zu einer starken Emotion, wo am Anfang nur ein kleiner Fisch war? .... Wie kommt es zu all dem? Wie wirken da Ursache und Wirkung im Entstehen und wie wirken Ursache und Wirkung im Auflösen von Geisteszuständen? Was macht den Geist weit, was macht ihn eng? All das wird klarer.

Es ist nicht so, dass wir da wahnsinnig intensiv forschen müssten. Wir sind präsent, und es beginnt offensichtlich zu werden, was da abläuft. Und das Offensichtliche wird verstanden und verdichtet sich durch wiederholte Beobachtung zu einer inneren Gewissheit. Es ist also nicht ein Forschen mit einer Kette von logischen Schlussfolgerungen, sondern es ist das Beobachten selbst, was sich zu einem Wissen verdichtet: „Aha! So ist das also.“ Das ist das Entstehen von Einsichten, und die kommen ganz natürlicher Weise. Sobald der Geist etwas achtsamer wird und etwas stärker ins Gewahrsein eintritt, kommt es zu Verständnis. Das können wir überhaupt nicht verhindern. Weil wir sehen, kommt es zu einem Verstehen. Wir bemerken, was los ist.

Von daher lassen sich Geistesruhe und intuitive Einsicht nicht wirklich voneinander trennen. Immer wenn der Geist klarer wird und wir nicht an der Klarheit haften – das ist die eine Voraussetzung, die man noch benennen muss – kommt es zu einem Verstehen. Wenn wir die Klarheit nicht vergegen-ständlichen und an ihr festhalten unter Ausschluss von allem anderen sondern einfach in dieser Präsenz sind, mit offenem Gewahrsein, dann kommt es zu Verstehen, zu vielen kleinen Momenten des Erkennens. Und das ist der Weg der Einsicht. Das ist der Weg, wie wir aus der Geistesruhe immer stärker in das Sehen hineinfinden.

Im Anapanasati-Sutra über die Arbeit mit dem Ein- und Ausatmen zum Entwickeln von Gewahrsein beschreibt der Buddha nach der Geistessammlung folgenden Schritt: „Einatmend befreien wir den Geist und ausatmend befreien wir den Geist.“ Das ist noch nicht das Befreien vom dualen Greifen, sondern es ist das Befreien der Sammlung vom Zugriff des Anhaftens an der Ruhe, die sich da ein-stellt. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Um von der Geistesruhe ins Erkennen zu kommen, müssen wir immer wieder die Tore unseres Geistes ganz weit auftun und ihn befreien vom Haften an Ruhe. Also von der Abwehr – Gegenbewegung. Das ist es, worum es geht.

Der Geist sammelt sich, er wird ruhig und dann darf diese Ruhe nicht zur Abschottung führen, sondern wir müssen den Geist wieder befreien und die Erlaubnis geben, dass sich alle Bewegung zeigen darf. Und nur dadurch vermeiden wir, dass wir mit unserer Geistesruhe nicht unterdrückend wirken, dass

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wir keine Geistesinhalte ausklammern. Wir öffnen den ruhigen, gesammelten Geist für all das, was in dieses volle Gewahrsein hinein auftauchen möchte, für Kräfte, die irgendwie wirksam sind, ohne ihnen aber zu folgen. Sie tauchen ins Gewahrsein auf, werden wahrgenommen, aber das reicht. Es kommt nicht zu weiteren Reaktionen.

Dadurch kommt es zu einer noch tieferen Sammlung, weil jetzt auch noch die Spannung des Abweh-rens unliebsamer Geistesbewegungen draußen ist. Wenn wir diese Abwehr, die Ablehnung von Bewe-gungen aufgegeben haben, sind wir wirklich im Frieden mit uns selbst. Es gibt keinen Bereich mehr, den wir ausklammern, und darin kann tiefe Einsicht ganz leicht stattfinden. Sie findet einfach statt. Das ist einfach so, weil wir voll gewahr sind und nichts mehr ausklammern. Alles kann ins Gewahr-sein auftauchen. Und das ist der Weg des Mahamudra.

Genau an diesem Punkt, den ich eben erklärt habe, trennen sich die meditativen Traditionen. Es gibt tatsächlich meditative Schulen – nicht nur buddhistische Schulen –, die an dem Punkt, wo der Geist sich sammelt, in immer tiefere Sammlung gehen wollen und die Bewegung draußen lassen. Es geht dann nur um die Sammlung, um das Aufgehen des Geistes in der Ruhe, in der Präsenz, um die Quali-täten von Klarheit, Freude und Nicht-Denken, ohne diese Qualitäten für einen Erkenntnisweg zu nutzen. Für uns liegt da der springende Punkt, dass wir diese Klarheit, diese Präzision, die in unserem Geist bemerkbar wird, nutzen, um immer tiefer ins Erleben hineinzuschauen. Wir brauchen die Ruhe nicht zu zerstören. Aber wir öffnen die Ruhe für die Bewegungen, die in der Ruhe stattfinden wollen.

Wir wissen ja nicht, was kommt. Irgendetwas kommt. Das sind Sinneserfahrungen, Erfahrungen der äußeren Sinne, innere Bewegungen, und wir bleiben in derselben Haltung, die uns in diese Ruhe geführt hat – im nicht Anhaften. Wir verweilen und lassen die Bewegung zu. Und so beginnt sich geis-tige Bewegung in der Ruhe zu manifestieren, in der Offenheit, in der Stille. Sie stört die Stille gar nicht. Weil der Geist, unser Gewahrsein nicht ins Greifen geht, bleibt die Erfahrung von Ruhe und Sammlung, obwohl Sinneswahrnehmung stattfindet. Obwohl Gedanken auftauchen.

Und darin können wir die Natur der Gedanken sehen. Weil kein Greifen stattfindet, verwickeln wir uns nicht mit den Gedanken und erkennen, wie Gedanken spontan auftauchen: durch die Dynamik des Geistes selbst. Wir erkennen, wie Sinneswahrnehmungen auftauchen: wo Bewusstsein aktiv ist, taucht Wahrnehmung auf, das ist nicht voneinander zu trennen. Und diese Wahrnehmungen brauchen gar nichts, um sich aufzulösen. Diese Gedanken brauchen keinerlei Hilfe vom Meditierenden, um sich aufzulösen. Das tun sie schon seit unserer Kindheit von selbst. Und wir bemerken jetzt, wie sie das tun. Und zwar ohne einen einzigen Moment des Verweilens.

In dieser klaren Präsenz können wir nämlich auch schauen: Wie lange dauert eigentlich ein Gedanke? Wir finden keine Dauer! Sein Entstehen ist bereits sein Vergehen. Es ist schwer für uns, wenn wir mit dem Intellekt darüber nachdenken, das zu glauben. Die Dauer eines Gedankens ist nur so lange, wie wir an ihm haften. Das ist unglaublich. Z.B. die Sätze, die ich spreche, lösen ja zig Gedanken in der Verarbeitung aus. Um solch einen komplexen Satz mit so vielen Worten und Silben, mit der Sinn gebenden Grammatik, zu verstehen, gehen unzählige Gedanken durch unseren Geist, und keiner blockiert den nächsten. Wir sind schon für die nächste Silbe bereit, während die vorherige gerade noch erkannt wurde. Es ist unglaublich, mit welcher Schnelligkeit sich Wahrnehmung vollzieht.

In der Geistesruhe, beginnen wir das zu sehen. Wir beginnen, das Schauspiel unseres Lebens zu sehen, wie es sich gestaltet und wie sich alle Gestaltungen von selbst wieder auflösen. Keine bleibt. Keine einzige. Kein Klang von heute Morgen ist geblieben, kein visueller Eindruck von heute Morgen ist geblieben, kein Geruchseindruck, kein Gedanke, nichts! Alles schon vorbei. Alles weg. Wir haben nichts getan, um es aufzulösen. Es ist einfach so, wie der Geist ist. Es ist einfach so. Und das ist eine ganz erstaunliche Entdeckung, die so weit reichende Folgen hat. Wir verlieren unsere Angst vor geistigen Bewegungen, denn sie haben keine Kraft aus sich. Wir brauchen uns gegen keine geistige Bewegung mehr zu sträuben oder Angst davor zu haben, weil sie sich von selber auflöst. Im Moment selbst. Wenn wir sie nicht durch Haften, durch Greifen, durch Fixierung immer wieder anheizen, neu erzeugen, Assoziationen hinzufügen, bis das Ganze wuchert.

Die andere Konsequenz ist, dass wir im Sehen dieses spontanen Erscheinens und Vergehens erkennen, dass nichts von all dem Substanz hat. Dass nichts solide ist von alldem, was da erscheint. Weil es keine Dauer hat, hat es auch keine Substanz. Das sind eigentlich Synonyme. Wir könnten davon sprechen, dass ein Gedanke eine gewisse „Existenz“ hat, wenn wir ihm eine Dauer zuschreiben

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können. Dann hätte er zumindest für die Dauer seines Bestehens eine gewisse Existenz. Aber selbst das ist nicht festzustellen. Es ist zum Verzweifeln für den „normalen“ Intellekt, dass wir diesen Gedanken, die unsere gesamte Welt ausmachen, die so viel Kraft haben und so viel erzeugen und zerstören, dass wir denen nicht mal einen Moment Dauer zuschreiben können.

Aber das müsst ihr selber herausfinden. Das sage ich aus der Erfahrung heraus, es wirkt ja nur be-freiend, wenn wir es selber herausfinden. Wir müssen einmal herausgefunden haben, wie ein inten-siver Ärger keinen Moment Bestand hat. Wie ein zutiefst trauriger Geistesszustand mit seinen intensi-ven Gedanken keinen Moment Bestand hat. Wir müssen das einmal erleben, wie eine Angst in unser System einschießen kann und wir schon im Reagieren sind. Die Angst rauscht durch uns durch. – Ihr kennt dieses Gefühl im Körper, wenn Angst einschießt. Wie kann man denn das beschreiben? Es ist, als wäre von Strom elektrisiert – Und dann zu erkennen, dass das im selben Moment schon vorbei ist. Der Körper reagiert so viel langsamer noch, als das, was im Geist stattgefunden hat. Wenn wir da nicht daran anhaften und etwas daraus machen, ist es schon vorbei. Wir nehmen die Angst als Angst wahr, wenn sie schon vorbei ist. Wenn wir dann nicht wieder etwas daraus machen, dann bleibt sie auch vorbei.

Wir machen ganz spannende Erfahrungen, die uns mit der unfassbaren Natur dieser bedingten, imagi-nären Wirklichkeit vertraut machen. Und alles hilft, um weniger zu greifen. Und das ist, was für den Buddha das Entscheidende war: Das Sehen der Vergänglichkeit, des Wandels – alles, was ich hier be-schreibe, ist ja Wandel, ist ja dieser Prozess. Im Sehen der prozesshaften Natur des Erlebens, kommt es zu einem Nachlassen des Greifens. Dann kommt es zu einem Aufhören des Greifens und schließlich sind wir im gelösten Sein. Das waren die letzten drei Schritte des Anapanasati-Sutras. Und dieses gelöste Sein ist Mahamudra. Das ist das Gewahrsein, von dem die Mahamudra-Tradition spricht. Das gelöste Sein, das ein völlig gelöstes Erleben frei von Hoffnung und Furcht ist. Völlig natürlich, ohne dass irgendwelche Muster des Anhaftens und Ablehnens noch anspringen.

Um uns da hinein zu führen, erklärt uns Karmapa die

Schlüsselpunkte für den Geist [15.3] Sei in deiner Praxis weder angestrengt noch lasch. Kläre zunächst den verbrauchten Atem und verweile dann mit natürlichem Ein- und Ausatem,– frei von jeglicher Anstrengung. Frische dein Gewahrsein mittels der vorbereitenden Gedanken ein wenig auf und denke nicht an vergangene, zukünftige oder gegenwärtige Anliegen. Wenn du so im gewöhnlichen Geist ver-weilst, ohne irgendetwas künstlich zu erzeugen – in frischer, völlig entspannter Präsenz, frei von Annehmen und Zurückweisen, wird dein Geist flexibel und meditative Versenkung entsteht.

Sich aufrichtig zu üben in diesen Schlüsselpunkten für Körper und Geist, die das Fundament der Meditation bilden, ist der erste Punkt beim Entwickeln von Geistesruhe.

Der Rest des Kapitels über Geistesruhe beginnt so: Wenn wir nicht in der Lage sind, den Geist wie beschrieben ruhen zu lassen … dann übt mit äußeren Objekten, visuellen Objekten, usw., und dann kommt alles andere. Aber die Schlüsselinstruktion ist, zunächst den Atem zu klären, dann mit dem natürlichen Atem zu verweilen, jegliche Anstrengung und Manipulation aufzugeben, das Gewahrsein mit den Vorbereitungen aufzufrischen. Das bedeutet, mir klarzumachen, worum es mir geht, auf den Wandel zu schauen, Ursache und Wirkung zu bedenken, alles was zu den Vorbereitungen gehört. Damit frischen wir unser Gewahrsein auf. Wir schärfen es, um am essentiellen Punkt anzukommen, worum es wirklich geht. Wir denken nicht an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alles Denken über etwas lassen wir sein. Wir bleiben im direkten Erleben, das ist der gewöhnliche Geist, die gewöhnliche Präsenz im Sinne von „nichts Außergewöhnliches“, einfach jetzt so, gerade wie es ist.

Darin verweilen wir, ohne irgendetwas künstlich zu erzeugen. Ohne vor allen Dingen eine Meditation zu erzeugen. Wir erzeugen nichts, bleiben gewahr, so wie es gerade ist. Karmapa sagt: ‚in frischer, völlig entspannter Präsenz, frei von Annehmen und Zurückweisen.’ Und so praktizieren wir. Wo kein Annehmen und Zurückweisen ist, wird der Geist flexibel. Greifen ist mangelnde Flexibilität und Zurückweisen ist mangelnde Flexibilität. Da sind wir stur. Wir sind stur im Haben-Wollen und stur im Nicht-Haben-Wollen. Das macht uns unflexibel. Da, wo diese Kräfte aktiv sind, sind wir stur. Weil wir ja was wollen oder nicht wollen. Und genau da sind wir gefangen. Wenn wir offen bleiben können und das Spiel der geistigen Bewegungen seinen Lauf nehmen kann, ohne dass wir eingreifen, dann

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kommen wir in die meditative Versenkung. Dann kommen wir in diese ruhige, offene Präsenz, in der sich alles andere dann vollziehen kann. Das sind die Schlüsselpunkte für den Geist.

Teilnehmerin: Ich habe noch eine Frage, zu dem was du erzählt hast. Ich kenn das mit dem Glücks-gefühl in so einer tiefen inneren Ruhe. So eine Freude. Ich hab mal versucht, das übers Ausatmen wieder loszulassen. Ich fand das sehr hilfreich, wie du gesagt hast: die Gedanken entstehen, aber lösen sich von alleine wieder auf, ich muss also gar nichts machen. Daher so eine ganz feine Nuance, aus zu viel Aktivität raus zu kommen. Also loszulassen. Kannst du dazu noch was sagen?

Wenn du dich entspannst, egal, was für einen aktiven Geist du hast, wird er sich automatisch beruhi-gen. Er bleibt aber weiterhin aktiv. Ruhe heißt nicht, dass er dann nicht aktiv ist, sondern es entsteht diese innere Ruhe. Wenn Glücksgefühle auftauchen, dann schau dir einfach diesen Anteil des Anhaf-tens darin an und finde in tieferen Gleichmut. Das geht dann weiter in tieferen Gleichmut. Wie du sagst, Glück oder nicht Glück, die Haltung bleibt dieselbe. Also weniger Identifikation.

Teilnehmerin: Der Punkt, den ich meinte ist, dass es vielleicht gar nicht nötig ist, sich das noch anzuschauen, sondern weiter in dieser Präsenz zu bleiben und zu sehen, dass es sich von alleine auflöst.

Ja, das kannst du. Es ist so, dass sich die Gedanken über das Glück auf jeden Fall von alleine auflösen. Aber das Wohlbefinden bleibt. Du wirst, sobald du wahrnimmst, wie du dich fühlst im Vergleich zu früher sagen: „Ah, super!“ Der einzelne Gedanke löst sich immer wieder auf. Aber das Wohlgefühl bleibt, solange wir dem noch eine gewisse Wichtigkeit beimessen. Für den Meditierenden geht es dann darum, dem gar keine Wichtigkeit mehr beizumessen – das meintest du vielleicht auch – und sich mehr der Qualität des Erlebens selbst zuzuwenden. Wie ist es überhaupt zu sein? Ganz egal, ob ich glücklich oder unglücklich bin, offen und weit. Sich also diesen tieferen Geistesqualitäten zuzuwen-den. Glück und Freude sind eigentlich Begleitphänomene von einem entspannten Geist. Und in diesem entspannten Geist können wir uns noch mehr der Natur des Gewahrseins selbst zuwenden. Dann wird das Glück, oder was auch immer da ist, unwichtig.

Den verbrauchten Atem klären Ich möchte euch zeigen, was Karmapa mit dem Klären (oder Reinigen) des verbrauchten Atems gemeint hat. In der einfachsten Form verschließen wir mit dem gestreckten rechten Zeigefinger das rechte Nasenloch, der Arm ist horizontal. Der Daumen liegt an der Wurzel des Ringfingers, die beiden anderen Finger sind über dem Daumen geschlossen, und der kleine Finger ist wie der Zeigefinger waagerecht ausgestreckt. Diese Haltung ist eine Mudra und sollte genauso praktiziert werden. Die linke Hand liegt als geschlossene Faust, den Daumen innen, auf dem linken Knie. Mit verschlossenem rechtem Nasenloch atmen wir dreimal tief durch das linke Nasenloch aus, wobei sich die linke Hand jeweils öffnet und bis in die Fingerspitzen streckt. Beim Einatem schließt sich die Faust wieder. Dann atmen wir auf die gleiche Weise dreimal tief durch das rechte Nasenloch aus, die rechte Faust auf dem rechten Knie, und dann dreimal durch beide Nasenlöcher, wobei sich beide Fäuste auf den Knien öffnen und schließen.

Nach diesem neunmaligen tiefen Ausatmen nehmen wir die Schlüsselhaltung ein und meditieren weiter: Gerader Oberkörper, den Blick leicht gesenkt, die Hände unter dem Nabel in der Meditations-Mudra ineinander gelegt. – Wir lassen den Ein- und Ausatem natürlich fließen, ohne den Atem zu be-einflussen. Manchmal kommen tiefere Atemzüge, manchmal kürzere, ganz wie es unser Organismus braucht.

Karmapa sagt: „Frische dein Gewahrsein mittels der vorbereitenden Gedanken ein wenig auf!“ – Wir denken an das, was unsere eigentliche Ausrichtung ist. Wir denken an Vergänglichkeit. Und wir lassen alles Denken über irgendetwas sein. – Schlichte Präsenz, völlig frisch und zugleich entspannt. – Bleibt weiterhin gelöst und entspannt, ohne irgendetwas zu erzeugen. Keine Meditation kreieren. –

* * *

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Meditation – Bewusstes Erzeugen von Gedanken Wir richten uns für die Meditation ein, spüren die Körperhaltung und gehen kurz die wichtigsten Punkte durch. Wir spüren den gesamten Körper. – Wir fühlen, ob sich die Haltung einigermaßen harmonisch anfühlt. Vielleicht können wir irgendwo noch etwas entspannen – vielleicht im Bauch, vielleicht im Mundbereich, im Nacken, in den Schultern. – Dann spüren wir den Atem. – Wir folgen dem gesamten Atemverlauf – ein und aus. Auch die kleinen Umkehrpunkte dazwischen, eventuelle Pausen. – Wir hegen keine Vorstellung davon, wie es zu sein hat, sondern bemerken, wie es gerade ist. Wie ist der Atem jetzt gerade? – Wir bemerken die winzigen Unterschiede von einem Atemzug zum nächsten, wie der Einatem nicht ganz gleich ist und der Ausatem auch nicht. – Wir entwickeln ein großes Interesse für das Erleben gerade jetzt. –

Einatmend nehmen wir den gesamten Körper wahr und ausatmend nehmen wir den gesamten Körper wahr. Den gesamten lebenden, atmenden Körper als eine Einheit. – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken. Wir nehmen all die anderen Sinnesbereiche mit dazu. – Wir nehmen die geistigen Bewegungen dazu. All dessen sind wir gewahr, ohne an irgendetwas festzuhalten. – Wir freuen uns daran, gewahr zu sein, präsent, Gedanken wahrzunehmen. –

Wenn wir voll und ganz gewahr sind, tauchen vielleicht gar keine Gedanken auf. Dann können wir einfach einmal einen Gedanken erzeugen und schauen, was seine Natur ist. – Habt keine Sorge, Ge-danken zu erzeugen, etwas zu denken und es auch gleich wieder loszulassen. Wie ist das? –

Stellt euch etwas vor, was euch Freude macht, mehr als ein Gedanke, mehrere Gedanken. Und dann lasst sie wieder los. Gebt diesem Gedankengebäude keine Energie mehr und schaut, was passiert. – Einatem und Ausatem. –

Wenn ihr wollt, traut euch jetzt, etwas Unangenehmes zu denken. Lasst es ein wenig stärker werden. Und dann lassen wir auch das wieder los. –

Jetzt lasst uns an etwas Schönes, Angenehmes denken – eine schöne Erinnerung. Und dann verab-schieden wir diese Erinnerung wieder. Wir lassen sie los und kehren in den Ruhezustand zurück. –

Wer will, kann dasselbe jetzt noch einmal mit einer unangenehmen Erinnerung machen. – Und wieder kehren wir in den Ruhezustand zurück. Ein- und Ausatem. Körperempfindungen. –

* * *

Konntet ihr bei diesen Übungen folgen? Ich habe ja immer nur kurz angetickt, weil wir das zum ersten Mal gemacht haben. Was habt ihr gemerkt über die Gedanken? Was ist euch aufgefallen? Gab es Entdeckungen, gab es etwas Überraschendes, gab es etwas Schwieriges?

Erfahrungen der Teilnehmer

Teilnehmerin: Ja, dass etwas Unangenehmes gar nicht so schlimm war. Vorher war kurz die kurze Sorge da, ich könnte es dann vielleicht nicht mehr loswerden. Es ist aber ganz von selber wieder verschwunden und das war sehr schön, beruhigend.

Beruhigend, dass sich das Unangenehme dann von selbst auflöst, wenn man loslässt.

Ich glaube natürlich, dass es schon etwas schwerer ist, wenn ich dann in der Situation selbst bin, als das jetzt einfach nur zu denken. Aber das war schon sehr beruhigend.

Teilnehmer: Bei mir ging es genau andersrum. Ich fand den Sonnenuntergang gestern so toll und als ich dran gedacht habe, dann war das schöne Erlebnis wieder weg. Dass das dann einfach so verschwindet ...

Ja, das ist ein bisschen ernüchternd.

Ja. Wenn man da drin ist, dann ist das ein total tolles Erlebnis und in der Erinnerung ist es immer nur noch so eine Illusion.

Teilnehmerin: Das Loslassen sowohl bei den angenehmen als auch bei den unangenehmen Gedanken war nicht ganz einfach. Ich hatte das Gefühl, ich müsste aktiv was loslassen. Und dann habe ich

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daraus resultierend eine Frage: Wie ist das im normalen Dasein? Verschwinden die Gedanken, weil sie durch andere verdrängt werden oder können die neuen Gedanken kommen, weil die alten ver-schwinden?

Aha, interessant. Was meinst denn du?

Ich glaube, dass beides stattfindet. Könnte ich mir vorstellen. Aber ich habe jetzt gar kein Gefühl dafür, weil ich es ja im täglichen Leben nicht bewusst beobachte.

Und die Wahrnehmung in der Meditation reicht jetzt noch nicht ganz aus, um die Frage zu beant-worten? Was meinen denn die anderen dazu? Wollt ihr diese Frage aufgreifen?

Teilnehmerin: Ich glaube, dass die Gedanken verschwinden und dann neue kommen. Aber im Alltag ist es ja so, dass das Muster so stark ist, dass der Gedanke schnell wieder kommt. Wenn ich mich z.B. über etwas ärgere, dann kann ich ja zwischendurch schon einen Kaffee kochen oder etwas essen oder die Wohnung aufräumen. Aber der starke Gedanke, der Ärger, der kommt einfach immer wieder. Der ist aber immer wieder neu, glaube ich. Immer wieder neu. Es ist nicht der Ärger, der zwei Stunden dauert, sondern es ist Gedanke, anderer Gedanke, Gedanke, anderer Gedanke. So stelle ich mir das vor.

Teilnehmerin: Ich möchte da noch etwas hinzufügen: Ich meinte nicht Konfliktsituationen oder starke Gedanken, die jetzt mit besonderen Emotionen unterlegt sind, sondern diesen Fluss, den man einfach den ganzen Tag lang hat. Es findet ja immer etwas statt. Man definiert sich selber, spricht mit sich selber, usw. Das muss gar nicht besonders stark emotional unterlegt sein. Und das ist für mich die Frage: Wie unterhalte ich mein Ich, mein Selbst, mein Selbstbewusstsein, indem ich da immer Gedan-ken an Gedanken hänge.

Gehen wir dabei systematisch vor: Hat jemand von euch schon einmal erlebt, dass ein Gedanke sich auflöst, ohne dass ein neuer kommt? – Ja, da sagen mehrere „Ja“. Hast du es auch schon einmal erlebt?

Bewusst? Ich fühle mich manchmal so, als ob ich überhaupt keine Gedanken hätte.

Habt ihr es schon einmal erlebt, dass ein Gedanke verschwindet, weil ein neuer auftaucht? – Viel Gemurmel mit „Ja“. – Das scheinen mehrere zu kennen.

Ich kann das folgendermaßen veranschaulichen: Wenn wir ein Kind haben, das an etwas festhält und es nicht hergeben möchte – so wie wir an einem Gedanken festhalten – was ist der geschickteste Weg, dass das Kind loslässt?

Teilnehmerin: Ihm etwas anderes zu geben.

Ja, und weil dann etwas anderes kommt, was interessant ist, lässt es das vorhergehende los. Das ist das Einfachste. Wir machen es auch so: Wenn unser Geist abgelenkt ist, wenn irgendetwas anderes unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht und stark genug ist, dann sind wir gezwungen, das vorhergehende für einen Moment loszulassen. Wir können aber wieder darauf zurückkommen, wenn es stark genug ist. Das ist der eine Mechanismus, und den nutzen wir auch.

Wenn wir uns tatsächlich aus einer Gedankenkette lösen wollen, die eine ziemlich starke Kraft hat, dann nutzen wir z.B. die Achtsamkeit auf den Atem. Wir lenken die Achtsamkeit auf den Atem und wenn wir ganz beim Atem sind, können wir nicht weiter denken, das schaffen wir nicht. Es geht nicht, wir können den Geist immer nur auf eine Sache lenken. Wir nutzen das, um aus einer Gedankenkette herauszufinden. Wir beschäftigen den Geist mit etwas anderem. Wenn wir aber genauer hinschauen, so ist in dem Moment, in dem wir uns bewusst werden, dass wir gerade über etwas nachdenken, bereits eine kleine Lücke in der Gedankenkette entstanden. Die ist in dem Moment entstanden, in dem der Gedanke auftauchte: „Hey, jetzt reicht es aber!“

Der Gedankenfluss ist durch dieses Gewahrsein, durch dieses Bemerken schon unterbrochen. Wir brauchen da nicht extra noch einen neuen Gedanken zu erzeugen. Da ist schon einen Lücke, und dieser eine Gedanke, dass wir gerade gedacht haben, hat nicht genug Faszination, um eine Gedankenkette auszulösen. Er kann der Startpunkt sein für eine Lücke im Denken, wo einfach nur noch Gewahrsein bleibt. Gewahrsein dessen, was jetzt gerade ist, nachdem die Gedankenkette unterbrochen ist. – Da

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war ein Moment, wo wir gemerkt haben, dass wir gedacht haben, und ohne an was Neues zu denken, ist erst einmal dieser Moment so, wie er eben ist. Einfach so. Diese Möglichkeit gibt es auch.

Gibt es noch andere Möglichkeiten? Ich sage: „Ja.“, aber findet sie selber heraus. Was gibt es noch für Möglichkeiten?

Teilnehmerin: Ich hätte jetzt z.B. gedacht, dass da ganz viele Gedanken sind. Aber wo lege ich letztlich meinen Fokus hin? Dass ich quasi zu einem stärkeren Gedanken rüberwechsle, aber andere Gedanken nebenher laufen. Dass da nicht nur eine Kette ist sondern eher ein ganzes Feld.

Du hättest also einen Gedankensupermarkt, in dem du dich so ein bisschen aufhalten kannst.

Ja, ich glaube ich habe ihn. Ich möchte ihn nicht haben, aber ich habe ihn wahrscheinlich.

Wie ist das denn? Das ist ja eine Vermutung, du scheinst dir ja nicht ganz sicher zu sein.

Nein, bin ich mir auch nicht.

Tja, wie finden wir das denn jetzt heraus? Kann jemand weiterhelfen? Habt ihr ähnliche Beobachtun-gen gemacht? – Gibt’s hier keinen mit einem Supermarkt?

Teilnehmer: Wenn das so wäre, dann stelle ich mir vor, dass ich zwischen den einzelnen Gedanken-ketten immer hin und her springen würde. Eine Gedankenkette wird unterbrochen von einer anderen, dann geht’s wieder zurück, dann kommt die dritte, dann kommt wieder die erste, dann kommt die vierte, dann kommt die zweite wieder... So würde ich mir das jetzt vorstellen.

Wie ist das denn? Wir müssen einmal genau schauen, ob wir simultan Hintergrundgedanken und Vor-dergrundgedanken haben können. Ob wir irgendwie so eine Palette von Möglichkeiten wach halten können. Da müsste man einmal schauen.

Teilnehmerin: Wach halten, das meine ich ja gar nicht. Sie sind da. Ich kann meinen Fokus ja nur auf eine Sache legen. Das ist ja schon einmal klar. In dem Moment kann ich nur einen Gedanken haben. Aber dann kann ich ganz schnell auf einen, der dahinter läuft, springen.

Wo sind die anderen, wenn du den einen Gedanken denkst? Das ist jetzt eine wichtige Frage. Wo stecken die??

Teilnehmerin: Die sind in Bereitschaft?

Teilnehmerin: Da sind ja Assoziationen. Und wenn ich dann eine Gedankenkette habe, ist da eine Art Haken, der dann sozusagen nach einer anderen Gedankenkette greift. Der springt so raus.

Ah ja, was ist dieser Haken? Was ist denn das für ein Haken? Ich weiß, was du meinst, aber schau noch genau hin. Was ist dieser Haken?

Ist das eine Emotion? Gedanken sind ja unterschiedlich stark.

Gibt es da etwas, das nach einem neuen Gedanken sucht? Etwas, das einhakt? Was ist denn da los?

Teilnehmerin: Man sucht nach Bestätigung, dass man existiert?!

Na, das ist aber kompliziert. Was machen wir?

Man ist fasziniert von dem, was sich da abspielt. Man hat da die kleinen Fische, wie du gestern sagtest, das was so die Grundbefindlichkeit ist. Die scheint so durch, und an der Oberfläche ist dann das, was im Supermarkt im Angebot ist und man dann zugreift. Ich bin ja fasziniert von dem, was da los ist. Und wenn ich so stark von etwas fasziniert bin, dann bleibt das aufrecht. Wenn dann was anderes kommt, was noch faszinierender ist, dann ist das eine weg und dazwischen ist dann eine Lücke, durch die das durchkommt, was an Befindlichkeit da ist.

Ich glaube, wir müssen noch ein bisschen forschen. Da sind noch ein paar Fragezeichen.

Teilnehmerin: Ich kenne das recht gut, wie du das vorhin gesagt hast: Wenn man z.B. einen Gedanken als Farbe sieht und dann hinter dem Gedanken wie bei Farbglasscheiben noch ein anderer Gedanke ist, dann scheint der durch je nachdem welche Farbe er hat. Es ist also etwas in Bereitschaft und je nachdem, wie das angetippt wird, kann es stärker oder weniger stark aufflackern.

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Wir wollen da ganz sicher gehen mit dem ‚in Bereitschaft-Sein’ von Gedanken. Während wir gerade sprechen: Sind da schon ein paar Gedanken in Bereitschaft, die darauf warten, dass wir den nächsten Moment meditieren? Oder ist da jetzt schon etwas in Bereitschaft, was dann nachher kommt? Wie ist das denn?

Während ich jetzt mit dir darüber spreche, taucht etwas auf, das ich heute noch mit dir klären wollte. Das habe ich bereits vermischt und gedacht: „Das spreche ich jetzt noch nicht aus!“. So geht das dahin. Eine Viertelstunde vorher wäre ich dort noch nicht gewesen. Jetzt komme ich mit meinem Sprechen auf das hin, was bereits in meinem Speicher verankert ist. Weitere Fragen, weitere Ideen. Das hängt jetzt auch mit diesem imaginären Abbild zusammen. – Darf ich das weiterführen? – Du hast ja davon gesprochen, dass alles imaginäre Abbilder sind. Ist der Schluss richtig, dass das erste imaginäre Abbild durch dieses Decodieren, die Polarisation entsteht, was durch den physiologischen Vorgang unvermeidbar ist? Und dann geht’s bei mir weiter, jetzt denk ich das nächste, was sowieso imaginär ist, was dazu kommt. Wo man danach sagen kann, es ist ein großes Wunder, dass Kommu-nikation überhaupt stattfindet, weil ich ja ohnedies durch mein Sein, durch mein Erleben das, was jetzt decodiert rein kommt, noch einmal neu belade.

Genau, da findet noch eine weitere Verarbeitung statt.

Ich habe ein Bild dafür: Die erste Decodierung wäre, ich habe ein rohes Haus. Und jetzt fängt mein individuelles Sein an, das rohe Haus auszuschmücken, einzurichten.

Ja, du hast zuerst Rohmaterial, das durch die Sinne bedingt entsteht und zu einem ersten Bild führt. Und dann kommen die emotionalen Filter, die persönlichen Filter und schmücken das Ganze noch weiter aus.

Oder es wird das Ganze noch verdichtet, was durch Emotionen zu diesem ganzen Ballawatsch führt. Und da bin ich jetzt auch wieder, dass das auch diese Gedanken forciert, wo nämlich alles noch drinnen ist. Meine Frage dazu wäre: Ist das, was zu dieser Ausschmückung beiträgt, auch all das, was in meinem Speicherbewusstsein ist?

Ja, ich will gerade jetzt nicht so viele Fragen beantworten, sondern eher Fragen aufwerfen. Die Frage wäre also, ob es irgendwo so einen Speicher gibt.

Und was jetzt im Sprechen so kam, ist, was ich mit diesen Glasscheiben in Verbindung bringe. Da ist was, da ist aber eben schon so viel – oder vielleicht bezeichnen es andere auch als den Supermarkt?

Übung: Gleichzeitiges Denken von 2 Gedanken Lasst uns dazu eine Übung machen. Wir brauchen jetzt als Übung, ob wir zwei Gedanken gleichzeitig halten können, einen Hintergrundgedanken und einen Vordergrundgedanken. Wir müssen das jetzt untersuchen. Das scheint eine wichtige Angelegenheit zu sein. –

Teilnehmer: Wenn ich mit einer Visualisierung meditiere, kann ich trotzdem denken. Das geht ohne weiteres. Ich kann also schon zwei Sachen gleichzeitig machen.

Zwei Sachen machen und zwei Sachen denken ist schon noch ein Unterschied.

Also Mantra rezitieren, Visualisation und dir was erzählen…

Ja, ganz klar. Ich kann auch meinen Atem zählen, mehrere 100 und dazwischen eine ganze Menge denken.

Teilnehmerin: Beim Autofahren ist das ja auch so. Wir fahren mit dem Auto und denken noch über irgendein Thema nach.

Ja! Ich finde das manchmal katastrophal, oft weiß ich gar nicht, wie ich angekommen bin.

Teilnehmer: Was ich auch kann, ist, mich mit jemandem zu unterhalten und über etwas anderes nach-denken.

Das ist ja furchtbar. – Also das untersuchen wir jetzt einmal. Im Groben scheint es so zu sein. Aber jetzt schauen wir uns das im Detail an.

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Geht noch einmal in eine Haltung, die euch ein kleines Experiment ermöglicht. – Zuerst brauchen wir immer unsere Grundübung, eine gewisse Geistesruhe, die ein genaues Hinschauen ermöglicht. – Wir spüren den Körper und den Atem und verfolgen den Einatem, den Ausatem voller Achtsamkeit. – Wir lassen keinen Moment des Atem-Zyklus entwischen, so als wollten wir schauen, ob es da die geringste Unregelmäßigkeit gibt. – Ganz fein, sozusagen Millimeter für Millimeter verfolgen wir den Einatem und den Ausatem. – Völlig unabgelenkt bleiben wir dabei. Als ginge es um unser Leben. –

1. Übung: Ist es möglich, den Atem mit voller Intensität wahrzunehmen und dabei gleichzeitig etwas zu denken? Erzeugt einen Gedanken. Denkt z.B. an eure Mutter und verfolgt den Atem gleichzeitig weiter. Versucht immer wieder, beides gleichzeitig zu tun. Versucht beides zu völliger Intensität zu bringen, dass ihr eure Mutter vollkommen klar wahrnehmen könnt und auch den Atem völlig klar.

Kleine Pause. – Diese Übung war jetzt ein dynamischer Vorgang mit einem eher statischen Bild.

2. Übung: Lasst in euch das Bild einer Rose entstehen, ein inneres visuelles Bild. Lasst es klar werden. Definiert die Farbe dieser Rose. – Und jetzt stellt euch zugleich eine Tulpe vor. Eine Tulpe und eine Rose. Versucht, sie beide in gleicher Schärfe zu sehen, in völliger Schärfe. – Eine Tulpe, eine Rose und dann unser Atem. Lasst uns zugleich den Atem wahrnehmen. – Atem, Rose und Tulpe. – Und jetzt gehen wir wieder zur Rose zurück. Einfach nur die Rose. – Jetzt sagt mir, wann Napoleon gelebt hat und denkt gleichzeitig an die Rose, ohne dass sie in irgendeiner Weise weniger scharf wird. –

* * *

Erfahrungen der Teilnehmer

Also, was geht, was geht nicht in eurer Erfahrung?

Teilnehmerin: Man kann sich nur auf eine Sache konzentrieren, bzw. den Fokus setzen.

Gab es da irgendwelche Unterschiede?

Teilnehmerin: Die globale Wahrnehmung funktioniert. Ich kann gleichzeitig Tulpe und Rose wahr-nehmen und wenn dann nach Napoleon gefragt wird – das muss ich erst lernen. Wenn ich es dann habe, kommt es fast gleichzeitig, mit ganz kleinen Abständen. Dann springt es schnell hin und her. Aber es geht immer nur eins nach dem anderen. Und die erste Übung mit Mutter und Atem: Wenn ich wirklich ganz beim Atem bleiben will, dann kann ich nicht an die Mutter denken.

Teilnehmer: Ich kann atmen und mir gleichzeitig eine Rose und eine Tulpe vorstellen. Aber ich kann nicht im Ganzkörperbewusstsein sein und mir was vorstellen. Ich kann zwar den Atem beobachten aber mir dann nichts vorstellen.

Teilnehmerin: Für mich ist der Gedanke Rose Tulpe, Rose Tulpe in einer ganz kurzen Reihenfolge, weil ich jeweils nur eines sehen kann. Aber was dann schon geht, wenn ich ganz in mich hineingehe, dann kann ich die Essenz von allem wahrnehmen.

Wie war es denn mit Rose und Tulpe gleichzeitig, war das einfacher? Das kann man in einem Bild kombinieren, nicht wahr? Aber innerhalb des Bildes, kann man da beide gleich scharf sehen? Man kann sie beide gleich unscharf sehen. Man kann sie vielleicht auch beide gleich scharf sehen. Es ist auf jeden Fall viel einfacher, wenn es im selben Sinnesfeld passiert, in derselben inneren Wahrnehmung. – Es ist ja auch eine mentale Geschichte.

Bei ausschließlicher intensiver Aufmerksamkeit wird jede zweite andere Aktivität schwierig. Wenn wir wirklich voll und ganz bei etwas sind, dann wird alles andere zurück gestellt.

Ich habe es nicht geschafft, das Gesicht meiner Mutter klar zu halten, wenn ich mich voll auf den Atem eingelassen habe. Wenn ich mich nur so ein bisschen auf den Atem eingelassen habe, konnte ich meine Mutter sehr gut sehen. Aber wenn ich mit der vollen Präsenz auf jeden Moment des Atems ge-achtet habe, dann trat meine Mutter weit zurück, und dann hatte ich dieses Phänomen, das vorhin besprochen wurde: Das Bild war im Hintergrund noch irgendwie präsent, aber nicht mehr richtig, und ich musste ihm dann wieder die Aufmerksamkeit zukehren. Ich hab noch ein bisschen versucht, es zu aktivieren, aber wenn ich zu lange beim Atem geblieben bin und das Bild der Mutter nicht mehr

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aktiviert habe, dann ist es verschwunden. Irgendetwas scheint dieses Bild im Geist noch zu aktivieren, ein bisschen wach zu halten.

Was habt ihr noch für Beobachtungen gemacht?

Teilnehmerin: Es war sehr viel, was da so kam, und dann am Schluss hab ich beobachtet, dass alles verschwunden ist. Es war totale Stille und da war dann gar nichts mehr. Mir ging’s gut damit. Eigentlich habe ich das noch nie so erlebt. Wenn ich z.B. in der Natur in Stille sitze, kommen auch Dinge aus verschiedenen Etappen meines Lebens hoch. Aber da waren jetzt so viele Sachen auf einmal, und dann wollte ich nicht mehr. Da war plötzlich so eine Ruhe, da kam nichts mehr.

Was du gerade beschreibst, ist ein ganz wichtiges Phänomen. Ich hab mit euch gerade eben den Spieß umgedreht. Im Normalfall wollen wir meditieren und Ruhe haben, aber die Gedanken bedrängen uns. Wir haben das Gefühl, da kommen Gedanken, die nichts bei uns zu suchen haben. Wir wollen eigent-lich unsere Ruhe haben. Jetzt habe ich euch aufgefordert, bewusst zu denken, bis es bei dir sogar eine Verweigerung gegeben hat: „Still! Jetzt reicht es aber!“

Jetzt haben wir es bewusst gemacht, sodass es für einige fast ein bisschen anstrengend war. Wir haben einfach mit dem Geist ein bisschen herumgespielt. Wir haben nicht mehr nur einfach kommen lassen und waren dann dem, was gekommen ist, ausgeliefert, wir wurden plötzlich aktiv. Wir mussten dann wieder loslassen üben, weil sich Gedankenketten entwickelt haben. Wenn man selber aktiv ins Denken hineingeht und auch lernt, das aktive Denken wieder loszulassen, stellt sich plötzlich ein neuer Zugang zur Geistesruhe ein. Es tun sich dann Räume auf, in denen nicht mehr gedacht wird, weil wir dem Denken gegenüber eine andere Haltung eingenommen haben.

Das ist sehr interessant. Viele Meditierende sehen sich als Opfer ihres Denkens. Komisch, nicht? Da-bei sind wir es doch, die denken! – Das denken wir einfach so. Wer denkt denn da eigentlich? Denkt das ohne uns? Jetzt haben wir gerade einmal gedacht – wir haben Bilder erzeugt, gar nicht groß ge-dacht. Aber wir können auch nachdenken, bewusst denken und ins aktive, bewusste Denken hinein-gehen, und wir können auch aufhören zu denken, wenn wir nicht mehr denken wollen. Dann ist es echte Meisterschaft, dann wird der Geist flexibel. Wir können ihn nutzen, und wir können es auch sein lassen. Auch das gehört zu innerer Freiheit.

Teilnehmer: Ich hab mir angewöhnt, wenn ich bemerke, dass mich beim Meditieren irgendetwas beschäftigt, das erst einmal intensiv durchzudenken. Dann kann ich besser weiter machen.

Ja, das ist gut. Wenn einen irgendetwas wirklich beschäftigt, ist es gut, dem dann wirklich Raum zu geben und intensiv darüber nachzudenken, das alles richtig klar durchzudenken. Wenn nötig sogar mit einem Blatt Papier.

Teilnehmerin: Mir fiel bei dieser Übung Tonglen ein, wo man beim Einatmen schwarzen Rauch denkt und beim Ausatmen weißes Licht. Dann habe ich meine Mutter ein- und ausgeatmet. Da ist doch auch Aktivität mit dem schwarzen und weißen Licht? Dann konnte ich beides miteinander verbinden.

Jetzt haben wir uns ausreichend damit befasst. Ist doch ein ungewohnter Umgang mit dem Geist, nicht? Aber ungefährlich.

Wenn ihr eine Frage zum Geist habt, könnt ihr euch diese Frage bewusst machen, und da gibt es be-stimmt Wege, herauszufinden, was es damit auf sich hat. Und dann arbeiten wir mit unserem Geist, um das, was uns interessiert, zu klären. Wir brauchen gar nicht unbedingt jemand anderen. Wir können selber untersuchen, und wenn wir dann wirklich eine Erfahrung haben, können wir mit anderen vergleichen und schauen, ob wir vielleicht zu oberflächlich hingeschaut haben oder zu voreiligen Schlüssen gekommen sind. Aber wir müssen unserer eigenen Erfahrung vertrauen, das ist die einzige, die wir haben. Wir können nicht den Erfahrungen anderer vertrauen, wir müssen unsere eigenen Erfahrungen machen.

Und da schauen wir hin: Wo finden wir denn das, was der andere beschreibt? Was ist es denn mit dem Hintergrund und dem Vordergrund, dass die Gedanken bereit stehen. Was ist es denn?

Und das lässt sich alles auflösen. Kann ich in einem Moment in völliger Offenheit des Geistes sein? Ist das möglich? Okay, es ist möglich! Wie ist es möglich? Das sind wichtige Fragen.

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Können Gedanken Leid erzeugen?

Teilnehmer: Ich coache viele Leute, und wenn ich mir ansehe, was die Leute alles denken und sich dadurch selber in schlechte Zustände versetzen, dann komme ich schon zum Staunen. Oder ich mache es auch mit mir selbst.

Sind es denn die Gedanken, die das machen? Die haben doch gar keine Kraft.

Teilnehmerin: Denke doch einmal ganz stark und hafte an!

Ja, da kann was passieren: Gedanken plus Haften, nicht? Gedanken und festhalten und noch ein Gedanke und aufbauen und sich darin verstricken. Da kommt aber noch was dazu.

Teilnehmer: Dass man denkt, dass es wahr ist, was man erlebt.

Das ist es! Ich wusste doch, irgendetwas fehlt uns noch. Wir denken, das ist wahr, was wir denken. Und weil es ja wahr ist – es hat ja echte Bedeutung für mich – muss ich mich damit abgeben. Das ist dann so ein wahrer Gedanke. Merkt ihr, worum es geht? Diese wahren, emotional geladenen Gedan-ken bekommen eine unglaubliche Bedeutung, ballen sich zu Gedankenketten, bauen sich zu ganzen Szenarien auf, in denen wir schon bankrott sind, verlassen worden sind oder vielleicht tot, Krebs haben, was auch immer. Das baut sich auf, und darin steckt eine riesige Portion Wirklichkeitsglaube. Deswegen ist es so wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, was denn nun wirklich ist.

Wenn wir diese Gedanken auf ihre imaginäre Natur hin untersuchen, ihre bedingte Natur, ihre unfass-bare Natur, merken wir, wie das alles zusammenfällt. Es wird alles relativiert. Tatsache bleibt, dass es vielleicht irgendwo ein Problem gibt, dass wir ein Symptom haben, was auch Krebs sein könnte, aber diese ganzen Gedankengebäude werden als solche entlarvt. Das sind sie, und sie halten solange zusammen, wie wir den Kitt liefern: den Wirklichkeitsglauben, den Glauben an Beständigkeit, die Haftung, das Bedürfnis nach Kontinuität. Daraus stricken wir unsere persönliche, individuelle Wirk-lichkeit, die uns dann gefangen nimmt. Wir sind Gefangene in unserer Welt der Projektionen, der Welt des Imaginären. Mit all dem, was dazugehört.

Jetzt haben wir vielleicht einen wichtigen Baustein, ein wichtiges Element unserer Befreiung gefun-den: Jeder einzelne Gedanke kann losgelassen werden. Das ist die grundlegende Übung: Jeder einzel-ne Gedanke in sich verpufft, wenn er nicht genährt wird. Vorausgesetzt, dass wir ihn nicht festhalten und erneut kreieren. Ihr habt gesehen, wie schnell sich Rose und Tulpe aufgelöst haben und das Gesicht der Mutter, wie schnell die Atemachtsamkeit weg ist. Das braucht alles überhaupt keine An-strengung, damit es sich auflöst. Es braucht Anstrengung, damit es bleibt. Und diese Anstrengung, dass etwas bleibt, liefern wir ständig. Und zwar genau in den Bereichen, in denen wir uns Sorgen machen und die uns zu Spannungen führen. Das ist unglaublich erschöpfend. Ohne dass wir es beabsichtigen, halten wir mit innerer Kraft Gedankengebäude, Welten aufrecht, an die wir glauben, die wir nähren, die uns vielleicht sogar Angst machen, die uns auch faszinieren. Und diese Kraft steht uns dann nicht mehr zur Verfügung, es erschöpft uns. Das kann bis zur völligen Erschöpfung führen, es kann uns den Schlaf rauben. Das kann zu so einer Spirale führen, dass man nicht mehr schläft, trotzdem noch stark haftet, die Gedanken sehr intensiv sind, so schwer.

Verstrickung ist die Definition von Samsara und das ist das Material, das sind die Mechanismen, aus denen die Verstrickung besteht. Genau das, was wir gerade besprechen, ist Samsara. Das Für-wirklich-Halten, das Nicht-loslassen-Können, das Sich-Identifizieren, Fixieren. Das sind die Mechanismen, die uns bestimmen.

* * *

Wie wir mit unserer Praxis fortfahren, hängt davon ab, wie es uns mit diesen Grundübungen geht, ob der Geist dabei bleibt oder ob er ziemlich unruhig ist. Die Grundübung ist frische, wache, unabgelenk-te Präsenz. Die können wir schrittweise aufbauen, indem wir mit dem Körper beginnen, dann die Übung auf die anderen Sinneserfahrungen – sehen, hören, riechen, schmecken – ausweiten, bis wir auch das Denken, die geistigen Bewegungen wahrnehmen.

Es reicht, einen Anker zu haben. Ich habe bis jetzt immer den Atem gewählt. Er ist ein idealer Anker – er bewegt sich, ist an sich neutral und wir sind in jeder Situation mit ihm verbunden.

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Wenn ihr das Gefühl habt, ihr könnt unabgelenkt in dieser wachen Präsenz bleiben, dann entwickelt sich eure Praxis von dort weiter. Meine Vermutung ist, dass die meisten von euch tatsächlich diese Präsenz aufbringen können, wenn wir eine geführte Meditation machen. Ich vermute, dass ihr es auch zu Hause schaffen könnt, dass es aber nach kurzer Zeit, nach 15-20 Minuten, wackelig wird und sich ziemlich viel Ablenkung einstellt. Die meisten brauchen mehr Übung, um den Geist in dieser ein-fachen, unabgelenkten Präsenz zu stabilisieren. Ihr müsst selbst herausfinden, wie es bei euch ist.

Karmapa bietet uns nun Übungen an, die nach Schwierigkeitsgrad abgestuft sind und uns ein Training ermöglichen, sodass wir lernen, unabgelenkt zu bleiben:

2. Den Geist mittels eines visuellen Objektes stabilisieren [16.1] Wenn wir nicht in der Lage sind, den Geist wie beschrieben ruhen zu lassen, richten wir den Blick auf einen äußeren Bezugspunkt, wie einen Stock, einen Stein, eine Buddha-Statue oder auch in den weiten Raum – was immer angemessen erscheint. Dabei denken wir nicht über die Farbe, Form usw. dieser Stütze nach. Wir machen uns frei von starker Anstrengung wie auch dem Abgleiten in Achtlosigkeit und lassen den Geist ohne die geringste Ablenkung auf dem Objekt ruhen, das bloß als Stütze dient. Dabei unterbinden wir alle anderen gedanklichen Bewegungen.

Das wäre also die Übung, äußerlich etwas vor sich hinzustellen und zu üben, unabgelenkt dabei zu bleiben, immer wieder auf dieses äußere Objekt zurückzukommen. Dieses äußere Objekt kann ein Objekt aus der Natur sein kann – Stock, Stein, Blume, was auch immer. Es kann ein inspirierendes Objekt, z.B. eine Buddhastatur, sein. Es könnte auch etwas anderes sein, das für uns inspirierende Wirkung hat, uns also an die Qualitäten des Erwachens erinnert. Es kann ein Objekt sein mit einer leichten Bewegung wie die Flamme einer Butterlampe oder Kerze. Eine Kerze ist gut geeignet, weil sie auch eine Leuchtkraft hat und uns mit etwas Hellem und zugleich leicht Bewegtem verbindet. Wir sollten darauf achten, dass die Kerze ruhig brennt. Sie soll nicht rußen oder im Windzug stehen und flackern – eine klar, ruhig brennende Flamme einer Butterlampe oder Kerze.

Oder aber der weite Raum, der Himmel. Bei dieser Übung beginnen wir mit kleinen Räumen. Statt auf ein Objekt zu meditieren, meditieren wir auf den Raum zwischen zwei Objekten. Wir lassen den Geist auf dem Zwischenraum ruhen. Das ist eine interessante Übung, weil wir nicht mehr dabei sind, den Geist auf einem Objekt ruhen zu lassen, sondern auf einem Nicht-Objekt zwischen zwei anderen Objekten. Zwischenräume wahrnehmen ist etwas Neues für unser Seh-Verhalten. Wir nehmen erst einen gut begrenzten kleineren Raum, z.B. hier den Raum zwischen Schrank und Tür oder den Raum, der sich durch ein Fenster eröffnet, oder den Raum zwischen zwei Pfeilern. Dann vergrößern wir den Raum, da können wir z.B. draußen den Raum zwischen zwei Häusern nehmen oder zwischen zwei Bäumen. Immer geht es darum, auf einen Zwischenraum zu meditieren. Bis wir dann den Himmels-raum selber nehmen, also den völlig unbegrenzten Raum, der an sich gar kein visuelles Objekt ist, denn es gibt ihn gar nicht direkt zu entdecken. Doch ist es eine visuelle Referenz, wo wir noch schauen. Wir lernen damit zunehmend zu schauen, ohne etwas anzuschauen.

All diese Objekte werden in eigenen Instruktionen im „Ozean des Wahren Sinnes“ erklärt und sie alle haben ihre Vorteile. Z.B. einen Stein, ein Objekt aus der Natur zu nehmen, ist etwas ganz Spezielles und hat deutlich andere Auswirkungen, als wenn wir uns ein transparentes Glas mit Wasser hinstellen. Die Wirkung auf den Geist ist ein wenig anders.

Es sollte sich niemand zu schade oder vielleicht zu stolz sein, um tatsächlich zu sagen: „Ja, ich bin durchaus immer wieder abgelenkt und brauche eine solche Übung.“

[16.3] Alternativ können wir unsere Aufmerksamkeit auf die Silben richten, die für die Essenz von Körper, Rede und Geist aller Buddhas stehen: ein weißes OM, ein rotes AH und ein blaues HUM oder – falls das passender ist – weiße, rote und blaue Lichtsphären, die wir vor uns auf-malen oder visualisieren.

Die Silben vor uns aufzumalen wäre dann noch ein äußeres visuelles Objekt. Da bereitet Karmapa bereits den Schritt vor zu einem inneren, visualisierten Objekt, das auch scheinbar visuell wahrgenom-men wird, aber keinen äußeren Bezugspunkt mehr hat: drei Lichtsphären übereinander, weiß, rot und blau. Wir können auch einzelne Lichtsphären nehmen. Das sind nur Anhaltspunkte für Beispiele. Aber

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es ist schon wieder auch ein anderer Schritt, eine innere Visualisation zu halten als den Blick auf einem tatsächlich vorhandenen äußeren Bezugspunkt ruhen zu lassen. Es ist eine zusätzliche Leistung, eine Visualisation stabil zu halten. Leistung deshalb, weil uns die Visualisation leicht entgleitet und wir dann nicht auf ein klar sichtbares Objekt zurückgreifen können, sondern es innerlich neu ent-decken müssen.

Kurz gesagt, richten wir den Geist auf ein beliebiges Objekt, das wir als angenehm empfinden und verweilen damit. Wenn das Objekt ungeeignet ist, wird der Geist nicht lange dabei verwei-len, sondern sich bald an etwas anderes heften, das sich zeigt, ohne sich weiter um das Meditationsobjekt zu kümmern.

Solche kleinen Hinweise stehen z.B. nicht im anderen Werk Karmapas. Das ist ganz typisch für diesen Text, dass Karmapa zusammenfassend schreibt und dann immer wieder auch Bemerkungen einfügt zu Erfahrungen z.B. zur Wahl eines geeigneten Meditationsobjektes. Ein Meditationsobjekt sollte in uns keine Abneigung auslösen. Es sei denn, wir wollen gezielt mit Abneigung arbeiten, dann können wir auch das machen. Aber es sollte von uns als angenehm empfunden werden, sodass der Geist gerne darauf verweilt. Was das für uns ist, müssen wir selber herausfinden, das kann von außen gar niemand wissen. Manche Menschen würden nicht gerne auf eine Buddha-Statue meditieren, weil sie das mit Religion oder etwas Künstlichem verbinden. Sie nehmen lieber einen Grashalm oder irgendetwas, das aus der Natur kommt. Manche Menschen meditieren gerne auf abstrakte Formen, andere gerne auf etwas Konkretes. Bei manchen spielt die Farbe eine große Rolle. Sie möchten z.B. nicht gerne auf eine weiße Tasse meditieren, sie möchten gerne eine wärmere Farbe.

Also wählt euch euer Meditationsobjekt so aus, dass es euch erst einmal angenehm erscheint. Ihr merkt gerade: angenehm aber nicht Anhaftung auslösend. Es ist nicht angebracht, auf das Foto seines geliebten Partners zu meditieren, das löst zu viel aus. Das Objekt sollte grundlegend neutral sein, mit leicht angenehmen, stimulierenden Assoziationen wie eine Buddha-Statue, aber nicht Anhaftung auslösend.

Teilnehmerin: Was ist dann mit einem Bild von Karmapa?

Das ist auch nicht geeignet. Gerade da kommt auch wieder Anhaften hoch. Der Grund ist, dass es ein lebender Mensch ist. Bei einer Karmapa-Statue verhält es sich schon wieder anders. Da müssen wir uns auch selber ein bisschen auf die Schliche kommen.

Ein Meditationsobjekt wird so gewählt, dass es für unsere Aufmerksamkeit einen ruhigen Pol bildet, dass wir es ganz ruhig und unemotional anschauen können, dass wir gerne dorthin zurückkehren, dass es uns möglich ist, aufwühlende Gedanken zu verlassen und leicht dahin zurückfinden und erst einmal froh sind, wieder beim Objekt angekommen zu sein. Das können viele Objekte sein, wenn wir keine Abneigungen aufbauen. Ich habe fast alles ausprobiert. Gendün Rinpoche hat uns z.B. auch die Spitze einer Nadel als Objekt gegeben, einen großen Stein, Wasser, Flamme und was man sich so vorstellen kann. Wir hatten viel Zeit im ersten Retreat. Irene und ich haben damals alle Meditationsobjekte durchprobiert. Eigentlich spielt dann das Objekt selber keine große Rolle.

Die zusätzliche Instruktion von Karmapa:

[16.5] Durchtrenne dabei alles begriffliche Denken, das sich in Gedanken zeigt wie „Ich meditiere“ oder „Ich meditiere nicht“, mit der Hoffnung, den Geist zur Ruhe zu bringen, und der Sorge, ihn nicht zur Ruhe bringen zu können. Meditiere voller Wertschätzung für die Achtsamkeit …

Das ist auch so ein unglaublich wertvoller Satz: ‚Meditiere mit Wertschätzung für die Achtsamkeit’. Das hab ich in keinem anderen Text so gesehen. Thich Nath Hanh beschreibt es genauso. Die Freude am Gewahrsein, die Wertschätzung der Achtsamkeit, dass wir uns an jedem Moment freuen, den wir präsent sind, den wir voll achtsam, voll gewahr sind.

Das Tibetische drückt so etwas wie Liebe oder hohe Wertschätzung für die Achtsamkeit aus. Es ist wesentlich für den Fortschritt unserer Meditation, dass wir diese Liebe, diese Wertschätzung für das Gewahrsein entwickeln, dass es uns ganz am Herzen liegt, es ganz freizusetzen. Jeden Moment schätzen! Es geht gar nicht darum, sich sofort zu verurteilen für die Momente, in denen wir es nicht sind, sondern darum, jeden Moment der Achtsamkeit wertzuschätzen.

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… und lasse dich keinen Moment ablenken von etwas, das nichts mit der Übung zu tun hat.

Da ist eine große Konsequenz gefordert. An dieser Konsequenz mangelt es den allermeisten Praktizie-renden. Das ist sehr schade! Es ist sehr, sehr, schade, weil wir damit unsere eigene Praxis untergraben. Wir setzen uns hin zum Meditieren, üben aber eigentlich gar nicht, stehen nach einer halben Stunde oder vielleicht sogar nach einer Stunde mit einem etwas unbefriedigten Gefühl auf, weil wir uns selber nicht ganz treu waren. Wir wollten eigentlich üben, haben aber gar nicht wirklich geübt. Da waren ein paar Momente von Übung, und der Rest war so ein Driften, so ein Sich-Gleiten-Lassen, hier und da einmal ein Moment zurück zur Meditation, aber dann wieder vieles anderes. Wir haben nicht konse-quent geübt. Deswegen der nächste Satz von Karmapa:

Teile dir deine Sitzungen gut ein und mache mit klarem, leichtem und freudigem Geist viele kurze Übungsperioden.

Kurz! In der Kürze liegt die Würze! Kurze Übungen, die wir mit frischem, leichtem Geist durchführen können. Lieber einmal nur für zehn, zwanzig Atemzüge oder für fünf Minuten gezielt üben, und wir können dann nachher wirklich sagen: „Ja, diese fünf Minuten habe ich geübt!“ als längere Zeiten, wo sich anderes reinmischt, weil wir diese Präsenz nicht so lange aufrechterhalten können. Dann gewöh-nen wir uns daran, weil wir ja jeden Tag meditieren wollen. Wir gewöhnen uns an diese blöde Durch-mischung unserer Praxis mit allem möglichem anderen – den Gedanken an unsere Freunde, Ver-wandten, an unsere Aufgaben des Tages – und die eigentliche Übung kommt zu kurz, weil sie einge-baut ist in so vieles anderes. Es ist ja gut, das alles zu verdauen und darüber nachzudenken, aber bitte zu einem anderen Zeitpunkt.

Man kann das vergleichen mit einem Sportler, der trainiert. Der kann auch nicht gleichzeitig telefonie-ren, ein Eis essen und trainieren. Der muss sich entscheiden, eins nach dem anderen. „Jetzt ist Training angesagt und jetzt mach ich das!“ Oder Klavier üben, was auch immer ihr nehmt. Wenn wir wirklich üben, dann üben wir! Also kurz und intensiv, dann ist auch Erfolg dabei, als wenn wir das alles sich so durchmischen lassen, ein bisschen anfangen, dann wieder was anderes, dann wieder ein bisschen weiter machen, dann wieder was anderes.

Also: RICHTIG üben!! Das ist die Botschaft hier.

Sei nicht entmutigt, wenn du immer wieder das Wandern des Geistes unterbinden musst, um ins meditative Gleichgewicht zurückzufinden. Übung ist das Wichtigste!

Das ist etwas, was so viele von uns langjährigen Praktizierenden irgendwie nicht begreifen wollen oder wieder vergessen haben: Es geht beim Meditieren um Übung! Wir üben ganz gezielt. Und jeder von uns sollte eigentlich wissen, was er übt. Wenn ich euch jetzt ansprechen würde. – Ich tue es nicht. – Was übst du denn, wenn du meditierst? An was übst du? Was kultivierst du? Was ist deine Übung jetzt gerade? Es braucht nicht dieselbe zu sein wie vor einem halben Jahr und wird sich weiter ent-wickeln, denn wenn du diese Übung sauber ausführst, dann wird schon in kurzer Zeit der nächste Schritt möglich sein und du wirst etwas leicht anderes üben als das, was heute noch deine Übung ist, weil du Fortschritte machst. Was wäre eure Antwort?

Überprüft euch doch jetzt innerlich: Wisst ihr, was ihr übt? Präzise! Was ist an diesem Tag eure Hauptübung? Gut, jetzt am Kurs war es vorgegeben, aber vor dem Kurs: An was habt ihr wirklich gearbeitet? Und auch nach dem Kurs: Was ist die Übung, mit der ich zu Hause weiter mache? Dann kommen wir zu einer effektiven Praxis.

Teilnehmerin: Ist es nicht so, dass sich die Übung in jeder Sitzung unterscheidet? Ich kann ja immer nur mit dem üben, was im Moment gerade da ist und ich auch bearbeiten kann. Wenn ich z.B. frischer und klarer bin, kann ich ja ganz andere Dinge üben als wenn ich erschöpft bin.

Ja. Deine Übung kann je nach Sitzungsform, Tagesform anders aussehen. Du wirst vielleicht andere Methoden einsetzen, aber was du grundlegend übst, wird sich nicht so schnell ändern. Du wirst wissen, was du übst, wenn du müde bist oder wenn du frischer bist, aber grundlegend, sollte uns klar sein, an was wir gerade arbeiten. Wenn ich z.B. meine, ich möchte unabgelenkte Präsenz üben, dann kann ich das üben, wenn ich müde bin, ich kann das auch üben, wenn ich frisch bin. Dann ist es etwas anders, die Dauer der Übungsperiode variiert dann.

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Wir schauen, was wir gerade brauchen: Es braucht diesen Moment des klaren Entschlusses, wo ich sage: „Und jetzt übe ich!“, „Jetzt beginnt die Übung!“ Das ist genauso, wie wenn wir sagen, ich geh jetzt joggen, dann gibt es den Moment, in dem wir uns in Bewegung setzen und es beginnt. Wir wissen es: „Jetzt gebe ich mir einen kleinen Ruck und beginne zu laufen.“

Es ist bei vielen Praktizierenden so, als wenn da eine Unschärfe hinein kommen würde. Sie haben zwar den Moment der Zufluchtnahme, verlieren aber irgendwo auf der Strecke die Praxis. Sie sind nicht mehr so klar dabei. Es mischt sich anderes rein und dann kommen die Schlussgebete, und da-zwischen war was, was so ein bisschen durchmischt war. Es ist sehr hilfreich, da eine große Klarheit hinein zu bringen.

Wer z.B. Vajrayana-Praktiken ausführt – Tschenresig-Praxis, Medizinbuddha, Tara, was auch immer, Amitabha und dergleichen – sollte sich dieser Übung auch stellen. Mit diesen Praktiken sind Übungen verbunden, und uns sollte eigentlich klar sein, welchen Aspekt der Übung wir tatsächlich kultivieren wollen. Wir hängen uns nicht einfach rein in eine Tschenresig-Puja und lassen uns da so durchziehen – es geht ja schon irgendwie weiter – irgendwann ist es auch vorbei. Wir üben was! Das tibetische Wort gom – bhavana auf Sanskrit – bedeutet tatsächlich üben, sich vertraut machen, und wird oft als meditieren übersetzt. Das ist dasselbe Wort, aber eigentlich bedeutet es üben. Und wer den Geist wirklich befreit hat, in der Präsenz angekommen ist, braucht nicht mehr zu üben, für so jemanden hört dann auch das Meditieren auf. Die Erwachten sind natürlicherweise in der Präsenz. Aber bis dahin üben wir. Das ist es also, was Karmapa uns hier empfiehlt.

[17.3] Übe mit einer dieser visuellen Stützen, die dir zusagt. Es ist auch möglich, sie alle der Reihe nach zu praktizieren. Falls dir aber eine zusagt und sie dir genügt, dann brauchst du nicht alle auszuprobieren, so als würdest du eine Liste abhaken.

Kurz: Den Geist mittels geeigneten visuellen Objektes zu stabilisieren, ist der zweite Punkt.

Übung: Unabgelenkte Präsenz Nehmt euch ein Objekt in eurer Reichweite, keinen Menschen sondern ein unbewegtes Objekt. – Jetzt kommt der Moment, wo wir den Entschluss fassen: „Ja, jetzt werde ich fünf Minuten lang unabgelenkt bei diesem Objekt bleiben.“ Fünf Minuten lang zählt nichts anderes! –

Bleibt noch ein wenig ruhig sitzen. Was für eine Auswirkung hat diese kleine Übung auf den Geist gehabt? Kommt euch die Übungsperiode zu lang vor, zu kurz oder war sie stimmig?

* * *

Wenn eine solche Übung ihren Zweck erfüllt, dann kommt es durch diese Übung oft als Nachwirkung zu einer Vereinfachung unserer Präsenz. Wir erleben, dass die Übung – das war eine konzentrative Übung – den Gedankenfluss unterbrochen oder erheblich behindert hat und dass wir danach, auch wenn wir die Übung loslassen, noch in einer ruhigen Nachstimmung sind, in der wir eigentlich das Bedürfnis haben, noch genauso ruhig weiter präsent zu sein. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Übungsperiode noch nicht zu lang war. Dass dieses Bedürfnis nach weiterer, ruhiger Präsenz noch da ist.

Wenn zu Ende der Übungsperiode unser Geist schon zu revoltieren beginnt und es immer mehr An-strengung braucht, die Aufmerksamkeit zu halten, und wir uns nach dem Aufhören der Übungsperiode direkt nach etwas anderem sehnen, uns beschäftigen wollen, so ist das ein Zeichen dafür, dass die Periode zu lang war und wir sie kürzer halten müssen.

Wir können alternieren. Wir können solche kurze Perioden mit kurzen Pausen kombinieren und immer wieder die Übung ausführen und die Wirkung wird sich vertiefen, wenn wir es nicht übertreiben – meditatives Intervall-Training. In den Pausen gehen wir nicht in Ablenkung. Wir heben einfach den Blick, schauen in die Weite, haben nichts zu tun, aber wir würgen den Geist auch nicht ab.

Wenn euch jetzt etwas aufgefallen ist, was an eurem Objekt unangenehm ist, dann könnt ihr das jetzt verändern, denn gleich kommt die nächste Übung. Oft haben wir das Objekt zu nahe an uns platziert,

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sodass wir es weiter weg rücken müssen, damit wir keine Spannung im Nacken bekommen oder Anspannung in den Augen. Da müsst ihr gut schauen.

Wer das Gefühl hat, dass es schon zu viel war, sollte jetzt, während die anderen noch einmal üben, einfach weiter in der Pause bleiben, in einfacher, offener, weiter Präsenz sein, ohne den Geist zu zü-geln, und ohne ihn aufzuwühlen. Das geht. Es können einige von uns konzentrativ üben während die anderen die Entspannung betonen, ein entspanntes Sein, einfach so.

Fünf Minuten stilles Gewahrsein. – Kurze Selbstüberprüfung. Wie ging es mir mit dieser Übung? Wie fühle ich mich jetzt? Muss ich irgendwo etwas ändern? –

Wenn diese konzentrativen, stabilisierenden Übungen danach, wenn wir aus der Übung herauskom-men, ihre Wirkung zeigen und man das Gefühl hat, dass man den Blick auf irgendetwas richten könn-te, dann bleibt man einfach. Die Übung geht von selbst weiter, es ist eine Ruhe eingekehrt in unserem Schauen, in unserem Sein, und die ließe sich jetzt mit sehr geringem Aufwand fortsetzen. Das geht wie von selbst. Aber es sind auch all die Tendenzen da, die uns jetzt in die Aktivität ziehen.

Es liegt jetzt an euch, wie ihr die nächsten Stunden nutzt, in welche Richtung ihr geht. Ihr könntet auch hinausgehen, euch irgendwo hinsetzen und in einer möglichst entspannten Präsenz verweilen. Das ist jetzt eure Entscheidung. Ihr könntet gelegentlich kurze Übungsperioden machen, um diese Ruhe immer wieder anzustoßen, sich natürlich entfalten zu lassen, und wenn es das braucht, wieder etwas üben, um den Geist wieder in die Ruhe zurückzubringen.

So kann man einen ganzen Tag der Praxis verbringen mit kleinen Übungen konzentrativer Natur und dann größer werdenden Phasen des entspannten Seins, wo der Geist gar nicht aufgewühlt ist, sondern in natürlicher Präsenz ruht, weil wir ihn durch diese Übung aus dem Verstricktsein in all die Gedanken gebracht haben. Es muss dann jeder selbst wissen, wann der nächste Moment konzentrativer Praxis notwendig ist und wann er in die Entspannung, in dieses weniger kontrollierende oder gar nicht mehr kontrollierende Sein geht. Das muss jeder selber wissen.

Ich selber kann da leider nicht ganz einsteigen, weil ich Gespräche zu führen habe, was meine Präsenz limitiert. Aber genau so habe ich geübt, jahrelang, und im Retreat halte ich diese Übung immer noch den ganzen Tag über aufrecht. Der springende Punkt ist die Wertschätzung des Gewahrseins. Wenn mir das Gewahrsein, die Achtsamkeit lieb wird, dann ist es das, dem ich mich widme. So ist es dann einfach. Anderes wird weniger dadurch.

* * *

Abendmeditation Wie immer spüren wir zunächst, ob wir gut sitzen. – Wir gehen ein Mal durch den ganzen Körper durch und schauen, ob wir irgendwo noch etwas entspannen können. – Der Blick findet seine Veran-kerung, und die Aufmerksamkeit wendet sich dem Atem zu, dem einströmenden und dem ausströmen-den Atem. – Der ganze Körper atmet mit. – Die Augen sind offen, aber der Blick untersucht nichts, er ruht. Er bleibt beweglich ohne zu fixieren. – Wir hören, brauchen aber nicht hinzuhören. – Wir riechen, … schmecken, … – Immer wieder kehren wir zum Atem zurück, wir reiten auf dem Atem, auf unserem Gewahrsein. – Es mögen Gedanken auftauchen, aber sie verhallen wie Echos im Raum. – Wir erfreuen uns am gewahren Sein, einfach so. – Gedanken brauchen nicht aufgelöst zu werden, auch nicht fort gescheucht zu werden, es reicht gewahr zu sein. Und das Gewahrsein braucht nicht erzeugt zu werden, Gewahrsein ist aus sich selbst heraus gewahr. – Gedanken mögen sich noch formen, wenn sich niemand für sie interessiert, hören sie von selber auf. – Wir können den ruhigen Geist lenken auf was wir wollen. Der Buddha schlägt vor, ihn zunächst auf den Wandel, auf die Vergänglichkeit zu richten, zu sehen, wie alles in Fluss ist. –

GONG – Die Ersten scheinen eine kleine Pause zu brauchen, etwas Bewegung. Scheut euch nicht, am Ende des Tages einen Stuhl zu nehmen. – Wer möchte, kann auch einmal eine andere Haltung auspro-bieren. (zeigt die 5-Punkte-Haltung) Die ist ganz hilfreich. Man stellt die Beine auf – die Füße über Kreuz – und legt die Ellenbeugen über die Knie. Man zieht die Knie ein bisschen zu sich heran und

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hält sich mit den Händen an den Oberarmen, oder man steckt die Hände unter die Achseln. Am ein-fachsten ist diese Haltung, wenn man sich ein großes Tuch um Becken und Knie bindet. – GONG

Fragt euch selber einmal, was es gerade ist, was ihr mit eurem Geist üben möchtet. Was ist es eigent-lich, worum es jetzt gerade geht? – Wenn ihr wisst, was ihr üben möchtet, dann übt das. – Immer wieder bauen sich kleine Filme auf, und wir sehen ihre imaginäre Natur, ihre bedingte Natur, und dass sie in der Essenz unfassbar sind. –

GONG – Pause für die Glieder. – Ihr könnt auch gerne stehend praktizieren oder Gehmeditation machen. Schaut, was euch gut tut. – GONG

Und noch einmal üben wir für einige Minuten Geduld. Geduld mit uns selbst, mit dem Körper, mit dem Geist. Wir üben uns darin, nicht zu reagieren mit Anhaften, Ablehnen, Verändern-Wollen, Manipulieren. –

* * * Viele von euch haben jetzt einen gewissen inneren Frieden gefunden. Bewahrt ihn bis zum Ins-Bett-Gehen und nährt ihn weiter, nach dem Aufstehen bis zur Morgen-Meditation. Das ist ganz kostbar, da kann noch viel geschehen in der Stille im entspannten Sein.

Morgenmeditation Wir beginnen damit, für fünf Minuten völlig unabgelenkt die Achtsamkeit zu entwickeln. – Atem und achtsames Erleben werden eins. – Völlig unabgelenkte Achtsamkeit. Nur das Meditationsobjekt inte-ressiert uns. – Wir richten uns darauf aus, als wäre es die einzige Sinneswahrnehmung; die einzige, die von Bedeutung ist. – Trotz dieser Ausschließlichkeit bleiben wir ganz entspannt. – Völlige entspannte Achtsamkeit. –

GONG – Kleine Pause während der wir weiterhin entspannt achtsam bleiben, aber nicht beim Medita-tionsobjekt verweilen müssen. Wir lassen unserem kleinen Teufelchen einen kleinen Auslauf und wissen, dass es gleich wieder ans Üben geht. – Ich bleibe mit den Anweisungen weiter beim Atem, und wer sich ein visuelles Objekt gewählt hat, kann einfach das Wort Atem durch sein Objekt ersetzen. Die Instruktionen sind dieselben. – GONG

Und wieder kehren wir zu unserem Meditationsobjekt zurück. Wir werden uns des Atems bewusst, nehmen aber diesmal den ganzen Körper hinzu. – Einatmend sind wir des gesamten Körpers gewahr, und ausatmend sind wir des gesamten Körpers gewahr. – Wir nehmen wahr, wo es juckt und zieht und pocht und vibriert, ohne zu reagieren. Die Atem-Achtsamkeit hilft uns dabei. – Ganz ruhig, frei von Anhaftung und Ablehnung sind wir des Atems und aller anderen Körperwahr-nehmungen gewahr. – Manchmal tauchen Impulse auf, sich zu bewegen, und auch die entspannen wir. – Atem- und Körperempfindungen in ungeteilter Achtsamkeit. –

GONG – Und wieder lassen wir die Longierleine etwas lockerer. – GONG

Und wieder kommt der Atem stärker ins Bewusstsein. Für einige Atemzüge folgen wir ganz aus-schließlich dem Atem. – Jedem einzelnen Moment des Einatems und jedem einzelnen Moment des Ausatems, jeder kleinen Veränderung. – Und dann weiten wir unsere Achtsamkeit aus in den Bereich des Hörens hinein. – Einatmend und ausatmend sind wir der verschiedenen Klänge und Geräusche bewusst und können uns auf ein beson-ders dominantes Geräusch einlassen und dieses als Meditationsobjekt wählen. Hintergrund bleibt der Atem als Anker, um uns nicht zu verlieren im Interpretieren der Geräusche. – Einatmend hören wir mit vollem Gewahrsein, und ausatmend hören wir mit vollem Gewahrsein. –

GONG – Während der Pausen lassen wir zwar das Meditationsobjekt vom Haken der Achtsamkeit, aber die Achtsamkeit selbst bleibt, ganz entspannt. Das sind Momente, in denen wir oft die Früchte unserer Übung spüren können. – GONG

Der Atem kommt wieder stärker ins Bewusstsein. – Wieder verbinden wir die Achtsamkeit auf den Atem mit dem Hören. Doch diesmal hören wir der Stille zu, die zwischen den Geräuschen ist, die Ge-räusche überhaupt möglich macht. Genauso wie bei visuellen Objekten der Raum. – Klang-Erfahrung

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besteht aus Klängen und ihren Zwischenräumen. – Einatmend hören wir völlig gewahr, und ausat-mend hören wir völlig gewahr. – Immer wieder kommen wir zurück in die einfache Erfahrung des Atmens und Hörens.

GONG – Pause

Und wieder kehren wir zum Atem zurück, bewusstes Einatmen und Ausatmen. Das Gewahrsein reitet auf dem Atem. Jede kleine Veränderung wird bewusst erlebt. – Und dann wenden wir uns dem Sehen zu. Atmen und sehen. Sehen von Farben, Formen, aber auch von Raum dazwischen. Wie ist es, zu sehen, wenn nicht nur Objekte wahrgenommen werden, sondern auch der Raum? – Einatem und Ausatem bei völlig gewahrem Sehen. – GONG –

Den Körper spüren, hören, sehen, ohne daraus eine spezielle Übung zu machen. – Riechen, schmecken und das Wahrnehmen geistiger Vorgänge. –

* * * Die Praxis geht so ganz entspannt weiter in die Aktivität hinein. Um sie nicht zu stören, um sie nicht zu unterbrechen, schauen wir, dass wir uns nicht verwickeln. Gut, wir schweigen jetzt auch, dann ist es leichter. Wir bleiben einfach in einer sanften Achtsamkeit, die alles begleitet, was wir tun. Dann ist es ganz leicht, wieder zurückzufinden. –

Meditation Wir stellen uns unseren Wurzelguru, die Verkörperung des Erwachens, über unserem Kopf vor und richten unsere Gebet an ihn. Vajrasattva oder Vajradhara oder Buddha Shakyamuni ist über unserem Kopf und verschmilzt am Ende der Rezitation in uns.

Rezitation: Gebet an den Lama

Wir nehmen die Meditationshaltung ein und üben in dem Vertrauen, dass das Gewahrsein sich selbst befreit. Dass, wenn wir es nur zulassen, unser Geist sich tatsächlich selbst entfaltet, entknotet, aus Ver-strickungen befreit. – „Sobald du den Geist entspannst, ist er befreit.“ So sagte Saraha. Und um das deutlicher zu spüren, arbeiten wir in einem Wechsel von Anspannung und Entspannung. – Wir richten den Geist auf den fließenden Atem … lassen keinen Moment des Atems unbemerkt. – Wir machen grad so viel Anstrengung in dieser Aufmerksamkeit, wie es braucht, um den Geist in dieser Unabgelenktheit zu halten. – Und so versuchen wir einmal, 21 völlig unabgelenkte Atemzüge zu zählen. Wobei wir die Atemzüge nicht nur zählen, sondern zwischendurch den gesamten Einatem und den gesamten Ausatem ver-folgen. – Bei 21 angekommen, hören wir auf zu zählen und machen weniger Anstrengung. – Wir spüren den Körper. Wir sehen und hören. Wir riechen und schmecken. – Und sind gewahr, was alles im Geist vor sich geht. – Einatem und Ausatem. In sanfter Bewusstheit, während wir gleichzeitig der geistigen Bewegungen gewahr sind. –

Jetzt machen wir wieder eine kleine Übung mit einer gewissen Anstrengung. Es hängt von euch ab, ob ihr euch dabei anstrengt.

Übung: Gedanken zählen Schaut mal, wie viele Gedanken in der Zeit zwischen den beiden Gongs auftauchen. Versucht mal, eure Gedanken zu zählen. –

Pause

Ermutigt euch. Wir machen dieselbe Übung noch einmal. Versucht, so viele Gedanken wie möglich zu erkennen. Es geht nicht drum, möglichst keine zu haben. Schaut mal, was da alles los ist. Vielleicht ist ja auch gar nichts los. –

Pause

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Bei der nächsten Übung, statt auf der Lauer zu liegen und zu schauen, wann Gedanken auftauchen, drehen wir das Ganze um. Wir versuchen jetzt einmal, die ganze Zeit zwischen den beiden Gongs, dem Anschlagen der Klangschale, zu denken. Wir denken bewusst. Sucht euch etwas aus, über das ihr nachdenken könnt, das ihr euch ausmalen könnt, das ihr euch vorstellen könnt. Ein Gespräch, was auch immer. Auf geht’s!

Herzlichen Dank fürs Mitspielen.

Was sind eure Beobachtungen?

Wir haben drei Übungen gemacht. Zweimal haben wir geschaut, wie viele Gedanken zwischen den Gongs auftauchen und einmal haben wir versucht, die ganze Zeit zwischen den Gongs mit Gedanken zu füllen, mit geistiger Aktivität. Wie ist es euch damit gegangen?

Erfahrungen der Teilnehmer

Teilnehmerin: Es war alles sehr schwierig für mich. Die Übung, die Gedanken zu zählen, war schwie-rig, weil ich gemerkt habe, dass ich unterscheide zwischen innerer Sprache und Gedanken, und dass ich denke, ich spreche jetzt mit mir oder ich wiederhole deine Sätze, die Aufgabenstellung, und ich in dem Moment eine andere Vorstellung von Gedanken habe. Wobei Gedanke für mich eigentlich etwas Stilleres ist, was nicht sofort diesen Input von außen bekommt, sondern mehr aus mir entsteht. Da bin ich schon einmal in einem totalen Zwiespalt.

Ja, da kann ich dir weiterhelfen. Ich habe mich vielleicht ungeschickt ausgedrückt. Es ist all das ge-meint: die verbalen Gedanken und die kleinen Flitzer, die mehr aus dir heraus kommen.

Und es war nicht möglich zu zählen. Es war eigentlich die gleiche Erfahrung wie mit der Aufgabe ‚Blume’ und der Vorstellung ‚das Bild der Mutter’ und ‚Klang’, wo ich bemerkt habe, dass das Zählen der Gedanken nicht möglich ist. Meine Gedanken müssten schon so reduziert sein, dass ich sie zählen kann. Ich könnte jetzt einerseits sagen, die Fülle ist so groß, dass ich sie nicht zählen kann. Ich kann aber auch nicht sagen, dass ich die Fülle deutlich wahrgenommen habe. Ich kann es nicht feststellen, war es zu viel? Ich brachte es nicht zusammen, es ist mir alles entglitten.

Sehr gut. Aber du hast es ganz toll beschrieben. Also eine Fülle von innerer Bewegung, wobei eine Verwirrung auftauchte zwischen den großen, nachsprechenden Gedanken und den vielen kleinen Vorgängen, die eigentlich unzählbar waren. Und wie ein Vor und Zurück zwischen der Aufgabe und dem was eigentlich sonst ablief. O.k. Das reicht! Andere Beobachtungen, wie ist es bei anderen gewesen?

Teilnehmerin: Ich bin vielleicht das Gegenteil. Ich dachte auch, „ja da kann ich ja fleißig zählen“, aber ich war erstaunt, wie konzentriert ich auf meinen Atem war. Vielleicht nur so am Horizont flackerte irgendetwas auf, aber nicht so deutlich. Vielleicht war ich auch darauf eingestellt, dass die Übung länger dauert, aber dann erklang schon der Gong. Vielleicht ein bisschen geschummelt könnte ich sagen, ich hatte gar keinen Gedanken.

So ein bisschen schummelnd gesagt, würdest du sagen, ‚Es gab gar keinen Gedanken’? Mmh, ist in Ordnung, das Phänomen ist bekannt. Noch kein Kommentar dazu, ich möchte erst einmal die anderen hören. Gibt es andere Beobachtungen?

Teilnehmer: Ja, ich hab mich erst mal gewundert, dass keine Gedanken kamen, und dann hab ich gedacht: Da ist jetzt kein Gedanke - zählt das jetzt als Gedanke? Dann hab ich wieder gedacht: Das ist auch kein Gedanke. Dann hab ich gedacht: Wie soll ich das jetzt zählen?

Sehr, sehr schön. Gut beobachtet. Weiter.

Teilnehmer: Ja, ich hab mich geärgert, eigentlich zweifach sogar: Das eine, dass ich mich überhaupt auf diese Übung eingelassen habe, weil ich wusste: „Das geht nach hinten los!“, und das zweite, genau das Gleiche wie vorhin: „Denk ich jetzt grade“ ist ja schon ein Gedanke. Dann hab mich konzentriert auf ein Objekt und bin ich immer hin und her gesprungen. „Das Objekt ist schön“, hab ich gedacht, und dann gleichzeitig: „Ah! Das ist ein Gedanke, also denke ich ‚das Objekt ist schön’“.

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Immer zwischen beiden hin und her. Das hat mich dazu gebracht, nichts weiter zu denken, immer nur zwischen den beiden.

Nichts weiter, ja, völlige Fixierung. Unangenehm?

Nee, schön.

Schön angenehm? Das war eine Reduzierung auf etwas Wesentliches. Ja, o.k.

Teilnehmer: Das zählen selber war schon ein Gedanke.

Das zählen selbst war auch schon wieder ein Gedanke, ja!

Teilnehmerin: Also, ich habe das so beobachtet, dass die Gedanken selber aus verschiedenen Epochen meines Lebens kamen, das blubberte so, ziemlich unzusammenhängend. Zuerst waren es sehr deutliche, sehr starke Gedanken, die habe ich sofort auch visualisiert.

Du bist jetzt bei der dritten Übung oder bei den ersten beiden?

Ich bin jetzt bei der ersten. Also, zuerst habe ich so was wie ‚Vater’ gesagt oder ‚Mutter’, als Kind. Das war sehr, sehr deutlich, aber es kam einer nach dem anderen, das blubberte so wie in einem See. Dann hab ich gedacht, „Mensch, das ist ein totales Schauspiel.“ Das war auch wieder ein Gedanke, und dann wurde das immer langsamer, und dann habe ich es nicht mehr so erkennen können. Da war Bewegung, da war auch ein Gefühl, aber ich konnte den Gedanken nicht mehr einfangen.

O.k, da war was und es war doch nicht identifizierbar?

Ja.

Und warum war das nicht identifizierbar?

Das war ungefähr so, als wenn ein Pferd ein Gewicht zu ziehen beginnt, dann geht das zuerst ziemlich schnell und dann wird das immer langsamer, langsamer, langsamer, und irgendwie bleibt das stehen.

O.k. Andere Beobachtungen.

Teilnehmerin: Ich hab 10 Gedanken gehabt.

Sehr gut, 10 Gedanken.

10 Gedanken, beide Male, und dann, wie wir das gemacht haben mit sich das ausmalen, hab ich über den Sommerurlaub nachgedacht und das war voll entspannend. Ich glaube, wenn ich unter anderen Umständen über den Urlaub nachdenken würde, wäre ich eher hektischer.

Ja, es war eher ein konstruktives Denken.

Ja, es war konstruktiv. Ich habe mir ein paar schöne Sachen vorgestellt und dann auch so eine kleine Sorge, aber es hängt ja von mir ab, ob es so weit kommt. Es war irgendwie sehr entspannt.

Hast du es geschafft, die ganze Zeit zu füllen oder waren irgendwo Stockungen im Denken?

Nein, die ganze Zeit, es war so schön, durchgehend.

O.k. Wie ging es den anderen?

Teilnehmerin: Bei der zweiten Übung habe ich begonnen, in ein Gespräch hineinzugehen. Das ist aber mühselig geworden, und ich hab mir gedacht: „Ich mag nicht mehr!“ und hab mich nur mehr auf meinen Atem konzentriert.

Und dann? Hattest du dann noch gedacht oder nicht mehr?

Ja, wenn ich sage: „Einatmen – Ausatmen“, dann schon noch. Aber es war sehr entspannt.

Ach, das hast du dir dann noch gesagt? O.k. Also wie eine Müdigkeitsrevolte gegen das Denken und dann war erst mal Schicht und etwas ganz Einfaches war dann noch. O.k.

Teilnehmer: Bilder sind auch Gedanken.

Ja.

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Bei mir war das so ein Mix: ein Gedanke, und dann schießt so ein Bild daher – ich war in irgendeiner Straße – und das irritiert mich dann manchmal, weil ich denke: „Wo kommt dieses Bild her?“ Manchmal mehr als Gedanken sogar.

Das heißt, du hast eine ziemliche Überraschung bemerkt, du warst mit anderen Gedanken beschäftigt und dann schossen so seltsame Bilder ein, wo der Zusammenhang nicht ganz klar war.

Teilnehmer: Ich konnte nicht so richtig unterscheiden oder entscheiden, wann jetzt ein Gedanke aufhört und der nächste anfängt. Dieser Übergang war mir nicht sehr klar und deswegen hatte ich auch Schwierigkeiten beim Zählen. Und beim zweiten Mal hab ich deutlich gemerkt, dass Gedanken eben nicht nur verbal sind, sondern dass Gedanken auch Sinneseindrücke sind und ich hab einfach wahrgenommen, was so im Augenwinkel passiert ist und auch akustisch. Aber es hat sich nicht formuliert. – Ich hab’s als Gedanken, als Bewegungen wahrgenommen.

Ja, ganz interessante Beobachtungen. Du hast also erst mal mit der Schwierigkeit zu tun gehabt, einen Gedanken zu isolieren innerhalb eines Gedankenflusses. Was ist eigentlich jetzt der einzelne Gedan-ke? Du bist mit dem ziemlich komplexen Geschehen konfrontiert, hast bemerkt, dass es gar nicht einfach ist, zu sagen, ob das jetzt ein Gedanke war, der so viel enthält, oder das viele Untergedanken waren? Das wäre die erste Beobachtung. Die zweite ist, dass du diese Gedanken und Sinneswahrneh-mungen verglichen hast, dass du gemerkt hast, beides sind irgendwie gleichwertige Bewegungen im Geist – Das müsste man eigentlich Geistesbewegungen nennen, Bewegungen im Geist.

Und bei der dritten Übung: Ich konnte nicht auf Befehl denken, das war alles chaotisch.

Das hat gedacht, aber es war ziemlich chaotisch. Mmh.

Teilnehmerin: Mein Geist lag auf der Lauer, ganz intensiv mit dem Gedanken: „Ich muss jeden Gedanken erwischen, es darf keiner verloren gehen!“ Das war der Hauptgedanke, der blieb dann als Hauptgedanke da und dann schlichen sich zwei, drei kleine Gedanken ein und die hab ich sofort schon unterbrochen, weil dieser Hauptgedanke sagt: „Ah, jetzt hab ich sie ertappt!“

Das heißt, die konnten sich gar nicht entwickeln? Die haben eins auf den Deckel gekriegt. O.k.

Es ist ganz wunderbar, welche Vielfalt ihr berichtet habt. Das alles sind Erfahrungen, die wir als Meditierende mit unserem Denken machen. Mir sind die alle vertraut. Alles, was ihr beschreibt, ist auch Teil meines Erlebens und scheint Teil des Erlebens vieler Menschen zu sein.

Ein Phänomen ist das Katz-und-Maus-Phänomen. Das heißt, wenn die Katze vor dem Mauseloch liegt, dann trauen sich die Mäuse nicht raus. Wenn das Gewahrsein so stark ist, so präzise ist, die Gedanken wahrnehmen zu wollen, kommt es zu keinem Gedanken. Es kommt zu keinem Denken. Das Gewahr-sein, das auf seine eigene mögliche Bewegung gerichtet ist, macht es unmöglich, dass ein Gedanke auftaucht.

Eine mildere Form dieses Phänomens, wo das Gewahrsein nicht ganz so intensiv ist, ist vergleichbar damit, dass sich die Maus traut, ihre Schnauze aus dem Loch heraus zu stecken. Ganz kurz, sofort ist sie wieder weg. Dieses Erleben wurde in der letzten Wortmeldung beschrieben.

Wenn das Gewahrsein etwas entspannter ist – wie in unserem Vergleich, wo die Katze gerade nicht die Absicht hat zu fangen, sondern wirklich nur beobachtet und es sein lässt – da kommen Phänomene wie, dass man z.B. zehn Gedanken oder sechs Gedanken zählen kann. Man ist nicht so auf der Lauer, sodass es nicht zum völligen Unterbinden des Denkens kommt. Es kommt zu Gedanken, aber die sind sehr kurz. Sie sind relativ kurz, weil das Gewahrsein sie bemerkt. Habt ihr bemerkt, dass die Gedan-ken abbrechen, wenn ein Bemerken des Denkens stattfindet? Denken, das spontan passiert, ist nicht möglich, wenn es ein Gewahrsein des Denkens gibt. Das ist ganz anders als bei der dritten Übung.

Bei der dritten Übung gibt es ein Gewahrsein, dass wir denken. Aber wir denken bewusst und gezielt. Wir können unbeschränkt denken, obwohl wir des Denkens gewahr sind. Das ist eine ganz andere Form des Denkens. Bei dem Denken, wo der Beobachter sozusagen wartet, und wir schauen was kommt, kommt es darauf an, wie entspannt die beobachtende Funktion ist: „Kommt es zum Auf-tauchen von Gedanken oder nicht?“ Deswegen habe ich euch bei der zweiten Übung ermutigt, die Ge-danken einmal kommen zu lassen: „Ihr braucht jetzt nicht wenige Gedanken zu haben, lasst sie mal

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kommen!“ Es gibt nämlich auch ein Beobachten des spontanen Denkens, was eine deutlich schwieri-gere Aufgabe ist als so gewahr zu sein, dass keine Gedanken auftauchen. Sich des spontanen Denkens gewahr zu sein und es gleichzeitig trotzdem ununterbrochen ablaufen zu lassen, ist eine recht diffizile Aufgabe, weil es eine sehr entspannte, nicht bewertende Achtsamkeit braucht.

Diese Fähigkeit braucht man auch beim luziden Träumen. Wenn wir merken, dass wir träumen, ist normalerweise der Traum zu Ende. Um weiterträumen zu können, brauchen wir die Fähigkeit, bewusst zu sein, dass es sich um einen Traum handelt, aber ohne den etwas zu intensiven Kommentar: „Oh! Das ist ein Traum!“ Es braucht innere Entspannung; dann kann sich das Geschehen weiter entwickeln.

Manchmal sind wir etwas weniger gewahr. Dann merken wir zwar, dass ziemlich viel in unserem Geist los ist, aber es ist so viel los, dass wir die Gedanken nicht unterscheiden können: Was sind die groben Gedanken? Was sind die kleinen Flitzer? Oder wir bemerken nur die groben Gedanken und die vielen kleinen geistigen Bewegungen kommen gar nicht ins Bewusstsein. Oder – was vorhin beschrie-ben wurde – man bemerkt zwar halb bewusst, dass da viele kleine Flitzer sind, aber sie zeigen sich dem Gewahrsein nicht deutlich genug, um genau erkannt werden zu können.

Im Nachhinein lässt sich die Bewegung solch eines kleinen Flitzers noch wahrnehmen. Es ist fast so, dass man ein bisschen wegschauen muss und nachher noch einmal schaut, was denn da grade war. Wenn man direkt drauf schaut, sind diese kleinen Flitzer oft zu schüchtern, um sich zu zeigen. Sie sind zu subtil. Es handelt sich um nonverbale Gedanken. Diese kleinen Flitzer prägen keine Sätze, sie sind ganz fein und ziemlich ‚schüchtern’. Das ist so wie bei den gröberen Gedanken, wenn zu viel Wollen im Gewahrsein ist, zeigen sie sich nicht. Und wenn wir abgelenkt sind, kriegen wir sie auch nicht mit. Es braucht also eine Zwischenform. Wir nehmen die Aktivität dieser Flitzer eigentlich nur wahr, wenn danach ein offener Raum ist, in dem man die Auswirkungen dieser geistigen Bewegungen noch im Nachhinein spüren kann. Das ist ein ganz feines Geschehen, was sich da innerlich abspielt.

Je nachdem wie intensiv unser Gewahrsein ist, können wir tatsächlich in Bereiche des Nichtdenkens gehen, wo gar keine Bewegungen auftauchen, wo die großen Bewegungen zwar aufgehört haben aber die kleinen, die nonverbalen Bewegungen noch stattfinden. Oder wir können uns so weit zurück-lehnen, dass das ganze karmische Feuerwerk sich auch zeigt. Oder wir können bewusst aktiv denken. Wir können ganz gezielt denken, nachdenken, ausmalen. Das sind verschiedene Möglichkeiten, die wir zur Verfügung haben. – Habt ihr dazu noch Nachfragen und Bemerkungen?

Teilnehmerin: Ich habe manchmal so viele Gedanken und Impulse, auch in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann. Ich wende dann Dharma-Methoden an, um das wertfrei kommen und gehen zu lassen, auch mit einer gewissen Neugier. Und es ist auch Angst da, verrückt oder depressiv zu werden. Manchmal denke ich, es ist vielleicht ein Zeichen, noch mehr Vertrauen zu haben.

Es spricht mich sofort an, wenn du von Vertrauen sprichst. Ich habe das Gefühl, da ist ein Schlüssel. Angst und Vertrauen sind Gegenspieler, ob das Vertrauen, von dem du sprichst, der Schlüssel ist, kann ich nicht sagen. Aber das Vertrauen in die Selbst-Befreiung aller Gedanken, in die Selbst-Befreiung des Geistes wird auf jeden Fall helfen.

Es ist auch bekannt, dass die Angst, nicht schlafen zu können, das Ganze noch verstärkt. Wenn wir ak-zeptieren, jetzt nicht zu schlafen und vorübergehend für eine oder zwei Stunden die Nacht zum Tag machen, uns aufsetzen und mit mehr Bewusstheit da sind, so kann das durchaus hilfreich sein. Nicht in diesem Halb-Schlaf-Halb-Wach-Zustand zu bleiben, sondern sich zu sagen: „Okay, ich habe einige Stunden geschlafen, jetzt bin ich für eine Stunde wach, und die nutze ich“, und dann auf eine ganz ruhige Art versuchen, das was auftaucht, sich befreien zu lassen bis wieder Müdigkeit kommt, die den nächsten Schlafzyklus ermöglicht. Das ist ein Weg, wie es gehen könnte.

Es geht um diese Gewissheit, dass sich jeder Gedanke, an dem wir nicht haften, von selbst befreit, dass kein Gedanke, kein Bild, kein Eindruck uns zerstören kann. Dass nichts von all dem die Kraft hat, uns grundlegend zu zerstören oder uns was anzuhaben, anzutun, dass alles sein darf, und wenn wir nicht dran festhalten, es ungefährlich ist. Immer mit diesem Wörtchen „wenn“, denn die Psychose entsteht durch das Greifen an dem sich beschleunigenden Geist.

Wenn da Ängste und Greifen und so weiter reinkommen, dann können sich natürlich Wahngebäude aufbauen und alles wird immer schlimmer. Der wichtigste Schlüssel überhaupt, wenn wir mit dem Geist arbeiten, ist zu wissen: egal was auftaucht, es braucht im Grunde genommen keine Hilfe, um es

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aufzulösen. Die Hilfe ist das nicht danach Greifen, sich nicht identifizieren, ihm keine übertriebene Wichtigkeit zu geben und dergleichen.

Teilnehmerin: Ja. Es befreit sich zwar jeder Gedanke von selber, aber es kommt ja ständig was nach. Diese Unruhe…

Ja, das ist jetzt auch wieder ein Paradox, mit dem wir uns dann rumschlagen. Die Anspannung, dass es aufhören soll, bewirkt dass es nicht aufhört. Es ist ein ganz verflixtes Ding, das wir zu lösen haben. Wir müssen uns aus der Abneigung gegen dieses Überschwemmt-Werden von Gedanken und Denken – obwohl wir gar nicht denken wollen – lösen in Richtung Akzeptanz. Es geht darum, diese geistigen Bewegungen zu durchschauen, sodass sie uns nicht mehr als Dämonen oder aggressiv vorkommen, sodass wir uns von unseren eigenen Gedanken wie belagert, belastet fühlen. Wir müssen sie als das spontane Feuerwerk des eigenen Geistes betrachten, mit dem wir tatsächlich auch in die Ruhe hinein finden können. Ein ganz schwieriger Weg, aber möglich.

Das Kämpfen gegen die eigenen Gedanken wird in den Dharma-Kommentaren und auch von den Lehrern so beschrieben, dass wir den eigenen Geist zum Feind machen. Das ist ein Dilemma, aus dem wir nicht herausfinden. Wenn wir im Kampf mit unseren Gedanken sind, baut sich das immer weiter auf bis wir erschöpft sind und nicht mehr kämpfen können. Dann ist für einen Moment Ruhe, aber sobald wir wieder ein bisschen Kraft haben und der Zirkus wieder anfängt, sind mit dem lebendiger werdenden Geist auch wieder unsere Kampfkraft und das Ablehnen dieser Lebendigkeit da. Du scheinst einen sehr lebendigen Geist zu haben, und irgendwie musst du mit diesem lebendigen Geist in Frieden kommen. Einen lebendigen und sehr kreativen Geist zu haben, ist etwas Wunderschönes, aber gleichzeitig auch eine irre Herausforderung.

Ich lade euch jetzt zu einem Spielchen ein, ein ganz einfaches Spiel.

Ihr kennt vielleicht das alte Beispiel für vollständige Achtsamkeit mit Anstrengung aus dem Ozean des wahren Sinnes. Unter Todesandrohung wird jemandem gesagt: „Wenn du es schaffst, diese bis zum Rand mit Sesamöl gefüllte Schale durch die Menge auf dem Marktplatz zu tragen, ohne einen Tropfen zu verschütten, dann bist du frei. Wenn du auch nur einen Tropfen verschüttest, wirst du geköpft!“

Diese Aufmerksamkeit, die da beschrieben wird, beschreibt auch das eine Extrem der Spannbreite von Meditation. Völlige, völlige Achtsamkeit! Aber die Achtsamkeit muss natürlich so sein, dass sie uns nicht zum Zittern bringt. Auf der anderen Seite des Spektrums haben wir die völlig entspannte Medi-tation. Dazu gibt es Beispiele wie eine völlig lockere Bramahnenschnur, die völlig lose um den Hals hängt. Oder rang bab, alle vier Glieder sind einfach von einem weggestreckt. Oder so wie ein Trottel, der seine Kühe hütet. Auf dieser Seite des Spektrums ist also eine solche Sorglosigkeit, dass wir ein-fach alles laufen lassen und uns nicht drum kümmern, völlig entspannt. Und eben die völlige Konzen-tration, wo es um alles geht, auf der anderen Seite des Spektrums.

Ich möchte mit euch beides üben, dass ihr beides als Erfahrungen in euch verankert, um wechseln zu können. Ihr sollt das Spektrum kennen lernen, das wir nutzen, um zur rechten Anstrengung zu kom-men. Der Buddha hat immer über rechte Anstrengung gesprochen. Rechte Anstrengung ist aber nicht die Mitte zwischen diesen beiden. Es ist zu wissen, wann wir was brauchen. Die rechte Anstrengung ist immer in Übereinstimmung mit unserem jetzigen Geisteszustand. Wann brauchen wir welche Form der Anstrengung? Wir müssen das ganze Spektrum nutzen können.

Die meisten Praktizierenden nutzen weder die volle Konzentration noch die volle Entspannung. Die volle Entspannung trauen sie sich nicht, weil sie denken, „Da hänge ich ja nur schlaff rum!“, und die volle Konzentration nutzen sie auch nicht, weil sie das irgendwie für zu anstrengend halten oder zu martialisch oder was auch immer.

Übung: Volle Konzentration – Völlige Entspannung Wir nehmen uns Schalen, füllen sie bis zum Rand mit Wasser und gehen damit durch den Hof. – Ich habe das im Retreat-Zentrum üben lassen, die Retreatler haben einen Heidenspaß daran gehabt. – Aber ich komme dann mit der Wasserkanne! Nicht um euch nass zu machen, sondern um euch immer noch ein paar Tropfen mehr in die Schale zu tun, sodass ihr merkt, wie es immer schwieriger wird. Wie es

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immer mehr Konzentration braucht und wie wir auch immer entspannter werden müssen in der Konzentration. Ihr braucht nicht alle mitzutun. Diejenigen, die Lust haben, schnappen sich am besten so eine durchsichtige Glasschale. Wer seine Übung gemacht hat, der hängt sich irgendwo auf einen Stuhl oder in eine Ecke oder in die Wiese und übt rang bab: Alle Viere von sich strecken, völlige Entspannung.

* * *

Erfahrungen der Teilnehmer

Anspannung und Entspannung. – Wie ging es euch damit? Ganz kurz. Wie habt ihr es erlebt? Natür-lich war es auch eine Gaudi, aber konntet ihr trotzdem die Qualität der konzentrierten Achtsamkeit spüren?

Teilnehmerin: Wenn andere Qualitäten, z.B. Ehrgeiz dazukommen, wird dieses weiche Gewahrsein wieder gestört, es wird zur Blockade.

Ja, und dann auch das Loslassen des Ehrgeizes und es fließt wieder.

Teilnehmer: Ich konnte am besten halten, wenn ich in einer entspannten Anspannung oder einer ange-spannten Entspannung war und nicht, wenn ich mich total angestrengt habe.

Ja, eine entspannte Konzentration in dem Fall.

Teilnehmerin: Es ist ein Unterschied, ob man wirklich die Drohung bekommt, dass man den Kopf abgeschlagen kriegt, oder man sich einfach konzentriert. Den Unterschied kenne ich, weil ich als Kind unter Androhung Arbeiten verrichten musste, und das ist ein ganz krasser Unterschied.

Ja! Um mir das rechte Maß von Konzentration und Entspannung klarzumachen, stelle ich mir oft vor, was es für eine Form der Präsenz braucht, um zum Beispiel über eine dieser schmalen Brücken zu gehen, die über die Abgründe im Himalaya gespannt sind. Da fehlen zum Teil die Brettchen, und da sind nur zwei Seile unten und ein Seil oben. Wenn da zu viel Angst reinkommt, fängt alles an zu wackeln und zu schaukeln, und man schafft es nicht. Man muss irgendwie aus der Angst herausfinden und schon möglichst entspannt bleiben, kann sich aber keinen Fehltritt erlauben. Das war vorhin mit entspannter Anspannung, entspannter Konzentration gemeint. – Und natürlich ist die Androhung von Strafe und so nicht sehr förderlich.

Nee, ich kann mich erinnern, erst recht gelingt das dann nicht.

Dann gelingt es erst recht nicht. Normalerweise beginnen wir dann zu zittern und es entstehen Blocka-den… Zum Glück war jetzt keiner mit dem Schwert hinter uns.

Teilnehmer: Das Wasser hat sich entwickelt zur Essenz des Lebens, und es hat sich ein Gewahrseins-raum über die Konzentration auf das Wasser entwickelt. Und in der Nachphase, der Entspannung, hat sich eine Wand gebildet und darauf waren mit Goldfarbe ganz fein Figuren aus alten Jahrhunderten gemalt. Ich habe das mit der Essenz des Wassers in Verbindung gebracht.

O.k., danke. Andere Erfahrungen mit diesen Übungen?

Teilnehmer: Ich war in einer gewissen Grundspannung und auch durch die Übung ein bisschen irritiert und habe gemerkt, dass ich nicht so viel Freiraum habe nach oben und nach unten. Freiraum, um konzentriert zu arbeiten und ganz angestrengt, und auch Freiraum zu entspannen. Es war ganz eng.

Ich höre da so ein Bedürfnis, diesen Raum ein bisschen auszuweiten.

Ja.

Teilnehmer: In beiden Extremen war es so, dass ganz kurzzeitig mal irgendetwas nicht mehr war, nicht mehr da war. So ein Wegtreten – des Ich, könnte man sagen, und zwar auf beiden Seiten dieser Möglichkeiten.

Ja, interessant dass du das ansprichst. Ich fragte mich, ob das jemand ansprechen würde. Denn in beiden Formen gibt es die Möglichkeit, dass sich völlige Offenheit auch einstellt, dass wir uns wie vergessen in dieser Form des Seins. In allen Formen der Meditation gibt es die Möglichkeit, dass sich

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alles öffnet – in der vollen Konzentriertheit, wie auch in der völlig entspannten Form, und auch in allen Zwischenstufen. Danke dass du es ansprichst. Das sage ich deswegen und bin deswegen auch froh, weil so mancher meinen könnte, dass wir uns in der Anstrengung vielleicht nicht vergessen könnten. Aber immer wieder berichten Menschen, dass es gerade bei Anstrengung passiert, dass sich alles öffnet.

Teilnehmer: Ich habe mich nicht vergessen, aber ich war nur Füße. Meine ganze Konzentration war gar nicht hier bei der Schale, die war nur dabei, wie der Fuß aufsetzt.

Ja, das ist auch eine ganz interessante Beobachtung, dass du mit deiner ganzen Achtsamkeit an den Ort gingst, wo die größte Bewegung stattfand. Das andere hast du dann stabilisiert und bist mit den Füßen gegangen.

Teilnehmer: Ich habe beobachtet, dass ich mich im Freien noch selten auf etwas so Elementares konzentriert habe, beim Entspannen war mir das natürlicher.

Ja, danke. Wie war es mit der Qualität des Gewahrseins in den beiden Extremen? War weniger Achtsamkeit und Gewahrsein dann im Entspannen? Wie war das für euch? Oder war mehr? Oder kann man das gar nicht vergleichen, war es ganz anders?

Teilnehmer: Beim Entspannen wird der Gewahrseinsraum größer, wenn ich mich nicht mehr konzentriere.

Ja, das ist oft so.

Teilnehmer: Ich dachte nach beiden Übungen, dass sie gar nicht unterschiedlich sind. Dann dachte ich, ich hätte vielleicht etwas falsch gemacht, dass ich bei der ersten nicht achtsam genug war. Aber ich war noch so ruhig von der Sitzung und deshalb war die Schale fast wie ein Teil von mir und so konnte ich ganz ruhig gehen, mit offenem Gewahrsein. Und das war bei der anderen Übung auch. Ich dachte, der Unterschied ist gar nicht so groß.

Du beschreibst, dass alle drei Situationen insofern gar nicht unterschiedlich waren, weil du innerlich eins warst, obwohl sie äußerlich unterschiedlich waren.

Teilnehmer: Bei mir hat sich eher bei der konzentrativen Übung mehr Entspannung eingestellt, weil ich gar nicht über Entspannung nachgedacht habe. Ich hab die Schale gehalten, dann kam der Wind, das Gehen, das wurde alles ein großes Hin und Her wie so ein Wiegen, und es war auch nicht weiter anstrengend. Beim Entspannen hab ich mich hingelegt und dann kam der Gedanke: „So, jetzt geht das Entspannen los!“ Das war dann eher eine Müdigkeit, ein Wegsacken. Und dann kam der Gedanke: „Na ja! Das sollte es aber nicht sein!“ Dann war es wieder o.k. und ich hab es einfach gelassen.

Das ist auch hochinteressant, was du beschreibst. Diese Form von konzentrierter Präsenz kann total entspannend wirken auf uns. Es ist solch eine Vereinfachung der inneren Abläufe, so eine Erleich-terung im Vergleich zu dem Wuseln, das sonst stattfindet im Geist, dass wir das als richtig heilsam erleben.

Umgang mit Aufgewühltsein und Dumpfheit Und damit möchte ich euch aufmerksam darauf machen, wie wir in der Meditation mit Aufgewühlt-sein und mit Dumpfheit umgehen. Ihr wisst, dass das Agitierte und das Dumpf-Schläfrige, die beiden großen Schwierigkeiten in der Meditation sind. Und jetzt sollte man meinen, dass es klar ist, was das Heilmittel für welche dieser Formen ist. Aber das ist gar nicht klar. Das heißt, wenn ich aufgewühlt bin, kann es sein, dass mir Entspannung hilft. Es kann aber auch sein, dass mir Konzentration hilft. Das muss ich erst noch herausfinden.

Wenn viele Gedanken im Geist sind, dann kann sein, dass sich daran überhaupt nichts ändert, wenn ich entspanne, sondern dass es sogar noch mehr wird. Es kann aber sein, dass es sich beruhigt. Wenn ich mich konzentriere, dann kann sein, dass alles noch viel schlimmer wird oder dass es genau die Vereinfachung bringt, die Ausrichtung, die notwendig ist, um aus all dem anderen auszusteigen. Die Meditierenden müssen selber herausfinden, was gerade passt. „Was tut mir denn da gut?“

Wir müssen einfach auch ein bisschen probieren. Das heißt, wir lassen es nicht einfach so, wie es ist. Wenn es uns nicht möglich ist, in die Natur dieser Gedanken hineinzuschauen und sie dadurch auf-

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zulösen – wenn wir in der Praxis noch Mittel anwenden, um die Meditation in Ausgeglichenheit zu bringen – haben wir immer diese beiden Möglichkeiten: etwas mehr Energie in die Praxis zu geben oder uns herauszunehmen und mehr in Richtung Entspannung zu gehen. Wir haben grundlegend immer diese beiden Möglichkeiten.

Und ein dumpfer Geist? Es kann sein, dass der Grund für diese Dumpfheit, für diese mangelnde Klar-heit, ein Übermaß an Wollen, an Anstrengung ist. Habt ihr schon einmal gemerkt, dass euer Geist durch Klarsein-Wollen unklar wird? – Einige nicken mit dem Kopf, andere wissen das noch nicht. – Das ist ein häufiges Phänomen in der Meditation: Wir wollen meditieren, setzen uns hin, und unser Geist wird unklar. Da besteht ein Übermaß an Wollen und Anstrengung. Und obwohl der Geist in diesem Fall dumpf ist, hilft entspannen, loslassen von allem Wollen, alle Viere von sich strecken. Man schläft dann gar nicht ein. Man denkt zwar, dass die Gefahr besteht einzuschlafen, wenn man es dann aber ausprobiert, ist es gar nicht so. Dieses Entspannen hilft dem Geist, in sein Gleichgewicht zu finden. Aus diesem Gleichgewicht heraus kann ich mich dann aufsetzen und passe auf, dass ich nicht mehr Anstrengung mache, bloß weil ich mich jetzt aufsetze oder weil ich beginne, aufrecht präsent zu sein.

Wenn der Geist dumpf ist, ist häufiger der Fall, dass wir etwas mehr Konzentration brauchen, dass wir mehr Energie in die Praxis geben müssen und uns das gut tut. Das ist aber nicht immer der Fall. Es kann sein, dass mehr Konzentration das Ganze noch verschlimmert. Die Praktizierenden sind dann total verzweifelt, weil sie ihr Bestes versuchen. Sie sind dumpf oder schläfrig, machen mehr An-strengung und alles wird noch schlimmer, sie kommen nicht aus dem Dumpfen heraus. Da gibt es so manchen, der nie versucht, die andere Seite auszuprobieren – die Entspannung im Vertrauen, dass sich der Geist selber aus der Verwicklung löst und wieder in seine natürliche Klarheit hinein findet. Das ist total anstrengend, wir kämpfen ständig gegen unsere Müdigkeit, Schläfrigkeit, gegen die Dumpfheit des Geistes und fühlen uns so schwer. Das an sich ist schon schwer, und dann kämpfen wir noch dagegen, erschöpfen uns dabei und erschöpfen uns immer mehr. Achtet bitte darauf!

Natürlich kann man unterscheiden, was gerade zu tun ist. Wer seinen Geist gut kennt, weiß ziemlich genau, was einem wann gut tut. Aber zu Anfang wissen wir das noch nicht so sicher, und es ist gut, beides auszuprobieren. Der 9.Karmapa empfiehlt, zwischen Anspannung und Entspannung abzu-wechseln, um zu merken, wie viel Anspannung uns gut tut und wie viel Entspannung uns gut tut. Man kann das aber nicht von vorne herein sagen, was gut tut, wir müssen wechseln.

Ich habe zwar das Tragen der Schale vorhin nicht mitgemacht, aber ich war trotzdem mit euch dabei, und der Wechsel der beiden hat auf mich total belebend und erfrischend gewirkt. Zwischen An-strengung und Entspannung zu wechseln ist sehr belebend für den Geist. Und das könnt ihr euch für jede Form der Meditation merken: Achtet darauf, nicht nur entspannte Meditation zu praktizieren, sondern gelegentlich auch eine richtige kleine Anstrengung zu machen. Zum Beispiel sauber zu visua-lisieren, eine Anstrengung im Visualisieren zu machen. Oder dem Atem wirklich zu folgen, keinen Moment der Erfahrung des Atems entwischen zu lassen, wirklich richtig dabei zu sein. – Vor und zurück. – Da wird unser Geist dann wirklich viel flexibler, als wenn wir nur eine Art des Praktizierens üben, die sich für die meisten Situationen vielleicht bewährt, aber auch nicht für alle.

Teilnehmer: Ich kann das bestätigen. Ich habe in der letzten Zeit meistens Meditationen in Richtung Entspannung gemacht, einfach alles anzunehmen, was ist. Gestern bei der Meditation auf ein visuelles Objekt, was mich früher gar nicht weiter gebracht hat, war das total intensiv und ich war hinterher völlig entspannt.

Das klassische Beispiel für rechte Anstrengung ist der Bogen, der mit einer Sehne gespannt wird. Die-ses Beispiel hat Buddha Shakyamuni häufig benutzt. Dabei sollte die Sehne des Bogens weder zu straff sein – dann bricht der Bogen – noch zu lasch, dann kann man keinen Pfeil damit abschießen. Ein anderes Beispiel ist die Saite einer Laute, die weder zu straff sein sollte – dann reißt sie – noch zu locker, dann gibt sie keinen Klang.

Was ist mit Klang und Abschießen des Pfeiles gemeint? Das Gewahrsein. All dieses Austarieren in unserer Praxis dient dazu, ein möglichst offenes, klares Gewahrsein zu ermöglichen. Dann sind Saite bzw. Bogen richtig gespannt und es kommt zum Erklingen unseres Geistes oder zum Abschießen des Pfeiles des Gewahrseins. Das Kriterium für die richtige Anstrengung ist also, ob sie tatsächlich dazu führt, dass sich unser Gewahrsein öffnet, seine natürliche Frische findet, klar, sorgenfrei und so weiter

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wird, sodass all die Qualitäten eines frischen Gewahrseins zum Vorschein kommen. Das ist die rich-tige Form zu meditieren zum gegebenen Zeitpunkt.

Das kann bei dem Einen passieren, wenn er alle Viere von sich streckt. Es kann sein, dass der Geist sich gerade dann völlig öffnet. Bei einem Anderen ist es bei völliger Präsenz und Einsgerichtetheit auf etwas. Bei anderen in normaler Sitzposition, ohne speziell etwas zu tun, es ist das Loslassen allen Wollens, wobei der Körper aber noch gerade bleibt. – Es ist in jeder Position möglich. Es kann im Schlaf passieren. Im Traum, im Tiefschlaf wie bei den Yogis, die mit der erhellenden Klarheit arbei-ten. Es gibt keine Situation im Leben, wo es nicht passieren könnte.

Wir müssen herausfinden, was unserem Geist gut tut, um diese Öffnung zu ermöglichen, und zwar immer jetzt grade. Es tut mir sehr leid, dass wir in solchen Gruppen-Meditationen in einem etwas engeren Feld praktizieren, wo wir die Extreme nicht so stark nutzen können. Aber nutzt in eurer persönlichen Praxis den gesamten Spielraum! Und habt Vertrauen darin, dass alle Formen, alle Hal-tungen möglich sind, und schaut immer auf den Geist. Wie reagiert der Geist?

Das ist ganz spannend. Wenn ich z.B. im Lotus sitze, spüre ich, dass mein Geist klar ist. Wenn ich dann auch nur ein Bein ausstrecke, hat schon das eine Auswirkung auf den Geist. Es entspannt ihn bei mir etwas, beruhigt ihn etwas, aber es kann auch schon der Einstieg in Dumpfheit sein. Wenn ich dann merke, dass etwas dumpfere Empfindungen in den Geist kommen und das Bein wieder zurücklege, klärt sich der Geist wieder. Alles hat Auswirkungen. Untersucht das! All diese Zusammenhänge zu kennen und damit ganz geschickt umzugehen, macht einen Yogi aus. So befindet er sich immer in einem wachen Zustand des gewahren Seins. Wir nutzen all diese Möglichkeiten.

Sich als Künstler ganz vergessen – Erwachen?

Teilnehmerin: So stark in die Übung hineinzugehen, dass ich mich dabei verliere, das kenne ich aus der künstlerischen Arbeit, wenn man so dabei ist und man so sagt: „Da vergesse ich mich ganz“. Ist das Offenheit des Geistes, Entspannung? Ich hätte gedacht, das hat ja auch etwas mit Begeisterung und Faszination zu tun.

Ja, denke ich auch.

Dann ist es aber nicht unbedingt eine Offenheit des Geistes. Weil in dem Moment, wo ich von Faszination spreche, ist ja auch eine Form von Anhaftung dabei. Das ist mir jetzt nicht ganz klar.

Ich denke, das nimmst du richtig wahr. Das kannst du untersuchen. Es gibt Formen des kreativen Schaffens, wo wirklich Momente der Offenheit sind, des Nicht-Fixierens, des Nicht-Verfolgens von persönlichen Zielen und andere, die völlige Fixierungen sind. Das ist nicht per se gesagt. Die meisten künstlerischen oder kreativen Prozesse sind Prozesse von Fixierung, von Faszination, nicht von Offenheit und Gleichmut und so. Aber es gibt auch andere Momente, die dürfen wir auch nicht leugnen. Das ist einfach so, weil die meisten Künstler nicht wirklich in der Entspannung und Offenheit sind, wenn sie kreativ sind.

Teilnehmerin: Weißt du das?

Bei jenen, die ich kenne – und ich kenne eine ganze Reihe – da ist das schon der Fall, ja.

Teilnehmerin: Das kann ich nur bestätigen.

Jaja.

Teilnehmerin: Ich kenne auch den Aspekt – ich bin Malerin, deshalb denke ich, kann ich auch sprechen – dass ich selten an die Stelle komme, wo ich im Fluss bin. Ich finde, das ist dann der offene Geist, wo ich also arbeite und mich nicht irgendwo fixiere. Ich weiß von anderen Menschen, die künst-lerisch arbeiten, die sagen, dass sie in einen Zustand kommen, wo sie nicht wissen, dass sie das eigentlich selber gemacht haben.

Ja, die Künstler sprechen oft darüber, sind aber oft nicht da drin und dieses Fließen ist noch nicht der nonduale Zustand. Das ist noch nicht das Erwachen, von dem wir sprechen.

Teilnehmerin: Aber wenn dann neue Formen entstehen, die dann auch wirklich überzeugen und das auch über Demut passiert…

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Ja, das sind alles Qualitäten des Geistes. Aber diese Künstler kommen mit derselben Ichbezogenheit aus diesen Prozessen heraus, die sie vorher auch hatten. Das sind Momente von Demut und Offenheit, die wir nicht leugnen, aber es sind nicht die Prozesse, die zur Erleuchtung führen. Anteile davon sind zu spüren. Es ist sehr selten, einen erleuchteten Künstler zu finden. Dann wäre es nämlich ein Weg der Befreiung. Wenn das, was du beschreibst, das Erwachen wäre, dann müsste man ja davon ausgehen, dass Künstler mit der Zeit immer weniger egozentrisch wären, immer offener…

Ja, im Ideal.

Ja, aber die Summe dieser Erfahrungen müsste das ja dann schon bewirken. Wenn sie das nicht be-wirkt, dann müssen wir einen gewissen Zweifel haben. Da ich selber nicht Künstler bin, kann ich nur sagen, sie müssten eigentlich noch genauer hinschauen, in was für einem Zustand sie da eigentlich sind. Gehen sie in eine Art von Trance? Gehen sie in eine Art subtile Faszination, die alles andere ein-fach ausgrenzt wie in einem Shine-Zustand – Geistesruhe mit einem hohen Maß an Präsenz, in dem große Erfahrungen von Fluss stattfinden können? Aber es ist noch nicht das Erwachen, von dem wir sprechen. Da muss man dann mit jedem Künstler darüber sprechen. Ich kenne das von Musikern, die auch davon sprechen. Es ist gar nicht so einfach, das wirklich zum Weg des Erwachens zu machen, weil das Gewahrsein sehr stark ins Außen gerichtet ist – in den Klang, in die Farben, auf die Leinwand – und wenig an echtem Verstehen über die Natur des Gewahrseins entsteht, was dann tatsächlich genutzt werden kann, um sich aus all den emotionalen Verstrickungen zu lösen. Nach dem kreativen Prozess, wo ein Fließen war, sind die emotionalen Verstrickungen gleich wieder da und man fragt sich, welchen Nutzen der Künstler, die Künstlerin tatsächlich davon hat. Manchmal ist ein gewisser Nutzen da, eine gewisse Beruhigung, eine Öffnung des Geistes, aber nicht mehr als in den Praktiken von Geistesruhe, wenn es wirklich gut läuft. Verstehst du, was ich meine?

Nicht ganz.

Man kann das auch auf andere Sparten übertragen – Sport, Tanz. Das gilt für jeden Bereich, in dem Menschen sagen: „Wenn ich das mache, dann vergesse ich mich ganz.“ Tänzer werden richtig gut, wenn sie sich selbst beim Tanzen vergessen können und nicht mehr in diesem neurotischen Selbst-bewusstsein sind. Wenn sie die Angst verlieren, wenn sie sozusagen aus sich heraus können, dann sind sie richtig gute Tänzer. Wenn sie allerdings wieder aus diesem Fließen heraus sind, wie viel haben sie dann für ihren emotionalen Alltag gelernt? Dort ist der Test, ob es sich um ein wirkliches Erwachen handelt.

Ich hab’s jetzt noch ein bisschen anders gesehen. Ich hab den Test da gesehen, dass der Künstler ja ein Produkt schafft und das ist für mich auch sehr wichtig. Das hast du jetzt so ein bisschen aus-geklammert.

Nein, genau das ist für mich das Problem. Gerade weil es immer um ein Produkt geht, um ein Tun, sind andere Funktionen im Geist aktiviert als wenn man sich aus dem Produzieren raus nimmt, es sein lässt und keine Ziele mehr verfolgt. Das heißt nicht, dass man als Erwachter nicht aktiv sein könnte. Es kann spontane Aktivität geben, unter den Erwachten gibt es große Künstler, das kann schon alles sein. Aber diese Objektbezogenheit zu einem Weg des Erwachens zu machen, ist sehr, sehr diffizil und normalerweise einfach nicht der Fall. Die Objektbezogenheit verhindert, dass man aus dem Subjekt-Objekt-Mechanismus tatsächlich raus kommt. Das ist die Schwierigkeit, obwohl Erfahrungen des Fließens stattfinden. Es finden große Erfahrungen des Fließens auch in der Praxis von Geistesruhe statt. Der Geist wird immer offener, immer fließender, das sind die Qualitäten von Geistesruhe. Aber das ist noch nicht das Erwachen.

Momente des Erwachens haben ganz klare Auswirkungen auf die normal ablaufenden Prozesse des Fixierens, des Wirklichkeitsglaubens, des Umgangs mit Emotionen. Echtes Erwachen bewirkt das Auflösen von ganz fundamentalen Ängsten. In diesem Zusammenhang werden fünf Ängste auf-gezählt: die Angst zu sterben, die Angst, keine Nahrung und dergleichen zu haben, die Angst vor Meinungen anderer und so weiter. Diese Ängste verschwinden, wenn es zu echtem Erwachen kommt und das scheint bei den meisten Künstlern, mit denen ich darüber sprechen konnte, nicht der Fall zu sein. Diese existentiellen Ängste werden durch ihre Erfahrung des Fließens nicht berührt. Ist jetzt ein harter Brocken, hm?

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Ja.

Teilnehmerin: Wieso, das frage ich mich jetzt schon, vielleicht auch ein bisschen herausfordernd, haben die Künstler eigentlich immer den Anspruch, dass sie in ihrer Tätigkeit so was wie Erwachen oder Erleuchtung erleben? Ich würde nie auf die Idee kommen, dass ich durch meine Tätigkeit Erleuchtung erlangen kann. Es ist immer die gleiche Diskussion, ich habe das ja schon öfter gehört. Ich meine, wenn du tiefe Geistesruhe erlebst und der Lama das bestätigt: das ist doch super!! Da würde ich ja in die Knie gehen und tausend Mal meinem Beruf danken, dass ich das erleben kann, tiefe Geistesruhe. Das kann ich in meinem Beruf nicht. Vielleicht so Momente, aber dass es da 10 Minuten oder eine halbe Stunde völlig aufgeht und ich so etwas wie ein tiefes Shine habe, da wäre ich doch schon hochzufrieden damit!

(Gelächter).

Teilnehmer: Ich glaube – und da kann ich auch aus eigener Erfahrung sprechen – warum die Künstler mit dem Erwachen so eine Affinität haben, liegt vielleicht daran, dass es auch um so eine Art von Wahrheitssuche geht oder dass man mit seinen Mustern auch recht stark konfrontiert wird. Und die kommen dann in einer Art von kreativem Prozess raus. Aber das Problem ist das Produkt. Denn das Produkt wird beurteilt, von einem selber, von anderen, womöglich verdient man ja damit Geld. Das kommt auch noch dazu. Und alle Kollegen, denen ich erzähle, dass ich mich aufs Kissen setze und meditiere, sagen: ‚Um Gottes willen! Dann wirst du ja dein ganzes Potential los. Das, was dich ei-gentlich dazu treibt, diese wahnsinnig tollen, genialen Sachen zu machen, die noch keiner gemacht hat!’ Das ist auch immer ganz wichtig. Du musst ja genial sein. Dazu wirst du an der Hochschule erzogen und wehe, das ist auf einmal nicht mehr da.

Wir lassen das jetzt einmal. Ich kann niemandes Anderen Geist sehen und wissen, was tatsächlich stattfindet, aber was ich dazu sagen kann, ist, dass es klare Kriterien fürs Erwachen gibt. Und die Kri-terien betreffen gar nicht das, was im Moment des Erwachens wo stattfindet oder nicht sondern was es für Auswirkungen hat. Als Dharmalehrer brauche ich gar nicht so genau hinzuschauen, ob es nun wirklich eine nonduale Erfahrung ist oder nicht. Das ist manchmal nicht so einfach zu spüren aus dem, wie der andere ist oder wie er es beschreibt. Aber die Auswirkungen kann niemand vortäuschen. Die sind da oder sie sind nicht da.

Das Auflösen grundlegender Ängste – das sind Veränderungen, die tief in den Geistesstrom hinein-gehen – ist von den Meistern ganz klar, übereinstimmend, nachvollziehbar beschrieben worden. Und wenn diese Veränderungen nicht stattgefunden haben, dann können Erfahrungen noch so toll sein, aber es waren eben Sternschnuppen! Die sind ja auch da. Das sind dann schon Erfahrungen – ob echt oder nicht echt, sie sind wie sie sind – aber sie haben offenbar nicht diese Kraft entwickelt, die zum Auflösen dieser tiefen Täuschung, dieser tiefen Illusion führt. Sie haben nicht diese fundamentalen Ängste berührt. Das kann dann jeder selber sehen. Man braucht im Grunde genommen nur zu schauen, nur mit jemandem zusammen zu leben, um zu merken, ob diese Verwirklichung was taugt oder nicht. Ja, es ist einfach so. Zum Glück gibt es Kriterien.

Ein ganz wichtiges Kriterium: Wenn z.B. jemand, der in die erste Stufe des Erwachens, in den ersten Bhumi, eingetreten ist und diese Stufe stabilisiert hat, eine starke Emotion erfährt, dann ist dieser Praktizierende in der Lage, seine Verwirklichung in dieser Emotion anzuwenden und frei zu werden davon, wenn man ihm etwas Raum gibt. Wenn diese Fähigkeit nicht besteht, dann ist es das eben nicht. Diese Fähigkeit muss bestehen und auch genutzt werden können. Das Kriterium ist nicht, dass so jemand keine Emotionen mehr hätte. Darum geht es nicht. Aber die Erkenntnis des Nicht-Selbst, der Leerheit, der nicht fassbaren Natur allen Erlebens, die schon stattgefunden hat, ist so durchdrin-gend und zugänglich. Es ist nicht so, dass sie einmal da gewesen ist und später nur noch eine Erinne-rung wäre.

Das wären Momente von tog, von Erkenntnis, die auf dem Weg vor dem Eintritt in den ersten Bhumi auftauchen. Die gibt es. Die gibt es auf dem Weg der Verbindung, dem zweiten Pfad. Da gibt es be-reits diese Momente von Erkenntnis, von Sehen der Natur des Geistes, aber sie haben noch nicht diese tief schürfenden Auswirkungen. Eine stabile Verwirklichung hat ganz klare Anzeichen, und das wich-tigste Zeichen ist, dass sie nutzbringend angewendet werden kann und zum Auflösen der Muster führt,

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wenn sich aufgrund von Mustern wieder starke Identifikation zusammenballt. Das ist ein ganz wesent-liches Kriterium.

Man sagt, dass die Bodhisattvas bis zur siebenten Stufe tatsächlich noch meditieren, weil noch ein Unterschied zwischen Nachmeditation und Meditation besteht. In der Meditation finden sie immer wieder Zugang zu diesem offenen Geistesraum, den wir Dharmakaya nennen, und darin lösen sich die Verstrickungen auf. Die Notwendigkeit zur meditativen Praxis lässt mit dem Eintreten in immer größere Natürlichkeit nach, und es heißt, dass man später auf dem Weg in die Phase der Nichtmedita-tion eintritt. Es ist dann nicht mehr notwendig, in irgendeiner Weise formell zu praktizieren, weil dieser Prozess des Sich-Auflösens der allerletzten Schleier dann von selbst stattfindet. Das Gewahr-sein ist ständig da und begleitet alle Situationen.

Diese Beschreibung zeigt wirklich, was los ist. Sie scheint wirklich übereinzustimmen mit dem, was auf dem Weg stattfindet. Ich will niemandem sagen, wie jemand sein Erwachen beschreiben soll, aber wenn es im Rahmen der buddhistischen Lehre diskutiert wird, gibt es eben diese Kriterien dafür. In diesem Rahmen definieren wir es so. Es hat einfach diese sichtbaren Auswirkungen auf den eigenen Geistesstrom. Ja. Ist ja schön, dass es das gibt.

Teilnehmer: Wo kann man darüber lesen?

Wenn du über die fünf Ängste, die sich auflösen, nachlesen möchtest, die findest du im „Kostbaren Schmuck der Befreiung“ von Gampopa unter der Beschreibung der ersten Bodhisattva-Stufe. Der 9. Karmapa beschreibt im „Ozean des wahren Sinnes“ an drei verschiedenen Stellen des letzten Teiles wie der Übergang in diese Stufe – ‚Frei von Komplikationen’ oder auch ‚Einfachheit’ genannt – stattfindet und auch die Unterstufen davon, wie sich diese Erfahrung entwickelt. Es gibt noch andere Quellen, aber diese beiden sind schon gute Referenzen.

Gleichzeitigkeit von hören, sehen, denken?

Teilnehmerin: Ich habe noch eine Frage zur Wahrnehmung. Wie ist das rein gehirnphysiologisch mit dieser Decodierung. Kann es parallel sein, dass mein Sehen, mein Hören, mein Riechen parallel decodiert wird? Das ist die erste Frage. Und als nächstes, was ich jetzt an mir wahrnehme – was ich bis jetzt ja auch gedacht habe - dass ich gleichzeitig sehen und hören kann, dass das ja in dieser Form nicht mehr stimmt. Denn entweder sehe ich dich, dann sehe ich dich und bin dabei oder ich höre dich, dann bin ich nur beim Hören. Ich nehme es jetzt so wahr, dass das parallel nicht wirklich funktioniert. Und wenn dann diese Bewusstseinsschaltung dazu kommt – oder wahrscheinlich ist das dann das Haften daran – ich habe jetzt bewusst versucht, zwischen Schauen und Hören hin und her zu schalten. Und dann habe ich mir gedacht, das Schauen wird nur dann klarer, wenn ich es mit Gedanken behafte, wenn ich das, was ich sehe, auch analysiere. Die Frage ist: Wie funktionieren wir dann überhaupt, wenn wir eigentlich mit richtigem Gewahrsein nur bei einer Sache sein können? Das ist ja phänomenal, dass ich in dem Moment nicht blind bin, wo ich bewusst höre.

Ja. Du kannst einfach deine Forschung auch weiter fortsetzen und zu eigenen Erfahrungen kommen, die dir das beantworten. Ich weiß gar nicht, ob das so hilfreich ist, wenn ich dir jetzt nur eine Antwort darauf gebe. Ja, wir können gleichzeitig hören und sehen und riechen und den Körper fühlen. Diese Sinne können parallel funktionieren, und sie benutzen auch im Gehirn unterschiedliche Wege.

Was die selektive Wahrnehmung innerhalb der Sinneswahl angeht: Wenn du dich zum Beispiel beim Hören auf eine bestimmte Gruppe akustischer Signale konzentrierst, dann ist es schwierig, gleichzeitig was anderes zu hören. Wenn du dich auf ein Gespräch mit jemandem konzentrierst, dann ist es schwer, einem anderen Gespräch zuzuhören. Im selben Kanal gleichzeitig zwei Dinge zu machen ist schwierig oder vielleicht ausgeschlossen – der Abidharma sagt, es ist ausgeschlossen. Wobei der Raum der Wahrnehmung, was jemand gleichzeitig wahrnehmen kann, individuell sehr unterschiedlich sein kann. Es gibt z.B. Leute, die alle Stimmen einer ganzen Symphonie hören können. Sie haben auch alle Stimmen gleichzeitig im Gedächtnis. Es ist aber eine Klang-Erfahrung, d.h. sie haben dann nicht die Maus gehört, die unterm Tisch knabbert. Es ist eine Erfahrung, auf die sie sich eingelassen haben als ein gesamtes Erleben. Wie umfassend diese Erfahrung ist, ist damit jetzt nicht beschrieben. Aber innerhalb eines Sehkanals, Hörkanals und so weiter spricht man im Abidharma davon, dass man in

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einem Moment der Wahrnehmung nur eine Sache tatsächlich wahrnimmt. Man kann aber sehr schnell springen. So viel zu diesem Aspekt.

Die verschiedenen Sinneswahrnehmungen können offenbar parallel laufen, aber alle Sinneswahr-nehmungen laufen im mentalen Sinn zusammen. Erst dort werden sie ja Sinn gebend verarbeitet. Der mentale Sinn kann simultan verschiedene Sinneserfahrungen zu einem Gesamtbild verarbeiten. Innerhalb dieses Gesamtbildes, wo du mich jetzt zum Beispiel gleichzeitig siehst und hörst und du auch noch eine gewisse Umfeldwahrnehmung hast, setzen sich diese Erfahrungen zusammen und darin findet wieder eine Fokussierung statt, darin können wir uns wieder stärker auf eines oder etwas anderes konzentrieren. Aber es heißt, dass im mentalen Sinn simultan die verschiedenen Erfahrungen wahrgenommen und verarbeitet werden können.

Soweit die Antwort aus dem Abidharma. Ob es dir hilft, weiß ich nicht, aber du kannst ja selber ein-mal schauen, was die Fähigkeiten des eigenen Geistes sind. Was ist eigentlich simultan möglich? Wie viel ist da möglich? Man kann zum Beispiel mit jemandem sprechen und sich gleichzeitig seiner Motivation bewusst sein. Es gibt sehr unterschiedliche Ebenen, die gleichzeitig aktiv sein können. Wobei Gleichzeitigkeit noch immer nicht bedeutet, dass es in der Analyse der wirklich ganz feinen Momente geistiger Bewegung wirklich gleichzeitig ist. Aber es entsteht der Eindruck von Gleichzei-tigkeit. Wirklich zu wissen, was gleichzeitig sein kann, geht nur, wenn der Geist ganz ruhig wird, ganz fein, und wir immer feiner wahrnehmen. Ich habe z.B. vorhin, als wir die Übung gemacht haben, mit diesen ganz kleinen Fischchen gearbeitet, diesen ganz kleinen Geistesregungen, und war in dem Moment für mich zur Überzeugung gelangt: Immer, wenn ich gewahr werde, dann ist das Fischchen schon weg. Es ist wie wenn das Gewahrsein dieser kleinsten nonverbalen Gedankenbewegung nicht gleichzeitig mit der Gedankenbewegung selbst da sein kann. Das war so mein Eindruck. Aber ich gehe weiter, ich forsche weiter. Das ist das Schöne an dem Weg, wir forschen einfach weiter. Es geht nicht darum, zu lernen wie der Geist ist, sondern zu erforschen. Eigentlich geht es mir viel mehr darum, dass wir erforschen. Eigentlich möchte ich auf alle Fragen, die ihr stellt, gerne so antwor-ten, dass ich euch animiere, selber weiter zu forschen statt einfach fertige Antworten aufzunehmen. Das ist auch typisch für die buddhistische Lehre. Wenn man schaut, was sich im Laufe der Jahr-hunderte entwickelt hat, dann merkt man: Die haben weiter geforscht und weiter gedacht. „Wie können sie es noch besser beschreiben?“

Mir ist eben noch etwas eingefallen, was vielleicht hilfreich ist: Es gibt verschiedene Formen des Fließens, und ein gutes Kriterium für unser Fließen ist, wie wir uns fühlen, wenn wir gestört werden. Das Fließen eines Erwachten ist ohne jegliches Insistieren, also kann sofort innehalten, wenn es nicht mehr das Hilfreiche ist. Es ist ein Fließen ohne Zwang, ohne dass eine Notwendigkeit besteht, aus eigenem Antrieb in diese Richtung zu fließen.

Nicht erwachte oder nicht befreite Formen des Fließens sind begleitet von einem gewissen Anhaften an diesem Fließen und dem Gefühl von Störung, wenn etwas passiert, das diesen Fluss unterbricht oder nicht ganz in dieselbe Richtung fließen möchte. Wenn wir in uns merken, dass wir ein bisschen irritiert oder gar ärgerlich sind, wenn wir in unserem Fließen gestört werden, dann wissen wir, dass das Fließen mit sehr starken eigenen Impulsen vermischt ist, dass wir etwas wollen von diesem Flie-ßen. Das ist ein wunderbares Kriterium um zu unterscheiden, um was es sich eigentlich gerade handelt – bei unserer Meditationspraxis, bei unseren Hobbys, in unserem Beruf, das ist einfach ein ganz wichtiger Spiegel. Wir bemerken die anhaftenden und zwanghaften Komponenten da drin. Wirklich freies Fließen ist, wenn es einfach nur hilfreich ist und jederzeit anders weiter fließen kann,

Aber dass wir flexibel sind in unserem Fluss und uns überall anpassen können ist auch noch nicht der Spiegel dafür, dass es sich um das Erwachen handelt. Das reicht dann noch nicht aus. Aber wenn es dann ohnehin schon so ist, dass wir uns ärgern, dann wissen wir, dass wir auf dem falschen Dampfer sind.

Teilnehmer: Zu dem Aspekt, den du gerade angesprochen hast, habe ich mir das so vorgestellt, dass dann ein Erwachter keine Ziele mehr hat. Und ich habe vorhin gedacht, ein Praktizierender der erwacht ist, kann seine Emotionen loslassen und an bestimmten Punkten kann ich das auch, nach tausend Stunden Analyse oder welcher Therapieform auch immer. Aber ich glaube, es ist doch immer noch ein Greifen nach Glück damit verbunden und dass wir doch noch ein heimliches Ziel oder

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Streben haben. Wobei ich es spannend finde zu schauen, wenn wir das bei uns merken, wie kann so ein Übergang erfolgen? Oder was mich auch immer persönlich beschäftigt: Wie kann eigentlich diese Phase der Nachmeditation sein? Wie können wir das in den Alltag mit rein nehmen?

Ja, und was das Auflösen der Emotionen angeht, so gibt es deutliche Unterschiede. Ich habe vorhin über das Hineinschauen in die Natur der Emotion gesprochen. In diesem Fall ist die Emotion im selben Moment vorbei. Nach tausend Stunden Analyse kommt es auch zu einer Fähigkeit, Emotionen aufzulösen, aber es handelt sich jeweils um ein Decrescendo. Es ist ein allmähliches Decrescendo, auch wenn es sich nur über Minuten hinzieht. Es ist nicht ein Erkennen im Moment selbst. Da ist ein großer Unterschied zwischen einsichtsbedingter Auflösung von Emotionen – Lhagtong – und der Auflösung von Emotionen aufgrund von Shine und Analyse. Die Art, wie sich die Emotion auflöst, ist deutlich anders.

Morgenmeditation Wir gehen die Punkte der Sitzhaltung durch und schauen noch einmal, ob wir gut sitzen: die Beine … das Becken. Es ist gut, wenn das Becken ein klein wenig nach vorne gekippt ist, auf jeden Fall nicht nach hinten. – Aufrechter Oberkörper … offen im Brustbereich, die Schultern gerade und entspannt … den Blick leicht gesenkt …die Hände im Schoß zusammengelegt oder auf den Knien … der Bauch entspannt … auch die Lippen, die ganze Mundpartie. – Wir spüren den gesamten Körper und darin das Kommen und Gehen des Atems. – Wir verbinden uns ganz mit dem Atem und erleben das Einatmen in jeder Phase, das Ausatmen … ohne irgendeine Ablenkung. – Immer wieder kehren wir zum Atem zurück, voller Interesse. Wir beziehen dabei auch den gesamten Körper mit ein. – Einatmend spüren wir den ganzen Körper. – Ausatmend spüren wir den ganzen Körper. – Einatmend und ausatmend spüren wir, wie die Achtsamkeit Körper und Geist gut tut. – Einatmend bemerken wir die geistigen Gestaltungen und ausatmend bemerken wir die geistigen Ge-staltungen. Und dazu gehören die Erfahrungen aller sechs Sinne. – Alle Sinne sind offen, wir folgen keinem dieser Sinneseindrücke. Wir nehmen sie nur wahr und kehren zum Atem zurück. – Wenn wir fortgesetzt achtsam sind, beruhigen sich die Gedanken etwas. Wir beginnen sie deutlicher wahrzuneh-men, die Freiräume dazwischen. Die Qualität des Gewahrseins wird deutlicher spürbar. – Wie ist es, gewahr zu sein? – Einatmend sehen wir die prozesshafte Natur allen Erlebens. – Ausatmend sehen wir die prozesshafte Natur allen Erlebens. – Einatmend sehe ich den Wandel. – Ausatmend sehe ich den Wandel. – Immer wieder schauen wir ins Erleben und sehen, dass dort nichts Fassbares ist, dass es nichts Stabiles gibt. Der Buddha sagt: „Einatmend sehe ich das Nachlassen des Greifens. – Ausatmend sehe ich das Nachlassen des Greifens.“ –

* * *

3. Vertiefen der meditat. Stabilität mittels anderer Sinneswahrnehmungen Wir haben bereits mit einer visuellen Stütze gearbeitet und immer wieder einfach mit dem ruhigen Blick vor uns. – Dabei haben wir entweder ein präzises Objekt genommen oder einfach das, worauf der Blick gerade fiel.

[17.4] Wenn wir den Geist mit visuellen Objekten stabilisiert haben, nehmen wir schrittweise Klänge, Gerüche, Geschmäcker und Körperempfindungen als die Objekte von Ohren, Nase, Zunge und Körper hinzu.

Mit Körperempfindungen haben wir auch schon viel gearbeitet. Sie sind immer der Ausgangspunkt. Wir nehmen den Atem und die gesamte Körperwahrnehmung immer als Startpunkt. Damit sind wir auch schon recht vertraut.

Dabei richten wir die Aufmerksamkeit vor allem auf klar wahrnehmbare Klänge, deutliche Gerüche usw., die wir unabgelenkt mit dem Haken der Achtsamkeit erfassen. Wir stabilisieren den Geist mit Sinneswahrnehmungen unserer Wahl, ohne diese in irgendeiner Weise zu analy-

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sieren, seien sie nun gut oder schlecht, groß oder klein und dergleichen, sondern verweilen einfach in völlig natürlicher Gelöstheit in der Erfahrung.

Das ist das, was ich euch schon beim visuellen Objekt erklärt habe. Egal was für ein Objekt wir nehmen, es handelt sich dabei nur um einen Anker für die Aufmerksamkeit. Wir schauen jetzt nicht speziell hin, was für Linien es hat, welche Form. Gefällt sie mir – gefällt sie mir nicht.

Obwohl es wie ein Paradox klingt, verweilen wir in natürlicher Gelöstheit in der Erfahrung des Sehens oder in der Erfahrung des Hörens. Wir haben ja auch schon mit dem Hören praktiziert. Zu dem Zeitpunkt, als wir damit praktiziert haben, waren ziemlich deutlich Vögel hörbar. Es waren aber auch noch andere Geräusche zu hören. Wenn ich jetzt sage, es waren Vögel, dann habe ich offenbar identi-fiziert, dass es sich um das Zwitschern von Vögeln handelt.

Aber Karmapa meint hier, dass wir diesen Prozess des Identifizierens und des Unterscheidens von Merkmalen so rudimentär und gering halten sollen wie nur irgendwie möglich. Es mögen andere Geräusche auftauchen, die uns nicht so vertraut sind und uns also nicht zu einer sofortigen Identi-fikation führen. Es ist irgendein Geräusch, wir können es nicht zuordnen und lassen es dabei. Wir ordnen die Geräusche nicht weiter zu, wir bleiben in der bloßen Erfahrung es Hörens, völlig gelöst.

Das Ganze können wir jetzt übertragen auf die Geruchswahrnehmung. Da ist ein Geruch. Wir brauchen nicht zu identifizieren, woher er kommt, was es genau für ein Geruch ist. Wir nehmen ein-fach wahr. Wir sind in der Erfahrung des Riechens, ohne uns weiter damit zu beschäftigen, was für Merkmale die verschiedenen Gerüche haben.

Es ist also anders als das, was wir uns normalerweise vorstellen würden, wenn wir sagen: Wir medi-tieren auf ein Objekt, wir meditieren mit Sinneswahrnehmungen. Da haben wir zunächst einmal den Eindruck, es würde sich doch darum handeln, besonders präzise auch die unterschiedlichen Wahrneh-mungen mitzubekommen und zu unterscheiden. Aber darum geht es jetzt nicht. Die Übung hier ist, dass wir wahrnehmen und den Prozess der Wahrnehmung selbst immer deutlicher erleben, ohne ins Unterscheiden zu gehen. Denn aus dem Unterscheiden von Merkmalen ergibt sich das Haften an Merkmalen mit all den Gedankenketten, die sich daran anknüpfen.

Wenn ich bei einem Geruch bewerte – „Mag ich“ – „Mag ich nicht“ –bin ich schon im Film. Wenn ich bei Geräuschen im Bewerten bin, dann sind sie mir entweder zu laut oder zu leise, oder aus irgend-einem Grund mag ich das Zwitschern der Vögel, aus irgendeinem Grund mag ich es nicht. Oder da fährt ein Traktor vorbei und ich höre dieses Geräusch und das mag ich oder mag es nicht. Wir sind dann einfach direkt in unserem persönlichen Film der Bewertungen, der Unterscheidungen mit allem, was sich da an Assoziationen dranhängt. Als Einstieg in die Mahamudra Praxis geht es nicht um eine Verstärkung der unterscheidenden Wahrnehmung von äußeren Objekten, sondern es geht um das Betrachten der Natur von Wahrnehmung. Wie Wahrnehmen stattfindet, wie Erleben stattfindet.

Darum haben wir auch so viele Übungen zu Gedanken, zum Denken und zu den verschiedenen Sin-neserfahrungen gemacht. Es geht darum zu spüren: Was ist grundlegendes, nicht bewertendes Erleben, und wo beginnt die Verwicklung? Wo sind die Punkte im Wahrnehmungsprozess, wo es in die eine und andere Richtung gehen kann? In die Verstrickung oder in die Gelöstheit. Wir üben hier einen Wahrnehmungsbereich nach dem anderen mit Objekten, die klar genug sind, um unsere Aufmerk-samkeit auf sich zu ziehen, bleiben darin aber völlig gelöst. Wir merken, dass es möglich ist, zu schauen ohne ins Denken über das Geschehene zu kommen.

Wir merken, es ist möglich zu hören, ohne ins Denken, ins Reagieren in Bezug auf das Gehörte zu kommen. Wir merken, es ist möglich den Körper zu spüren, ohne in Anhaftung und Abneigung zu fallen. Wir bleiben völlig klar, wir bleiben völlig gewahr. Wir haben jederzeit die Möglichkeit, in einen differenzierenden Prozess hineinzugehen, aber es interessieren uns jetzt nicht die äußeren Objekte, sondern es interessiert uns das Verständnis der Mechanismen von Leid und Auflösung von Leid, von Anspannung und Auflösung von Anspannung. Das wollen wir herausfinden.

Wie ist es möglich, ein Leben in großer Entspannung und Gelöstheit zu leben? Das ist ja nicht unser Normalfall. Wir sind im Normalfall in einem impulsiven, zwanghaften Reagieren auf alles, was wir erleben. Und wo findet dieses Erleben statt? In den 6 Sinnesbereichen. Wir sind in einem zwanghaften Interpretieren alles Erlebten den ganzen Tag über, und das ist furchtbar anstrengend. Wenn es krass ist, dann geht unser Kopf immer hin und her, und kaum ist da was, reagieren wir. Es ist uns nie recht.

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Es kann ja auch nie recht sein, denn wir finden immer noch ein Kriterium, dass es nicht recht ist. Es ist nie die perfekte Temperatur. Wir brauchen nur einen Moment zu warten und schon ist es zu warm, schon ist es zu kalt. Schon ist der Klang zu laut. Eben noch war er angenehm, aber eigentlich könnte er jetzt aufhören. Die Vögel sind ja ganz nett, aber bitte nicht um fünf Uhr morgens.

Wir finden immer was und das ist zwanghaft. Das ist unser Verstricktsein mit den Sinneswahrneh-mungen. Wir üben das einmal mit den fünf äußeren Wahrnehmungen. Mit dem Denken haben wir während des Retreats schon sehr viel geübt. – Das Denken geschehen zu lassen, ohne uns darin zu verwickeln, sondern zu schauen: Was ist eigentlich ein Gedanke? Wie entsteht er? Wie löst er sich auf?

Karmapa geht in diese Richtung, und der wichtigste Satz hier ist: Wir stabilisieren den Geist mit Sinneswahrnehmungen unserer Wahl, ohne diese in irgendeiner Weise zu analysieren, seien sie nun gut oder schlecht, groß oder klein und dergleichen, sondern verweilen einfach in völlig natürlicher Gelöstheit in der Erfahrung.

Das tibetische Wort, das hier mit natürlicher Gelöstheit übersetzt wird ist rangbab. Das habe ich ges-tern schon benutzt, als ich euch die Rangbab-Meditationshaltung erklärt habe – alle Viere richtig fallen lassen. Rangbab ist der stärkste Ausdruck, den man im Tibetischen finden kann. Wenn man den genau übersetzt, dann heißt rang selbst und bab fallen lassen. Alles von selbst fallen lassen. Den Geist – rangbab – fallen lassen bedeutet, ihn in völliger Gelöstheit einfach ruhen zu lassen. Und das jetzt in den einzelnen Sinneswahrnehmungen. – Auch da führt Karmapa an:

Wir machen jeweils Pausen solange der Geist noch klar ist, so dass er sich erholt und nicht trübe wird. Zwischen den Sitzungen halten wir weiter bei allem das Seil der Achtsamkeit aufrecht. Dafür senken wir den Blick entlang der Nasenspitze und vermeiden, dass körperliche Aktivität, wie Gehen, Sitzen usw. sowie das Reden und Sprechen zu intensiv oder zu viel werden. Im Geist stoppen wir zudem den Strom des Nachdenkens über Merkmale und intellektuelle Beschäfti-gung.

Das sind Hinweise für ein Retreat. Einige von euch haben das praktiziert und meine Ermutigung, die Zeiten der Stille zu nutzen, aufgenommen. Ich habe beobachtet, dass ihr nicht geredet habt. Dadurch war es euch möglich, in den Pausen in Gelöstheit zu bleiben und sich in der körperlichen Aktivität auch nicht zu sehr zu stimulieren – einen ruhigen Spaziergang zu machen oder sich ruhig auf eine Bank oder einen Stuhl zu setzten. Viele von euch haben das genutzt, sich einfach irgendwo ruhig auf-zuhalten. Im Geist stoppen wir dadurch die intellektuelle Beschäftigung mit Dingen. Auch in den Pausen unterlassen wir es, uns auseinander zu setzen und diesen Prozess des Greifens anzuregen. Wir unterlassen all das, was zu intellektueller Beschäftigung führt, aus der wir erst wieder herausfinden müssen, wenn wir uns dann wieder zur Meditation hinsetzen. Das sind also sehr hilfreiche Hinweise dafür, wie man im Retreat die Pausen zwischen den Meditations-Sitzungen gestaltet.

Wie machen wir es denn im Alltag? Im Alltag brauchen wir ja den Intellekt, wir brauchen unsere geis-tige Energie, um Aufgaben zu lösen. Wir haben einen Beruf, wir müssen mit Menschen sprechen. Wenn wir als unsere Hauptpraxis Shine-Lhagtong haben, also stille Meditation, und unsere geistige Stabilität selbst im Alltag verstärken wollen, dann sollten wir unser Leben vereinfachen. Wir sollten uns nicht unmittelbar nach dem Beantworten unserer E-Mails oder nach aufwühlenden Aktivitäten zur Meditation setzen. Diese Dinge sollten wir eher nach der Meditation erledigen, sodass wir leicht in die Praxis hinein finden. Das sind so kleine Hilfestellungen.

Aber eigentlich sind diese Hinweise Karmapas für jemanden gedacht, der mehrere solcher Sitzungen täglich ausführt und sich dann fragt, „Wie mache ich das zwischen den Sitzungen?“ Da ist Stille, we-nig Sprechen hilfreich, und wenn Sprechen, dann nichts Aufwühlendes und einfach nur Kleinigkeiten des Alltags. Hilfreich ist auch, sich von anderen Beschäftigungen fernzuhalten, die uns aufwühlen. Und im Geist selbst lassen wir diese Tendenz zu fabulieren und sich in Gedanken zu verstricken los. Das sind die 3 Aspekte von Körper, Rede und Geist.

Schrittweise auf diese Weise tiefer in meditative Ausgeglichenheit hineinzufinden, ist der 3. Punkt des Entwickelns von Geistesruhe.

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Teilnehmer: Was vielleicht ein bisschen irritierend sein kann, ist der Ausdruck des ‚Hakens’ der Achtsamkeit. Das hat für mich den Beigeschmack des Ergreifens. Aber es geht doch darum, die Dinge sein zu lassen, wie sie sind.

Ja, viele benutzen auch den Ausdruck ‚Anker’. Wir bleiben dabei, das ist gemeint. Mit dem Ausdruck des Hakens soll dieses Unabgelenkte beschrieben werden. Ich verstehe, was du meinst, dass das auch fixierend verstanden werden könnte.

Meditation Wir nehmen wieder unsere angemessene Körperhaltung ein, sodass wir für eine Weile entspannt und ruhig sitzen können, ohne uns nach Möglichkeit zu bewegen. Wenn wir uns bewegen, dann achtsam. –Die Beine in gutem Bodenkontakt, der Oberkörper aufrecht, gerade, mit einer gewissen Beweglich-keit, der Bauch entspannt, die Schultern, der Mundbereich entspannt. Der Blick verweilt ruhig dort, wo er hinfällt, leicht gesenkt. Für die Hände suchen wir die Haltung, die uns die größte Sammlung er-möglicht, entweder auf den Knien oder im Schoß. – Wir spüren den Körper und innerhalb der Körperempfindungen das Ein- und Ausstreichen des Atems. Wir stabilisieren den Geist zunächst mit den Atembewegungen, indem wir ganz in das Erleben des Atems eintauchen und jede Phase des Atemzyklus voll erleben. – Immer wieder bringen wir uns zum Atem zurück. – Mit großer Ausschließlichkeit, mit völliger Konzentration, aber entspannt erleben wir den Atem für zehn ununterbrochene Atemzüge. – Wenn wir merken, dass wir uns gut mit dem Atem verbunden haben, dann lockern wir die Konzentration etwas, gerade so, dass wir weiter präsent blei-ben im Atmen. – Wir erleben den Atem ohne über ihn nachzudenken. – Dabei erfreuen wir uns einfach an der Qualität gelöster Präsenz. – Dann weiten wir unsere Aufmerksamkeit auf alle Körperempfindungen aus. Wir erleben Körper, körperliches Sein ohne zu analysieren. –

GONG – Versucht in der Pause, den Pausenmodus zu praktizieren, der im letzen Absatz beschrieben ist. –

Weiter geht’s. Kämpft nicht mit eurem Körper, sondern richtet es euch von vorne herein so ein, dass ihr ohne Kampf zwanzig Minuten unbeweglich sitzen könnt. – GONG

Wir beginnen immer wieder mit unserer Grundübung: Den Körper spüren … den Atem erleben … den gesamten Köper spüren. – Jetzt nehmen wir das Hören hinzu. Hörendes Erleben, ohne über die Klänge nachzudenken, ohne die Geräusche zu analysieren. – Immer wieder hören. Völlig gewahr. Wie ist es zu hören? … Hören, ohne am Gehörten festzuhalten. – Dann entspannen wir uns ganz und bleiben völlig gelöst in einer Präsenz, in der wir zwar hören, auch den Körper spüren und sehen, ohne aber wirklich zu meditieren. Einfach nur so. – Gelöste Präsenz, die nichts beabsichtigt. – Jetzt richten wir unsere Aufmerksamkeit aufs Riechen. … Riechen ohne zu analysieren. – Und zum Abschluss noch das Schmecken. Gibt es irgendetwas zu schmecken? Wie fühlt es sich an zu schmecken? – Den Körper spüren, sehen, hören, riechen, schmecken. …Alles mit derselben Geisteshaltung. – GONG

Rezitation: Widmungsgebet

Fragen

Teilnehmer: Ich habe eine Bitte. Es hat zwar jeder einen individuellen Erfahrungsstand, aber vielleicht könntest du einmal aufzeigen, was eine sinnvolle Praxis sein könnte, wenn man eine Stunde, zwei Stunden oder drei, vier, fünf Stunden am Tag dafür verwenden kann oder möchte.

Die Antwort können wir uns auf eine Art sehr leicht machen. Es muss uns klar sein, was die Haupt-praxis ist. Die Hauptpraxis ist, das Gewahrsein zu entwickeln. Das ist die Praxis, um die es geht. Damit sich Gewahrsein weiter entwickelt, muss es frisch sein, ein frisches, offenes, interessiertes Ge-wahrsein.

Wie wir eine Stunde nutzen, sollte ziemlich klar sein. Das haben wir jetzt häufiger gemacht. Aber wenn wir dann mehrfach am Tag praktizieren, dann sollten wir schauen, dass wir immer wieder diese Frische des Gewahrseins unterstützen. Da kann es hilfreich sein, auf verschiedene Arten mit dem Geist umzugehen. Immer auf dieselbe Art zu praktizieren, ist hilfreich, weil wir dadurch die Praxis vertie-

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fen, aber es kann sein, dass die Praxis eine Routinepraxis wird. Wenn wir merken, dass sich ein bisschen Staub sammelt, dann ist es gut, einfach eine andere Praxis zu machen statt der stillen Medi-tation, z.B. Tschenresig Praxis – oder Tonglen. Wir stimulieren mehr die Herzenskräfte. Oder wir gehen hinaus und machen Gehmeditation.

Das Gewahrsein auf viele Weisen zu stimulieren, ist die Kunst eines Retreat-Alltags. Was du an-sprichst, ist, wie man sich Halb-Retreats einrichten kann. Du hast schon so viele Methoden kennen gelernt, daran mangelt es ja nicht. Aber die Kunst ist, unter den Methoden zu spüren, welche diejeni-gen sind, die in dir wirklich Offenheit, Verständnis und ein Verstehen ermöglichen, die auch ein Mit-fühlen, sich anderen zu öffnen, ermöglichen. Es ist auch wichtig, darauf zu achten, dass die Freude und Frische in der Praxis präsent sind, dann lernen wir am besten. Dann vollzieht sich unser Weg auf die einfachste Art und Weise.

Das heißt aber nicht, dass ich aufhöre zu praktizieren, bloß weil ich einmal keine Freude und Frische erlebe, sondern dann erlebe ich eben diesen dumpferen, trägeren Geisteszustand und bringe in das Dumpfe, in das Schwere eine wache Aufmerksamkeit hinein. Aber es geht da nicht um das Durch-ziehen einer äußeren Praxis, sondern um das Nutzen des jetzt dumpfen Erlebens, um auch das mit Gewahrsein zu durchdringen. Dann nutzen wir den Alltag wirklich gut, in vielen Situationen können wir kurz oder länger meditieren. Und wir wissen, es geht immer um dasselbe, aber wir haben verschie-dene Möglichkeiten. Kannst du etwas damit anfangen? Klärt das in irgendeiner Weise deine Frage? Oder ist es noch immer unklar, so wie vorher?

Teilnehmer: Es geht schon auch um das zeitliche Arrangement.

Vom Zeitablauf, vom Stundenplan her?. Ja, da gibt es unterschiedliche Typen. Bist du ein Morgen-Typ, oder ein Abend-Typ?

Teilnehmer: Ich bin ein Nacht-Typ.

Du gehst dann schlafen, wenn deine Frau aufsteht? Wir sollten schon schauen, dass wir Meditations-sitzungen in die Periode des Tages – oder der Nacht – legen, wo wir am wachsten und frischesten sind. Leider machen wir oft das Gegenteil. Wir meditieren ganz früh morgens, wenn wir noch nicht richtig wach sind, oder abends, wenn wir schon ausgepowert sind. Wer wirklich etwas von der Meditation haben möchte, sollte auch bei voller Energie des Geistes meditieren. Also in der Zeit, wo eigentlich alles in uns danach drängt, aktiv zu sein. Genau dann gewahr zu werden, in den Geist zu schauen und diese Kräfte, die nach Ausdruck drängen zu entspannen, anzuschauen. Hineinzufühlen in all das, was sich da aufbaut, ist ganz, ganz, wichtig.

Die Auswahl der Zeiten sollte nicht nur für den Tagesablauf praktisch sein, es ist gut, auch da zu praktizieren, wo die größten Herausforderungen sind und wo insgesamt der Geist viel Energie hat. Es tut gut, dann zu praktizieren.

Ich weiß ja nicht, ob deine Nachtaktivität andere Gründe hat oder ob die wirklich dein normaler Rhythmus ist. Aber das musst du selber herausfinden. Du kannst einfach jederzeit meditieren. Es gibt keine Zeit, wo man nicht meditieren kann.

Teilnehmer: Ich bin auch ein Nachtmensch, ich fang um halb zwölf ungefähr an, mich zu entspannen, und dann kann es bis morgens gehen. Es kann aber auch sein, dass es einmal genau umgekehrt ist und ich morgens frisch bin.

Wie auch immer. Richtet es euch so ein, dass ihr häufig Gewahrsein übt, dass ihr reinschaut, wie es ist, im jetzigen Erleben zu sein. Wenn es z.B. Nachtmenschen schaffen, sich im Laufe des Tages zu entspannen, sind sie vielleicht gar keine Nachtmenschen mehr. Da kann sich noch viel ändern, wenn wir anfangen tagsüber Praxis auf eine gute Art zu üben. Dann sind wir vielleicht gar nicht mehr das, was wir immer waren, dass wir uns erst dann öffnen und wohl fühlen, wenn alle anderen ins Bett gehen.

Es ist irgendwie ein tolles Gefühl: „Die Welt schläft und ich bin ungestört unterwegs.“ Aber wenn ich dieses Gefühl von ungestörtem und freiem Sein tagsüber bereits kontaktieren kann, dann bin ich vielleicht gar kein Nachtmensch mehr. Das kann sich auflösen, es kann sich ändern. Wobei gewisse Rhythmen einfach auch bleiben. Menschen haben nicht alle denselben Rhythmus.

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Teilnehmer: Ich war überrascht, als ich für längere Zeit dann um 5 oder 6 wach war.

Ja, das kann dann plötzlich sein. Gibt es zu dem Bereich noch andere Fragen?

Teilnehmerin: Was ist der Unterschied von Achtsamkeit und Gewahrsein? Verstehe ich das richtig, dass Achtsamkeit eine stärkere Fokussierung oder Anstrengung im Vergleich zum Gewahrsein hat?

Ja, so benutze ich es oft. Also ehrlich gesagt, glaube ich, können wir das heute hier nicht für die deutsche Nation festlegen, was diese Begriffe bedeuten. Buddha Shakyamuni hat den Ausdruck sati gebraucht, das wurde mit Achtsamkeit übersetzt. Der Begriff ist sehr berühmt geworden und sehr viel im Umlauf: Geistestraining in Achtsamkeit, Achtsamkeitsschulung. Wenn wir untersuchen, was Buddha Shakyamuni im Satipatthana-Sutra und im Anapanasati-Sutra alles unter Achtsamkeit be-schreibt, sehen wir, dass es von einer konzentrierten Achtsamkeit in eine immer größere Weitung geht. Die Achtsamkeit wird dann eigentlich mehr ein Gewahrsein, und zwar im Satipatthana-Sutra letzten Endes ein Gewahrsein mit vollem Verständnis der Vier Edlen Wahrheiten.

Ein Gewahrsein von Leid, von der Ursache des Leides, und was ein offener, freier Geist ist. Das ist nicht mehr Achtsamkeit in dem Sinn, wie wir das deutsche Wort verstehen, wo man auf etwas achtet, diese Bedeutung schwingt da ja mit. Achtsamkeit ist also im Deutschen wohl eher ein limitierenderes Wort als das Wort Gewahrsein.

Ich habe mir diese beiden Sutras, die ich gerade erwähnt habe, noch einmal genau angeschaut und ge-merkt, dass ich den Begriff sati fast durchgehend mit Gewahrsein übersetzten kann. Die Lehrrede von Buddha gewinnt dadurch noch an Tiefe, weil nicht mehr das Missverständnis von konzentrativer Acht-samkeit entsteht. ‚Des Atems gewahr zu sein’, löst was anderes im Meditierenden aus als ‚achtsam auf den Atem zu sein’. Ich habe in der Übersetzung alles umformuliert, weil ich immer mehr merke, dass es eigentlich um ein Gewahrsein geht. Es geht darum, gewahr zu werden, zu erleben. Es geht nicht darum, achtsam auf das Objekt zu sein, es geht darum, in der Sinneserfahrung gewahr zu sein – und das macht einen riesigen Unterschied. In dem Moment, wo wir sati so begreifen, merken wir, dass es gar kein Unterschied mehr zur Mahamudra-Praxis ist, was Buddha Shakyamuni in diesen Sutras gelehrt hat.

Zum Glück konnte ich den tibetischen Begriff drenpa, der die Übersetzung von sati ist, auch mit Gendün Rinpotsche besprechen. Gendün Rinpotsche hat mir erklärt, dass drenpa – was wir mit Acht-samkeit und Gewahrsein übersetzen – eine enorme Entwicklung im Praktizierenden bewirkt. Zuerst ist drenpa das Bemerken von Vorgängen, das Wahrnehmen von Sinnesobjekten. Das ist eine Achtsam-keit, die sehr stark nach außen gerichtet ist. Dann wird drenpa immer mehr zur Wahrnehmung dessen, wie Gedanken entstehen und vergehen, wie Emotionen sich aufbauen und auflösen. Es ist genau das, was der Buddha im Satipatthana-Sutra auch anspricht.

Buddha Shakyamuni spricht im 3. Kapitel des Satipatthana-Sutra – Achtsamkeit auf den Geist – davon, wie wir zunehmend des Geistes und seiner verschiedenen Zustände – eng, offen, befreit, nicht befreit und dergleichen – gewahr werden. Im 4. Kapitel geht es dann um ein Gewahrsein der Dharmas, z.B. der Vergänglichkeit und der prozesshaften Natur aller Erscheinungen. Das Gewahrsein richtet sich immer mehr auf die Qualitäten als auf die Inhalte.

Es findet eine Entwicklung statt weg vom Objekt zu der eigentlichen Natur des Erlebens. Und am Ende des Spektrums, so wie Gendün Rinpotsche es mir erklärte, bedeutet im Tibetischen das Wort drenpa, in Mahamudra, im Gewahrsein der Natur des Geistes zu verweilen. Das ist dann wirklich nur noch Gewahrsein. Das ist kein Achtsamsein auf etwas – kein dualistisches Achtsamsein – sondern es ist ein Gewahrsein dessen, wie die Dinge wirklich sind. Und das wird im Tibetischen auch noch drenpa genannt.

Es ist sinnvoll, hier und da in den Sutras probeweise das Wort Achtsamkeit durch Gewahrsein zu ersetzen. Plötzlich kriegen die Sätze einen tieferen Sinn. Im einführenden Kapitel zum Satipatthana-Sutra spricht der Buddha über Ekayana, über das eine Fahrzeug, den einen Weg. Der zentrale Begriff in diesem Absatz ist das Entwickeln von Achtsamkeit. Und man wundert sich doch: Wie kann denn das Entwickeln von Achtsamkeit – wenn es eine limitierte Achtsamkeit wäre – der eine Weg des Erwachens aller Buddhas sein? Aber wenn man da „Gewahrsein“ liest, fallen einem die Schuppen von den Augen. Es ist völlig klar, natürlich ist es das. Selbstverständlich ist das Hervorbringen von Ge-wahrsein der einzig mögliche Weg des Erwachens. Es geht nicht anders.

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Deswegen benutze ich den Begriff Achtsamkeit mehr für den konzentrativen Aspekt, wo er eine Aus-richtung auf etwas zu Beobachtendes beschreibt, und ich verwende darüber hinaus den Begriff Ge-wahrsein, weil der auf uns insgesamt öffnender wirkt.

Teilnehmer: Was heißt smrti?

Das ist der Sanskrit-Begriff für sati.

Teilnehmerin: Ist das nicht schon jenseits der Dualität?

Gewahrsein gibt es als duales Gewahrsein und als non-duales, zeitloses Gewahrsein. Das Wort Ge-wahrsein wird für all das benutzt.

Wir haben im Deutschen einen ziemlichen Reichtum an Begriffen. Wir können von Bewusstsein sprechen, von Bewusstheit, von Gewahrsein, von Achtsamkeit, das ist sehr schön. Wenn ich in den romanischen Sprachen unterrichte, dann steht mir immer nur conscience zur Verfügung. Im Französischen gibt es noch attention oder vigilance, aber wenn es dann um die Unterscheidung von Achtsamkeit, Gewahrsein, Bewusstsein geht, da bieten die romanischen Sprachen leider sehr wenig. Wir können das im Deutschen etwas differenzierter ausdrücken. – Da verzweifeln meine portugie-sischen Übersetzer immer.

In Frankreich nehmen wir dann la pleine conscience. Um aus conscience etwas zu machen, das ein bisschen mehr Gehalt hat, setzt man das Adjektiv pleine davor: volle Achtsamkeit oder Bewusstheit, Gewahrsein.

Teilnehmer: Thich Nath Hanh verwendet im Englischen das Wort ‚mindfulness’, in der deutschen Übersetzung heißt es auch Achtsamkeit. Ich hatte damit am Anfang Schwierigkeiten, weil für mich war es ‚Achtsamkeit tun’. Gewahrsein ist viel besser. Aber wie ist es denn mit Gewahrsamkeit?

Das Wort gibt es ja nicht. Es gibt das Wort Gewahrsam im Zusammenhang von ‚etwas in Gewahrsam nehmen’, unter Verschluss. – Nein, du hast völlig recht. Wenn in den deutschen Texten von Tich Nath Hanh Achtsamkeit steht, dann ist es im Englischen mindfulness oder awareness. Diese beiden ent-sprechen Achtsamkeit und Gewahrsein. Ich verwende die beiden Begriffe so, wenn ich in Englisch unterrichte.

Ist es für euch ein Unterschied? Ihr merkt, ich habe mit den Begriffen, seit wir uns gesehen haben, weiter gearbeitet. Ich spreche jetzt oft nicht mehr von Sinneswahrnehmung sondern eher von Erleben, das ist näher dran am Erleben. Ich verwende auch nicht mehr so stark ‚achtsam sein auf den Atem’, sondern ‚den Atem erleben’ oder gar ‚zum Erleben des Atems selber werden’, damit wir dieses unter-schiedslose Gewahrsein leichter üben können, um hineinzufinden.

Als Einstiegsübung nehme ich oft das Bild ‚mit unserem Gewahrsein auf dem Atem reiten’. Das ist ganz hilfreich, aber es ist noch eine Trennung da. Wenn wir ganz ‚zum Atem werden’, dann sind wir genauso bewusst wie vorher, aber es ist noch weniger Trennung. Ich weiß nicht, ob ihr diese kleinen Unterschiede in den geführten Meditationen gespürt habt? Es macht was mit unserem Geist, welche Instruktionen wir bekommen, welche Worte da benutzt werden. Es ist unglaublich, wie stark wir von den begrifflichen Instruktionen abhängig sind. Es geht eigentlich immer um dasselbe, aber die Begriffe können eine trennende Haltung verstärken oder mindern. – So ganz auflösen können sie sie nicht.

Teilnehmer: Zu Achtsamkeit: Man könnte achtsam einen Bankeinbruch begehen, aber wenn man das mit ‚Gewahrsein’ verbindet, wird es absurd.

Das zeigt den Unterschied sehr gut. Die Brücke ins Mitgefühl ist auch leichter vom Gewahrsein zu schlagen, wenn es darum geht, dass Gewahrsein wirklich die Quelle und die Essenz des Erwachens ist. Mitgefühl ist ein Gewahrsein all dessen, was andere erleben. Es ermöglicht uns ein wirkliches Ver-stehen, und aus diesem Verstehen und Gewahrsein dessen, was andere erleben, speist sich das Mit-gefühl.

Das ist mit Achtsamkeit nicht so leicht. Achtsamkeit in Hinblick auf andere geht dann oft in Richtung Respekt. Man kann schon die Brücke schlagen. Umfassendes Gewahrsein ist immer ein Gewahrsein dessen, wie ich bin mit der gesamten Situation drum herum, also auch mit allen anderen – im Grunde genommen zentrumslos. – Das Gewahrsein öffnet direkt in diesen Raum hinein.

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Wir haben dieses Mal Mitgefühl und Liebe nicht betont, wir sind dabei, den Geist zu erforschen. Und das möchte ich jetzt auch gern noch mal mit euch in einer Übung machen.

Wir setzen die Übung der letzten Tage noch fort in das Beobachten der geistigen Bewegung und des Geistes hinein.

Übungen: Wahrnehmen der Gedanken – Bewusstes Denken Setzt euch in eine hilfreiche Haltung, die die Klarheit des Geistes unterstützt. Ich sag es noch einmal: Ihr dürft jederzeit auch im Stehen meditieren, wenn es für euch angenehm ist oder sein könnte. Die Grundhaltung ist wieder dieselbe wie vorhin: Es geht in keiner Weise darum, etwas zu erreichen. Wir haben keine Erkenntnisse zu erreichen, zu erlangen. Es geht um ein aufmerksames Erleben, dass wir uns die Erlaubnis geben, ganz entspannt gewahr zu sein. – Sobald Gewahrsein da ist, beruhigen sich die verschiedenen Bereiche der Sinneswahrnehmungen. Wir nehmen wahr und verstricken uns nicht. – Spüren, sehen, hören, riechen, schmecken … und das Gewahrsein, das sich des Geistes und seiner Bewegungen bewusst ist, sich seiner selbst bewusst ist. – Das Erleben wacher Präsenz. – Wir machen wieder die Übung von gestern. Zwischen den Klängen der Klangschale zu schauen, wie viele Gedanken eigentlich da sind. –

GONG … GONG

In der Pause entspannen wir uns bewusst, natürlich geht die Gewahrseinspraxis weiter. – Wir machen die Übung noch einmal. Ich erinnere daran, dass wir die geistigen Bewegungen genauso zulassen, wie wir Körperempfindungen, Hörempfindungen, Sehempfindungen und dergleichen zu-lassen. Es dürfen so viele sein wie sie wollen. Wir sind gewahr, nehmen die Bewegungen wahr. Da wir sie wahrnehmen, passiert dasselbe wie bei den anderen Wahrnehmungen, sodass sie sich nicht fortsetzen in Gedankenketten. Versuchen wir noch einmal, eine nichts unterdrückende Bewusstheit zu entwickeln – Gewahrsein, das geistige Bewegungen zulässt und erkennt.

GONG … GONG

Wieder entspannen, falls es etwas anstrengend war, so zu schauen. Noch ein drittes Mal werden wir diese Übung machen. Diesmal stellt euch vor, ihr würdet belohnt für jeden Gedanken, für jede geistige Bewegung, die ihr entdeckt. Aber bei dieser Übung geht es noch nicht darum, sie bewusst zu erzeugen, um möglichst viel Belohnung zu bekommen. Nur zu entdecken, was ohnehin abläuft. – Für die großen Flitzer kriegt ihr 10 Cent und für die kleinen kriegt ihr einen ganzen Euro. – Versteht ihr, was ich meine mit dem Geld? Ermutigt euch, achtsam wahrzunehmen, was tatsächlich alles vor sich geht. Schaut richtig subtil hin. Es macht nichts, wenn ihr sie erst im Nachhinein wahrnehmt, aber ihr habt sie wahrgenommen. Wir nehmen einfach wahr, was alles an Bewegungen so durchrauscht.

GONG … GONG

Wieder eine kleine Pause. Natürlich habe ich noch eine Übung für euch, eine, die ihr auch schon kennt: soviel wie möglich zu denken – bewusst –, sodass die ganze Zeit zwischen den Tönen gefüllt ist. Also bewusstes Denken im Unterschied zum rezeptiven Wahrnehmen dessen, was spontan auf-taucht. Habt ihr euch schon ein Thema ausgesucht? Nutzt die Gelegenheit, an etwas Angenehmes zu denken. Wer das langweilig findet, kann auch an etwas Schwieriges denken, aber möglichst ununterbrochen. Die Anleitung ‚ununterbrochen zu denken’ hat einen interessanten Grund. Ich wünsche mir, dass ihr heute ein bisschen darauf achtet, dass wir oft in einem Gefühl von ‚ununterbrochen’ sind. Während es aber in diesem Prozess tatsächlich Stockungen gibt. Diese Stockungen sind höchst interessant. Da kommen andere, quer schießende Faktoren mit rein, Kräfte die zu diesen Stockungen führen. Schaut, ob ihr an eine ununterbrochene Geschichte denkt. Es spielt überhaupt keine Rolle worüber wir nachdenken, überhaupt keine. Wir können irgendwo anfangen und irgendwo ganz anders aufhören.

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GONG … GONG

Erfahrungen der Teilnehmer

Jetzt lade ich euch ein wieder mitzuteilen, was ihr entdeckt habt. Natürlich interessiert mich vor allen Dingen, was ihr heute Neues entdeckt habt. Da findet vermutlich eine Entwicklung statt. Heute wart ihr schon vertraut mit den Übungen. Das ist etwas anderes, als wenn ihr sie zum ersten Mal macht. Was habt ihr heute Neues entdeckt?

Teilnehmer: Ich wollte in der dritten Übung den Frieden der zweiten Übung wieder erreichen. Dann war es auch vorbei.

Hast du dafür eine Erklärung?

Ich war fixiert.

Was hat in der zweiten Übung den Frieden ermöglicht?

Ich hatte in der ersten Übung einige Gedanken und in der zweiten war es auf einmal ruhig.

Es war in der zweiten Übung noch ein Überraschungseffekt. Es war ein Geschenk, weil es so passierte, und in der dritten Übung wolltest du es wiederholen.

Teilnehmerin: Ich habe versucht, viel zu denken, mir ist dabei aber aufgefallen, dass zwischen den Gedanken Zwischenräume waren, kleine Lücken.

Kleine Lücken zwischen den Gedanken, eigentlich wolltest du ja nonstop denken. Was war denn da los in den Lücken?

Stille.

Stille, aha! Interessant. Okay.

Teilnehmerin: Gestern konnte ich die Gedanken zählen und eine bestimmte Zahl nennen, heute nicht. Ich habe vielleicht zwei Gedanken in Form von ganzen Sätzen gehabt, sonst waren nur Worte oder Gruppen oder Bilder

Das ist interessant, was du beschreibst. Bei zwei Gedanken kam es zu einer Ausformung von einem ganzen Sätzchen, aber die anderen waren eher einzelne Worte oder abgebrochene Sätze. Das ist, wie wenn das Gewahrsein, das da ist, bewirkt, dass der innerlich gesprochene Satz gar nicht zu Ende formuliert werden muss. Es erübrigt sich, weil der Gedanke schon gedacht worden ist.

Gut, dass du das sagst. Ich hab mir nämlich schon gedacht: „Oje, ich kann heute keine zehn Gedanken identifizieren! Ich bin schlecht!“ Da kam auch viel Bewerten daher in gut und schlecht.

Haben die Anderen so etwas auch bemerkt? Was sie beschreibt, sind abgebrochene innere Sätze. Der Gedanke war eigentlich schon gedacht und der große Lastwagen danach, der die Gedanken noch einmal ausformuliert, ist überflüssig. Das ist der Übergang, wo wir in unserem Gewahrsein beginnen, die kleinen Flitzer zu bemerken. Genau da. Da, wo ein Satz innerlich so abbricht und sich die Geschichte trotzdem vollzieht. Es reicht. Wir brauchen den Satz nicht bis zum Ende formulieren, weil alles schon da ist, was er ausdrücken sollte. Das weist darauf hin, dass dem Satz so ein kleiner Flitzer vorausging, ein kleiner, durchflitzen-der Gedanke, der ganz präzise etwas beleuchtet hat, aber danach zu seiner Ausformulierung führt. Ganz interessant. Du hast dann auch noch angesprochen, dass du Bilder wahrgenommen hast. Bilder sind auch unglaub-lich schnell. Das sind auch so Flitzer.

Teilnehmer: Zuerst beim Zählen der Gedanken waren gar keine Gedanken da, nur so ein Untergrund-rauschen. Bei der Übung mit dem Zulassen von ganz vielen Gedanken habe ich Indien genommen. Ich hab gedacht, dass ich jetzt in meinem Urlaub schwelgen kann, aber es hat überhaupt nicht funktio-niert. Ich hab ein Bild nach dem anderen gehabt, mehr wie so ein alter Film, der immer wieder stockt. Das ging wahnsinnig schnell und wirr durcheinander. Ich hab gar keine direkten Verbindungen zwischen den Bildern gehabt. Dann hab ich plötzlich gemerkt, dass ich nach jedem Bild schon da war, da kam hinterher die Formulierung. Die hat dann gestört. Ich hab dann darüber nachgedacht, wieso

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dann hinterher die Formulierung kommt. Dann hat es immer wieder gestockt, wie wenn das Rad nicht weiter läuft.

Was war da eigentlich los, wo es nicht weiterging?

Ich fing zu denken an: „Aha, jetzt stockt es!“

Klar, das hatte ich ja vorher angesprochen. Aber was hast du bemerkt?

Ich hab nicht irgendwelche Fischchen oder so was gesehen. Es war einfach nichts da.

Was wir bemerken, wenn wir da so hinschauen, ist, dass es nicht offenkundig ist, wie es weitergeht. Es ist in sich erst einmal nicht schlüssig. Es gibt keine Notwendigkeit, in die eine oder andere Richtung weiter zu machen, und es stockt. Weil es im Grunde genommen keine vorher bestimmte Geschichte ist, sondern etwas, das sich entfaltet und das kann sich in verschiedene Richtungen entfalten. Es gibt auch völlige Brüche, da kann man dann springen. Plötzlich ist man in einem anderen Ding drin. Ja und diese Möglichkeit zu einem Sprung aus der einen Geschichte in eine ganz andere, die ist ständig da. Das machen wir ständig in unserem Kreis. Wir springen ständig in neue Assoziationsketten.

Teilnehmerin: Diese Assoziationsketten hab ich ganz stark wahrgenommen. Ich fahre im Anschluss an den Kurs nach Berlin, und das wollte ich mir ausmalen. Nur um ein Beispiel zu nennen: Ich hab so was wie einen Schluckauf gehabt, und dann fiel mir ein, dass ein Papst an einem Schluckauf gestorben ist. So ging das dann hin und her. Das ist der Punkt, wo sich Tagträume entfalten, wo man völlig wegdriftet. Aber weil das eine Übung war, sind sie nicht weggedriftet, sondern ich hab eben diese Sprünge sehr gut wahrnehmen können.

Toll! Ihr merkt: Das Gewahrsein zwischen gestern und heute ist schon deutlich anders geworden. Ihr kriegt eine Menge mit. Ich hör noch weitere Beiträge.

Teilnehmer: Bei der dritten Übung habe ich gemerkt, dass mir Sätze viel zu langsam sind. Ich hab immer nur Bilder.

Da hast du aber viele Euro verdient.

Einmal hat es gestockt, aber sonst ging das so.

Hast du das auch gemerkt, dass in Bildern zu denken viel schneller geht als in Sätzen? Gibt es noch andere denen das aufgefallen ist?

Teilnehmerin: Ich denke überhaupt nur in Bildern.

Teilnehmer: Erst waren da Bilder und später wurde der Inhalt der Bilder auch noch ausformuliert. Das fing dann an, intensiv zu werden.

Ja, das ist dann eine Lösung die unser Geist vornimmt, wenn es stoppt. Er denkt gleich dasselbe noch einmal. Ja, ja damit schafft er sich Zeit. Er rennt so ein bisschen im Hamsterrad bis er irgendwo wieder einen Anspruch findet. Ja, es ist ganz wichtig, diesen Mechanismus zu beobachten.

Teilnehmer: Bei mir war es auch oft so, dass ein Satz nach dem ersten Wort abbricht, damit ist es dann erledigt. Mir kam dann auch die Frage, ob das wirklich ein natürlicher Prozess ist oder ob es ein brutaler Akt der Zensur ist, den ich selber mache.

Gute Frage! Wie beantwortest du dir deine Frage?

Ich denke, es kommt durchaus vor, dass ich das mache.

Wenn im Moment des Auftauchens eines Gedankens ein zensierendes Gewahrsein da ist, dann kommt es nicht zur vollen Ausformulierung des Gedankens. Der Gedanke wird dadurch unserem Normalbe-wusstsein gar nicht bewusst. Das nennen die Analytiker ‚das verdrängte Unbewusste’. Das sind Fischchen, die wegzensiert werden, bevor sie sich ganz ins Bewusstsein hineingebracht haben.

Nun haben die Funktion des bloßen Gewahrseins und das zensierende Gewahrsein ähnliche Wirkun-gen. Dessen gewahr zu sein, was im Geist auftaucht, bringt uns auch in eine Nicht-Identifikation, wo-durch die Gedankenketten normalerweise abbrechen. Deswegen ist es eine wichtige Übung, auch bewusst zu denken und bewusst zuzulassen, und immer weniger zensierend wahrzunehmen. Also eine Freude am Denken, am Wahrnehmen der Gedanken zu entwickeln, damit wir mehr und mehr auch die

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kleinen Flitzer wahrnehmen, die normalerweise nicht bewusst sind. Dass wir ihre Inhalte wahrnehmen und dass wir wahrnehmen, wie sie auf unser Gesamterleben gestaltend wirken.

Diese kleinen Flitzer nämlich, die haben unser Erleben, unsere Wahrnehmung schon längst gestaltet, bevor es zur Ausformulierung der Sätze kommt. Das heißt, in einem Menschen mit verdrängter Aggressivität – z.B. der seine eigene Wut, seinen eigenen Zorn nicht zulassen kann – finden aggressive oder angstvoll aggressive Interpretationen der Wirklichkeit statt. Das sind die kleinen Flitzer. Aber das Entstehen eines wütenden Gedanken – z.B. auf meine Eltern oder auf meinen Partner – wird wegzensiert. Der Mensch ist angespannt, aber lebt in dem Bewusstsein, keine negativen, aggressiven Gedanken zu haben.

Und das ist genau das, was du gerade so schön beschrieben hast. Wir besprechen jetzt gerade einen hoch interessanten Prozess. In der Therapie wird viel mehr Erlaubnis gegeben, dass sich solche Gedanken ruhig einmal formulieren dürfen und dann auch verbal ausgedrückt werden können. Dass die kleinen Flitzer länger bleiben dürfen und mehr Raum bekommen, sodass sie zu diesen verbalisier-ten Gedanken führen, und dass das Gewahrsein stärker wird, um die Hintergrundstimmungen zu spüren, die durch diese Minigedanken erzeugt werden. Das alles ist Teil des heilsamen Vorgangs. Da hast du jetzt gerade den Finger darauf gelegt.

Gewahrsein und zensierendes Gewahrsein wirken zunächst einmal tatsächlich sehr ähnlich. Gewahr-sein bedeutet, dass ein Gedanke sich erübrigt, weil der Impuls, der Flitzer vorher bereits wahrgenom-men wurde und der Gedanke sich erübrigt hat. Er wird nicht wegzensiert, er hat sich einfach erübrigt. Zensierendes Gewahrsein ist mit einem viel stärkeren Schleier verbunden. Es will nicht wahrhaben, dass so eine Bewegung im Geist war, und sagt: „Weg damit!“ Das ist eine andere Motivation, und vielleicht habt ihr ja bei den ersten drei Übungen gemerkt, dass ich bei jeder der Übungen die Aufgabe ein bisschen verändert habe.

Ich habe bei den Übungen die Motivation verändert. Habt ihr das gemerkt? Zuerst war die Motivation zählen. Ob das jetzt Ehrgeiz bei euch auslöst oder was auch immer, oder einen Belastungsdruck – „Ich muss jetzt zählen!“ – ist egal. Es war die Aufgabe zu zählen. Was war die Motivation bei der zweiten Übung? Ermutigung, Freude entwickeln. Freude am Entdecken einer jeden geistigen Bewegung entwickeln. Und die dritte war eine Verstärkung noch in Richtung Belohnung: „Mal schauen, ob diese vielleicht exzessive Motivation des Sehen-Wollens nicht vielleicht gerade blockierend drauf wirkt, sodass ich in der dritten Übung weniger wahrnehme als in der zweiten Übung. Das ist auch ganz interessant. Eine übermäßige Motivation, seinen eigenen Impulsen auf die Spur kommen zu wollen wirkt oft blockierend, kann aber auch bei jemand anderem einfach genau das zusätzliche Gewahrsein freisetzen, das notwendig ist, um wirklich hinzuschauen. Und mir war es auch wichtig zu sagen, dass man für die kleinen Flitzer mehr kriegt als für die großen. Es ist nämlich eine ganz wichtige Motivation für jeden Praktizierenden, die Kräfte wahrzunehmen, die wirklich unser Erleben gestalten.

Die großen Sätze, derer wir uns bewusst sind, die sind auch geistige Gestaltungen. Aber so vieles, was unser Erleben gestaltet, kriegen wir gar nicht mit. Es gibt z.B. eine Untersuchung darüber, wie lange es braucht, bis sich jemand beim Eintreten in ein Wartezimmer, z.B. beim Zahnarzt, entschlossen hat, auf welchen freien Stuhl er sich setzt. Bei diesen Versuchen waren zwischen bereits sitzenden Menschen freie Stühle, und man hat versucht zu messen – ich weiß nicht genau, wie sie es gemacht haben – wie lange die innere Orientierung braucht. – „Mag ich!“, „Mag ich nicht!“, „Da fühle ich mich wohl!“ Lichteinfall, Raumgefühl usw. – Keine Sekunde! Diese Orientierung findet im Bruchteil einer Sekunde statt, und die Entscheidung ist bereits gefällt. Und zwar nicht mit verbalisierenden Gedanken, sondern mit den kleinen Flitzern.

Diese kleinen Gedanken, diese Minigedanken, entwischen den Meditierenden normalerweise. Die bemerken sie nicht und haben deswegen nicht einen wirklichen Eindruck von dem, was in ihrem Geist los ist. Weil sie diesbezüglich träge sind, nicht wirklich hinschauen wollen, lieber die Ruhe haben. – Wenn erst einmal keine verbalen Gedanken auftauchen, ist einem das schon ganz recht, und den Rest möchte man lieber nicht sehen. Man möchte lieber die Ruhe, ein bisschen Frieden, einfach einmal ent-spannen können. Aber untergründig läuft eine Menge ab.

Teilnehmerin: Ist das vergleichbar mit Intuition? Denn, wenn ich in einen Raum gehe und einen Platz wähle, dann würde ich das intuitives Verhalten nennen.

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Bei Intuition wirken sicherlich auch solche kraftvollen Minigedanken mit. Ein Beispiel: Wenn du in ein Wartezimmer gehst und da sitzt jemand, der deinem Vater ähnelt, und du hast früher mit deinem Vater eine schwierige Geschichte laufen gehabt, dann ist das nicht Intuition, wo du dich hinsetzen wirst, sondern es schießen blitzschnell nonverbale Vergleiche mit früheren Situationen ein, die dazu führen, dass du dich lieber auf die andere Seite zu der netten Frau setzt. Unsere Wahl ist also nicht intuitiv, sondern ist ein emotionales Reagieren auf Sinneswahrnehmung. Ähnlich wie diese emotionale Reaktion ist Intuition zunächst nonverbal und kann dann, wenn sie bewusst wird, auch verbal kommuniziert werden.

Teilnehmer: Das hab ich gestern bei der geleiteten Dorje-Sempa-Praxis gemerkt, wo du gesagt hast, dass sich Themen zeigen, die man dann bearbeitet. Das war eigentlich eine Bagatelle einer anderen Person gegenüber. Dann hab ich versucht, so zu machen wie du gesagt hast, und nach der Meditation habe ich festgestellt, dass ich im Kontakt mit dieser Person eigentlich immer meine Geschichte hab. Aber in dem Moment, wo ich mir die Zeit in der Meditation genommen hatte, um das war es weniger belastet. Also ich trage mit jedem meine Geschichte aus und in dem Moment … Drum glaub ich, was im Geist erscheint, ist eine Ausformulierung von einem Bild, vorher ist eine Energie da. Es ist ja nicht einmal ein Gedanke, eben eine Energie, und die hab ich mit jedem. Drum war es mir so wichtig, festzustellen: Eigentlich ging es mir nur darum, die Übung zu machen, festzustellen, wie ich sie gut umsetze. Und dann stelle ich fest, dass sich die Übung massiv auswirkt im Kontakt zu den anderen.

Das führt uns auf eine noch subtilere Ebene. Ich hätte nicht gedacht, dass das angesprochen wird. Aber es gibt tatsächlich hinter all den kleinen flitzenden Gedanken Triebkräfte. Es gibt Kräfte, die zum Entstehen dieser Flitzer, dieser kleinen Fische führen. Sich dessen bewusst zu werden, ist noch einmal ein Stück subtiler. Wir merken dann, dass diese projizierenden Gedanken, die eine Situation oder einen Menschen belegen mit irgendwelchen Attributen, die aber emotional eingefärbt sind, unser Gefängnis ausmachen. Das nennen wir Gestaltungen. – Wir gestalten unser emotionales Gefängnis.

Du hast bemerkt, dass es zugrunde liegende Kräfte gibt – Muster des Wahrnehmens.

Wenn das mit einem negativen Verhalten von mir oder jemand anderem zusammenhängen würde, dann könnte ich es mir erklären, aber es ist eben eine Bagatelle. Absolut unwichtig, hat aber massive Auswirkungen. Ich habe mit dieser Person projiziert, d.h. mein Verhalten wird immer manipuliert, aber wer macht das?

Wir finden da ja keinen Täter. Aber es sind Kräfte in uns aktiv, die dazu führen, dass solche blitz-schnellen Gedanken sich an Bagatellen heften oder sogar an etwas nicht Existierendes – einfach Ein-bildung –, und daraus machen wir eine Story.

Teilnehmerin: Ich habe das für mich so interpretiert, dass es eigentlich – nach dem, was ich bis jetzt gelernt habe – karmische Emotionen sind. Da ist die karmische Emotion, dann sind da die kleinen Flitzer – und da aber ständig! Das ist aber die unbewusste Ebene, die ich nur mit Gewahrsein wahrnehmen kann. Das andere ist dann da drüber …

Ja, das ist bewusster. Wir nennen das oft karmische Muster und hinter den karmischen Mustern sitzt noch einmal eine tiefere Schicht, das nennen wir die existenziellen Triebkräfte. Das ist noch einmal feiner. Man sieht sie an ihren Ausformungen. Man sieht sie an dem, was sie zum Vorschein bringen. Sie direkt zu spüren, direkt wahrzunehmen, ist etwas ganz Subtiles.

Sind das diese menschlichen Triebkräfte?

Nein, ich meine die drei bzw. vier Triebkräfte, von denen der Buddha gesprochen hat. Vollkommenes Erwachen wird definiert als das zum Erliegen-Kommen der Triebkräfte. Diese sind das Streben nach Sinneserleben, das Streben nach Existenz, das Streben nach Nichtexistenz und der Hang zu mangeln-dem Gewahrsein, zu Nicht-Gewahrsein oder Unwissenheit, Dumpfheit. Diese vier Triebkräfte sind das, was uns vom Erwachen trennt.

Den ganzen Kurs fordere ich euch schon dazu heraus, gegen dieses Verlangen nach mangelndem Ge-wahrsein anzusteuern. Ich führe euch aus dem Haften an Sinneswahrnehmungen ein bisschen heraus ins einfache Erleben. Aber wir sind noch nicht an dem Punkt, das Haften am Erleben aufzulösen. Das geht jetzt auch gar nicht, es ist nicht etwas, das man machen kann. Es findet statt. Durch tiefes Sehen der Natur des Erlebens löst sich das Haften am Erleben auf.

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Teilnehmer: Vor ein paar Jahren ist bei Untersuchungen herausgekommen, dass Entscheidungen ein paar Sekunden vorher getroffen werden, bevor wir sie bewusst fällen. Wir denken, dass wir frei entscheiden würden, dabei ist es aber schon entschieden. Das hat dann für kurze Zeit die Frage nach dem freien Willen interessant gemacht.

Ich sehe, du bist da ziemlich informiert. Diese Frage ist immer noch nicht geklärt. Wir beginnen diesen Sommer ein Projekt an der Uniklinik Freiburg mit Prof. Stefan Schmidt. Es ist ein Forschungs-projekt zum freien Willen. Da geht es genau um die weitere Klärung dieser Frage: Ist eine Entschei-dung schon gebahnt, bevor sie überhaupt getroffen wurde? Ist es eine Illusion, eine Entscheidung zu treffen? Man versucht sich heranzupirschen an den Moment der Entscheidung. Sie haben mich als ein-zigen Probanden für diese Versuchsserie eingeladen. Es ging darum, Probanden zu finden, die die kleinen Flitzer wahrnehmen können, die wirklich möglichst nahe herankommen an das Entstehen eines Impulses. Und da braucht es auch noch weitere geschulte Meditierende, die nicht bei den bewussten Gedanken bleiben, sondern die noch subtileren und auch diese Impulse davor wahrnehmen können.

Das ist ein ganz spannendes Experiment, vier Leute arbeiten daran. Da geht es um den freien Willen mit Elektronenmessung usw. Die bisherigen Experimente weisen eigentlich darauf hin, dass die Entscheidung schon gefällt ist, bevor es zu irgendeiner Form von Bewusstheit der Entscheidung kommt. Das ist ein Phänomen, das sich die Forscher nicht erklären können, weil sie so wenig Hand-habe über die enorme Geschwindigkeit des Geistes haben, dass all die größeren Phänomene, die in den Bereichen des Erzählbaren gehen – wo man z.B. eine Taste drücken kann – viel zu spät kommen. Das Wesentliche ist schon vorher entstanden.

Teilnehmer: Das sind eigentlich erst Ausformulierungen.

Teilnehmerin: Mir passiert es so oft, dass ich z.B. meditiere und dann kommt so ein Flitzer: „Ich stehe jetzt auf!“. Dann denke ich, „Nein, das kommt nicht in Frage!“ und einige Momente später stehe ich wirklich auf. Ich fühle mich richtig ausgeliefert.

Man fühlt sich fremdbestimmt, nicht? Da sind andere Impulse, die haben die Entscheidung getroffen. Solange du eine bewusste Kontrolle ausübst, findet das nicht statt. Sobald du die Kontrolle wieder entspannst, stehst du auf und bist schon am Telefon.

Ja, ist ein leicht anderes Phänomen. Was du beschreibst, ist, dass die Kontrolle von Handlungs-impulsen und die Entscheidung zu einer Handlung nicht am selben Ort stattfinden.

Teilnehmerin: Zum Haften an Existenz: Wenn ich nachts wach liege, dann ist im Geist so viel los. Da hab ich schon öfter das Gefühl gehabt, ich erzähl mir die ganze Zeit irgendwas, nur damit ich mir jeden Moment beweise, dass es mich gibt.

Jetzt bist du wirklich auf der Spur.

Beim Meditieren fällt mir das natürlich auch auf, aber in der Nacht denke ich mir: „Was ist denn das? Warum?“ Beim Meditieren denke ich mir, dass ich etwas wiederhole, was geschehen ist. Wenn sich z.B. jemand schnäuzt, dass ich denke, dass der Schnupfen hat und solche Dinge. Das geht so dahin, und ich denke mir, das ist so belanglos, warum denke ich darüber nach? Ich glaube, das mach ich nur, damit ich mich immer wieder in Abgrenzung erlebe.

Das ist ganz wichtig und potenziell sehr heilsam, was du gerade gesehen hast und ausdrückst. Das ist es tatsächlich. Hinter diesem Gedankensalat steckt das Bedürfnis, sich die eigene Existenz zu bewei-sen und die Angst, nicht zu existieren. Es ist die Angst davor, was eigentlich los ist, wenn einmal keine Gedanken da sind, oder wenn ein Durcheinander im Geist ist und es unlogisch wird. Diese Angst nährt diese Bedürfnisse, Bewegung hineinzubringen, Logik hineinzubringen, immer etwas Wahrnehmbares zu haben, nur um sicher zu sein, dass es mich gibt. Wenn du da weiter machst und diesen Faden weiterverfolgst, kann es zu einer ziemlichen Wandlung in deinem nächtlichen Erleben kommen, wo du dich mit deinen Gedanken immer rumschlagen musst. Wirklich, das ist ganz wichtig.

Geht es darum, das einfach zu bemerken? Das löst sich dann wahrscheinlich auf?

Du wirst nicht umhin kommen, in das Bedürfnis nach Existenz und die Angst vor Nichtexistenz hineinzuschauen. Da kommen auch Erfahrungen, wie wenn sich ein Abgrund öffnet, wie wenn alle

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Haltestricke reißen. Das ist nicht angenehm, sich dem zu stellen, aber es ist die Lösung. Wenn wir damit Frieden finden, dann brauchen wir dieses Feuerwerk der Gedanken nicht immer wieder, mit denen wir uns selbst bestätigen. Da bist du eins mit uns allen. Wir alle haben das, nur dass du es seit ein paar Jahren sehr stark erlebst. Der einzige Unterschied liegt in der Intensität. Wir alle haben das. Wir alle bestätigen uns durch denken, sprechen, durch Sinneswahrnehmung, also Berührung, sehen usw. ständig.

Teilnehmerin: Ich erlebe manchmal, dass es somatisch wird. Ist das dann nur eine Verstärkung der Angst?

Ich glaube, es gibt gar niemanden, bei dem es nicht somatisch wird. Man fühlt es dann stärker, aber eigentlich somatisieren wir alle, ständig. Wenn ich mich selber erlebe, so kann ich keinen etwas intensiveren Gedanken wahrnehmen, der nicht auch gleichzeitig eine Auswirkung auf die subtilen Empfindungen im Körper hat. Und wenn sich Gedanken wiederholen und stark sind, dann haben die klare energetische Veränderungen im Körper zur Folge. Es geht dann sehr, sehr schnell, dass es auch zu konkreten körperlichen Symptomen kommt. – Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen kann man innerhalb von einer Sekunde produzieren.

Teilnehmerin: Könntest du bitte das eben Gesagte in Beziehung setzen zu den Skandhas? Mich würde z.B. interessieren, wo sich in dem Beschriebenen das Skandha der Empfindungen findet.

Das ist das, mit dem wir hier hauptsächlich praktizieren. Wir üben uns, bei den Empfindungen zu bleiben – Spüren, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und das Wahrnehmen der geistigen Bewegun-gen – und wir bemühen uns, nicht so stark in die Unterscheidungen einzusteigen. Wir werden die initialen Impulse einer Unterscheidung in angenehm und unangenehm nicht unterbinden können, aber wir brauchen die Empfindungen nicht zusätzlich noch zu benennen. Das entspräche dem 3. Skandha, und wir brauchen auch nicht jedes Mal in das 4. Skandha einzusteigen, indem wir uns in emotionale oder gedankliche Filme verfangen. Wir bemühen uns um ein direktes, einfaches Wahrnehmen von Formen und Empfindungen. Mit „Formen“ sind nicht nur visuelle Wahrnehmungen sondern die Wahrnehmungen aller Sinnesfelder gemeint. Wir üben uns darin, bei den aufschießenden Sinnesempfindungen – auch wenn sie schon als angenehm und unangenehm empfunden werden – uns nicht mit den Empfindungen zu identifizieren und dieser Empfindungen möglichst unmittelbar gewahr zu sein. Dieses einfache, direkte Gewahrsein wird zunehmend deutlicher und klarer. So praktizieren wir mit dem 5. Skandha, den verschiedenen Formen des Bewusstseins, bis wir deren einen Geschmack erfahren. Sie sind insofern von einem Geschmack, als die Natur aller Wahrnehmungen dasselbe dynamische, nicht fassbare Gewahrsein ist. Diese nicht fassbare Grundnatur allen Erlebens wird auch „Leerheit“ oder „Nicht-Selbst“ genannt. So üben wir uns ständig in der Nicht-Identifikation mit den fünf Skandhas. Wir entwickeln dabei ein feines Gewahrsein, durch das wir bemerken, wie sich unser Erleben zu individuellen Welten ausgestaltet und wie wir diese individuellen „Filme“ entspannen können, um in eine einfache, offene Wahrnehmung hineinzufinden. Das ist, was wir ständig praktizieren. Aufgrund dieses individuellen Ausgestaltens unserer inneren Welten sprechen wir beim 4. Skandha von „Gestaltungen“. Auf der Basis des 2. und 3. Skandha – Empfinden und Unterscheiden – werden die bedingt entstehenden Wahrnehmungen in gedanklichen und emotionalen Prozessen weiter ausge-staltet zu unseren individuellen Welten. Jeder lebt in seiner Welt, du in deiner, ich in meiner, aufgrund unserer persönlichen Filter. Wir erkennen zunehmend, wie alles Erleben ein dynamischer Prozess ist, ohne ein fixes Ich, das immer gleich bleiben würde – ein ständiger Prozess, in dem Erleben und Gewahrsein eins sind. Wir erfahren direkt, dass die beiden nicht getrennt sind voneinander. Es gibt kein Erleben ohne Gewahr-sein und kein Gewahrsein ohne Erleben, womit die Unterscheidung von Subjekt (Gewahrsein) und Objekt (Erleben/Erfahrung) zusammenbricht. Das ist es, was wir gerade machen, beleuchtet aus der Sicht des Abhidharma.

Meditation Wir lösen den Geist aus aller Beschäftigung mit dem Gehörten. – Das zu erleichtern, können wir den Atem spüren, den Körper. –

* * *

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Plädoyer für die Dynamik Teilnehmerin: Ich habe das Gefühl, wenn wir unser Leben so runterdrechseln und das ganze Tempo rausnehmen usw., bis uns die Füße einschlafen, ist für mich ein wenig manipulativ. Es ist für mich nur ein Teil der Wahrheit, sich in eine Laborsituation zu begeben usw., was uns ruhig macht, um den Geist anschauen zu können. Aber unser Leben ist aktiv, wir sind total beschäftigt und wir sind in dieser Zeit, in der ganz viel in uns einströmt, und es müsste doch auch darum gehen, uns auch hier zu trainieren. Dass wir auch da lernen, damit geschickt umzugehen, mit der Schnelligkeit, mit der Dynamik. Denn, was ist nach dem Tod? Da werden wir auch kein stilles Platzerl haben, wo wir unseren Geist an-schauen, da wird einfach die Post abgehen. Deswegen denke ich, wäre es gut, Methoden zu haben, wie wir unseren Geist in dieser Schnelligkeit, in der Aktivität trainieren können.

Ja, du siehst diesen Dharma-Praktizierenden, der immer mehr Bereiche aus dem Leben ausklammert und immer mehr einschrumpelt mit seiner Lebensenergie. – Hast dich nicht getraut, das zu sagen? – „Und wenn ich dann sterbe, muss ich doch Gewahrsein haben!“ Und diese Person wird immer lebens-unfähiger dadurch. Das meinst du mit „Füße einschlafen“?

Ja, dass man einfach sehr viel ausgeschlafener sein soll…

Wie kriegen wir das hin: eine gesunde Dharma-Praxis gerade in dem Punkt? Wir sind hier in einer Laborsituation. Ich hab sogar darum gebeten, dass außer in der Mittagspause nicht gesprochen wird – wir haben uns nicht ganz daran gehalten – es hat einigen gut getan. Es wäre schön, wenn es für heute Abend noch einmal anzieht, aber das ist eine etwas künstliche Situation. Und ich glaube, die Künst-lichkeit ist es, die dich stört, nicht?

Ja, ich finde es schwierig, das in den Alltag zu übertragen.

Du findest das schwierig, weil es im Alltag so lange, stille Räume nicht gibt.

Sogar ganz im Gegenteil.

Im Gegenteil, es wird überall schnabuliert, es ist was los, wenn du zu Freunden kommst, läuft noch der Fernseher. Wenn man abends was macht, geht man tanzen. …

Ja, es ist ein Überangebot an Eindrücken.

Teilnehmer: Darf ich noch eins draufsetzen? Was ich mir vom Dharma, von der Gewahrseins-Praxis wünschen würde, ist, dass man eine noch größere Lebendigkeit hat als vorher. Die Verstrickungen, die wir haben, die entziehen uns ja Energie, die machen uns kaputt, wir sind dauernd am Kämpfen. Wenn dieses Kämpfen weg ist, dann stell ich mir das wie eine riesige Freiheit vor. Ich hatte gestern für ein paar Minuten so ein Gefühl von Freiheit. Es war alles so einfach! „He, Mensch! Kann das Leben wirklich so sein?“ Ohne die Last, ohne dieses ganze Getue. So stell ich mir das eigentlich vor.

Ja! Deine Vorrednerin sagte im persönlichen Gespräch noch: „So wie Tara, die hat doch Energie! Die macht, die tut, die setzt sich ein und da wollen wir doch hin!“

Teilnehmerin: Mir geht es anders. Ich erlebe das mehr wie eine Oase, im Alltag finde ich oft nicht die Kraft oder den Mut, so zu verlangsamen wie hier. Ich finde das ganz wertvoll, dieses Schweigen und das auf mich Besinnen und die Ruhe zu spüren, und auch die Achtsamkeit. Das Wort Gewahrsein möchte ich noch gar nicht in den Mund nehmen, aber die Achtsamkeit, die da entsteht ist schon was, was ich mitnehme und was mir auch eine Vision gibt: „Das geht!“ Das kann ich langsam und in kleinen Schritten – manchmal zwei Schritte zurück, aber dann wieder einen Schritt nach vor – im Alltag ein Stück mehr integrieren.

Teilnehmerin: Ich denke auch, dass die Verlangsamung für die meisten von uns und auch für die Gesellschaft ein adäquates Mittel ist, aber trotzdem ist es nur eine Seite. Es ist nur ein Pol, das andere aber genauso. Für mich ist das andere wie ausgeklammert.

Es wird zu wenig darüber gesprochen. Jetzt möchte ich ein bisschen darüber sprechen. Was ist eigent-lich das Ziel? Das ist nicht, dass wir überall langsam herumlaufen und ständig schweigen. Nein!

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Teilnehmerin. Dass man mit jeder Situation so umgehen kann, dass sie für alle nützlich ist.

Das heißt, dass wir auch schnell handeln können, kraftvoll handeln können, dass wir in unserer Ener-gie stecken. Dass unsere Energie nicht durch unsere Verstrickung abgezogen sondern frei ist, und dass wir sie da, wo wir hin wollen, mit voller Kraft einsetzen können, und mit Geschwindigkeit. – Ich bin doch nicht blöd und mach meine Mails extra langsam! Geht doch nicht! – Wir wollen da mit voller Energie, rein, dann wird es gemacht. Wenn es etwas zu tun gibt, dann wird das auch mit Energie gemacht.

Manche Praktizierende mit so einem halbgaren Dharma-Verständnis können, wenn sie von einem Kurs zurückkommen, in dem Geh-Meditation geübt wurde, gar nicht mehr normal gehen. – Verlang-samtes Gehen biete auch ich ja oft an. – Wenn sie dann was sagen wollen, müssen sie zwischendurch stehen bleiben, weil zwei Dinge nicht gleichzeitig gehen. Das ist nicht die Richtung! Es geht um ein Gewahrsein, das zu so einer Flexibilität führt, dass wir mit allen Geschwindigkeiten und Situationen immer besser zurechtkommen, immer besser. Wir wissen nicht, was individuell möglich ist, aber wir müssen auch schnell handeln können, wir müssen auch langsam handeln können. Es geht darum, aus den Fixierungen raus zu kommen.

Es gibt unter uns im Raum ganz unterschiedliche Menschen. Da sind welche, für die ist es von der Le-bensenergie her gesehen fast tödlich, wenn sie sich ständig verlangsamen würden. Das würde ihnen gar nicht gut tun, sie würden richtig depressiv werden. Denen tut es gut, immer wieder die flotten Din-ge, energetische Sachen zu machen. Anderen tut Verlangsamung richtig gut, das ist Balsam. Es ist so gut, so hilfreich, dass sie den Geist auf diese Weise klären können und es auch aufrechterhalten kön-nen. Wir sind unterschiedliche Typen.

Und dann haben wir hier eine Labor-Situation, in der wir etwas versuchen zu praktizieren und zu verstehen, was wir zu Hause alleine gar nicht so hinkriegen. Wir schaffen es zu Hause nicht, so eine Labor-Situation herzustellen. Ein ruhiges Umfeld, geführte Meditationen, manchmal Übungen, in denen wir ganz kurz in ein ganz gezieltes Beobachten des Geistes gehen. – Wir machen ja hier Labor-arbeit. Und diese Laborarbeit ist möglich, weil wir uns die Bedingungen dafür schaffen.

Ich würde euch gerne die Aufgaben geben, auch zu Hause diese Übungen auszuführen, dass ihr z.B. für fünf Minuten so gezielt schaut wie wir das in den verschiedenen Übungen gemacht haben, das wäre toll. Das kann ich aber nicht machen, weil ich glaube, dass es zu Hause nicht so laufen würde. Ich weiß, dass es für viele von euch fast eine Überforderung ist, weil es sehr schwer ist, sich den äußeren Raum zu schaffen und so gezielt zu schauen. Die Früchte von diesem Schauen würden sich kaum einstellen.

Eigentlich geht es darum: Ein Labor ist immer künstlich, es ist das Ausklammern von Störfaktoren. Wir sind im Labor und haben Störfaktoren ausgeklammert, aber nicht, um ständig im Labor zu leben. Dieses Missverständnis entsteht immer wieder, wenn wir Dharmakurse besuchen. Wir meinen dann, so wie die Kurse stattfinden, müsste es zu Hause dann auch weiter gehen.

Da hast du Recht, dass wir eigentlich auch ein Training brauchen, um Geschwindigkeit zu üben.

Teilnehmerin: Ich stelle mir z.B. die Übung vor, dass alle durch den Wald rennen, um das Gewahrsein zu halten.

Das ist dann Achtsamkeit. Das ist der Punkt, wo ich nicht ganz einig mit dir war. Wenn du durch den Wald rennst, kannst du nur noch achtsam sein, dass du dir nicht den Fuß verknackst und keinen Ast in die Augen kriegst.

Ich meinte auf Waldwegen. Ich finde, das kommt der Alltagssituation näher, dass wir uns schnell bewegen, dass ganz viel passiert…

Ja, ich möchte das wirklich unterstreichen. Wir sollen in unserer Praxis auch auf Ausgewogenheit achten, was das angeht. Wir sollten immer wieder das andere Spektrum der schnellen, flotten Hand-lungen – tanzen, laufen, schnelle Arbeit in der Küche – nutzen für Formen der Praxis, die für diese schnellen Handlungen angemessen sind. Da werden wir nicht unbedingt die kleinen Flitzer bemerken in unserem Geist. Wir werden einfach lernen, während schneller Handlungen im Gleichgewicht zu bleiben. Es ist schon toll, wenn wir das können. Beim Autofahren darf man auch nicht verlangsamt sein im Geist, da muss man fit sein.

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Teilnehmerin: Oder beim Essenholen, dann ist die Schlange nicht so lang.

Dafür hätte ich viele Vorschläge, wie das schneller gehen könnte. Es wäre schon die Hälfte der Zeit gespart, wenn man das Essen nicht in die Ecke sondern an einen Tisch stellen würde, wo man sich dann von zwei Seiten bedienen kann.

Teilnehmerin: Ich verstehe das von vorhin recht gut. Dazu ein Beispiel aus meinem Leben: wir haben zu Hause einen Tag der Stille gewidmet und Gehmeditation durch unsere Räume und durch den Garten gemacht. Es waren für mich plötzlich andere Räume, es war ein anderes Grundstück. Es war eine Aktivierung. Darum geht es ja. Es geht ja darum, dass wir so frei werden von unseren Fesseln und nicht um Bewerten, dass nur das Langsame negativ ist. es geht darum, dass wir damit umgehen lernen.

Ja, genau. Eigentlich ist das Stichwort vorhin schon gefallen. Es geht eigentlich darum, aus den Ver-strickungen auszusteigen. Wenn Verlangsamung eine Verstrickung wird, eine neue Anhaftung, eine neue Identifikation, ein Gefängnis, dann müssen wir daraus aussteigen. So jemand braucht einen Tritt in den Hintern und muss hinausgeschickt werden. Und wenn Geschwindigkeit eine Verstrickung, ein Muster wird, dann brauchen wir Verlangsamung. Eigentlich geht es darum, frei zu werden, immer wieder.

Ich selber genieße das. Ich hab ziemlich viel Energie und ich genieße auch schnelle Handlungen. Ich genieße schnelles Handeln, Laufen usw. Auch sonst, ich genieße die Herausforderung der Schnellig-keit, das gehört für mich zur Dharmapraxis dazu.

Meine Beobachtung aus den Retreats sind die: Ein Teil derjenigen, die aus dem ersten Dreijahres-Retreat heraus kommen, haben wirklich Probleme mit der Geschwindigkeit außerhalb des Retreats. Wenn im Retreat aber wirkliche Mahamudra-Praxis stattgefunden hat – und das ist vermehrt im zweiten Retreat der Fall – kommen die Retreatler raus und sind auf der Ebene der Geschwindigkeit derer, denen sie begegnen. Sie haben also keine Verlangsamung, die sie noch schützt, sondern sind in der Lage, sich problemlos an die Geschwindigkeit derer, denen sie begegnen, anzupassen, obwohl sie nach sechs Jahren aus dem Retreat kommen. – Nicht alle, aber viele. Die setzen sich am selben Abend noch ins Auto und fahren nach Clermont in die Disco, selber am Steuer. Dann kommen sie nach Hause und praktizieren weiter.

Das ist die Mahamudra-Flexibilität, wo das Gewahrsein nicht mehr an irgendetwas Künstliches, Unna-türliches gebunden ist, sondern in allen Situationen wirklich auf die jeweils angemessene Weise mitgeht.

Danke für das Plädoyer für die Dynamik! Man bekommt bei den Unterweisungen zur Kontemplation über Tod und Vergänglichkeit das Wichtigste zuerst und kann leicht in so eine lebensverneinende Energie kommen. Leben ist natürlich dynamisch, hat Schnelligkeit. Gemeint ist mit diesen Instruktio-nen, dass wir das Unwichtige weglassen und zum Wesentlichen kommen. Bei denen, die diese Praxis richtig nutzen, habe ich immer gesehen, dass sie durch diese Kontemplation lebendiger werden, dass diese Kontemplation über Tod und Vergänglichkeit zusätzliche Lebensenergie freisetzt: „Jetzt geht’s voran, aber in die Richtung, die ich mir selbst gewählt habe!“ Anderes, die Verstrickungen fallen weg, es kommt zu einer neuen Lebendigkeit.

Schaut euch einfach die Lehrer an. Diejenigen, die ich getroffen habe, waren sehr lebendig. Die echten Dharmalehrer wirken nicht wie am Abstellgleis.

Meditation Zunächst die Grundübung. Ihr wisst jetzt, wie sie geht. Es ist wichtig, dass ihr sie dann auch zu Hause ausführen könnt. Was ist die Grundübung der stillen Meditation? Haltung, kurz den gesamten Körper spüren, dann den Anker für die jeweilige Praxis aufsuchen – in diesem Fall ist es der Atem. – Dann verweilen wir so lange bei unserem Anker, bis wir das Gefühl haben, dass ein stabiles Bewusst-sein, Gewahrsein entstanden ist. – Der Atem ist präsent, es braucht nicht mehr viel Energie, um dabeizubleiben. Dann können wir die Aufmerksamkeit ausweiten auf den gesamten Körper. – Das Sehen kommt hinzu, das Hören, das Riechen und das Schmecken. –

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In dieser Gesamtwahrnehmung der fünf äußeren Sinne stellt sich ein Gefühl von Ruhe und Ausge-glichenheit ein. Ganz von selbst werden die Gedanken, die geistigen Bewegungen deutlicher sichtbar, auch die Bewegungen, die sich unabhängig von den fünf Sinnen im Geist zeigen. – Wir können immer wieder zu den fünf äußeren Sinnen zurückkehren, aber mehr und mehr richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf das Denken, auf die feineren Gefühle, auf die Dynamik des eigenen Geistes. – Und wir betonen mehr das Wie als das Was. Wie erlebe ich? und nicht mehr so sehr: Was erlebe ich? Wie ist es gewahr zu sein? – Wie ist es, wenn Gedanken entstehen? Wie ist es Gedanken oder Denken zu erleben? – Wie ist es, dieses oder jenes Gefühl zu erleben? – Was geht im Geist vor sich? und dann: Wie geht es vor sich? –

* * *

Abendmeditation Wir richten es uns so ein, dass wir möglichst still sitzen können, möglichst ohne Schmerzen, dass der Körper eine gute, aufrechte Haltung findet. – Wir gehen kurz die Elemente der Haltung durch: Die Beine; wir schauen, ob die Hüften frei sind, beweglich; der Körper aufrecht, der Bauch entspannt, frei, offen; der Brustbereich offen; die Schultern entspannt; der Nacken, die Kinnpartie, der Mund. – Wir lassen den Blick seinen Anker finden, etwas gesenkt ohne ihn schweifen zu lassen und doch beweglich. – Dann denken wir daran, warum wir uns jetzt zum Üben hingesetzt haben: Was ist unser Anliegen? Was möchte ich üben? – Was möchte ich üben zu meinem eigenen Nutzen, für das eigene Erwachen, und wie kann ich mir vorstellen, dass es anderen zugute kommt. – Was möchte ich anderen auch mittels meiner Praxis schenken? – Nun wenden wir unseren Geist der weiteren Übung zu und entscheiden uns, für die Dauer der Meditationssitzung uns ganz aufs Üben einzulassen. Wir brauchen uns jetzt mit nichts anderem zu beschäftigen. – Ein wichtiges Element unserer Praxis besteht darin, unabgelenkte Präsenz zu entwickeln. – Wir suchen uns dafür einen Anker, zu dem wir wieder zurückkommen können, sei es der Atem oder vielleicht ein visuelles Objekt. –

* * *

Morgenmeditation Bevor wir die eröffnenden Gebete sprechen, lasst uns doch zunächst gemeinsam die vorbereitenden Visualisationen aufbauen. Wenn wir das wirklich in der Tiefe tun, dann ist dieser Beginn wie eine Mini-Meditation. Wir spüren zunächst unseren Körper und nehmen uns die Zeit anzukommen. – Dann bauen wir in unserer Vorstellung die Visualisation auf, wir lassen sie kommen und es kann jeden Tag etwas anderes sein. Wir können auch damit beginnen, dass wir uns zunächst Vater und Mutter zu unserer Rechten und Linken vorstellen, unsere Geschwister und sonstigen Anverwandten um uns herum, unseren Partner, … und die Menschen, mit denen es schwierig ist, direkt vor uns. – Wir nehmen uns Zeit diese Vorstellung auszuweiten, bis wir uns umgeben fühlen von all den unzäh-ligen Menschen, Tieren und sonstigen Lebewesen. –

Vor uns ist der Zufluchtsbaum, der Bodhibaum, der Baum des Erwachens. Wir können den Baum auch weglassen und uns einfach Wolken vorstellen oder Sitze im Raum, auf denen sich alle Erwachten befinden. Im Zentrum ist Buddha oder die Form, die uns am meisten inspiriert und mit dem Erwachen verbindet. –

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Buddha Vajradhara, Dordje Chang oder Buddha Shakyamuni, umgeben von den männlichen und weiblichen Gestalten, die uns besonders inspirieren, den Weg des Erwachens zu gehen. – Wir lassen die Präsenz stärker und stärker werden, lichtvoller, bewegt und dynamisch, und spüren in uns den Wunsch, diese Offenheit zu verwirklichen, in diese Offenheit, in die Qualitäten des Er-wachens einzutreten zusammen mit all denen, die uns umgeben. – Dann sprechen wir die Gebete und stellen uns dabei vor, dass wir sie direkt an den Buddha vor uns im Zentrum richten, der später dann als unser Wurzel-Guru mit uns verschmilzt. –

Am besten wäre es die Gebete in Deutsch zu rezitieren.

Rezitation: Zuflucht, die Vier Unermesslichen und Gebet an den Lama.

Die Zufluchtsvisualisation hat sich aufgelöst, ist mit uns verschmolzen, und wir spüren noch für einen Moment die Nachwirkungen. – Danach beginnen wir mit dem Geistestraining. Aus dieser Gelöstheit heraus gehen wir durch die Stu-fen unserer Praxis. Wir verbinden uns mit dem Körper und schauen ob die Haltung für uns stimmt. –

Dann kommt der Atem stärker ins Bewusstsein, und wir nehmen uns die ersten fünf Minuten Zeit, eine kontinuierliche Achtsamkeit zu entwickeln. Wir sind möglichst unabgelenkt mit Hilfe des Atems. –

Hin und wieder kehren wir zum Atem zurück und lassen alles andere los, lassen es zurücktreten, es ist gerade weniger wichtig. –

Im weiteren Verlauf der Meditation weiten wir unsere Aufmerksamkeit aus, in den Körper, nehmen das Sehen, Hören, Riechen und Schmecken dazu, und wenn wir da gut verankert sind, stabil, offen, dann schauen wir in den Geist und die geistigen Bewegungen. –

Beim Betrachten des Geistes, der geistigen Bewegungen, achten wir vorwiegend darauf, wie die Ge-danken entstehen, wie sie sich zu inneren Welten formen, sich wieder auflösen und wie es überhaupt ist, gewahr zu sein. Immer wieder interessieren wir uns für das Wie, bei der Beobachtung von all dem, was geschieht. –

Insbesondere schauen wir auf den Wandel, die Vergänglichkeit, die prozesshafte Natur allen Erlebens. Wie alles Erleben bedingt entsteht und vergeht, und wie es an uns liegt, wie wir damit umgehen, für wie wirklich wir es halten, ob wir greifen oder nicht greifen. Immer wieder schauen wir so in den Wandel aller Phänomene. –

Wenn die Beine Entspannung brauchen oder der Rücken oder der Körper wechselt einfach die Position, sodass sie für euch angenehm ist. –

Zum Abschluss der Sitzung bereiten wir uns innerlich darauf vor, den Übergang in die Aktivität zu vollziehen. Das heißt, wir stellen uns darauf ein, dieses Bewusstsein der prozesshaften Natur allen Erlebens wach zu halten, einen Blick zu behalten auf die Art und Weise, wie wir unser Erleben wieder strukturieren, aufbauen, innere Welten der Wahrnehmung entstehen lassen, an die wir glauben. Wir stellen uns darauf ein, auch im weiteren Verlauf des Tages ein bisschen das Auge darauf zu halten.

Widmungsgebet

Meditation Wir lassen noch einmal die Visualisation entstehen. Wir selbst sind umgeben von allen Lebewesen, unser Vater zur Rechten, unsere Mutter zur Linken, die nächsten Angehörigen um uns herum, die Menschen, mit denen wir es ein bisschen schwieriger haben, direkt vor uns. Wir alle schauen auf den Baum des Erwachens. In dessen Mitte befindet sich der Buddha unserer Wahl. Es kann Dorje Chang – Vajradhara – Buddha Shakyamuni oder die Form unseres Wurzel-Gurus sein. Sie sind umgeben von ganz vielen anderen, die uns auf dem Weg des Erwachens zutiefst inspirieren und das Erwachen be-reits verwirklicht haben. Wir nehmen uns Zeit, die Präsenz des Erwachens zu spüren, die Qualitäten der erwachten Meister und Meisterinnen. –

Zusammen mit allen Lebewesen sprechen wir dann die Gebete der Zuflucht, die vier Unermesslichen und das Gebet an den Wurzel-Guru, der dem Buddha im Zentrum des Baumes vor uns entspricht. Zum Abschluss verschmilzt der Lama mit uns und wir ruhen eine Weile in Meditation. –

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Rezitation der Gebete

Der Lama löst sich in Licht auf und verschmilzt mit uns. – Wenn unser Geist wieder etwas aktiver wird, wenden wir uns dem Atem zu und verankern unsere Achtsamkeit in die Bewegung des Ein- und Ausatems. Einatmend sind wir voll und ganz gewahr und ausatmend sind wir voll und ganz gewahr. – Immer wieder bringen wir die Achtsamkeit zum Atem zurück und verbinden uns so tief mit dem Ein- und dem Ausatem, dass wir „ganz Atem“ werden. – In dieser ersten Phase der Meditation wenden wir ganz viel Kraft und Energie auf, um wirklich beim Atem zu bleiben. Wir können die Atemzüge bewusst zählen, um dadurch den Gedankenstrom immer wieder zu unterbinden. – Wenn wir wirklich mit dem Atem verbunden sind, brauchen wir natürlich weniger Anstrengung zu machen. Wir entspannen uns in dem Maße, wie es möglich ist, beim Atem zu bleiben. – Wenn wir merken, dass wir wieder in Gedankenketten abrutschen, dann kommen wir unverzüglich zum Atem zurück. – Jetzt weiten wir das Gewahrsein auf den gesamten Körper aus. Einatmend sind wir des gesamten Körpers gewahr und ausatmend ebenso. – Hören, sehen, riechen, schmecken, es werden alle Sinne nun mit einbezogen. – Wahrnehmen frei von festhalten. Wahrnehmen, ohne über das Wahrgenommene nachzudenken. – Die Gedanken werden deutlicher sichtbar und deutlicher wahrnehmbar, die großen und auch die kleinen. Doch da gilt dasselbe: wahrnehmen ohne festhalten. –

GONG – Wir machen eine kleine Pause, ohne uns abzulenken und danach machen wir einige Übungen. Wir versuchen in der Pause in einem entspannten offenen Geisteszustand zu bleiben, sodass es nachher ganz leicht sein wird, dort wieder anzuschließen, wo wir eben waren.

Wir haben jetzt gerade die Grundübung gemacht. Das ist Shine, die Praxis von Geistesruhe, die bereits in die Richtung von Mahamudra geht. Dabei betonen wir ein Gewahrsein, das sich nicht auf die Ob-jekte fixiert, sondern gewahr ist, ohne sich weiter zu verfangen.

Übungen: Gestaltungen und Geistbewusstsein Wir machen weiter und gehen dieselben Schritte noch einmal ganz schnell durch: Atem, Einatem – Ausatem mit Körpergewahrsein. Hören, sehen, riechen, schmecken – wir öffnen alle Sinne. Alles darf sein, bei allem verweilen wir in der tiefen Schau des Entstehens und Vergehens, des Wandels. – Wahrnehmungen folgen aufeinander, mal ist es der eine Sinnesbereich der aktiviert wird, mal ein anderer. – Nun machen wir wieder die Grundübung für den sechsten Sinn, das Denken selbst wahrzunehmen. Entspannt, ein bisschen neugierig, schauen wir, was da an geistiger Bewegung zu bemerken ist. Ohne dass wir selbst was tun, wir nehmen einfach nur wahr, was von selbst auftaucht. Für zwei bis drei Minuten. – Falls es hilfreich ist, können wir innerlich sagen „denken“, wenn wir einen Gedanken wahrnehmen. – Aber nur, wenn es für euch hilfreich ist. –

GONG – Wir bleiben in locker gelöster Wahrnehmung und merken vielleicht, wie es unseren Geistes-zustand verändert, dass gerade jetzt die Pause eingeläutet wurde. Wie verändert sich unser innerer Zustand? –

Mit der nächsten Übung gehen wir etwas tiefer. Zuerst die Anleitung dazu: Wir waren bis jetzt mit den geistigen Bewegungen beschäftigt und nun schauen wir etwas genauer an, auf welchem Hintergrund oder in welchem Feld diese Bewegungen stattfinden. Der Buddha nannte das den Unterschied zwischen den geistigen Gestaltungen und Geistbewusstsein. Da gibt es viele Nuancen. Wir werden uns jetzt in dieser kleinen Meditation wieder den Gedanken zuwenden und versuchen, sie zu spüren. Dann versuchen wir zu erfühlen, aus welchen Kräften und in welchem Feld diese Gedanken erwachsen. Bemerken wir eine gewisse Anspannung? Bemerken wir emotionale Schattierungen, Stimmungen, ein inneres Suchen? Bemerken wir eine angstvolle Angespanntheit, aus der heraus sich diese Gedanken zeigen? Vielleicht auch Freude, Dankbarkeit. Wir gehen mit unserem Suchen mehr auf die Ebenen der Hintergrundstimmungen und Gefühle.

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Wenn ich dann den Gong anschlage, sammeln wir uns zunächst einmal und bemerken, dass es geistige Bewegungen gibt. Und wir versuchen zu erspüren, in welcher Stimmung sie eigentlich stattfinden und welche Kräfte zu ihrem Entstehen beitragen. Denn es ist ja nicht ganz von ungefähr, dass bestimmte Gedanken entstehen. Es geht darum zu spüren, zu fühlen oder eventuell zu sehen woraus sie entstehen, auf welchem Hintergrund. – GONG –

GONG – Pause

Wieder sammeln wir den Geist durch Gewahrsein auf den Atem. Alle Sinne sind offen. – Wir nehmen wahr, was für geistige Gestaltungen sich zeigen. Gedanken die sich in Worten aus-drücken, kleine Gedanken die nonverbal bleiben, Bilder und Eindrücke. – Diesmal richten wir unser Augenmerk darauf, wie Spannung entsteht und wie es zu Entspannung kommt, wie sich in unseren Wahrnehmungen und unseren Gedanken Spannung aufbaut und wie es dann dazu kommt, dass wir wieder in gelöstes Sein zurückfinden. – Wie kommt es dazu, dass sich Gedanken verdichten, dass sie zu ganzen Ketten, zu Geschichten, zu emotionalen Filmen werden? Und wie kommt es dann dazu, dass sie sich wieder auflösen, dass der Geist sich wieder öffnet? –

GONG –

Erfahrungen der Teilnehmer

Die Übungen waren jetzt noch ein bisschen subtiler als gestern. Konntet ihr folgen und was habt ihr erlebt? Was habt ihr entdecken können? Gab es irgendetwas Überraschendes oder etwas, was sich geklärt hat?

Teilnehmer: Wir haben ja am Anfang der Sitzung diesen kurzen Guru-Yoga gemacht. Dann haben wir den Lama im Herzen. Wie ist es, wenn man jetzt in der Praxis diesen Lama auch als Stütze nimmt? Ich habe so das Gefühl gehabt, dass es am entspannendsten ist, wenn ich vertraue, dass mein Geist nicht vom Geist des Lama getrennt ist und wenn ich da dann einfach rein schaue.

Das kannst du so machen, immer wieder den Lama in deinem Herzen denken. Da bemerkst du, wie die Kraft des Vertrauens im Grunde genommen in die eigene Buddhanatur dazu führt, dass sich die Geschichten wieder auflösen, dass sie wieder in Entspannung finden. Das ist die Kraft des Vertrauens als Schlüssel.

Teilnehmer: Mir ist bewusst geworden, dass ich bei den ganzen Übungen lieber im Frieden bleiben will. Wenn es geht, den Geist anzuschauen, kommt sofort der Gedanke: „Ich wehre mich dagegen!“ Vorher war da Frieden und da möchte ich auch drinnen bleiben. Damit hatte ich also ein Problem und das ist so weitergegangen. Als du am Schluss dann gefragt hast, wie es kommt, dass sich Spannung löst, war mir das sofort bewusst, wie das funktioniert, dass ich nicht greifen und nicht festhalten soll. Das war meine Erfahrung.

Das ist interessant, was du beschreibst. Als es nur darum ging, den Geist zu beobachten, bist du ein bisschen im Widerstand stecken geblieben. Aber wo du mit dem „wie“ geschaut hast, wie es zu Span-nung kommt und wie sie sich auflöst, das hat dir geholfen zu entspannen. Diese Fragen, die ich euch in der Meditation gerade gestellt habe, stammen aus dem Satipatthana-Sutra. Das sind genau die Fragen, die Buddha Shakyamuni dort zum Untersuchen der Dharmas stellt, der vierten Übung im Kultivieren von Gewahrsein.

Der Buddha stellt diese Fragen, weil sie direkt mit den Ursachen von Leid und dem Auflösen von Leid zu tun haben. Und das hilft, du merkst ja den Unterschied: Das bloße Schauen, auf das was im Geist passiert, ist noch nicht so effektiv, wie das Hinschauen, wie es dazu gekommen ist, wie es sich auf-lösen könnte. Das bewirkt tatsächlich was anderes. Dann war wenigstens die dritte Übung mit einem gewissen Aha-Erlebnis.

Was haben andere erlebt? Was für Beobachtungen habt ihr gemacht?

Teilnehmer: Ich hatte das Gefühl, dass ich überhaupt gar nicht den Hintergrund wahrnehme, sondern den Gedanken wahrnehme. Ich fühle dann in den Gedanken hinein und mache eine Art Recherche, wo er denn herkommen könnte, dass da gar nicht diese direkte Verbindung mit diesem Hintergrund ist.

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Das ist eine Schwierigkeit, die wir haben. Wir spüren dann den Gedanken zwar gut, gehen in den Gedanken hinein, aber dann setzt ein Denken darüber ein, wo er denn herkommen könnte.

Mehr ein Hineinfühlen.

Wenn es ein Fühlen ist, dann sind wir wirklich auf der Spur. Was es dazu eigentlich braucht, ist, dass wir den Gedanken etwas länger halten können, um den Gedanken mit seinem ganzen Geschmack irgendwie zu fühlen.

Manchmal gehe ich dann so darum herum, um nicht in den Gedanken hinein zu gehen.

Das ist auch hilfreich: darum herumgehen, um zu fühlen. Da merken wir dann auch, was noch alles damit verbunden ist.

Teilnehmerin: Ich habe das erste Mal das Verlangen zu existieren wahrgenommen, das waren so ganz kleine lebendige Impulse, nicht unbedingt in Gedanken. Manchmal kamen Bilder, aber zugleich so eine Faszination. Ich würde nicht sagen eine leise Freude, aber auch eine Anspannung, so etwas wie Festhalten an der Lebendigkeit. Da tut sich was.

Eine feine Freude an der Lebendigkeit, da ist was los.

Aber es war anstrengend.

Da war eine gewisse Spannung drin. Du hast das Gefühl gehabt, diese Spannung hängt mit dem Wunsch zu existieren zusammen.

Ja, da ist was los.

„Solange da was los ist“, sag den Satz mal weiter.

Ja, solange da was los ist, gibt es mich.

Ich denke, also gibt es mich.

Im Groben kann ich im Alltag dem widerstehen, aber das war jetzt eine Faszination.

Bleiben wir bei dem, was du wirklich erlebt hast, und gehen wir noch nicht so weit in die Interpreta-tion hinein. Was wir tatsächlich erleben können, ist dieser Durst zu denken. Dieser Wunsch, dass was los ist. Über diesen Durst, diesen Wunsch zu denken spricht der 9. Karmapa im „Ozean des wahren Sinnes“. Damit müssen wir Meditierende Bekanntschaft schließen, und es geht darum, diesen Durst, diesen Wunsch zu entspannen. Wenn du das noch weiter verfolgst und versuchst, diesen Wunsch zu denken zu bemerken und noch zu schauen, ob du irgendwie entspannen kannst, dann kommst du noch klarer in Kontakt mit dem Wunsch zu existieren. Da kommen dann auch die Ängste noch klarer: „Was ist, wenn da nichts los ist?“ Da wird das noch spürbarer, dann kommen Reaktionen zum Vorschein. Habt ihr diesen Durst zu denken auch schon mal bemerkt?

Teilnehmer: Bei mir hat sich der Durst nach Erinnerung gezeigt. Nämlich die Erinnerung oder der Wunsch eine Biographie zu haben, eine Geschichte zu haben. Das hat ja auch ganz stark mit der Existenz zu tun. In der zweiten Übung kamen bei mir so ganz klare farbige Bilder aus der Erinnerung, wie Postkarten kann ich nicht sagen, es war komplexer und lebendiger, so Kindheitserinnerungen, Erinnerungen an den Garten meiner Eltern und an meine Mutter. Da kam dann der Gedanke, was wäre, wenn ich diese Erinnerungen und überhaupt Erinnerungen nicht hätte, wenn ich keine Biographie hätte, was Lebendiges. Was wäre dann? Ich brauche das ja. Immer wieder: „Das bin ich. Das war ich und das ist meine Geschichte.“

Um es gut zu verstehen: Du hast zunächst gemerkt, dass diese Erinnerungen auftauchen, dann hast du hineingeschaut, was für Gefühle damit verbunden sind und was vielleicht die treibende Kraft sein könnte, dass es zu diesem starken Erinnern kommt. Und du hast das Bedürfnis nach Kontinuität ent-deckt.

Kennen auch andere von euch diesen Wunsch nach Kontinuität und Kohärenz, dass etwas zusammen-hängt, dass sich etwas zusammenfügt? Habt ihr das bemerkt? – Nicht so einfach zu sehen, nicht? Das ist im Traum nachts oft sehr deutlich zu spüren. Wenn man ein bisschen Bewusstheit im Traum hat, kann man sehen, wie zunächst unzusammenhängende Traumbilder auftauchen. Dann bemerkt man, wie der Geist noch zusätzlich einschiebt und einfügt, bis das eine Geschichte ergibt und sich das

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Ganze zu etwas irgendwie Sinnvollem verbindet. – So sinnlos, wie Träume auch sind, aber sie haben dann ihren Sinn. Scheinbar Unzusammenhängendes wird durch dieses Bedürfnis nach Zusammenhang zusammenfügt. Aus Zusammenhängen gerissen zu sein, sich aufgrund verschiedener Formen von Am-nesien seiner Biographie nicht mehr erinnern zu können, ist etwas ganz Brutales für Menschen. Das verunsichert zutiefst in diesem Gefühl: „Wer bin ich eigentlich?“. Dieser Wunsch jemand zu sein und sich mit etwas identifizieren zu können, ist ganz stark geprägt von dem Bedürfnis nach Erinnerung. Wir fügen diese Erinnerungen immer wieder zusammen, sodass daraus ein Lebensfaden entsteht. Da ist eine Anspannung darin. Hast du das dann eigentlich entspannen können?

Das war ja da noch nicht die Übung, die kam später.

Da durfte noch festgehalten werden.

Teilnehmerin: Diese Freude, die da so entstand, ist das auch eine Entspannung, ich weiß es nicht?

Du spürst das ja, du spürst ja die Mischung.

Es ist eine Mischung, ich könnte mich darin suhlen, aber auch nicht.

Du hast es vorhin schon gesagt, du hast das Wort Faszination benutzt. In der Freude ist nämlich eine Faszination und auch eine Erleichterung, dass da jetzt was los ist und davon ein Anteil Entspannung. Aber da ist auch eine Faszination, also wieder die Spannung und dieser Anteils Spannung hält das nämlich aufrecht. Sonst könntest du dich freuen und in völlige Gelöstheit eintreten. Ja, es ist eine Mischung. Du hast die schon gespürt, aber du musst noch genauer hinschauen.

Andere Beobachtungen? War es euch im Vergleich zu den beiden letzten Tagen, wo wir diese Übun-gen auch gemacht haben, denn möglich, grundlegend Gedanken wahrzunehmen? Die Tatsache wahr-zunehmen, dass da Denken passiert, war das möglich? Nickt doch einfach mal, wenn es so war.

O.k., das ist für mich als Unterrichtender wichtig. Kam es heute schon mehr dazu, dass ihr auch die kleinen nonverbalen Gedanken wahrnehmen konntet, also die, die sich noch nicht ganz ausgebildet, ausformiert haben. Konntet ihr davon was wahrnehmen? Die dies konnten, nickt doch bitte. Es war gestern einfacher, denn heute ist ein herausfordernder Tag, weil schon diese Abfahrtsenergie im Raum ist. Deswegen musste ich euch zu Anfang auch ziemlich an die Kandare nehmen, damit ihr zu einer gewissen Sammlung kommen. Das war gestern einfacher, aber das ist genau das, was wir im Alltag mit uns machen müssen. Im Alltag ist es nicht so superleicht, in die Meditation hinein zu gleiten. Wir haben so viel, was uns beschäftigt. Das ist so wie diese Abfahrtsenergie, und das wird noch stärker, wenn wir dann zu Hause sind. Wir müssen unsere E-Mails wieder checken, wir wissen „Morgen muss ich arbeiten gehen“, dann haben wir noch einen Anruf zu tätigen und dann wollen wir auch noch meditieren. Ja und dann braucht es diese fünf bis zehn Minuten intensiver Arbeit, den Geist zum Atem ranzuholen, ja wirklich ranzuholen.

Teilnehmer: Eine Frage zum Anker: Ich merke überhaupt zum ersten Mal, dass es darum geht herauszufinden, wie stark es ist, angemessen zu spannen. Ich kann das noch gar nicht richtig. Dieses Spannen – Wenn ich auf den Atem gehe, wie kann ich mich mehr damit verbinden? Aus früheren Belehrungen hab ich in Erinnerung, dass man Wächter aufstellen kann. An der Kehle, an anderen Stellen und letztlich immer weiter, ganz viele. Ich mache es jetzt so ein bisschen figurativ. Ist das okay so? Dann merke ich, es geht so ein bisschen besser.

Genau, die verschiedenen Wachtposten für die Sinnesempfindungen beim Atmen helfen uns wirklich, mit dem Atem verbunden zu bleiben.

Wenn ich merke, da ist ein Gedanke, aber eigentlich kann ich gar nicht länger bleiben. Dann kommt so ein latenter Ärger darüber bis ich denke, „Nein, nein, nein! Das ist ganz o.k., der darf da sein. Ich muss das einfach nur erkennen und wieder zurückgehen.‘

Ja! In tibetischen Texten habe ich diesen Ausdruck ‚den Wachposten der Achtsamkeit aufstellen‘, glaube ich nur ein oder zweimal gefunden. – Z.B. am Eingang der Nase, um den Atem dort wirklich mitzubekommen. In der Theravada-Tradition, in der ich früher praktiziert habe, war das Postieren des Wachpostens eine gängige Methode, dass ein Gewahrsein von uns an dieser Stelle ist und wirklich wahrnimmt und wahrnimmt und wahrnimmt. Er hat die Aufgabe wahrzunehmen. Der sitzt da an den Nasenflügeln oder tiefer. Du hast eine ganze Kette gemacht, das ist so die Kettenmeldung.

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Wenn die Bewusstheit da wirklich mit dem Atem verweilt, können sich die Wachposten entspannen. Die können sich entspannen, weil das Gewahrsein ja mit dem Atem bzw. auch mit den anderen Sinneswahrnehmungen verbunden ist. Wenn Ruhe einkehrt, brauchen wir umso weniger Anstrengung. Das ist so wie wenn jetzt jemand kommt und mir die Kanne wegnehmen will. Solange derjenige zieht, ziehe ich auch. Dann ziehe ich stärker. Wenn der Andere aber nachlässt, dann kann ich auch nach-lassen. Wenn er loslässt, dann kann ich auch so ganz entspannt loslassen.

Das heißt, wir haben es am Anfang einer Sitzung mit widerstreitenden Kräften im Geist zu tun. Wir haben es noch mit den Kräften zu tun, die uns reinziehen wollen in das Nachdenken und uns Beschäftigen mit all den emotional beladenen Inhalten, mit denen wir es gerade noch zu tun hatten. Es braucht eine ganz klare Entschlossenheit und Kraft, um zu sagen: „Nein, hier! Jetzt bin ich hier, und dem, was vorher war, gebe ich jetzt keine Aufmerksamkeit.“ Es sei denn, ich entschließe mich, dass das wirklich volle Aufmerksamkeit bekommt, dann denke ich aber auch wirklich darüber nach. Wir haben diese Entscheidungsmöglichkeit.

Aber jetzt gehe ich davon aus, dass wir wirklich dieses Geistestraining machen wollen, auf dieser subtilen Ebene Gewahrsein zu üben, und da brauchen wir die ganze Kraft. Diese Kraft muss stärker sein als die Kraft der Verstrickung. Man kann sagen die verstrickenden Kräfte müssen übermannt werden, besiegt werden von der Entschlossenheit, in meditative Sammlung einzutreten. In der Vajrayana-Sprache nennt man das ‚das Herstellen des Schutzkreises’. Das ist dieser Entschluss. Der muss so stark sein, dass die Wachtposten sogar nach außen und nach innen postiert werden. Die einen schauen auf die Ablenkungen, die von außen kommen, und die anderen schauen auf die Ablenkungen, die von innen kommen. Und das alles ist ein Vajra-Schutzwall von Weisheitsfeuer. Im Grunde genom-men ist das die Kraft der Weisheit, die sagt: „Das tut mir gut! Ich brauche jetzt diese Gewahrseins-praxis. Jetzt schicke ich alles andere fort, an die Grenzen des Universums. Ab! Weg damit!“ – Auch wenn es eben noch wichtig war – „Weg damit, hier wird praktiziert!“

Diese Kraft gilt es am Anfang zu nähren, wachzurufen, zu nutzen, bis sie ihre Wirkung getan hat. Und diese anderen Tendenzen und Muster sind jetzt gerade nicht mehr aktiv, sie sind ausreichend lange nicht mehr genährt worden. Wenn diese Muster fünf bis zehn Minuten keine Nahrung mehr erfahren, dann fallen sie ab. Ein geschickter Praktizierender kann dann tatsächlich weitergehen, und sich immer weiter stabilisieren. In der Phase, wo wir den Geist beobachten, holen wir dann das zurück, was unsere größte Herausforderung ist. Dann holen wir das Problem des Alltags zurück, das Beziehungsproblem, das finanzielle, das berufliche, was auch immer für ein Problem. Wir können das zurückholen, aber dann sind wir in der Ruhe. Wir können es immer wieder auftauchen lassen und entspannen, auf-tauchen lassen und entspannen. Ein Prozess des Verdichtens und des Lösens. Wir bemerken diesen Wirklichkeitsglauben und das alles, „Ich habe echt ein Problem“. Dann schauen wir: „Nein, ein echtes Problem ist es nicht. Es ist eines von der üblichen Sorte: imaginär, bedingt und nicht fassbar. Es ist nicht wirklicher, als alles andere auch.“ Das ist möglich, wenn wir den Raum hergestellt haben, dass uns die Beobachtung solcher Geistesinhalte möglich wird.

Dazu habe ich euch bisher noch nicht gezielt eingeladen. Aber ich denke, so manchen von euch war es gar nicht möglich, anders zu praktizieren, weil ohnehin irgendetwas, was euch beschäftigt hat, dann immer wieder aufgetaucht ist. Das ist ganz normal. Aber wenn wir den Raum schaffen, so hinschauen zu können, dann kann das alles auftauchen und wird ganz anders gesehen. Da ist das Gewahrsein nämlich auf die Natur dieses sich verdichteten Filmes gerichtet. Wir entdecken ihn als bedingt aufge-bauscht, imaginär aufgebauscht, durch viele Kräfte bedingt entstanden und im Grunde genommen ohne Substanz, nicht fassbar. –Wir entdecken also immer wieder die drei Aspekte der Wirklichkeit, die ich zu Anfang des Kurses erklärt habe. Das führt dazu, dass es sich momentan wieder entspannt, vielleicht sogar etwas länger, bis es sich wieder verdichtet, weil die Kräfte des Anhaftens wieder zupacken und eine neue Story auftaucht.

Das ist es eigentlich, was wir in der Mahamudrapraxis machen, in der Phase, wo wir noch Geistesruhe praktizieren. Da geht es darum, diese Kräfte immer wieder anzuschauen und zu entspannen, in Gelöst-heit zu finden. Die eigentliche Mahamudrapraxis, nach der sich alle sehnen, ist dann, in dieser Gelöst-heit zu verweilen und die Kraft des Gewahrseins so aktiv zu haben, dass sich gar nichts mehr verdichtet. Das Gefühl von Trennung in Ich und andere, all das verdichtet sich nicht mehr. Es kommt nicht mehr dazu, dass ein wirklicher Glaube an diese Form der Wahrnehmung entsteht.

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Teilnehmer: Und das ist noch in diesem Leben zu erreichen?

Noch in diesem Leben.

Ich schwelge so in meinen Gedankenketten und Fantasien, die ich ja reichlich habe, und tue mir sehr schwer beim Entspannen.

Das ist etwas bedrückend, das ist wirklich nicht einfach. Dann sitzt du in so einem Kurs, der Tilmann erzählt von diesen Dingen und gibt Übungen, aber eigentlich wäre für dich angemessen, lange in den Anfangsphasen zu verweilen. Immer wieder mit dem Atem zu üben, immer wieder in die Verein-fachung der Wahrnehmung zu gehen. Noch nicht so subtil hinzuschauen, sondern dir einen großen Freiraum zu eröffnen, wo du sein kannst, wo du dich annimmst, wo du die Gedanken galoppieren lässt, aber ihnen weniger folgst, weil du immer wieder zum Atem zurückkommst. Das ist eigentlich die Grundübung, die du brauchst und dazu eine das Herz öffnende Praxis wie OM MANI PEME HUNG oder Tonglen. Etwas, was die Kräfte des Herzens nährt, um dich selbst und andere anzuneh-men. Das ist eigentlich die Grundübung, die da gut tun würde.

Ich habe vorhin beim Meditieren deine Verzweiflung gespürt. Diese Erklärung ist in solchen Phasen unseres Lebens einfach eine Überforderung. Der brauchst du dich auch nicht auszusetzen und sagen, „Ich muss das jetzt machen.“ Du nimmst das mit nach Hause, und manchmal wird dir genau das eine Hilfe sein, denn manchmal kannst du genau so hinschauen. Du kannst dann genau schauen, „Jetzt hat es sich aufgrund dieser Kräfte aufgebaut. Ich bin völlig in dem Film gelandet.“ Das Sehen dieser Kräfte, das Entdecken führt dazu, dass der Film sich wieder auflöst. Dann ist es plötzlich möglich. Aber wenn wir das wollen, an einem Tag, wo unser Geist so aufgewühlt ist und einfach noch sehr aktiv, dann überfordern wir uns selbst. Das führt zu einem zusätzlichen Meditationsstress, einem zusätzlichen Dharmastress. Wir kriegen dann einfach gerade die Nase voll und wollen gar nichts mehr damit zu tun haben. Da müssen wir immer in die Grundübung zurück. Deswegen habe ich jetzt hier im Kurs immer so auf dieser Grundübung insistiert.

Die Grundübung ist Achtsamkeit sammeln – wir haben hier fast immer den Atem genommen – das Ausweiten auf die äußeren Sinne und ein nicht wertendes, akzeptierenden Gewahrseins, von all dem, was im Geist vor sich geht. Das ist die Grundübung. Die passt immer, wir können sie eigentlich immer ausführen. Da sind wir ganz gnädig mit uns und lassen den Geist galoppieren, ab und zu merken wir es und kommen zurück und machen da auch keinen großen Tanz. Wir akzeptieren uns in diesem Vor und Zurück, zwischen weniger Bewusstheit und Momenten der Bewusstheit, wo wir zurückkehren. Dies wird eine Weile dauern und schon sind wir wieder weg und merken es erst auch gar nicht, und dann kommen wir wieder zurück, und das ist unsere Praxis. Das ist einfach die Grundpraxis.

Teilnehmer: Gestern wie auch heute, war es in den bewussten, kurzen Pausen zwischen den einzelnen Perioden viel einfacher, völlig unproblematisch, freier und offener zu verweilen, als jetzt in der Sitzung selber, weil einfach diese Forderung an mich selber nicht da war.

Das ist mir ein ganz vertrautes Phänomen, und deswegen achte ich auch so darauf, dass die Pausen auch Pausen sind, in denen die Kontinuität der Praxis eigentlich gar nicht unterbrochen wird. Denn dort merken wir, was wir uns für einen Stress machen mit der Aufgabe. Im Grunde genommen geht die Aufgabe – das, worauf wir das Gewahrsein gerichtet hatten – in der Pause ganz fein weiter, ganz subtil. Das ist es eigentlich, worum es geht. Diese zwei, drei Minuten, in denen wir so richtig üben, bringen manchmal ein bisschen Erfolg. Wir sehen was, aber das, was danach davon übrig bleibt und was uns dann begleitet, das ist eigentlich das Entscheidende. Das hast du genau gespürt. Das Gewahr-sein ist am offensten, gelöstesten und klarsten in den Momenten unmittelbar nach einer Anstrengung. Wenn wir eine kleine Anstrengung gemacht haben, uns danach wieder die Freiheit geben und der Geist noch gar nicht in neue Abgelenktheit gerutscht ist, da sind wir eigentlich gut präsent.

Teilnehmer: Ja, aber es braucht die Anstrengung.

Ja, es braucht eben vorher was. Das ist dank der Anstrengung von vorher, und wenn die Anstrengung eine bestimmte Richtung geht, diese innere Ausrichtung, die bleibt noch ein Weile. Wir sind innerlich immer noch ein bisschen damit beschäftigt.

Teilnehmer: Es braucht auch diese Bereitschaft, die Bewusstheit, jetzt einmal da zu bleiben und nicht sofort wieder anzufangen zu rödeln.

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9. Karmapa, Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen L. Tilmann, Möhra 2012

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Es braucht genau diese Bereitschaft, da im Nichtstun zu sitzen und das so nachwirken zu lassen.

Teilnehmer: Bei der ersten Aufgabe war es ohnehin viel zu viel, die Gedanken zu sehen. Wie soll ich da den Hintergrund wahrnehmen? Dann habe ich diese Aufgabe faktisch aufgegeben, das war dann so entspannt. Das war ein Raum, der war unbegrenzt von Möglichkeiten, die ich wahrnehmen konnte.

Das ist klasse. Ja! Das ist so gut, wenn wir eine Aufgabe aufgeben. Dieser Moment des Aufgebens ist so etwas zutiefst Entspannendes. Das ist richtig gut.

Teilnehmer: Ich habe die Tage den Eindruck gehabt, dass die Aufgabe als Gedanke – auch wenn es ein dünner Gedanke war – eigentlich immer da war, und dass dadurch das Ergebnis verfälscht wurde. Dann habe ich sehr schnell die Nase voll gehabt, die gestresste Katze vor dem Loch zu sein. Und dann habe ich das Gefühl gehabt, ich muss eigentlich nur die Gewohnheit ändern. So wie ich bis jetzt geschaut habe, ist es nicht korrekt, weil es Kräfte raubend ist, mich aufzehrt, nervös macht oder was auch immer, denn es geht nur darum, die Gewohnheit zu ändern. Das heißt, in dem Moment konnte ich mir das vorstellen, aber es gelang mir dann nicht so. Heute, nachdem ich mir sozusagen den Freibrief gegeben habe, ich muss ja üben, ich muss das Andersschauen üben, habe ich gemerkt, dass sozusagen auch der dünne Gedanke weg war. Das war vielleicht schon ein bisschen Gewohnheit. Dann habe ich den Eindruck gehabt, in dem Moment, wo ich entspanne, wird es sich verändern, aber in dem Moment, wo ich den Gedanken erkennen kann, in dem Moment, wo er mir bewusst wird, löst er sich auf. Und dann war es so, dass ich sozusagen denken konnte, ohne mich zu weigern. Also es taucht auf, wo ich dann manchmal das Gefühl habe, aus diesem Untergrund taucht dieser Gedanke auf, hat einen Zusammenhang und es tauchen Gedanken auf, die keinen Untergrund haben und für mich vorerst nicht zu erkennen sind. Im Moment kann ich sie nicht erkennen, die tauchen einfach auf, und ich kann noch nicht sagen warum. Wichtig ist für mich gewesen, dass ich den Eindruck hatte, die Spannung muss raus. Auch das letzte Stück. Wenn ich sage „das letzte Stück“, dann halt entsprechend meiner Ebene.

Das, was du halt wahrnimmst.

Das letzte Stück an Spannung auf meiner Ebene rausnehmen, weil dann das Ergebnis eher echt ist, als wenn ich manipuliere. Das war in den letzten Tagen immer so, ich habe mich dann gefragt: ‚Wenn ich diesen Gedanken, diese Aufgabe total loslasse, wie ist es möglich, dass ich die Aufgabe dann nicht vergesse?’ Ich denke, das geht über Gewohnheit.

Ja, es geht über Gewohnheit, ganz genau. Es geht um die Veränderung der Schau, zu lernen anders zu schauen. Das Wesentliche ist zu lernen, unabgelenkt zu schauen und dabei trotzdem völlig entspannt zu sein. Fast so, als ob es uns nicht interessieren würde, so mit einem gewissen Desinteresse, also ohne die Spur von Faszination und Identifikation mit dem Gesehenen und den Erkenntnissen, so wie wenn man manchmal aus dem Augenwinkel noch etwas wahrnimmt. Es geht darum, ein Schauen im Nicht-hinschauen zu lernen, diese subtile Art der Wahrnehmung zu lernen, die nicht zu unglaublich verän-dernd wirkt. – Sobald wir mit unserem starken Schauen hinschauen, verändert sich unser inneres Erleben so unglaublich stark. Durch unseren Wunsch zu sehen, greifen wir so stark ein. Das löst sich nur durch Gewohnheit auf, indem wir das immer und immer wieder machen: „He, was war jetzt schon wieder? Zu dick, zu fest, schau einmal ein bisschen entspannter!“ Bis wir merken, dass wir tatsächlich in einer ganz entspannten Präsenz wahrnehmen können, ohne das Erleben zu verändern. Dabei werden wir immer mehr zum Erleben.

Das ist die innere Schau, das eigentliche Lhagtong, das intuitive Sehen, wo nicht mehr aus einer Entfernung mit einem Wollen gesehen wird, sondern es offenbart sich aus einer Entspannung. Aber nicht vor jemand. Es ist eine innere Schau, die sich dabei vollzieht.

Teilnehmerin: Da kommt mir die Frage zur Biographie. Wenn ich Erinnerungen habe, sind das ja Erinnerungen, die wahrscheinlich mit dem tatsächlichen Ereignis gar nicht übereinstimmen. Man hat ja sehr verfälschte Inhalte. Wenn dann so ein Prozess mit der Lhagtong-Schau abläuft, wo ich mir nichts darunter vorstellen kann, ist es dann quasi eine Ersetzung dieser ‚falschen Biographie’ durch ein anderes Dasein?

Auf eine Art schon. Es passiert dabei folgendes: Zuerst fällt der Glaube weg, dass die Erinnerung wirklich die Vergangenheit ist. Der Glaube bricht in sich zusammen. Die aufsteigende Erinnerung wird als das jetzige Erleben wahrgenommen und wird jetzt gelebt mit dem vollen Gewahrsein seiner

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Natur. Dadurch kommt es zu einem neuen jetzigen Erleben, und das ist in sich ausreichend. Wir brauchen dieses Erleben nicht zurück zu datieren in eine Vergangenheit. Das vergangene Erleben, so wie es damals in unserer Kindheit war, ist schon längst vorbei. Jetzt haben wir nur noch Abbilder, die sich neu in uns zusammensetzen und zu einem neuen Erleben führen. Man kann sogar Traumata aus der Vergangenheit durch neues, gegenwärtiges Erleben heilen, wenn dieses neue Erleben wirklich das Herz erreicht. Das ist ausreichend und darin können wir eine Lhagtong-Erfahrung machen. Aber es ist gegenwärtiges Erleben, es hat gar nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun.

Aber wohl wissend, dass dieses gegenwärtige, momentane Erleben eben auch illusionäres oder imaginäres Erleben ist.

Ich wiederhole es noch einmal: Erleben findet ja immer in Bildern – in Hörbildern, Sehbildern, Riechbildern, Denkbildern – statt. Daran knüpfen sich noch verbale Ausformulierungen dieser Bilder, die noch verstärkte Bilder, konzeptionelle Bilder sind. Wir begreifen allmählich, dass unser ganzes Leben sich in diesen Bilderwelten abspielt, die wir zum Teil in Überlappung bringen können mit den anderen Personen, die wir so treffen, aber wo wir auch sagen müssen: „Nein, meine Welt ist deutlich anders! Es ist meine individuelle Welt, ich lebe in meiner eigenen Welt.“ Und das gilt für alles.

Das primäre Erleben können wir als solches gar nicht erfahren, es führt immer zu Repräsentations-spuren. Und sobald eine Erinnerungsspur entsteht, sind wir schon im imaginären Erleben. Damit fin-den wir auch unsere Ruhe und unseren Frieden. Und genau das bewirkt, dass Erwachte in keiner Weise verunsichert oder selber gar getäuscht werden, wenn sie sich in dieser imaginären Welt bewegen. – Diese imaginäre Welt nennt das relative Wirklichkeit. – Sie durchschauen total, dass wir alle in diesem Prozess des Gestaltens unserer Welt sind. Das ist der Frieden.

Da geht es gar nicht darum, diese Welten zu zerstören oder irgendwo anders hinzugehen, sondern wir leben mit ihnen, ohne ihnen Glauben zu schenken als etwas tatsächlich Existierendes, also konkrete Existenz. Es ist eben diese imaginäre Existenz, bedingt, nicht fassbar. Diese Form von Sein hat es. Das ist der Frieden, der durch Erkenntnis entsteht. Hier sind wir in Frieden mit der relativen Welt, ohne gegen sie kämpfen zu müssen, ohne Erinnerungen auszuschließen. – Sie dürfen auch Erinnerungen genannt werden. Wir wissen genau, es sind keine Erinnerungen.

Teilnehmerin: Wenn man in diesen Frieden kommt, löst sich dann diese Freude oder Faszination, die am Anfang dabei ist, ganz auf?

Ja, die Faszination löst sich ganz auf.

Die Freude, die ich meine – das ist schwer zu beschreiben – das ist keine richtige Faszination, so eine weltliche, sondern ein freudvoller Zustand.

Ja, auch das löst sich auf, weil in diesem freudvollen Zustand, den du jetzt zu meinen scheinst, ist immer noch eine Freude über das Erkennen drin. Und auch die löst sich auf. Sehen, Gewahrsein wird so selbstverständlich, dass es nicht einmal mehr Freude über das Erkennen gibt.

Weil es dann dauerhaft so besteht?

Weil es einfach so normal ist, es ist einfach ganz natürlich.

Teilnehmerin: Ich habe eine sehr starke Sammlung gehabt, die, glaube ich, auch deswegen so stark war, weil ich wusste, wo es hingehen soll und weil die Aufgabe klar war. Wenn vorher die Zufluchts-visualisation sehr stark war, dann hat sich auch so eine große Gelöstheit und Freude eingestellt. Dann war wieder die Erinnerung an die Aufgabe, da ist die Freude wieder weggegangen und es gab die Wahrnehmung der unterschiedlichen Sinnesfelder. Da waren Felder, die sich in unterschiedliche Richtungen bewegt haben und wieder zusammengekommen sind. Dann waren die Pausen groß zwischen den Gedanken. Bei der Aufgabe, die kleinen Gedanken zu finden oder wahrzunehmen war sehr wenig Fassbares, und stattdessen waren da ganz starke Körpergefühle, teilweise ein sehr starkes Schwitzen der Hände oder ein Gefühl von Atemnot oder so etwas. Meine Frage ist, sind das die kleinen Fische, die sich anders ausdrücken?

Ja, das ist eine gute Frage, siehst du einen Zusammenhang mit einer inneren Haltung und den schwitzenden Händen oder der Atemnot?

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Es war Atemnot zu unterschiedlichen Zeiten. Der Zusammenhang war immer da, wenn es darum ging, in die großen Pausen zu schauen. Wenn die großen Gedanken beruhigt waren und es darum ging, die kleinen Fische zu finden und dann dieses Bild von den Fischen weg war und nur noch die Pause da war, dann waren diese starken Körpergefühle da.

Das ist doch interessant.

Das ist weggegangen und ich habe dann geschaut, wie sich das anfühlt, aber wenn das dann zu stark war, bin ich wieder in die Wahrnehmung gegangen und wieder einen Schritt zurück.

Du könntest einmal schauen, ob es auf subtile Art beunruhigend war, diese Pausen zu erleben. Du könntest einmal da hineinschauen, ob es nicht etwas damit zu tun hat, dass das schon etwas beunruhi-gend ist, wenn da für eine Weile gar nichts zu passieren scheint, plus einer Aufgabe noch irgendwie was damit anzufangen. Das allein reicht schon aus, um so eine kleine Panikreaktion auszulösen.

Das kennen fast alle Meditierenden, wenn sie mit diesen offenen Räumen in Kontakt kommen, wo zunächst einmal keine Struktur wahrzunehmen ist. Das führt innerlich zu einer Schreckreaktion, die sofort zu einer Wahrnehmung führt und man ist sofort wieder geerdet, hat sofort wieder irgendwelche Körper- und sonstige Sinneswahrnehmungen und fühlt sich wieder sicher.

Schau doch einfach hin, falls es nochmals so dazu kommt, und gewöhne dich auch daran, denn das entspannt sich mit der Zeit. Wenn wir vertrauter werden mit diesen offenen, nicht weiter gestalteten Räumen, dann gibt es gar nichts mehr zu sagen und zu reagieren. Wir werden wirklich einfach vertraut damit.

Ich habe noch zwei Buttons zu verschenken. Der eine heißt: „Wie, nicht was“, der Zweite heißt: „Merksatz 21“ Wer erinnert sich noch?

Teilnehmer: Bewahre einen freudigen Geist.

Bewahre unter allen Umständen einen freudigen Geist. Ich glaube, so heißt es.

Abschlussrunde Ich habe mich gefreut, mit diesen Unterweisungen des 9. Karmapa beginnen zu können. Auch die späteren Passagen sind hochinteressant, was die Arbeit mit dem Geist angeht. Einige der Übungen, die wir bereits gemacht haben, gibt der Karmapa später als Teil der Instruktionen in diesem Mahamudra-Buch. Ich würde nun gerne hören, was euch in diesen Tagen gut getan hat und was ihr euch bei den nächsten Malen anders wünschen würdet. Ich weiß nicht, wie lange die Übertragung insgesamt dauern wird. Wir haben sechs Seiten von dem sechzigseitigen Text geschafft. Das heißt aber nicht, dass es zehn Jahre dauern wird. Ich mache mir keinen Druck, schnell vorzugehen, sondern möchte Zeit haben, dass wir uns über diese intensiven Momente des Hinschauens austauschen und voneinander lernen können und ich ein bisschen spüren kann, wo ihr steht.

Ich bitte euch zu erzählen, wie es für euch war, denn es gibt viel Spielraum mich an eure Bedürfnisse anzupassen. Ich habe von denen, die bereits abgereist sind, schon ein wenig Feedback bekommen; das kann ich nachher noch erzählen. Aber es würde mich freuen, jetzt von euch auch noch ein bisschen zu hören. Verunsichert euch das oder könnt ihr, so wie vorhin, einfach sagen was ihr denkt?

Teilnehmerin: Auch wenn ich nicht die ganze Zeit dabei gewesen bin, es hat mir sehr gut getan, weil immer wieder klar geworden ist, wie ich aus den selbst gebastelten Fallen herauskommen kann. Das macht mir immer Mut und macht mich auch zuversichtlich. Mir scheint, dass – wenn man hier im Zentrum arbeitet – natürlich alles noch mehr aufgewirbelt wird und man sehen kann, mit was man da selber zu tun hat. Zu sehen, dass es Wege da raus gibt, ist einfach sehr schön. Da danke ich dir von Herzen für deine Unterweisungen.

Das ist toll, wenn sich neue Wege aufgetan haben oder überhaupt die alten Wege klarer geworden sind, und wie man sich daraus befreien kann. Das ist Anliegen der Dharma-Unterweisungen!

Teilnehmerin: Ich möchte mich auch sehr herzlich bedanken. Das war für mich eine sehr tiefe Inspira-tion für meine tägliche Praxis. Es erfüllt mich auch eigentlich mit viel Freude, jetzt mein Leben mehr zu erfüllen, auch mit der Praxis. Ich bin ja in der Rente, da tun sich sehr viele Freiräume auf und ich

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merke, das ist ein wunderschönes Werkzeug, das ich erfahren habe. Ich kann jetzt zu Hause noch geschickter praktizieren. Mir geht es genauso wie meiner Vorrednerin: Die Arbeit im Zentrum und da mit Unterstützung vielleicht noch heilsamer wirken zu können, erfüllt mich auch mit Freude.

Wenn du dir unsere nächsten Zusammentreffen vorstellst, gibt es etwas, was du noch stärker betonen würdest oder etwas, das du dir anders wünschen würdest?

Ich wünsche mir, dass du diese Arbeit so fortführst. Ich denke, es hängt ja auch von den Teilnehmern ab, inwieweit die zu Hause auch üben. Dass dann Fragen kommen, die mich auch sehr inspirieren werden. Ich denke, es steht und fällt nicht nur mit dem Lehrer, es hängt eigentlich auch von uns Schülern ab, wie wir das nutzen, was wir bekommen.

Da sagst du etwas ganz Wichtiges. Die Unterweisungen sind ja fortschreitend und gehen in immer feinere Geistesbereiche hinein. Es ist also auch ein Entdecken der Zusammenhänge im Geist, das dann wirklich letzten Endes befreiend wirkt. Ich könnte mir vorstellen, dass wir als Gruppe – natürlich können jederzeit andere dazukommen – einen Prozess gehen, in dem tatsächlich das Jahr über prak-tiziert wird, diese Unterweisungen angewendet werden und wir uns an einem anderen Punkt wieder treffen. In einem Jahr werde auch ich an einem anderen Punkt sein, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich kann beobachten, dass sich auch mein Unterrichten verändert und ich von Jahr zu Jahr klarer sehen kann, worauf es ankommt – jedenfalls aus meiner Sicht. Es wäre schön, wenn von eurer Seite auch so eine Entwicklung stattfinden würde.

Teilnehmer: Für mich ist unabgelenkte Präsenz das Zauberwort. Das hat sich eingeprägt, das ist mir wirklich bewusst geworden. Ich habe die Unterweisungen und vor allem das Schweigen so genossen. Das war ganz wichtig für mich, denn ich bin immer leichter in den Frieden gekommen und bedanke mich auch für alle. Mir ist bei diesem Kurs wieder die zwischenmenschliche Begierde aufgefallen, die bei mir immer da ist. Die löst sich auf und da ist dann Liebe und Mitgefühl. Das ist so schön, das würde ich allen wünschen.

Danke, zu Stille und Schweigen würde ich auch von anderen gerne noch was hören. Ich wäre sehr dankbar, wenn auch andere dazu noch was sagen würden.

Teilnehmer: Das war für mich der höchst wertvollste Kurs, den ich je bisher gemacht habe. Eigentlich muss ich sagen, das ist fast peinlich. Wir beide haben vor 19 Jahren Zuflucht genommen und ich habe das erste Mal das Gefühl, dieses ganz Banale irgendwie erfahren, diese unglaublich positive Wirkung, einfach wirklich auf dem Atem zu bleiben. Ich habe mich da dagegen irgendwie immer gesträubt. Diese Feinheiten, von denen ich jetzt ein ganz kleines Bisschen eine Ahnung bekommen habe, wo ich merke: „Boah! Da ist ja noch ein Riesengebiet zu entdecken!“. Das ist wirklich so gemeint, wie man das hört oder liest und ich merke, dass es ja geht. Es kann von mir aus grob gesagt so bleiben, man könnte das vielleicht noch auf drei Monate verlängern. Am ersten Tag war ich noch müde und habe inzwischen verstanden, woraus das resultiert, das ist mir jetzt richtig klar. Heute Morgen bin ich mit Ruhe aufgewacht und habe gedacht „Boah!“

Schön, danke!

Teilnehmerin: Ich möchte mich da jetzt anschließen, weil das ist für mich auch so. Ich habe gerade ein halbes Jahr Retreat gehabt und habe in diesem Retreat eben viele Dinge so verstanden, wie eben beschrieben wurde, dass es wirklich so ist, wie es in den Büchern steht. Ich habe jetzt das große Geschenk bei deinem Unterricht gehabt, dies einfach noch einmal nachzukontrollieren oder noch einmal bestätigt zu bekommen. Ja, genau diese Erfahrungen, die ich bis jetzt habe machen dürfen, sind so. Die Sicherheit, die ich eigentlich schon entwickelt habe, ist noch einmal bestätigt worden. Das war eine ganz schöne, tiefe Erfahrung. Was mir da noch gefehlt hat, war die Unterweisung zu den Triebkräften, die noch so dahinter liegen. Das war für mich so „Chuh!“ Ich habe schon gespürt. „Da ist jetzt noch was!“, aber ich hätte das nie so benennen können und genau die vier Punkte der Triebkräfte, das ist es. Das gibt mir noch einmal mehr Weite dazu, noch einmal ein anderes Verständnis oder anders Sehen dorthin zu entwickeln.

Du ahnst, was da noch dahinter liegt und wo es noch weitergeht, wohin sich deine Praxis noch weiter entwickeln lässt.

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Obwohl ich nicht immer dabei sein konnte, war es ganz einfach eine segensreiche Belehrung und dafür möchte ich Dir Danke sagen.

Dir auch Danke, dass du dich so gut um uns gekümmert hast. Ja, du warst eine vom Team und auch den anderen vom Team, die im Hintergrund waren, herzlichen Dank. Ganz herzlichen Dank und toll, dass du es geschafft hast, auf beiden Hochzeiten zu tanzen.

Teilnehmerin: Dir ganz herzlichen Dank, dass Du es schaffst, so zu unterrichten und zu führen und Dinge anzubieten, Fragen in den Raum zu stellen als Aufgabe und dass Du es aber schaffst, den Raum so offen zu halten, dass wir da hineingehen können, dass wir aber auch dazwischen irgendwie zwischen uns und dieser Aufgabe sein können und dass Du es schaffst, dass so eine vertrauensvolle Atmosphäre, die wach ist, hier in dem Raum entstehen konnte. Bewusst ist mir, dass Du versuchst, uns ganz alte Texte in ihrer Vielschichtigkeit zu zeigen, dass Du es aber dann auch schaffst, sie auf ganz einfache Dinge zu reduzieren, z.B. auch auf diese Aufgabe, einfach einmal zu schauen, wie Anspannung entsteht und wie Anspannung wieder geht, wie wir das machen. Das ist für mich sehr hilfreich, diese Reduzierung dann auch zu einer Basis. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass Unterrichtende diese Poligkeit in ihrem Unterricht haben. Ja ganz herzlichen Dank!

Gäbe es etwas, was du dir wünschen würdest, was du anders haben möchtest, gibt es da etwas in dem Bereich? Denn ich habe diese Runde nicht eingeleitet, um Komplimente zu erhalten, sondern wirklich auch um zu hören, wo ihr vielleicht das Gefühl habt: „Es könnte auch anders gemacht werden!“

Ich bin ja später gekommen, da fehlt mit jetzt ein bisschen was, aber das ist jetzt nicht so wichtig.

Für mich war es ein Problem speziell mit dem Frühergehen. Das Späterkommen konnte ich verstehen. Das Frühergehen von doch zu vielen Teilnehmern, dieses Abblättern, war für mich nicht so einfach. Das ist nicht so toll. Ich möchte es eigentlich nicht zur Regel machen, dass man bleiben muss, es dür-fen immer ein paar Ausnahmen sein. Doch wenn so viele früher gehen, ist es für mich ein bisschen schwierig. Ich weiß, dass andere Lehrer zum Teil auch zur Regel machen, dass man von A-Z bleiben muss. Das wollte ich einfach einmal sagen. Wahrscheinlich reicht es auch schon, das einmal zu sagen. Sagt es bitte den anderen auch, um eine kleine Wirkung zu erreichen.

Teilnehmer: Meinst du, aus einer Sitzung raus?

Nein, den Kurs, wir waren zwischendurch vierzig Leute.

Das hängt mit den Feiertagen zusammen. Vielen – wenn sie Lehrer sind oder was auch immer – können nicht von den gegebenen freien Tagen abweichen.

Da möchte ich auch nach geschickten Daten suchen, die ermöglichen, wirklich ganz zu bleiben. Da bietet sich z.B. an, den Tag der Arbeit, den 1.Mai zu nehmen. Der fällt im nächsten Jahr auf einen Mittwoch, wenn der Kurs dann bis zum folgenden Wochenende geht, dann sind die Tage, die man sich frei nehmen muss, in der Mitte. Die muss man sich dann eben frei nehmen oder man kann nicht kommen. Dann ist das eine Einheit. Das ist mir ein Anliegen.

Teilnehmer: Da müsste man dann auch die österreichischen Ferien bedenken.

Die Österreicher stehen ganz hoch in der Priorität, weil ohne sie hätten wir hier alt ausgesehen. Aber zurück zu den Bemerkungen zum Inhalt oder zur Struktur des Kurses. Gibt es noch jemand, der dazu noch was sagen möchte?

Teilnehmerin: Bei diesen kleinen Übungen die verschiedenen Gedanken zu beobachten, wenn Du da eine Frequenz von drei Übungen hattest, hätte ich mir gewünscht, dass wir jede Übung einzeln besprochen hätten, statt alle drei zu machen, weil ich festgestellt habe, dass ich da manches schon durcheinander bringe und nicht mehr weiß, gehört das jetzt zur ersten oder zur dritten Übung. Da vermischte sich dann schon mein Erkennen oder Nichterkennen, da hätte ich mir das anders ge-wünscht.

Das verstehe ich gut. Es hat einen Grund, dass ich drei, vier Übungen am Stück gemacht habe: Nach einem Austausch, der über begriffliches Denken geht, ist es schwierig, wieder hineinzufinden und die nächste Übung zu machen. Ich habe die Übungen mit kurzen, stillen Pausen gemacht, wo ich dann nur die Erklärung für die nächste Übung gegeben habe, damit wir diese gewisse Geistesruhe halten konnten, um die nächste Übung zu ermöglichen. Sonst hätte es sehr viel länger gedauert, bis alle

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wieder in diesem Raum ankommen, wo wir hinschauen können. Sonst ist es dann nur eine Übung und man muss so quasi aus dem Stand hinschauen, das wäre nicht so erfolgreich, glaube ich. Das kann ich wohl kaum ändern. Der Impuls von mir aber wäre eigentlich auch gewesen, nach jeder Übung Zeit für Austausch zu geben. Das war jetzt ein Kompromiss.

Aber ansonsten herzlichen Dank für diese präzisen, klaren Erläuterungen. Die Brillanz deiner Sprache hab ich sehr genossen.

Schön! Da freut sich mein Vater ja noch im Grab. Das geht auf meine Eltern zurück, wir hatten eine sehr starke Sprachschulung zu Hause, das hat sicherlich mitgeholfen.

Teilnehmer: Nur ganz kurz, wegen der Möglichkeit von Verbesserungen. Ich weiß nicht, ob man das verbessern kann, aber ich habe ein paar Mal Schwierigkeiten gehabt, Dich zu verstehen. Das eine Mal war vorher, als dieser Hubschrauber vorbeiflog. Da hatte ich das Gefühl, jetzt kriege ich das Wesent-liche wieder nicht mit. Dann habe ich gedacht, „Na gut! Gott sei Dank gibt es ja die CD. Da kann ich dann versuchen zu verstehen, was du gesagt hast als Anleitung.“ Ich habe ein paar Mal die Anleitung akustisch nicht ganz verstanden, denn ich höre auch nicht so gut. Das Sitzen im hinteren Bereich kann man nicht so leicht ändern, aber wenn eine Geräuschquelle von außen da ist, könntest Du dann mit deinen Erläuterungen kurz stoppen?

Das tu ich ja eigentlich auch, und ich wiederhole die Worte. Aber stell dir vor, ich habe den Hub-schrauber nicht gehört. Ja, manchmal ist das einfach so. Wir sind in unserem eigenen Wahrnehmungs-raum und in meinem gab es keinen Hubschrauber. Das ist so unglaublich! Aber ich werde darauf achten, den Satz noch einmal zu wiederholen, wenn starke Geräusche kommen. Es wäre auch unter Umständen sinnvoll, da hinten zwei kleine Lautsprecher anzubringen und mir ein kleines Headphone umzuhängen. Dann können alle, die hinten sitzen, gut hören.

Ich wurde schon einmal der „Flüsterlama“ genannt. Das versuche ich zu ändern und trotz Entspannung auch beim Meditieren deutlich zu sprechen. Sobald ich meditiere, wird meine Stimme manchmal sehr leise. Ich steuere schon bewusst dagegen und das werde ich noch ein bisschen besser lernen.

Teilnehmer: Ich glaube, das ist ja ganz natürlich, dass man da mit der Stimme runtergeht. Mir passiert das auch immer. Es ist dann besser, mit dem Lautsprecher zu arbeiten, denn das hier ist ein großer Raum.

Teilnehmerin: Du hast ja am Anfang nach dem Schweigen gefragt und das möchte ich noch einmal ganz stark betonen. Ich habe diese Ruhe, dieses Schweigen als sehr gut empfunden. Es gibt ja auch so eine Gewohnheit, dass man einfach ständig Gespräche führt. Das ist eine Art sozialer Zwang, man möchte ja zur Gruppe gehören, man möchte dazugehören und deswegen eben auch das Bestreben mit diesem und mit jenem zu reden. Also ich fand das Schweigen sehr nutzbringend und förderlich für die Meditation.

Dann noch zum Kurs. Ich habe so ganz stark das Gefühl, dass das jetzt eine Fortsetzung hat, dass es eine integrierte Angelegenheit wird und jetzt schon ist und nicht so da ein Kurs und dort ein Kurs, die ja oft so ein bisschen unverbunden nebeneinander herlaufen und ich mir dann auch manchmal überlege: „Muss ich jetzt den Kurs auch noch machen oder wäre es nicht besser, das zu lassen? Ich freue mich richtig auf die Fortsetzung und es ist so ein innerlicher Drang, dass das der Beginn eines ganz wichtigen Weges ist, der im Fluss ist und der weitergehen wird. Da danke ich sehr dafür.

Schön. Da treffen sich auch unsere Anliegen. Es ist auch mein Anliegen, dass das eine Kontinuität gibt, dass es ein Fluss ist und dass das über Jahre hinaus uns ein bisschen strukturierend begleitet und wir wissen, wo unsere Praxis so lang geht.

Teilnehmer: Ich finde auch, dass das sehr wertvoll ist. Ich bin auch froh, dass ich kurzfristig hochgekommen bin und finde es auch als wertvoll. Es ist vielleicht eine Möglichkeit, Buddhismus hier im Westen zu praktizieren, ohne uns an der tibetischen Kultur anlehnen zu müssen. Wir brauchen kein Tibetisch dazu wie bei Chenresi oder andere Sachen. Wir müssten erst die Blockaden verlieren. Das wäre so ein Weg, wo die Erfahrung des tibetischen Buddhismus hier auch für uns im Westen gangbar wäre.

Das ist eine Möglichkeit. Dieser Aspekt, der Weisheits- oder Einsichtsaspekt ist in diesem Kurs sehr stark betont. Es mag den anderen aber auch fehlen, dass der Mitgefühlsaspekt nicht so zur Sprache

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kam. Trotzdem merken wir, dass dann auch das Herz weicher wird, wenn wir in dieses Fließen kommen, dass Liebe und Mitgefühl schon mitschwingen, obwohl sie fast nicht angesprochen wurden.

Aber es gibt auch Menschen, die großen Nutzen davon haben, Rituale zu üben und Visualisations-Praktiken aus dem tibetischen Buddhismus auszuführen. Das muss auf jeden Fall auch weitergehen. Aber ich werde mich mehr auf das hier konzentrieren, obwohl ich das andere auch unterrichten kann. Es schiebt sich jetzt mehr in den Vordergrund, diese Art von Forscherarbeit zu machen, den Geist zu erforschen.

Teilnehmer: Ich meine, auch so als Möglichkeit, mehr Menschen erreichen zu können, mehr Menschen die Möglichkeit zu geben.

Das wird sich zeigen. Es ist hoch anspruchsvoll und ich habe nicht das Gefühl, dass es unbedingt so viele erreichen wird, das wird sich zeigen.

Ich meine jetzt nicht den Kurs, sondern den Weg oder die Methode.

Der Weg ohne die kulturellen Beifügungen wird auf jeden Fall mehr Menschen erreichen als die bisherige Präsentation mit dem wenig nachvollziehbaren kulturellen Überbau. Das ist offensichtlich und heute schon bei den meisten Menschen außerhalb unserer Linie so. Viel mehr Menschen interessieren sich für einen Weg ohne großen kulturellen Überbau.

Von meiner Seite aus wird es auf jeden Fall überall mehr mit Stille weitergehen. Auch der Kurs in Croizet, den ich jetzt im Sommer gebe, wird mit Stille sein. Es wird nur für zwei Stunden in der Mittagspause gesprochen. Überall wo ich kann, werde ich das machen. Nicht unbedingt in den Wochenendkursen im Stadtzentrum in Freiburg, da wird es vielleicht schwierig sein. Darüber können wir noch einmal diskutieren. Das ist ein Standard, den ich entwickeln möchte. Es ist eine Zwischen-form zwischen den strengen Vipassana-Kursen, wo gar nicht geredet wird, und den tibetischen Kursen, wo immer geschwätzt wird.

Diese Zwischenform scheint uns gut zu tun, aber ich wünsche mir etwas mehr Disziplin in dem schweigenden Teil des Tages. Das war am Anfang ganz gut, dann hat es sich allerdings deutlich verwässert. – Allerdings war das Hausteam nicht über das Schweigen informiert. – Ich wollte ja im Programm angekündigt haben, dass es ein Kurs mit Schweigen ist. Ich wünsche mir also auch vom Hausteam, dass das nächste Mal beim Frühstück und beim Abendessen nicht so viel gesprochen wird, uns dass wir eine Lösung finden, dass die, die sprechen wollen, dann mit ihrem Teller in einen anderen Raum gehen. Irgendeine Lösung muss gefunden werden, wo sich die Sprechenden und die Stillen nicht durchmischen. Ein Teilnehmer ist abgereist mit der Aussage: „Mir hat der Kurs nicht so viel gebracht wie er hätte bringen können, weil ich nicht in die Stille finden konnte, die ich mir eigentlich gewünscht habe.“

Teilnehmer: Ich möchte noch etwas zur Stille sagen. Bei Thich Nath Hanh wird ja auch sehr stark die Stille praktiziert, ich war im Sommer-Retreat und im Pfingst-Retreat oft dabei. Meist wird das Schwei-gen aber nicht richtig eingehalten, man kommt ins Reden wie auch hier. Es ist auch schön, zusammen zu lachen, das Lachen ist auch eine schöne Energie. Es ist auch schön, sich kurz auszutauschen, aber wenn es nicht mit Achtsamkeit passiert, dann ist es irritierend.

Was ich als hilfreich empfunden habe, um in Stille zu bleiben, ist auf jeden Fall die Meditation bevor man zum Essen geht, was wir ja auch gemacht haben. Denn wenn man durch die Meditation im Gewahrsein ist, dann ist man von innen heraus in der Stille, dann braucht es nicht von außen mit Disziplin aufgesetzt werden. Das habe ich meist erlebt, dass es außer bei bestimmten Kursen nicht ganz funktioniert. Am meisten funktioniert es, wenn es irgendwie von innen kommt.

So haben wir es ja versucht. Ein bisschen mehr Disziplin braucht es.

Teilnehmerin: Ich habe diese Stille als sehr angenehm empfunden. Oft war es bei Kursen so, dass man meditiert und wenn ich dann rausgehe und das weiterziehen möchte, dann reden die Leute so durcheinander. Das hat mich immer sehr gestört. Ich bin noch nicht so weit, dass ich mit diesem ganzen Krach auch noch in Meditation bleiben kann. Aber es war ein Unterschied beim Lärmpegel während des Mittagessens zu bemerken. Weil die anderen Zeiten in Stille waren, war zu Mittag viel weniger Lärm als sonst bei einem Kurs. Das habe ich sehr angenehm gefunden, weil man beim Essen eigentlich ja eh nicht reden soll. Das geht nicht, wenn man gut verdauen will.

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Widmung und Danksagung Erinnern wir uns noch einmal an all die Momente des Gewahrseins der Praxis, des heilsamen Aus-tausches, der Momente des Verstehens. Und widmen wir sie zusammen mit allen anderen heilsamen Aktivitäten in diesem Universum. Allen anderen d.h. allen von uns mögen diese heilsamen Kräfte zugute kommen. Und mögen sie Früchte tragen im Erwachen von allen Lebewesen. Mögen diese Kräfte weiterwirken und überall Leid vermindern, Freude hervorrufen, stärken. Mögen dadurch schließlich alle Lebewesen in den völlig offenen Geist des Erwachens hineinfinden, ins gelöste Sein. – Mögen wir alle in die Natur des Geistes erwachen. – Möge es gerade so sein. –

Widmungsgebet

Gute weitere Praxis!

Im Namen von allen Anwesenden, ich denke auch von denen, die schon weggefahren sind und vielleicht auch von vielen nicht sichtbaren Teilnehmern: Dankeschön an Dich!

Es gibt unsichtbare Teilnehmer?

So hast Du es mir beigebracht.

Dann muss es ja stimmen. (Lachen)

Ich glaube, das ist nicht verkehrt. Vielen Dank noch mal fürs Kommen und wir hoffen, dass Du bald wieder kommst. Danke für die professionelle Anleitung und Durchführung. Alles andere wurde ja gesagt, und weitere Aktivität mit allem, was dazugehört.

Danke dir, danke euch, dem ganzen Team. Ihr habt das nochmals schöner gemacht hier in diesem Jahr, wo ich nicht da war. Es ist noch einmal angenehmer geworden in mancherlei Hinsicht. Möge der Dharma hier erblühen und sich von hier aus verbreiten. Es ist super, was ihr hier macht. Macht so weiter, so dass noch viele Menschen hierher kommen und einfach Inspiration tanken können. Es ist wunderschön, was hier stattfindet, ganz wunderbar.

ENDE