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Neue Belletristik Was sich die Buchhandelsklasse gedacht hat zu einer kleinen Auswahl aus dem großen Kosmos schöngeistiger Literatur und wie sie es zu Datei brachte im Jahr B / . April

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Neue BelletristikWas sich die Buchhandelsklasse gedacht hat

zu einer kleinen Auswahlaus dem großen Kosmos schöngeistiger Literatur

und wie sie es zu Datei brachteim Jahr 2015

B 14/1

13. April 2015

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Inhaltsverzeichnis

Kriminalistisches und Nervenzerfetzendes 3Solomonica de Winter: Die Geschichte von Blue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3Pasi Ilmari Jääskeläinen: Lauras Verschwinden im Schnee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3Mechtild Borrmann: Die andere Hälfte der Ho�nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Josh Malerman: BirdBox – schließe deine Augen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Nic Pizzolatto: Galveston . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Historisches 6Christina Baker Kline: Der Zug der Waisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6Hannah Kent: Das Seelenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Gefühlvolles 8Mascha Kaléko: Liebst du mich eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Unterhaltendes 9George R. R. Martin: Wild Cards – Das Spiel der Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Michele Serras: Die Liegenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10Jonathan Evison: Umweg nach Hause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Literarisches 12Franz Friedrich: Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12Christie Hodgen: Fünf Menschen, die mir fehlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12Ian McEwan: Kindeswohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

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Kriminalistisches und Nervenzerfetzendes

Solomonica de Winter: Die Geschichtevon Blue

Das dreizehnjährige Mäd-chen Blue spricht nicht. Sieist nicht stumm oder so, siehat nach dem Tod ihres Va-ters Ollie einfach damit auf-gehört. In einem Brief an ih-ren Arzt erzählt sie ihre Ge-schichte. Denn als sie mitihrer Mutter Daisy wiederin ihre Heimatstadt zurück-kehrte, machte Blue es sichzur Aufgabe, den Mörder ih-res Vaters zu töten, James.Sie ist regelrecht besessen

davon und verfolgt ihn auf Schritt und Tritt um seinenTagesablauf rekonstruieren zu können und jederzeit dieMöglichkeit zu haben James zu töten.

Immer dabei ihr Lieblingsbuch: Der Zauberer von Oz.Nicht nur ist sie total begeistert von der Geschichte undihrer Protagonistin Dorothy, außerdem ist es auch dasletzte was sie von ihrem Vater bekommen hat und kannes einfach nicht mehr aus der Hand legen. Jeden Tag, jedeStunde, jede Minute die sie Zeit hat, liest sie soviel siekann aus dem Buch – egal, wie oft sie es schon durchge-lesen hat. In vielen Situationen würde sie am liebsten mitDorothy tauschen. Ihr Leben einfach übernehmen. Nurin einer nicht. Als sie einen Jungen namens Charlie tri�t.

Dieser arbeitet in einem Minimarkt nicht weit von Ol-lies ehemaligen Restaurant, in dem James sich jetzt immerrumtreibt. Das Besondere an Charlie – auch er liebt denDer Zauberer von Oz, jedoch die Filmversion. Immer wennBlue in den Minimarkt geht, schaut Charlie den Film. Wassich wohl zwischen den beiden entwickelt?

Ich �nde das Buch ist sehr düster geschrieben, aberbringt einen auch zum Grübeln. Man versucht zu verste-hen, was eine Dreizehnjährige dazu treibt den Wunsch zuverfolgen einen Mann zu töten und diesen tatsächlich dieganze Zeit zu verfolgen. Das alles geschieht in einer sehrkrankhaften Weise und man bekommt zunehmend dasGefühl, das Blue selbst langsam aber stetig dem Wahnsinnverfällt.

[Carolin Gaertner]

Pasi Ilmari Jääskeläinen: LaurasVerschwinden im Schnee

Die literarische GesellschaftHasenhausens besteht ausneun erfolgreichen Autorenund Autorinnen, die von derweltberühmten Kinderbuch-autorin Laura Hermelin aus-gebildet wurden. Nach Jahr-zehnten wird nun als letz-tes Mitglied die junge Leh-rerin Ella Milana in die Ge-sellschaft aufgenommen, diesich bis dahin mit Aushilfs-Jobs über Wasser hielt. Wäh-rend einer Feier verschwin-det Hermelin vor den Augen

ihrer Gäste in einem Schneesturm. Ella, die dadurchscheinbar ihre Chance (eine erfolgreiche Autorin zu wer-den) verloren hat, versucht nun etwas über die Vergangen-heit der Autorin herauszu�nden. Dabei lässt sie sich aufein Spiel ein, in dem sie auf immer düsterere Geheimnissestößt. . .

Pasi Ilmari Jääskeläinen ist mit Lauras Verschwindenim Schnee ein sprachmalerisches Debüt gelungen.

Doch nicht nur die Sprache erfreut einen an diesemBuch. Auch die Heldin Ella (die mir bereits auf der erstenSeite ans Herz gewachsen ist) und die anderen Charakteremit ihren kleinen Eigenartigkeiten erscha�en Lichtblickein einer düsteren, mystischen Atmosphäre.

Dieser Roman scha�t es einen durch böse, Gänsehauterzeugende Vorahnungen stundenlang an den Lesesesselzu fesseln. Dennoch wird man von dem, was Ella aufdeckt,immer wieder aufs Neue überrascht.

Der 1966 geborene Finne Jääskeläinen vereint in die-sem Roman Alltagskomik und skurrile Charaktere miteiner sehr spannenden Geschichte über die Vergangen-heit und über die Moral, wie weit man für die Erfüllungseines Traums bereit ist zu gehen.

Dieser Roman ist sowohl für Krimi- als auch Roman-Leser geeignet, da er Elemente aus beiden Genres harmo-nisch vereint.

[Laura Dopp]

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Mechtild Borrmann: Die andere Häl�eder Ho�nung

2010 lebt Walentyna inder verbotenen Zone vonTschernobyl. Hier lebt nur,wer nicht anders kann odersich verstecken muss. Ih-re Tochter Kateryna trat inDeutschland ein vermeint-liches Studium mit ihrerFreundin an, seit einigenMonaten scheinen beide wievom Erdboden verschluckt.Für ihre Tochter beginntWalentyna im bitter kaltenWinter ihre Lebensgeschich-

te aufzuschreiben und versetzt sich selbst zurück in eineZeit die voller schwerer Erinnerungen ist.

Währenddessen versteckt Matthias Lessmann inDeutschland eine junge osteuropäische Frau, die sich alsTanja ausgibt, er ahnt nicht, um welch eine verzwickteGeschichte es sich handelt.

Die Autorin hat einen relativ leichten, aber dennochfesselnden Schreibstil. Sie beschreibt das Geschehen imBuch sehr nah, man merkt das für dieses Buch ausführ-liche Informationen gesammelt wurden sind. Besonderssehe ich die Erzählung der einzelnen Personen, jeder be-schreibt ein anderes Leben und doch sind alle sehr nahmiteinander verbunden.

Jedem zu empfehlen, der den geschichtlichen Bezugmag, aber auch die Beziehung zu- und miteinander wert-voll betrachtet.

[Chantal Schulz]

Josh Malerman: BirdBox – schließe deineAugen

In dem Roman BirdBox gehtes um die hochschwangereMalorie, die sich in einer zer-fallenden Welt be�ndet.

Die Menschen attackierenund töten scheinbar grund-los sich selbst und ihre Mit-menschen auf eine grausa-me Art. Es heißt, dass sie an-geblich etwas gesehen hät-ten und niemand weiß wases war! Voller Angst verste-cken sich die Menschen inihren Häusern, hängen De-

cken vor die Fenster und gehen ohne verbundene Augennicht mehr vor die Tür.

Genau in dieser Welt lebt Malorie mit ihren beidenvierjährigen Kindern. Wir begleiten die drei auf ihremWeg zu einem sicheren Ort. Ihre Augen sind verbundenund Malorie muss sich auf das außergewöhnliche Gehörihrer Kinder verlassen, dass sie ihnen vier Jahre lang an-trainiert hat. Im Wechsel erfahren wir, was in den vierJahren zuvor geschehen ist: die ersten Todesfälle, der Zer-fall der Gesellschaft, Malories Schwangerschaft und dieGeburt, das Leben in einer Gruppe Überlebender undderen Zerfall.

Ich muss sagen WOW! Dieses Buch ist unglaublich gut.Spannend und fesselnd geschrieben mit einigen Horror-elementen, also nichts für schwache Nerven. Man hatterichtig das Gefühl, als würde man alles, was Malorie fühlt,auch fühlen. Seien es Emotionen oder physische Berüh-rungen. Ich konnte dieses Buch nicht mehr aus der Handlegen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht. Leider sind am Ende noch einige Fragen o�en, al-lerdings �nde ich das jetzt, wo ich das Buch schon seiteiniger Zeit fertig habe, ziemlich gut, denn so hat mangenug Raum für eigene Interpretationsmöglichkeiten. Ichkann dieses Buch nur wärmstens weiter empfehlen, anLeute, die Stephen King gerne gelesen haben und die maletwas anderes lesen wollen. Spannend, traurig, gruseligund auch etwas lustig zugleich!

[Melanie Albrecht]

Nic Pizzola�o: Galveston

Der Schläger, Geldeintrei-ber und Auftragskiller Roy»Big Country« Cady erfährt,dass er Lungenkrebs hat undwird kurz darauf von sei-nem Boss beauftragt sichum einen gewissen FrankSienkiewicz zu »kümmern«.Beim Betreten der Wohnungvon Sienkiewicz stellt sichdies allerdings als eine Fal-le heraus, denn seine Ziel-person ist bereits tot und

drei Maskierte Männer versuchen Roy umzubringen. Erscha�t es, die Männer in einem Schusswechsel zu töten,doch als er die Wohnung verlassen will, �ndet er eineübel zugerichtete junge Frau im Nebenzimmer.

Da sie sein Gesicht gesehen hat, entschließt er sichkurzerhand sie auf seiner Flucht nach Galveston mitzu-nehmen. Die junge Frau (Raquel »Rocky« Arcebeaux)bringt Roy unter dem Vorwand etwas Geld zu besorgendazu bei einer alten Hütte anzuhalten. Doch anstatt mitGeld kommt sie mit einem vierjährigen Mädchen (Ti�a-ny) wieder heraus, welches sie auf ihrer Flucht RichtungTexas begleiten wird.

In Galveston angekommen müssen sie sich ihrer Ge-

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B 14/1 Nic Pizzolatto: Galveston Neue Belletristik 4 (2015)

genwart und Vergangenheit stellen, um für sich und be-sonders für die kleine Ti�any eine Zukunft gewährleistenzu können.

Meiner Meinung nach hat Nic Pizzolatto eine unge-schönte Geschichte über Personen aus einem kriminellenMilieu geschrieben, die nicht so sehr auf eine spannendeHandlung oder sympathische Charaktere setzt, sondernsich auf die Persönlichkeiten und das Zusammenspielder Hauptpersonen konzentriert. Er zeigt wie zwei ge-bzw. zerstörte Persönlichkeiten versuchen mit ihrer Ver-gangenheit und Gegenwart umzugehen und trotz ihresMisstrauens (welches in ihrem Umfeld überlebenswichtigist) eine Freundschaft aufzubauen.

Dabei geht es nicht nur um ihrer beider Seelen, die mög-licherweise schon verloren sind, sondern schlussendlichum die Zukunft der vierjährigen Ti�any und die Frage,ob sie es ihr ermöglichen können, aus dem Teufelskreisder Gewalt auszubrechen.

[Nico Wendt]

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Historisches

Christina Baker Kline: Der Zug derWaisen

1929. Ein Zug voller Waisen-kinder. Kinder ohne ein zuHause mit schwerer Vergan-genheit. Sie reisen mit demZug quer durch Amerika inder Ho�nung auf eine bes-sere Zukunft. Doch nicht al-len Kindern ist diese sicher.In jedem Bahnhof musstensich die Kinder in einer Rei-he aufstellen und sich vonden potenziellen P�egefami-lien untersuchen und begut-achten lassen. Babys waren

bei den Familien sehr beliebt und hatten eine gute Chanceauf ein liebevolles zu Hause und eine gute Zukunft. Starkemännliche Jugendliche wurden auch sehr gerne genom-men. Sie mussten jedoch ein hartes Leben auf den Farmenfürchten, viele Familien suchten günstige Arbeitskräfte.Eines dieser Kinder war die damals neun jährige Vivian.Sie war die rothaarige Tochter irischer Einwanderer mitschlechten Chancen auf ein neues zu Hause.

Ob Vivian ein zu Hause fand und welche Höhen oderTiefen sie dort erwarteten, erfahren Sie in diesem wun-dervollen Roman von Christina Baker Kline.

Die Hauptperson Vivian ist heute 91 Jahre alt und er-zählt ihre Geschichte der jungen Molly. Sie leistet ihreSozialstunden bei Vivian ab und soll ihren Dachbodenaufräumen. Der Vater von Molly ist gestorben und ihreMutter ist drogenabhängig. Sie lebt in einer P�egefamilie.Die beiden Haupt�guren haben auf den ersten Blick keineGemeinsamkeiten und stehen in einem enormen Genera-tionenkon�ikt, jedoch erfahren die Beiden im Laufe derGeschichte immer mehr Parallelen ihrer Lebensgeschich-ten, die zu einer Art Freundschaft führen.

Der Leser erhält in diesem Buch interessante Einbli-cke in P�egefamilien damals und heute. Vieles hat sichverbessert, jedoch darf auch Molly nicht ihr wahres Ichzeigen und wird nicht so akzeptiert wie sie ist.

Mit einer angenehmen, gefühlvollen und detailreichenSprache gelingt es der Autorin, dass der Leser mit den bei-den Haupt�guren mitfühlt und mitleidet. Die Geschichteder Waisenzüge beruht auf einer wahren geschichtlichenTatsache und wird absolut authentisch in diesem Romanweiterverarbeitet.

Alles in allem ein sehr gutes Buch für jeden Leser, dersich in eine ganz andere Zeit zurückversetzen und fes-

seln lassen möchte. Einmal begonnen, lassen einen dieliebenswürdigen Charaktere und die tragischen Geschich-ten nicht mehr los.

[Claudia Hennemann]

Hannah Kent: Das Seelenhaus

Agnes Magnúsdóttir ist dieletzte zum Tode verurteil-te Verbrecherin in Island.1828 wird sie für die Mordean zwei Männern verurteilt.Bei einem der Opfer handeltes sich um ihren ehemali-gen Geliebten Nathan. DieZeit bis zu ihrer Hinrichtungsoll sie auf einem Hof in ih-rem Heimatdorf verbringen,doch die betre�ende Fami-lie ist davon alles andere alsbegeistert. Der junge Pfarr-

vikar Tóti soll Agnes zur Reue für ihre Tat verhelfen,doch er erkennt schnell, dass Agnes nicht gläubig ist undGottes Weg nicht der ihre. Stattdessen erzählt sie ihmvon ihrem Leben. Während Tóti daran zweifelt, ob Agneswirklich schuldigt ist, gewinnt auch die Familie, bei dersie lebt immer mehr Zutrauen. Bald sitzen sie täglich amFeuer beisammen und Agnes erzählt. Bis Alle schließlichdie Wahrheit über die Mordtat erfahren.

Die Autorin scha�t es die Geschichte von Agnes ge-fühlvoll und lebhaft zu erzählen. Zwar ist die Spracheteilweise durch die isländischen Namen etwas kompli-ziert, doch eine Au�ockerung erfolgt durch Briefe undGedichte am Anfang eines jeden Kapitels.

Es gibt keine Spannungshöhepunkte, eher ist die Span-nung das ganze Buch über gleichbleibend, da keine klareWendung der Geschichte zu erahnen ist.

Man lernt Agnes’ Persönlichkeit aus der Sicht von ver-schiedenen Personen kennen. Eine anfängliche Abnei-gung entwickelt sich zu einer gewissen Sympathie.

Empfehlen würde ich das Buch jedem, der anspruchs-vollere Literatur mit historischem Hintergrund zu schät-zen weiß.

[Jule Heintz]

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B 14/1 Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen Neue Belletristik 4 (2015)

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nichtsehen

In dem Roman Alles Licht,das wir nicht sehen geht esum zwei Jugendliche, die zurZeit des Zweiten Weltkrie-ges aufwachsen.

Marie-Laure, die im Al-ter von 8 Jahren erblindet,lebt mit ihrem Vater in ei-ner kleinen Wohnung in Pa-ris. Ihr Vater arbeitete dort,nur einige Straßen von ihrerWohnung entfernt, in einemMuseum als „Schlüsselwart“.Dort hört sie auch das erste

Mal von dem legendären Diamanten „Meer der Flammen“.Ihr Vater erbaut ihr, nachdem sie vollkommen erblindetist, eine Miniaturausgabe von Paris, damit sie lernt sichirgendwann alleine zu Recht zu �nden. Jeden Tag nachder Arbeit setzt er sie irgendwo aus und lässt sich vonihr Nachhause führen. Als sie aus Paris �iehen müssen,bekommt ihr Vater vom Direktor des Museum einen Dia-manten der genauso aussieht wie „Das Meer der Flam-men“ um die Deutschen zu verwirren. Sie �iehen zu ihremverwirrten Großonkel Etienne nach Saint- Malo.

Werner wächst mit seiner jüngeren Schwester am Ran-de des Ruhegebietes bei einer alten Nonne in einem „Kin-derhaus“ als Waise auf. Werner hat ein UnglaublichesVerständnis für Technik, wodurch er ein altes Radio wie-

der zum Laufen bekommt, womit er und seine Schwestereine Radiosendung von einem Pariser hören. Durch seintechnisches Verständnis fällt er einem SS- O�zier auf,der es ihm ermöglicht auf eine Akademie zu gehen umirgendwann Ingenieur zu werden. Dort freundet er sichmit einem anderen Jungen an, der von Vögeln fasziniertund eigentlich zu sensibel für die harten Umgangsformenan der Schule ist. Werner fängt schon in der Schule lang-sam an zu Zweifeln, als sein Freund beinah tot geprügeltwurde. Durch seine brisanten Fragen wird er von seinem„Mentor“ einige Jahre älter gemacht und ins Feld geschicktum versteckte Radiosender zu suchen. So kommt er auchnach Saint-Malo auf der Suche nach dem Pariser dener früher immer mit seiner Schwester gehört hat. Dorttri�t er während der Bombardierung von Saint-Malo aufMarie-Laure die sich im Haus ihres Großonkels versteckthatte.

Ich kann nur sagen, dass ich dieses Buch unglaublichgut fand. Anthony Doerr scha�t es mit seiner kunstvol-len, spannenden Sprache uns in sein Buch hineinzuziehenund uns nicht mehr los zu lassen. Sie möchten einfachwissen wie es weiter geht und wie die beiden, Wernerund Marie-Laure, aufeinander tre�en. Und als die beidendann wirklich aufeinander tre�en überläuft sie ein wolli-ger Schauer, weil es einfach unglaublich ist wie die beidenGeschichten doch irgendwie ineinander ver�ochten sind.Ich kann dieses Buch nur jedem, der Geschichte mag undgerne mal etwas Anspruchsvolles lesen will, ans Herzlegen.

[Jasmina Reimann]

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Gefühlvolles

Mascha Kaléko: Liebst du micheigentlich?

Ich und DuIch und Du wir waren ein PaarJeder ein seliger Singular

Liebten einander als Ich und als DuJeglicher Morgen ein Rendezvous

Ich und Du wir waren ein PaarGlaubt man es wohl an die vierzig Jahr

Liebten einander in Wohl und in WeheFührten die einzig mögliche Ehe

Waren so selig wie Wolke und WindWeil zwei Singulare kein Plural sind.

Mit diesem Gedicht, ge-schrieben von Mascha Kalé-ko, beginnt das Buch.

In dem Buch Liebst dumich eigentlich? werdenganz private und intimeBriefe von Mascha Kalékoan ihren Ehemann veröf-fentlicht. Lassen Sie sichmitnehmen auf eine Reise indas Nachkriegsdeutschland,in die Welt Mascha Kalékos,

die als Emigrantin in den 50er Jahren nach Deutschlandzurück kehrte, die Höhen und Tiefen beschreitet, sich mitdem Zeitgeschehen kritisch und fragend auseinandersetztund so viel Schönes zu berichten hat auf ihre ganz eigeneindividuelle Art und Weise.

[Franziska Lange]

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Unterhaltendes

George R. R. Martin: Wild Cards – DasSpiel der Spiele

Wild Cards spielt in ei-nem alternativen Erdszena-rio nach dem Ende derZweiten Weltkriegs. Durcheinen im Jahre 1946 ausge-lösten Virus, der die mensch-liche DNA umschreibt, wer-den 90 % der Menschen vonNew York City ausgelöschtund 9 % der mit dem Virusin Kontakt tretenden Men-schen erfahren körperlicheVeränderungen (Joker). 1 %der Menschen bekommen

„Superkräfte“ (Asse). In den darau�olgenden Jahren brei-tet sich der Virus über die ganze Welt aus. Neben dennormalen Menschen treten nun auch immer mehr Mu-tationen und Fähigkeiten auf. Wie beim Poker könnenzunächst schwache Blätter sich am Ende als Stärke undhohe Karten als Nachteil herausstellen. Der Großteil derislamischen Länder Arabiens hat sich zu einem Kalifatzusammengeschlossen. O�enbar ist dem britischen Ge-heimdienst daran gelegen, einen neuen Kalifen an dieMacht zu bringen, denn eines seiner Agentenasse ver-übt in Bagdad einen Mordanschlag auf den derzeitigenHerrscher. Die Tat wird Jokerterroristen in die Schuhegeschoben. Die Joker Ägyptens haben den Glauben andas antike ägyptische Pantheon wiederbelebt und sindden Islamisten ohnehin ein Dorn im Auge. Jetzt kommtes zu zahlreichen Übergri�en auf sie.

Währenddessen startet in den USA die CastingshowAmerican Hero. In speziell inszenierten Prüfungen müs-sen die Kandidaten ihre Heldenhaftigkeit unter Beweisstellen, und nach jeder Aufgabe sitzt eine Promi-JuryGericht. Das Siegerteam bleibt ungestraft, die anderenMannschaften sind gezwungen, eines ihrer Mitgliederrauszuwählen, bis am Ende der American Hero übrigbleibt. Die Kandidaten geraten an ihre Grenze, sie wissennicht, wem sie trauen können, fühlen sich verraten undwerden benutzt, aber es geht um Ruhm und soviel Geld,dass es bis zum Ende fraglich bleibt, ob alle erkennen,was es wirklich heißt, ein Held zu sein.

„Wild Cards“ ist ein Gemeinschaftswerk vieler Auto-ren, jeder hat seine Figur und seine Erzählperspektiveund durch die unterschiedlichen Schreibstile kann mansich sehr gut in die einzelnen Figuren hineinversetzen.So erleben wir die Geschichte aus anderen Blickwinkeln

heraus und das von Kapitel zu Kapitel abwechselnd. Dagibt es z. B. Jamal, den Stuntman, der einfach nicht ka-putt zu kriegen ist, oder Drummer Boy: Rockstar undmenschliches Schlagzeug oder die kleine Rachel, die ih-re Plüschtiere in echte Riesenmonster verwandeln kann.Auch Jonathan Hive ist unter den Auserwählten, seineFähigkeit ist es, sich in einen Schwarm Wespen verwan-deln zu können und sein Ziel die Story seines Lebens alsReporter zu schreiben. Da er Blogger ist und somit eherein Beobachter, hat er den nötigen Überblick, um den Le-ser in dieser doch recht komplexen und charakterreichenGeschichte nicht die Orientierung verlieren zu lassen. Sei-ne Blogeinträge lockern das Ganze noch ein wenig auf.Nützlich ist, dass bei den Kapiteln immer oben stand, auswelcher Feder man jetzt liest. So kann man wirklich inandere Charaktere schlüpfen, in die verschieden Gruppenspähen, die innere Konstruktion erfahren, und das eineoder andere Mal überrascht werden. Jede der Figuren istnicht nur durch die einfallsreichen Superkräfte speziell– sie alle haben ihre Ecken und Kanten. Man fühlt sichihnen nah und auch, wenn sie nicht alle sympathisch sind,kann man ihre Gefühle und ihr Tun sehr gut nachvollzie-hen. Durch die Show und die damit geforderte Teamarbeitkommen sich einige Asse näher, Freundschaften entste-hen, aber auch Abneigung und Konkurrenzkampf. Es istfaszinierend zu beobachten, wie sich die Beziehungenuntereinander entwickeln und welche Entscheidungengetro�en werden.

Sehr gut werden die Charaktere und ihre Ambitionenskizziert und man behält trotz der vielen Teilnehmer gutden Überblick. Dieser Teil des Buches zeigt das sozialeMiteinander auf, wer mit wem durch was verbunden ist,welche Ideale jeder verfolgt, die Gründe für sein Handeln.Durch die verschiedenen Figuren wird die Geschichtesehr unterhaltsam und die teilweise etwas absurden Fä-higkeiten bringen den Leser während des Castings oft-mals zum Schmunzeln. Aber das ist nicht der einzigeZweig, den die Schriftsteller hier verfolgt haben, denndie Castingshow ist nur der Auftakt für was Größeres.Lohengrin, der deutsche Ritter in schimmernder Rüstung,das Ass auf dem (deutschen) Cover, tritt erst in der zwei-ten Hälfte des Buches so richtig ins Rampenlicht. Ab jetztverschiebt sich auch der Schauplatz und ein ganz neuerAspekt kommt ins Spiel, der die ganze Zeit im Hinter-grund gelauert hat und das Ganze in ein völlig anderesLicht rückt.

Aktuelle Themen werden einem um die Ohren gehau-en: Die Ober�ächlichkeit der Castingshows, die Bedeu-tung von Ehre und Gewissen, Ausgrenzung, politischeUnruhen, das Leiden des Krieges und die schwierige Fra-

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ge, einen Schuldigen zu �nden – ebenso wie den Weg,um einzugreifen.

Was können wir erreichen, mit all unserem Wissen undKönnen? Hier werden nicht nur die sozialen Problemeanalysiert, sondern auch Politische. Was wären Superhel-den, wenn sie nicht den Krieg aufhalten könnten, waswären sie, ohne wirklich Hilfe zu leisten, warum solltensolche Kräfte nicht für das Gute eingesetzt werden. Undso kippt die lockere Stimmung etwa ab der Hälfte desBuches und die Charaktere werden nach und nach in diepolitischen Wirren und Intrigen des Kon�iktes im isla-mischen Kalifat hineingezogen. Dem Leser wird schonfrüh klar, dass sich noch einiges entwickeln muss, dassdiese Geschichte nicht in einem Buch beendet werdenkann – die Inhaltsangabe ist sehr o�en gestaltet und ver-leitet zum Nachdenken. Der zweite Teil des Buches istdeshalb schwerer zu Verdauen und lässt einen auch miteinem mulmigen Gefühl zurück, denn den Krieg im Osten,den gibt es wirklich. Genau das ist meiner Meinung nachauch die große Stärke von „Wild Cards“ – die Verknüp-fung fantastischer Elemente mit wahrhaftigen, aktuellenProblemen und Kon�ikten in unserer realen Welt. DerSpagat zwischen der doch recht komisch und absurd ge-haltenen Castingshow und dem grausamen Krieg warrecht schwer zu bewältigen, es ist wie ein Schnitt imBuch. Meines Erachtens ist es den Autoren aber recht gutgelungen, diese Gegensätze zu verknüpfen und das Endemacht eindeutig Lust auf mehr.

[Jana Drefke]

Michele Serras: Die Liegenden

In Michele Serras RomanDie Liegenden, erscheinenim Diogenes-Verlag, geht esin erster Linie um den Kon-�ikt eines Vater mit seinemSohn, aber auch mit sichselbst.

Rührend und amüsantschildert er seine Erlebnis-se mit einem der »Liegen-den« im Alter von 18 Jahrenund stellt sich die Frage, wieaus dem niedlichen Kind eintechnisches Multitalent ge-

worden ist, das Tag und Nacht umdreht und vergisst denToilettensitz herunter zu klappen.

Der Vater, der die Haupt�gur des Buches darstellt, er-zählt seinen Leidensweg aus der Ich-Perspektive und rich-tet sich direkt an seinen Sohn, indem er ihn mit Du an-spricht. Der Roman teilt sich in drei Teile auf, die je nachKapitel abwechseln. In dem einen erzählt er von den täg-lichen Zusammentre�en (oder auch nur den Spuren, dasses noch jemand anderen in seinem Haus geben muss) mit

seinem Sohn. In dem zweiten Teil scha�t er einen �ktivenKrieg zwischen den »Alten« und den »Jungen«, die umdas Schicksal der Welt kämpfen. Der dritte Teil bestehtaus kleinen Absätzen, in denen der Vater seinen Sohnteils bittet, teils bedrängt mit ihm eine Wanderung zumachen, um sich wieder näher zu kommen. All dies tut ermit viel Witz und Sprachgewandtheit, wodurch er einemdas von Schimmel übernommenen Geschirr bildhaft vorAugen führt.

Alles in allem ist Die Liegenden ein tolles, witzigesBuch, das sich an alle beteiligten Altersklassen richtetund Anlass zum Nachdenken gibt. War früher wirklichalles besser und sind wirklich alle Jugendlichen faul? »Ei-ne Welt in der die Alten arbeiten und die Jungen schlafen,so etwas hat es noch nie gegeben.«

[Anna Beuge]

Jonathan Evison: Umweg nach Hause

Ein humorvoller und liebe-voller Roman über die Pro-bleme des Alltags.

Der vierzigjährige Kran-kenp�eger Benjamin, Bengenannt, macht seine ers-te Berufserfahrung bei demneunzehnjährigen Trevor,der an Muskeldystrophieleidet. Da Trevor aufgrundseiner Krankheit an denRollstuhl gefesselt ist undim Alltag nicht allein zu-rechtkommt, verbringen die

beiden jeden Tag sehr viel Zeit miteinander. Sie beginnensich anzufreunden und �nden im jeweils Anderen einewichtige Stütze zur Bewältigung des Alltags.

Der plötzliche Unfalltod, dem Bens Kinder zwei Jahrezuvor erlagen, macht Ben noch immer sehr zu scha�en.Seine Frau und auch Mutter seiner Kinder lebt nicht mehrmit ihm zusammen und wartet nur darauf, dass Ben end-lich bereit ist, die Scheidungspapiere zu unterschreiben.Im Laufe der Geschichte taucht Trevors Vater Bob auf undversucht zum wiederholten Male Wiedergutmachung zuleisten. Seit er Trevor und seine Mutter gleich nach Tre-vors Geburt verließ, da er mit der Situation überfordertwar, steht er regelmäßig mit einer riesigen Tüte von KFCvor ihrer Tür. Als Trevors Mutter beru�ich für einige Ta-ge verreisen muss, erlaubt sie Trevor und Ben mit dembehindertengerechten Van zu Bob zu fahren. Unterwegsquer durch die USA wollen die beiden an verschiedens-ten Sehenswürdigkeiten halt machen, die sie bereits imVorfeld genauestens auf einer riesigen Wandkarte mar-kiert haben. Im Laufe dieser Reise machen die beidenBekanntschaft mit der hochschwangeren Peach, ihremkriminellen Freund Elton und der jungen Ausreißerin Dot.

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B 14/1 Jonathan Evison: Umweg nach Hause Neue Belletristik 4 (2015)

Verfolgt von einem mysteriösen Skylark und trotz einigerverrückter Zwischenfälle beginnen Trevor und Ben sichihren Problemen und Ängsten zu stellen.

Während des Lesens �nden immer wieder Zeitsprüngein die Vergangenheit statt, in der Ben noch glücklich mitseiner Frau und seinen Kindern zusammen gelebt hat. Die-se Zeitsprünge bereiten den Leser immer weiter daraufvor, was nun genau mit Bens Kindern geschah. Besondersschön ist es, wie die unterschiedlichsten Charaktere indiesem Buch zusammen�nden und eine starke Einheitbilden. Dazu kommt die nicht gerade charmante Wort-wahl während der Gespräche zwischen Ben und Trevor,die dem Buch eine sehr amüsante Note verleiht.

Der Roman ist in einer leicht verständlichen Sprachegeschrieben und daher durchaus auch etwas für den eherungeübten Leser.

[Lena Petersen]

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Literarisches

Franz Friedrich: Die Meisen von Uusimaasingen nicht mehr

Inseln waren das große The-ma bei den nominiertenBüchern auf der Shortlistdes Deutschen Buchpreises2014. Neben Thomas Hett-ches Pfaueninsel und demverdienten Sieger Kruso vonLutz Seiler, schickte auchFranz Friedrich in seinemDebütroman Die Meisen vonUusimaa singen nicht mehrden Leser auf ein seltsamesEiland, das wohl mysteri-öseste aus diesem Trio.

Denn auf Uusimaa, einer �ktiven, Finnland vorgela-gerten Insel, hat die Lapplandmeise aufgehört zu singen.Im Jahr 1996 verstummten die Vögel. Für die Inselbewoh-ner war dies ein böses Omen, dass das Ende der Weltkurz bevorstehe und verließen daraufhin die Insel. Mitdem Gesang der Meisen gingen auch die Menschen. Esblieben die Ornithologen, darunter Susanne Sendler, dieeinen Dokumentar�lm über die Lapplandmeisen drehenmöchte.

Drei Handlungsstränge werden in diesem Roman er-zählt, wobei nicht immer klar wird, ob diese miteinanderdirekt zu verknüpfen sind. Da ist zum einen SusanneSendler, die der Leser bei ihren Dreharbeiten auf der fastverlassenen, paradiesischen Insel begleitet. Dann ist dader Erzählstrang eines Studenten, der sich Jahre später ineinem Archiv Sendlers Film anschaut und aus Versehendie letzte existierende Kopie der Dokumentation zerstört.Und schließlich ist da eine amerikanische Studentin, dieim Berlin einer nahen Zukunft ihr Stipendium verliertund durch die krisengeschüttelte Kapitale irrt.

Der Roman des gelernten Experimental�lmers FranzFriedrich, ist eine Dystopie über die nahe Zukunft Euro-pas. Die westliche Gesellschaftsordnung ist erschüttert,viele Menschen leben in Armut. Wie es dazu kam, wirdim Roman nicht beantwortet. Viele Antworten bleibt derRoman schuldig, aber es sind diese mysteriösen Fragen,die den Leser weiter lesen lassen. Das größte Mysteriumsind dabei die verstummten Meisen. Der Roman ist nichtunbedingt spannend zu lesen, da es keine actionreichenSzenen gibt. Er richtet sich an erfahrene Leser, die sichauch mal mit Fragen nach der Stellung des eigenen Ichs inder aktuellen Zeit auseinander setzen wollen. Der großePluspunkt in diesem Roman ist die poetische Sprache des

Autoren. Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr istsicherlich der ungewöhnlichste Roman auf der 2014erShortlist. Und sicherlich auch der, der am meisten nach-wirkt.

[Sven Arne Ohlwein]

Christie Hodgen: Fünf Menschen, die mirfehlen

Fünf Menschen, die mir feh-len ist ein Roman, in dem derLeser in die Welt von der jun-gen Mary eintaucht. Maryerzählt ihre Geschichte, diein verschiedenen Lebensjah-ren vom Kindes- bis ins Er-wachsenenalter reicht.

Als Basis für ihre Erzäh-lung nimmt sie fünf Men-schen, die sie in ihrem Le-ben begleitet und geprägthaben. Es sind fünf verstor-bene Menschen, die nichts

miteinander gemein haben, außer dass ohne sie MarysLeben eine völlig andere Wendung genommen hätte.

Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt und sie widmetjeder Person ein Kapitel. Geschrieben sind sie als Anspra-che an die Toten, gehalten in der zweiten Person Singular.

Sie alle, der verantwortungslose Onkel, der unsympa-thische Mitschüler, die verschrobene Mitbewohnerin, dererfolglose Künstler, und auch Marys Mutter, sind exzen-trische und skurrile Persönlichkeiten.

Mary ist in Bezug auf die Personen und ihrer gemein-samen Geschichte durchaus nicht immer im Reinen. Viel-mehr spricht sie in den ihnen gewidmeten Kapiteln sehranklagend und hart, in anderen Abschnitten wirkt siejedoch in ihren Erzählungen distanziert, manchmal wirktsie sogar fast gefühllos. Dann wiederum spricht Maryin bewunderndem Tonfall, lobend und voll Ehrfurcht zuihnen.

Durch das gesamte Buch zieht sich eine gewisse Me-lancholie und es wirkt teilweise etwas düster. Dennochwird es durch heitere Momente, in der viel mit der Spra-che gearbeitet wird, aufgelockert und bringt den Leser aneinigen Passagen zum Schmunzeln.

Mich hat das Buch unheimlich berührt und von derersten bis zur letzten Seite gefesselt. Ich fand es spannendzu sehen, was die fünf Menschen mit Mary machen undwas sie in ihr auslösen. Die Geschichte lebt nicht nur

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Page 13: Neue BelletristikB14/1 Nic Pizzolatto: Galveston Neue Belletristik 4 (2015) genwart und Vergangenheit stellen, um für sich und be-sonders für die kleine Ti˛any eine Zukunft gewährleisten

B 14/1 Ian McEwan: Kindeswohl Neue Belletristik 4 (2015)

durch die Dinge, die darin geschehen, sondern vor allemauch durch Dinge, die eben nicht geschehen und die nichtgesagt werden.

Letztlich kann ich aber nicht behaupten, dass das Buchdurchweg traurig oder deprimierend war. Auch nicht imHinblick auf die Tatsache als Leser von Anfang an zu wis-sen, dass die Personen am Ende des jeweiligen Kapitelssterben. Vielmehr stimmt das Buch den Leser nachdenk-lich, aber in gewisser Weise auch ho�nungsvoll und manemp�ndet eine große Sympathie gegenüber der Protago-nistin. Ich konnte mich sehr in Mary einfühlen und vorallem konnte ich gut nachvollziehen, warum gerade diesefünf Menschen ihr am meisten fehlen.

»Dann warst du verschwunden. So war dasLeben. Das war die Lektion, die wir immerwieder lernten, die Lektion, die uns unsereMutter am besten erteilen konnte. Liebe –egal, was sich sonst noch darüber sagen ließ-war vergänglich. Sie brach in das Leben ei-nes Menschen ein und nahm es in Besitz,sie vereinnahmte jeden Winkel seines Her-zens, machte es sich gemütlich, bis sie ersterwünscht, dann geschätzt und schließlichunentbehrlich geworden war, all das tat dieLiebe, und als nächstes tat sie das Einzige,was ihr noch übrig blieb, sie zog sich zurück,verschwand und hinterließ keine Spur. DieLiebe war grauenhaft.«

[Ann-Kristin Ratjens]

Ian McEwan: Kindeswohl

In Ian McEwans neuem Ro-man Kindeswohl schildert erdas heikle Thema zwischenReligion, Vernunft und Ge-fühl. Es geht um eine Rich-terin um die fünfzig, die amHigh Court in London arbei-tet. Während ihre Ehe im-mer mehr zu bröckeln be-ginnt, bekommt sie einenFall übertragen, bei dem esbuchstäblich um Leben undTod geht. Hierbei soll sie ent-scheiden, ob ein Junge von

siebzehn Jahren, der der Glaubensgemeinschaft der Zeu-gen Jehovas angehört und an Leukämie erkrankt ist, eineBluttransfusion bekommt. Er verweigert diese aufgrundseines Glaubens. Trotz der sachlichen Sprache ist der Ro-man voller Gefühl und vermittelt eine melancholischeStimmung.

Mir hat an dem Roman besonders der Gegensatz zwi-schen Fiona Maye und Adam Henry gefallen und wie siesich gegenseitig beein�ussen. Diese Gegensätze �ndensich im Buch in der sachlichen Sprache, die perfekt zueiner Richterin um die fünfzig passen und der träumeri-schen Lyrik des Jungen wieder. Ich würde ihn Lesern, diean gesellschaftlichen Themen interessiert sind und einengewissen Bildungshintergrund haben, empfehlen.

Der Roman ist im Diogenes Verlag erschienen und istin Leinen gebunden.

[Emma Petersen]

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