Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

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Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister Dokumentation Bremen 28. bis 3 1 . August 1997 Hotel Mercure " Deutsche .II1II AIDS-Hilfe e.V.

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Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Dokumentation

Bremen 28. bis 31. August 1997

Hotel Mercure

" Deutsche .II1II AIDS-Hilfe e.V.

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© Deutsche AIDS-Hilfe e. Y.

Dieffenbachstr. 33

10967 Berlin

http://www.aidshilfe.de

e-mail: [email protected]

Dezember 1997

Manuskript: Annette Fink

Fotos: Ulmann-Matthias Hakert

Spendenkonto der Deutschen AIDS-Hilfe e.Y.:

Berliner Sparkasse, Konto-Nr. 220220220, BLZ 100 500 00

Die Deutsche AIDS-Hilfe ist als gemeinnützig und besonders

förderungswÜfdig anerkannt. Spenden sind daher steuerabzugsfähig.

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Inhalt

Vorwort

Programm des Netzwerktreffens

Eine Art Familientreffen

Das Wort zum Anfang

Zerrissen zwischen Verantwortung und Überforderung?

Stigma Aids

Schnupperworkshop

Neue medizinische Behandlungsmöglichkeiten -

zwischen Hoffnung und Verunsicherung

Soziale Sicherung

Die Ventil-Runde

Mit fremden Kindern redet es sich leichter/

Mit fremden Eltern redet es sich leichter

Brüderchen und Schwesterchen

Elternnetzwerk - von der Utopie zur Realität?

Das Wort zum Abschluß

Zusammenfassung

Die Resolution

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Vorwort

Vom 28. bis 3l. August 1997 fand zum zweiten Mal parallel zu einer Bundes­

positivenversammlung (BPV) eine eigene Veranstaltung für Eltern und

Geschwister statt. Das erste Treffen im Jahr zuvor in Leipzig war noch aus der Not

heraus geboren: Die Vorbereitungsgruppe für die dortige 7. BPV sah sich gefor­

dert, die Versammlung stärker in Richtung eines "Parlamentes der Menschen mit

HIV" zu orientieren und die Teilnahme von anderen Interessierten (Angehörigen,

Aids-Hilfe-MitarbeiterInnen usw.) zu begrenzen. Geboren aus der Empörung der

sich ausgeschlossen fühlenden Eltern und Geschwister entstand die Idee einer par­

allel stattfindenden eigenen Veranstaltung.

Für die Angehörigen sollte dieses Treffen ein Ort sein, an dem sie ihre Erfahrun­

gen austauschen, gemeinsame Probleme klären und sich zu HIV-spezifischen Fra­

gestellungen weiterbilden können. Daneben bestand die Möglichkeit, an Work­

shops der BPV teilzunehmen. Andererseits sollte diese Veranstaltung dazu dienen,

den Wunsch nach einer überregionalen Vernetzung zu überprüfen und eventuell

zu konkretisieren. Die Idee, ein bundesweites Netzwerk der Angehörigen aufzu­

bauen. wurde in Leipzig vorerst auf informeller Ebene aufgegriffen.

Die Situation von Angehörigen ist immer noch sehr stark von der Angst vor Dis­

kriminierung aufgrund der HIV-Infektion oder Aids-Erkrankung eines Familien­

mitgliedes geprägt. Während die meisten Menschen mit HIV und Aids direkt in

den oder im Umfeld der Epizentren des Aids-Geschehens leben, sind ihre

Angehörigen ,.normalverteilt" über die ganze BRD verstreut. In ländlichen Regio­

nen bestehen noch wesentlich stärkere Vorbehalte gegenüber HIV und Aids bezie­

hungsweise den mit ihnen assoziierten Themen Homosexualität und Drogenge­

hrauch: Angehörige müssen dort eher mit negativen sozialen Reaktionen rechnen

und ziehen es deshalb vor. die Infektion oder Erkrankung eines Familienmitglieds

geheimzuhalten.

Die hier dokumentierten Erfahrungen der TeilnehmerInnen bestätigen die Ergeb­

nisse der US-amerikanischen Arbeit mit HIV-betroffenen Familien, wonach der

Zwang zur Geheimhaltung fatale Auswirkungen auf das betroffene Familiensy­

stem haben kann: Er spaltet betroffene Familien in Wissende und Unwissende,

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schneidet sie von vorhandenen sozialen Unterstützungs angeboten ab und treibt

sie in die Isolierung.

Die fehlende Unterstützung von Angehörigen in der Bewältigung der Auswirkun­

gen der HIV-Infektion auf das Familiensystem kann wiederum das Verhältnis zum

Infizierten oder Erkrankten derart belasten, daß vorhandene familiäre Ressourcen

in der Betreuung oder Pflege nicht optimal genutzt werden können. Eine ,.Inve­

stition" in die Unterstützung betroffener Angehöriger kann sich also für die Aids­

Service-Organisationen ebenso "rentieren" wie für unser Gesundheitssystem.

Diese Unterstützung sowohl öffentlich einzufordern als auch ihr eigenes Engage­

ment dafür anzubieten, ist das Anliegen einer stetig wachsenden Gruppe von

Angehörigen. Gestärkt durch die Solidaritätserfahrung in Gruppen und Work­

shops der Deutschen AIDS-Hilfe, wollen sie ihre eigenen Erfahrungen weiterge­

ben und die Selbsthilfe betroffener Angehöriger in Form eines bundesweiten

Netzwerkes organisieren. das die weiten Entfernungen zwischen den Mitgliedern

überbrückt.

Wie diese Dokumentation aufzeigt, müssen die Angebote der Angehörigenarbeit ~ ~ ~ ~

von Aids-Hilfen dieser neuen Entwicklung Rechnung tragen. Während die Teil­

nehmerInnen 1996 in Leipzig noch brav die gutgemeinten Angebote an Works­

hops konsumierten. wurde ein Jahr später in Bremen Kritik an der Konzeption der

Veranstaltung laut und eine stärkere Einbeziehung in Planung und Durchführung

eingefordert. Dieser Quantensprung von Leipzig nach Bremen hat die Veranstal­

ter zum Teil kalt erwischt und erforderte ständige Anpassungen des Programms

an die Erwartungen der TeilnehmerInnen .

Das Ergebnis kann sich dennoch sehen lassen: Die Initiative zur Gründung eines

.. Netzwerkes der Angehörigen von Menschen mit HIV und Aids" ist vollzogen.

Nach einem weiteren Arheitstreffen dieser Initiative im Dezember 1997 ist der

Grundstein für den Aufbau eines solchen Netzwerkes gelegt worden. das sich aktiv

an der Vorbereitung von .. Berlin 1998" beteiligen wird.

Ein herzlicher Dank gilt an dieser Stelle denen. die dieses Treffen ermöglicht und

gefördert haben, allen voran dem Hotel Mercure Bremen. der IDEAL-Versiche­

rungs GmbH. der Firma Julius Grieneisen GmbH & Co. KG, dem Copyshop

papertwins und zahlreichen ihrer Lieferanten. Sie haben durch ihre finanziellen

Zuwendungen nicht nur dieses Treffen ermöglicht, sondern fördern zum Teil

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schon seit Jahren kontinuierlich die Angehörigenarbeit der Deutschen AIDS-Hilfe

e.V

Wir wünschen den Lesern Freude an der Lektüre dieser lebendigen Dokumenta­

tion. Zum Schutz der Anonymität wurden sämtliche Namen der TeilnehmerInnen

geändert.

Kar! Lemmen

UIi Meurer

Mara Seibert

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Programm des Netzwerktreffens

Donnerstag, 28. August 1997

17.30 - 18.15 Uhr Eröffnung des Netzwerktreffens der Eltern und

Geschwister von Menschen mit HIV und Aids

20.00 - 21.30 Uhr Vorstellungsrunde und Kennenlernen der TeilnehmerInnen

ab 21.30Uhr Informelles Beisammensein oder Teilnahme an einer

der Eröffnungsparties der 8. BPV

Freita~ 29. August 1997

10.15 - 13.00 Uhr 1. Workshop: Zerrissen zwischen Verantworung und

Überforderung?

10.15 - 12.00 Uhr 2. Workshop: Stigma Aids

15 .30 - 18.45 Uhr 3. Workshop: Schnupperworkshop

15.30 - 17.00 Uhr 4. Workshop: Neue medizinische

Behandlungsmöglichkeiten - Zwischen Hoffnung und

Verunsicherung

17 .30 - 19.00 Uhr 5. Workshop: Soziale Sicherung

Samstag, 30. August 1997

10.15 - 11.45 Uhr 6. Workshop: Mit fremden Kindern redet es sich leichter

10.15 - 12.30 Uhr 7. Workshop: Brüderchen und Schwesterchen

15 .30 - 17.30 Uhr 8. Workshop: Elternnetzwerk - Von der Utopie zur Realität

18 .00 - 19.00 Uhr Abschlußrunde, Auswertung, Perspektiven 1998

Sonntag, 31. August 1997

10.00 - 13.00 Uhr Teilnahme an der Abschlußveranstaltung der 8. BPV

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Eine Art Familientreffen

A uf den ersten Blick sieht es aus wie das jährliche Treffen einer Klasse, die die

Schule seit 30 oder mehr Jahren abgeschlossen hat: Frauen fallen einander in

den Arm, die wenigen Männer schütteln herzlich Hände. Beim zweiten Hinsehen

werden die Altersunterschiede deutlich. Einen größeren Teil der Versammelten

würde man auf Anfang bis Mitte Fünfzig schätzen. manche haben die Sechzig

überschritten, einige wenige die Siebzig. Die älteste Teilnehmerin ist, wenn auch

alle äußerlichen Anzeichen dagegen sprechen, 77 Jahre alt, die jüngste gerade ein­

mal 16. Fast an jeder Bluse oder am Jackett steckt eine dezente rote Schleife aus

Metall. Eine Frau mit silbergrauem Haar trägt ein T-Shirt, das vorne mit der Auf­

schrift ,.Mein Sohn ist schwul und HIV-positiv" bedruckt ist ; wenn sie sich

umdreht, liest man auf der Rückseite: ,.Ich stehe dazu!"

Wer hinhört, wird feststellen , daß die meisten sehr schnell nach der ersten

Begrüßung einander fragen: "Wie geht es deinem Sohn/deiner Tochter?" Viele

Antworten ähneln sich: "Er hat jetzt eine Kombitherapie angefangen . Seine Werte

haben sich sehr gebessert. Vorher war die Viruslast bei 90 000. jetzt. ist sie nicht

mehr nachweisbar."

Während ein paar hundert Meter weiter im Bremer Hotel Mariott die achte Bun­

desversammlung der Menschen mit HIV und Aids stattfindet, treffen sich hier

zum zweiten Mal Mütter. Väter und Geschwister aus von Aids betroffenen Fami­

lien zu einer eigenen Veranstaltung. Viele der aus ganz Deutschland Angereisten

kennen sich von den drei- bi s viermal jährlich stattfindenden Wochenendsemina­

ren für Angehörige. Nachdem bei den früheren Bundespositivenversammlungen

für die Eltern und Geschwister - wenn überhaupt - nur ein Workshop in drei

Tagen angeboten wurde. bot das erste eigene Treffen im vergangenen Jahr in

Leipzig die Gelegenheit. sehr viel stärker präsent zu sein. ins öffentliche Bewußt­

sein zu rücken und sich gleichzeitig intensiv mit den eigenen spezifischen Bedürf­

nissen auseinanderzusetze n. Wer im letzten Jahr dabei war. berichtet von der

Euphorie , der Aufbruchstimmung und dem Zusammengehörigkeitsgefühl, das

dort zu spüren war. Schnell war die Idee geboren, ein Netzwerk für Angehörige

aufzubauen, das aber über das Jahr nur informellen Charakter behielt und nun

konkretere Formen annehmen sollte.

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Zu dieser zweiten Veranstaltung sind 19 Mütter, 6 Väter und 5 Geschwister eines

HIV-infizierten Menschen gekommen. Jede und jeder von ihnen hat einen ande­

ren Hintergrund: Die eine Mutter weiß seit zwölf Jahren von der Infektion ihres

Sohnes, die andere erst seit zweien; die Tochter der einen Mutter lebt ohne Sym­

ptome und gesundheitliche Einschränkungen, die der anderen ist schwerkrank,

die der dritten Mutter ist schon vor Jahren gestorben. Bei vielen ist die Familie

nicht zuletzt durch das Virus zerrüttet, während sie bei anderen näher zusammen­

rückt; die einen kommen aus der Kleinstadt, in der niemand etwas wissen darf,

die anderen waren schon mit dem Sohn oder der Schwester im Fernsehen; alle

sind unterschiedlich gebildet, haben die unterschiedlichsten Berufe und einen ent­

sprechend unterschiedlichen Lebensstandard.

Beim Sektempfang zu Beginn des Treffens wünscht Helga Thielmann, die

Angehörigenbeauftragte der DAH, daß die Teilnehmer ihre Sorgen teilen können,

aber auch Kraft und Mut mitnehmen, um zu ihren Familienmitgliedern zu stehen

und ein politisches Signal zu setzen.

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Das Wort zum Anfang

Nach dem gemeinsamen Abendessen stellen die Teilnehmer die Stühle zu

einem großen Kreis für die Vorstellungsrunde zusammen. Als erste stellt sich

Helga Thielmann kurz vor: Sie hat 1986 von der HIV-Infektion eines ihrer Söhne

erfahren. In der Folgezeit engagierte sie sich zunächst in der Göttinger Aids-Hilfe,

um dann die Angehörigenarbeit in der DAH aufzubauen, die sie nun seit über sie­

ben Jahren betreut. Die nachfolgenden Mütter, Väter und Schwestern fassen sich

ebenso kurz; sie erläutern, wann sich Sohn, Tochter oder Bruder infiziert haben.

wie lange sie davon wissen und ob sie sich in einer örtlichen Aids-Hilfe engagie­

ren. Ein Elternpaar, zwei Mütter und eine Schwester berichten. daß ihr Kind oder

ihr Bruder bereits verstorben ist.

"Es ist ein reiches Leben geworden"

N ur wenige erzählen etwas mehr. Es ist ihnen anzumerken, daß sie die Freude

über gute Nachrichten teilen und Mut machen mächten . Ruth S. b~richtet, daß

ihre seit drei Jahren erkrankte Tochter im vergangenen Jahr auf 37 Kilo abgema­

gert war und nun, dank einer Kombitherapie. 20 Kilo zugenommen hat; auch

Gunhild M. s Tochter hat sich durch die Medikamente blendend von ihrem kriti­

schen Zustand erholt. Juliane B. hat zusammen mit ihrem Sohn dessen Freund aus

der Klinik zum Sterben nach Hause geholt. .. Wir sind derart beschenkt worden

durch sein Lächeln". sagt sie . . .Ich möchte gerne weitergeben. daß man immer nur

das Gute annimmt. Es gibt so viele schöne Momente dabei." Eva J.s Sohn ist seit

vielen Jahren erkrankt : .. es geht mal rauf und mal runter. Wir haben durch diese

Krankheit viel Schreckliches. aber auch viel Gutes erlebt. Es ist ein sehr reiches

Leben geworden."

Die Runde, für die im Programm eineinhalb Stunden vorgesehen sind, ist nach 20

Minuten beendet. Viele Teilnehmer scheinen irritiert; auf Helga Thielmanns

Nachfrage, ob noch jemand etwas sagen möchte. meldet sich jedoch niemand.

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Zerrissen zwischen Verantwortung und Überforderung?

(Anleitung und Dokumentation: Kai-Uwe Merkenich, Diplom-Psychologe In

Berlin)

Das Wissen um die HIV-Infektion und eine mögliche Erkrankung zieht nicht

nur für den Betroffenen, sondern auch für seine Angehörigen vielfältige Ver­

änderungen nach sich. Neue Rollenanforderungen entstehen, die zur Überlastung

der Angehörigen führen können.

Der Workshop bot den Teilnehmern die Möglichkeit. Bereiche, in denen sie als

Familienmitglieder Verantwortung übernehmen. zusammenzutragen und daraus

entstehende Rollenanforderungen zu analysieren. Wie im Spannungsfeld zwi­

schen Verantwortung und Überforderung Entlastungsmöglichkeiten geschaffen

werden können, sollte in einem anschließenden Erfahrungsaustausch geklärt wer-~ "-

den.

Nach der einleitenden Darstellung der Workshopthemen und der geplanten

Arbeitsschritte äußerten die zwölf Anwesenden in einem Blitzlicht ihren Unmut

über die vorgeschlagene Gesprächsstruktur. mit der eine schrittweise Diskussion

der Einzelthemen beabsichtigt war. Mehrere Teilnehmer befürchteten anfangs

eine zu starke Konfrontation mit bereits überwunden geglaubten früheren Äng­

sten und schmerzvollen Erfahrungen. einzelne zogen ihre Workshopteilnahme

deshalb grundSätzlich in Zweifel.

Nach der Zusicherung eines respektvollen Umgangs mit den geäußerten Befürch­

tungen und dem Angebot. die geplanten Arbeitsschritte fallenzulassen. konnte

sich die Gruppe auf eine Gesprächsform einigen. die sich an Einzelbeiträgen und

nicht an einer Metastruktur orientieren sollte. In dem anschließenden Gespräch

kam es dann zu einem intensiven Austausch persönlicher Erfahrungen. die den

Teilnehmern im Hinblick auf das Workshopthema wichtig erschienen.

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Schockreaktionen

Mehrheitlich berichteten die Teilnehmer über Schockreaktionen, die sie angesichts

der Infektion oder Erkrankung des Betroffenen bei sich und anderen Familienmit­

gliedern festgestellt haben. Fassungslosigkeit, Nicht-Wahrhaben-Wollen und Ver­

drängung der Bedrohung kennzeichnen diese erste Reaktion, die von überwälti­

genden Gefühlen begleitet ist, etwa "als würde die Welt zusammenbrechen".

Ängste als ständige Begleiter

Schon in frühen Phasen der HIV-Infektion und erst recht im Fall der Erkrankung

zieht die permanente Bedrohung des Betroffenen bei Familienmitgliedern massive

Ängste nach sich, insbesondere Verlustängste, aber auch Ängste, in der Begleitung

des Betroffenen zu versagen. Eindrücklich schilderten die Teilnehmer ihre Erfah­

rungen. daß sie ein unbesorgtes Lebensgefühl seit Aids nicht mehr kennen.

Die Elternrolle

Eltern erleben mit der Infektion ihres erwachsenen Kindes eine Reaktivierung

ihrer früheren Eltemrolle. Selbst wenn erwachseI1e Kinder sich längst abgenabelt

haben und eigenständig leben. fühlen sich Eltern erneut in einer besonderen Ver­

antwortung, die von den Betroffenen in Teilbereichen mitunter als überfürsorglich

abgelehnt. in anderen Bereichen als hilfreich erlebt wird . Eine angemessene Form ~ ~

der Unterstützung muß erst vereinbart werden. Dabei erleben Angehörige die

betroffenen Familienmitglieder selbst nicht rollenstabil. So wechseln auch krank­

heitsbedingt regressive Phasen. in denen kindliche Vesorgungswünsche wachge­

rufen werden, mit Phasen stärkerer Autonomie, so daß Angehörige einen flexiblen

Umgang mit den Betroffenen erlernen müssen.

Sicherung der lebensqualität für den Betroffenen

Angehörige sehen neben der emotionalen Begleitung der Betroffenen eine ihrer

Hauptaufgaben in der Sicherung der Lebensqualität für den Betroffenen. Zum

Ausgleich eines mit Krankheit häufig verbundenen wirtschaftlich-materiellen

Abstiegs beteiligen sich Familien nicht selten finanziell an der Lebensgestaltung

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der Erkrankten. Dies kann bereits die laufenden Kosten für die Grundsicherung

(Miete, Telefon etc.) betreffen. Häufig möchten Angehörige aber auch besondere

Wünsche des Erkrankten wie etwa eine Reise oder die Neuanschaffung von per­

sönlich bedeutsamen Dingen miterfüllen. Einzelne Teilnehmer berichteten über

Kredite und Schulden, die ihnen durch die Mitversorgung des Betroffenen ent­

standen sind und die Grenzen ihrer Möglichkeiten deutlich werden lassen. Dabei

erleben Angehörige ihre finanziellen Grenzen als bedrückend und entwickeln

auch Schuldgefühle, wenn sie frühere Versprechen ("Ich will immer für dich da

sein") im Bereich materieller Bedürfnisse nicht einlösen können.

Wichtig erschien es den Teilnehmern, im Bereich der finanziellen Unterstützung

von Angehörigen ein persönlich adäquates Maß zu finden und nicht etwa luxu­

riöse Lebensbedingungen für den Betroffenen mit aufrecht zu erhalten, die sie

sich selbst nicht leisten können.

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Aufgabe familiärer Delegationen

Eltern verbinden den Entwicklungsweg ihrer Kinder mit Wünschen und Hoff­

nungen, die sie für sich selbst nicht erfüllen konnten. Dies drückt sich allgemein

in der Haltung "Unsere Kinder sollen es einmal besser haben" aus, äußert sich

auch in den für die Kinder geschaffenen Lebensbedingungen (besserer Lebens­

standard , Ermöglichung einer besonderen Bildung etc.) und kann bis zu konkre­

ten Aufträgen wie einer bestimmten für das Kind vorgesehenen Berufswahl rei­

chen. Nicht zuletzt erhoffen sich Eltern häufig eine Repräsentation und Weiter­

führung ihrer persönlichen und familiären Wertvorstellungen im Leben ihrer

Kinder.

Die Infektion oder Erkrankung des eigenen Kindes bedeutet für die Eltern auch,

sich von Aufgaben und Delegationen trennen zu müssen, die für das Kind vorge­

sehen waren. Dies wurde von den Teilnehmern als schmerzvoller Prozeß

beschrieben, zumal manche Delegationswünsche erst angesichts iherer Hinfällig­

keit bewußt werden.

Entlastung: Balance zwischen Auseinandersetzung und Ver­

drängung

Angesichts der vielfältigen äußeren und inneren Belastungen. die Angehörige mit

der Infektion oder Erkrankung des Betroffenen erleben. sahen die Teilnehmer ins­

besondere die Notwendigkeit. ein persönlich ausgewogenes Verhältnis zwischen

der Auseinandersetzung mit Angst, Schnmerz und Trauer und der auch notwendi­

gen Verdrängung übermächtiger Gefühle zu finden . Einzelnen Teilnehmern

gelang dies, nachdem sie in Selbsthilfetreffen. Beratungs- oder Therapie­

gesprächen Reflektionsmöglichkeiten außerhalb der familiären Situation genutzt

hatten.

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Stigma Aids

(Anleitung: VIi Meurer, Leiter des Referates für Menschen mit HIV und Aids;

Karl Lemmen, Leiter des Referates Psychosoziales und Fortbildung, beide DAH

Berlin)

Jahre sind vergangen, seitdem die ersten Fälle einer HIV-Infektion in 14 Deutschland auftraten . Längst scheint vergessen, daß einmal die Kaser­

nierung der Infizierten diskutiert wurde, daß Aids als Strafe Gottes für sexuelles

Fehlverhalten oder Drogengebrauch bezeichnet wurde, daß die Menschen pani­

sche Angst vor einer Ansteckung hatten und einander am liebsten nur noch mit

Gummihandschuhen angefaßt hätten. Aids war wie Aussatz. Inzwischen ist die

Hysterie verschwunden. Aids ist auf dem Weg, eine chronische Krankheit zu wer­

den. für die Medien gerade noch so interessant wie Krebs oder Multiple Sklerose.

Allein die Tatsache, daß von den vielen zigtausend Müttern, Vätern und Geschwi­

stern von HIV-Infizierten, die in Deutschland leben. nur ein minimaler Prozent­

satz die Schwellenangst vor der Aids-Hilfe überwindet, zeigt, daß sich der

Umgang mit der Krankheit keineswegs normalisiert hat. Die Angehörigen. die

zum Workshop ,.Stigma Aids" gekommen sind. verhehlen nicht. wie erleichternd

es für sie ist, im Krei s von Mitbetroffenen offen reden zu können . Da kommen

vie le bittere Erfahrungen und Enttäuschungen hoch. die lange aufgestaut waren, ~ - ~ ~

und viele Tränen fließen.

Uli Meurer beschreibt , welche Schwierigkeiten seme Mutter anfangs mit den

öffentlichen Auftritten ihres infizierten Sohnes hatte: "Mußt du denn im Fernse­

hen erzählen, daß du auch schwul bist?" Nach heftigen Kämpfen habe sich die

sozial engagierte Frau aber im Lauf der langen Jahre abgefunden, und jetzt gerade

sitze sie stolz vor dem Fernseher und zeichne die Berichterstattung zur BPV auf

Video auf. Inzwischen sei sie sogar eine regelrechte AnlaufsteIle für Frauen aus

dem Ort. die sich wegen ihrer schwulen Enkel oder Neffen grämen.

Es stellt sich schnell heraus . daß öffentliche Auftritte der Kinder im Fernsehen für

die Anwesenden eigentlich kein Thema sind - nicht etwa weil sie damit keine

Probleme hätten, sondern weil die Söhne und Töchter nicht im Fernsehen oder in

der Presse erscheinen. Die meisten tragen ihr Wissen um die HIV-Infektion des

Kindes oder des Bruders seit vielen Jahren mit sich herum, ohne alle Familienan-

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gehörige, Freunde oder Bekannte einzuweihen und in der Angst, daß Wissende

auf Unwissende treffen und das Geheimnis mit oder ohne Absicht ans Licht

kommt.

Andere vor dem ,ungeheuerlichen' Wissen schützen müssen

"Ein Teil meiner Familie durfte nichts erfahren", erzählt Hilde W. "Die Mutter

meiner Schwiegertochter muß 'geschützt' werden vor der 'Ungeheuerlichkeit',

daß meine Tochter HIV-positiv ist, aber ich muß mir ihren Kummer über ihren

verunglückten Sohn anhören. " Und ihr Sohn, ein Zahnarzt auf dem Land, hüllt

sich aus Angst, die Patienten könnten ihm weglaufen, in Schweigen. Edith L. hat

es sich lange überlegt, bevor sie ihre Sorgen einer sehr guten Bekannten mitteilte .

.. Für die war das eine Sensation. Sie hat dann immer nur wissen wollen, ob es

schlechte Neuigkeiten gibt. Wenn ich glücklich war, weil es meiner Tochter bes­

ser ging, hat sie sich überhaupt nicht dafür interessiert." Trotz dieser schlechten

Erfahrung vertraute sich Edith L. noch einer anderen guten Bekannten an. "Diese

Frau hat mich von oben bis unten angesehen und gesagt: 'Meine Kinder und

Enkel sind gut gediehen.' Sie hat mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Wei­

nend spricht sie weiter: "Es ist sehr schwer, sich niemandem anvertr~uen zu kön­

nen, wenn man alleine ist. Und Michaela ist so weit weg."

Marlene G. erfährt sehr unterschiedliche Reaktionen auf die Todesursache ihres

Bruders . Während ihre Kollegen sich ,.ganz toll" damit auseinandersetzten, diente

sie ihrem Chef im letzten Jahr als eine Rechtfertigung für die Kündigung: "Den­

ken Sie auch mal daran . woran Ihr Bruder gestorben ist~" Ruth S. sagt, sie sei

.. regelrecht verstummt", als sie von der Infektion ihrer Tochter erfuhr. ,.Ich konnte

am Anfang überhaupt nicht darüber sprechen. Inzwischen wissen es alle im Ver­

wandten- und Bekanntenkreis. aber keiner will darüber reden ; am ehesten geht es

mit Menschen, die selbst von Krankheit betroffen sind, aber ansonsten stoße ich

auf eine Mauer des Schweigens ."

"Kommt sie denn nicht weiter im Beruf?"

Karl Lemmen greift das Stichwort ,.schützen" auf. Er sagt, für schwule Männer

sei es wichtig gewesen, die Eltern im Coming-out nicht zu schützen; nun habe ein

Freund Angst, die Mutter mit seiner HIV-Infektion zu konfrontieren. Lemmens

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Frage, ob andere wirklich geschützt werden müssen, scheint niemand der Anwe­

senden als eine Frage danach aufzufassen, ob er oder sie lieber vor dem Wissen

um den Zustand des Kindes geschützt worden wäre. Ruth S. erzählt, ihre herz­

kranke Mutter habe immer wieder gefragt, ob denn die Enkelin keinen Mann

finde und ob sie im Beruf nicht weiterkomme. Sie hätte ihr gerne die Wahrheit

gesagt, doch der Arzt habe entsetzt auf die möglichen Folgen hingewiesen. Eine

besondere Schonung der älteren Generation hält Marlies K., die aus der Erfahrung

im Umgang mit ihrer I07jährigen Tante spricht, nicht unbedingt für angemessen

und erforderlich. "Die Älteren haben schon so vieles hinter sich", meint sie, "die

sind robust und haben Lebensweisheit. Die müssen das alles gar nicht mehr so an

sich heranlassen. Manchmal habe ich den Eindruck, die denken : besser der als

ich ."

Hilde W. berichtet von zwei Situationen, in denen sie ihre persönliche Integrität

angegriffen sah, in denen es ihr aber leicht gefallen sei. sich zu schützen, weil sie

sich gegen Autoritäten wehren mußte: Nach dem Tod des Freundes ihrer Tochter

habe der Bestatter eine Aufbahrung verweigert, weil an Aids Verstorbene angeb­

lich in eine Plastikfolie eingeschweißt werden müßten. Dagegen habe sie alle

Hebel in Bewegung gesetzt. Im zweiten Fall - vor fünf Jahren - wartete sie auf

die Operation durch eine bundesweit bekannte Kapazität; ihre Tochter lag zur

gleichen Zeit "auf den Tod" im selben Krankenhaus . Vor der Narkose sagte Frau

W. dem Arzt: .. Damit sie es wissen: Meiner Tochter gilt die gleiche Sorge wie

mir." Nach der Operation ließ der Professor durch einen Assistenzarzt ausrichten.

daß das Personal sie nicht mehr betreuen werde und daß sie sich einem HIV-Test

unterziehen solle. Hilde W. forderte. daß der Arzt dann durch sämtliche Zimmer

gehen und alle Frauen fragen müsse. wie ihr Mann lebt. Am Ende versprach der

Arzt. Aids (im zehnten Jahr mit der Krankheit) in künftigen Fortbildungen zu the­

matisieren .

Zahnfüllungen für die Schwester lohnen nicht mehr

Viele der Eltern in diesem Kreis sind nicht nur Mütter oder Väter des HIV-infi­

zierten Kindes: sie haben mehrere Kinder und sind zum Teil selbst noch Sohn

oder Tochter. Während die Krankheit des Bruders in der Familie A. weder Pro­

bleme unter den Geschwistern noch zwischen Geschwistern und Eltern bereitete,

hat Edith L.s Sohn jeden Kontakt zu Mutter und der erkrankten Schwester abge­

brochen; er läßt seit vier Jahren nichts mehr von sich hören. Hilde W. hatte als

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Tochter und als Mutter zu kämpfen. Gerade nachdem sie gemeinsam mit ihrer

Tochter deren Freund zwei Jahre lang bis zum Tod gepflegt hatte, wurde ihre Mut­

ter zum Pflegefall. Frau W. entschied, mehr für ihre Tochter dazusein; ihre Mut­

ter war sehr eifersüchtig auf dieses Verhältnis. "Sie hat mir sehr massiv vermit­

telt, daß ich sie im Stich gelassen habe." Luft für die Tränen, die jetzt fließen,

habe sie erst, seit es ihrer Tochter besser geht. Zweimal war sie bereit, mit ihrem

Sohn zu brechen: einmaL als er, der Zahnarzt, seiner Mutter am Geburtstag mit­

teilte , neue Füllungen lohnten sich bei seiner Schwester nicht mehr, und zum

zweiten Mal, als diese Schwester fürchten mußte, daß der Bruder ihr den Kontakt

zu seinem Baby verbieten würde. Inzwischen hat sich der Sohn für seine Haltung

entschuldigt und einige Fortbildungen über HIV und Aids besucht.

,.Wir waren ja so eine Musterfamilie", sagt Bernhard K., ,.zwei Töchter, ein Sohn.

alle studiert." Bis der Sohn, der seit einigen Jahren im Ausland studierte, den

Eltern eröffnete, daß er eigentlich noch im ersten Semester stecke. nun umsatteln

wolle .. und außerdem" homosexuell sei. Bernhard und Marlies K. suchten bald

eine Selbsthilfegruppe von Eltern schwuler Söhne auf und hatten den Schock eini­

germaßen verarbeitet, als der Sohn "auf Leben und Tod" erkrankt in eine Klinik

eingeliefert wurde. Noch bevor sie ihn überhaupt gesehen hatten, ließ der behan­

delnde Arzt auf dem Flur wissen, es stehe schlecht um ihn und er sei ja auch infi­

ziert. .. Dann ist unsere Tochter, eine Psychologin, ausgerastet. Sie sagte, als Vater

wäre ich das .. . " - hier greift Marlies K. beschwichtigend ein. ,.Von dem Zeitpunkt

waren wir keine komplette Familie mehr. wir sprechen nur noch das Nötigste, mal

zum Geburtstag:' Wie Frau K. annimmt. hat ihr Schwiegersohn diesen Zustand

mit herheigeführt ; der Richter in einer beschaulichen Stadt fürchtet wohl um sei­

nen guten Ruf.

Die Zeit ist bereits überschritten und hat doch längst nicht gereicht, um sich den

aufgestauten Kummer und Ärger von der Seele zu reden. Offensichtlich schöpfen

die Angehörigen aus einem unergründlichen Reservoir von Beispielen, die zeigen,

wie tief die stigmatisierte Krankheit in ihr Leben eingreift. Karl Lemmen sagt,

ihm sei bewußt geworden. wie sehr das Virus auch in Familien trennen kann. Im

nächsten Jahr möchte er deshalh einen Workshop zum "Abschied von der Illusion

der heilen Familie" halten.

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5ch n u p perworkshop

(Anleitung: Cäcilia Kersten, Gestalttherapeutin, Berlin)

C äcilia Kersten begleitet seit 1991 die bundesweiten Wochenendworkshops für

Angehörige. Die meisten der nun anwesenden Frauen - sieben Mütter und

eine Schwester - sind ihr bekannt; für die neu Hinzugekommenen, an die sich die­

ser Workshop eigentlich richtet, erklärt sie den Ablauf der drei- bis viermal im Jahr

stattfindenden Wochenendtreffen: Die Treffen beginnen jeweils an einem Freitag­

abend mit einem gemeinsamen Essen und einer anschließenden Vorstellungsrunde,

in der die Teilnehmer über ihre aktuelle Situation sprechen und ihre Erwartungen

äußern. Am Samstag wird in zwei Blöcken a drei Stunden gearbeitet. am Sonntag

folgt noch ein Block. Dazwischen gibt es lange Pausen, damit .. die schweren

Dinge" ganz beiseite gelegt werden können. An den Wochenenden gelten

bestimmte Regeln: Besprochenes darf nicht in andere Ohren gelangen; man läßt

einander ausreden; jeder hat ein Recht auf sein eigenes Gefühl , denn die selbe

Situation kann aufgrund der Biographie unterschiedlich wahrgenommen werden.

Nachts kommen die Fragen

Die Erfahrung hat gezeigt. daß Angehörige leichter ihre Scheu überwinden, wenn

sie zu bundesweiten Seminaren fahren: dort sehen sie ihre Anonymität eher gewahrt

als in einer regionalen Gruppe. Eltern und Geschwister. die zum ersten Mal zu

einem Treffen kommen. wissen häufig erst seit relativ kurzer Zeit. daß ein Mensch

in ihrer nächsten Nähe HIV-infiziert ist. und nicht selten erfahren sie erst dadurch.

daß dieser Mensch schwul oder drogenabhängig ist. In dieser Situation wechseln

Scham, Wut und Hilflosigkeit einander ab. und nachts im Bett kommen die Fragen:

Was habe ich falsch gemacht? War ich eine schlechte Mutter? Wie werde ich wei­

terleben. wenn mein Kind vor mir stirbt? In der Regel führt dieser Eingriff in das

Leben zur Überforderung. Es ist deshalb wichtig, Unterstützung zu bekommen,

zum Beispiel auf einem Angehörigentreffen. Wie Cäcilia Kersten sagt, geben die

Teilnehmer nach einem solchen Wochenende meist an, sich sehr entlastet zu fühlen .

.. Die ersten Jahre waren sehr moralisch geprägr ' , meint die Therapeutin. ,.Im Mit­

telpunkt stand die Frage nach der Schuld und ob es genug ist, was man für sein

20

Page 21: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Kind tut. Auf einem der ersten Seminare erklärten alle Mütter, daß sie ihr Kind

selbstverständlich pflegen würden - bis auf eine; die anderen sind wie die Furien

über sie hergefallen. Aber jeder hat ein Recht auf sein eigenes Leben. Es darf und

muß eine Grenzziehung geben; erst dann ist es möglich, diese Situation durchzu­

stehen. " Im Lauf der Jahre seien zunehmend Wünsche deutlich geworden: Die

jüngere Elterngeneration möchte sich gerne engagieren, Politik machen und ein

Netzwerk aufbauen.

Wie sonst bei den Wochenendseminaren am Freitagabend stellen die Anwesenden

nun ausführlich sich und ihre Situation vor. Dabei zeigt sich. daß die meisten nicht

zum "Schnuppern" gekommen sind, sondern gerade das Vertraute suchen -

,.Cäcilia macht, daß es mir wieder gut geht", wie es eine Mutter formuliert.

Übereinstimmend sagen einige Frauen, daß der bisherige Verlauf des Treffens ihre

Erwartungen nicht erfüllt: Die Vorstellungsrunde am Vorabend war nach der stres­

sigen Anreise zu kurz, für die einzelnen Workshops ist zu wenig Zeit angesetzt,

man ist unsicher, ob der Besuch der Positivenkonferenz erwünscht ist. man weiß

nicht so recht, wo man hingehört.

Hilde W. lebt seit zwölf Jahren mit dem Wissen um die HIV-Infektion ihrer Toch­

ter .. .Ich habe gedacht, ich kriege das schon in den Griff; es ist aber nicht so. Es

kann so hilfreich sein, unter Gleichen zu sein. Daß meine Tochter nicht schwul ist,

hat mir den Umgang mit der Krankheit nicht einfacher gemacht. Ich habe da ganz

viel Kraft reingesteckt. ich habe auch noch viel Kraft. aber in Krisenzeiten spüre

ich meinen Körper. und das will ich nicht so hinnehmen."

"Da fehlt dieser Mensch"

Anne M. s Tochter ist im vergangenen Jahr gestorben. ,Jetzt bin ich im Zeitalter

nach Aids. Ich bin im Moment eine Suchende: ich frage mich , wo diese ganze

Zeit geblieben ist. Die ganze Familie - ich habe vier Kinder - hat davon profi­

ti ert . Wir sind alle gemeinsam in di e Schlußphase gegangen; das hätten wir nie

geschafft ohne diese Hilfe (der Angehörigentreffen ). Nun ist da ein Loch , da

fehlt dieser Mensch: ich dachte , es ist alles bewältigt, aber hier sind sehr viele

Gefühle hochgekommen ." Anne M. will von diesen Tagen in Bremen auch Infor­

mati onen mit in die Angehörigengruppe der Aids-Hilfe in ihrem Wohnort neh­

men.

21

Page 22: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Aus Marianne D. sprudelt Aufgestautes hervor. Ihr Sohn ist vor mehr als zwei

Jahren gestorben. Er war verheiratet und hatte ein Kind; wie Frau D. sagt, hat er

sich bei einer "Einmalbeziehung" mit einem wesentlich älteren Mann infiziert.

Ihre Schwiegertochter macht ihr bittere Vorwürfe; Marianne D. quält sich mit dem

Schuldgefühl, der frühe Auszug des Sohnes und seine Suche nach einem Vaterer­

satz hätten das Unglück heraufbeschworen. Bevor er starb, wünschte der Sohn,

daß die Mutter ihrem jetzigen Mann nicht erzählt, welche Krankheit er hatte. Offi­

ziell ist er an Krebs gestorben; nur zwei Personen hat sich Frau D. inzwischen

anvertraut. Seit seinem Tod leidet sie an Herz-Rhythmus-Störungen und Rücken­

schmerzen. Mit ihren Schuldgefühlen schleppt sie sich von einer Selbsthilfe­

gruppe zur nächsten, ohne sie jemals loszuwerden. "Das Leben ist einfach nicht

das, was es mal war. Ich traue mich nicht, micht zu freuen. Mein Sohn ist tot, liegt

unter der Erde, und ich soll leben. Ich habe kein Recht, glücklich zu sein."

"Ich habe kein Recht, glücklich zu sein"

An dieser Stelle schalten sich die anderen ein: "Du kannst dich doch nicht leben­

dig begraben, das würde dein Sohn doch gar nicht wollen! " Elisabeth A .. deren

Sohn im letzten Jahr gestorben ist. sagt. verarbeiten werde man das wohl nie .. ,Im '-" ...... .

Herzen lebt er immer weiter. Es wäre doch auch komisch, wenn alles so einfach

weg wäre . Wenn ich auf den Friedhof gehe und mir geht es ganz elend. dann strei-'- ........... .....

che ich über den Grabstein und denke , ich streiche über seinen Kopf. Manchmal

umarme ich auch den Stein . Und du hast doch auch noch eine Tochter und eine

Enkelin. für die du leben kannst!" Auf die Frage. wie denn ihr Mann zu ihrem

Problem stehe, winkt Marianne D. ab : .. Der hat doch mit sich selbst zu tun . Der

sagt: Du willst doch leiden . du machst dich kaputt und andere auch." Eine Mutter

gibt zu bedenken. da könne ja auch was dran sein. Marianne D. schließt resigniert:

. .Ich weiß nicht, was ich suche . Ich finde keine Ruhe und keinen Frieden."

Bevor die sich nun einstellende Ratlosigkeit zuviel Raum gewinnt. läßt Cäcilia

Kersten die Vorstellungsrunde fortsetzen. Marion E. freut sich, wieder mit Men­

schen zusammenzusein . die sie im vorigen Jahr beim ersten Netzwerktreffen in

Leipzig kennengelernt hat. Sie möchte gerne herausfinden, was sich bei ihr in

dem Jahr verändert hat. Vor vier Jahren hat sie erfahren, daß ihr Sohn HIV-posi­

tiv ist. Nun fragt sich die sehr zierliche und zurückhaltende Frau , die den Lebens­

unterhalt ' für den Sohn und die Ausbildung der anderen Kinder nur durch volle

Berufstätigkeit finanzieren kann und die nebenher ihre Mutter betreut, ob sie

22

Page 23: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

genügend Kraft hat, wenn die Krankheit bei ihrem Sohn akut wird. Sie schöpft

viel Kraft aus ihrem Glauben, doch ihre Kirchengemeinde verurteilt die Tatsache,

daß ihr Sohn sich durch schwulen Sex infiziert hat. "Wenn er ein Bluttransfusi­

ons-Opfer wäre, wäre es gut. Ich habe schon meine Nöte damit, aber ich habe

sonst niemanden." Außer ihren Kindern und der Mutter - der Vater darf nichts

wissen - sind nur wenige sehr vertraute Menschen eingeweiht. Anders als Mari­

anne D. denkt sie, daß Freude ihre Berechtigung hat: "Ich freue mich über jeden

Geburtstag, den mein Sohn und sein Freund zusammen haben, ich kann mich über

jede Blume freuen , ich muß mich freuen können."

Muß ich oder entscheide ich mich?

Cäcilia Kersten ist aufgefallen, daß die Frauen häufig Formulierungen verwen­

den. die Druck oder Zwang dokumentieren. Sie schlägt deshalb ein Experiment

vor: Alle Frauen sollen sich auf Dinge konzentrieren, die sie glauben tun zu müs­

sen. Diese Dinge sollen sie dann fünf Minuten lang in Sätzen herunterschreiben,

die mit "ich muß" beginnen. Nach dieser Zeit setzen sich jeweils zwei Frauen

gegenüber und lesen einander abwechselnd die Sätze vor. Heraus kommen Sätze

wie: Ich muß den Haushalt führen. andere versorgen, Kontakte pflegen, zuhören,

mich bewegen, mit mir selbst ins reine kommen, nett sein, gesund bleiben, fremd­

bestimmt leben. meinen Beruf ausüben. den Prellbock in der Familie spielen.

Danach sollen sie die gleichen Sätze noch einmal sagen. aber das . .Ich muß" durch

. .Ich entscheide mich" ersetzen. Cäcilia Kersten bittet, sich dabei Zeit zu lassen

und zu prüfen, ob bestimmte Sätze sich verändern und "entscheiden" das zutref­

fendere Wort ist. Bei dieser Umdeutung diskutieren die Partnerinnen lebhaft mit­

einander; auch Frau G .. die zum ersten Mal in einer solchen Gruppe sitzt und sehr

still war, taut spürbar auf.

Das Experiment macht manches bewußt. Hilde W. erklärt, sie habe sich ganz

erleichtert gefühlt. als sie sagte . .Ich entscheide mich , gesund zu bleiben". Marion

E. könnte den Satz ,.Ich entscheide mich. nachmittags zu den Eltern zu gehen" so

nicht vertreten. ,.Ich würde mich entscheiden. das nicht jeden Tag zu machen .

Aber dann wären meine Eltern enttäuscht, und ich hätte fürchterliche Probleme

mit meinem schlechten Gewissen. Ich empfinde es als meine Pflicht, da jeden Tag

hinzugehen. Ich kann meinem Vater nicht erklären, warum ich mich rar mache,

wenn mein Sohn da ist. Er fragt: Was willst du denn mit ihm? Er ist jung und lebt

noch lange, ich nicht:' Die Frage, ob ihre Gesundheit leidet, muß Frau E. bejahen.

23

Page 24: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Sie hat Herz-Kreislauf-Probleme. Hilde W redet ihr zu: "Ich mußte mich in einer

solchen Situation gegen meine Mutter und für meine Tochter entscheiden. Das

war sehr anstrengend für mich, ich bin auch keineswegs frei von Schuldgefühlen,

aber ich habe es ausgehalten. Ich wollte dich nur daran erinnern, daß du doch für

deinen Sohn leben willst." "Es gibt Möglichkeiten, die Konsequenzen haben",

stellt die Therapeutin fest. "Du bist dann vielleicht nicht mehr so beliebt."

Am Ende des Workshops wirken die Frauen deutlich ruhiger und entspannter. Sie

spüre viel weniger Druck, sagt Anne M. "Ich hatte immer das Gefühl: Du mußt

fit bleiben. Jetzt will ich fit bleiben, weil ich noch was vom Leben haben will."

Marianne D. scheint sich die Ratschläge der mitbetroffenen Mütter zu Herzen

genommen zu haben. Sie hofft nun, wieder gesund zu werden ... alles andere

kommt von selbst. " Barbara N. geht mit gemischten Gefühlen. Für sie ist noch

manches offen, und sie hätte gern noch vieles von den anderen wissen wollen .

Hilde W. ist dankbar für die Anregungen, die sie erhalten hat: ,.da schreibt man

ein paar Sachen auf und sieht viel klarer". Und Marion E. hat ,.mal wieder einen

Spiegel vorgehalten bekommen und eine ganze Menge gesehen. Beim Schreiben

habe ich mitbekommen, daß das eigentlich Wichtige bei dem ganzen Muß unter­

QeQanQen ist. " ~ ~ '-

24

Page 25: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Neue medizinische Behand­lungsmöglichkeiten - zwischen Hoffnung und Verunsicherung

(Anleitung und Dokumentation: Frank Rissei, Arzt in einer HIV-Schwerpunkt­

praxis , Berlin)

Die neuen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten werden in der Öffentlich­

keit inzwischen als erster Schritt zur "Heilung von Aids" verkauft. Trotz aller

begründeter Hoffnungen bleiben noch viele Unwägbarkeiten und offene Fragen.

Als Ziel des Workshops. zu dem leider nur sieben Mütter und Väter gekommen

waren, versuchte ich zu verdeutlichen, daß die neuen medizinischen Behand­

lungsmöglichkeiten - insbesondere die antiretrovirale Kombinationstherapie - für

viele Betroffene sehr wohl eine Chance darstellen, für einige Menschen jedoch

kaum ein praktikable Lösung bedeuten können. zum Beispiel weil sie in der

Menge der Tabletten. der hohen Einnahmefrequenz und der eventuell auftreten­

den Nebenwirkungen eine starke Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität sehen.

Der Begriff Compliance (engl.: Einverständnis, Einhalten. Fügsamkeit ). für die

meisten Eltern ein bis dahin unbekannter Ausdruck, wurde ausführlich erläutert.

Ich versuchte das Verständnis für die Tatsache zu stärken, daß nicht jeder HIV­

Infizierte einen Nutzen aus der sogenannten Maximaltherapie ziehen kann, wobei

es hierbei überhaupt keine Schuldzuweisung gibt. Faktoren, die mit einer schlech­

ten Compliance assoziiert sind. liegen eben nicht nur beim Patienten selbst, son­

dern in vielen Fällen auch in der Person des Arztes (seinem Engagement. seinem

fachlichen Wissen. seiner Fähigkeit. Vertrauen aufzubauen) und in den Charakte­

ristika des Arzneistoffes (Nebenwirkungsspektrum, Einnahmefrequenz, Tablet­

tenmenge) begründet. ~ '-

Nachdem ich den Teilnehmern die heute zur Verfügung stehenden Medikamente

- Reverse Transkiptase-Hemmer, nicht-nukleosidale Reverse Transkriptase-Hem­

mer und Protease-Hemm~ '- vorgestellt hatte, sprachen wir über die Prinzipien

der Zweifach- und Dreifachkombination und über die Ziele dieser Therapien: die

Senkung der Viruslast. die Stabilisierung der Helferzellen, die Vermeidung von

25

Page 26: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

opportunistischen Infektionen und der Gewinn an Lebensqualität; auf der anderen

Seite gilt es zu bedenken, daß die Einnahme einer großen Tablettenmenge die

potentiell tödliche Krankheit allgegenwärtig macht, daß die Therapie ein rigides

Einnahmeritual fordert und daß die Lebensgewohnheiten durch Nebenwirkungen

eingeschränkt werden können.

Es zeigte sich, daß ein Großteil der Eltern mit der Einstellung "Die müßten ja ver­

rückt sein, wenn sie die Möglichkeiten nicht nutzen" zum Workshop gekommen

waren. Deutlich wurde auch, daß diese Elterngeneration noch ein anderes Ver­

hältnis zum Arzt hat, nach dem Motto: Was der Arzt sagt, ist richtig. Im Verlauf

der angeregten Diskussion fielen die Stichworte Hoffnung und Angst vor der Ent­

täuschung und Rückschlägen. Ein Teilnehmer fragte, ob ich glaube. daß Aids nun

heilbar ist, so daß ich den Unterschied zwischen Behandlung und Heilung darle­

gen mußte. Es gab Eltern, die offen von den Problemen ihrer Kinder bei der Ein­

nahme redeten; eine Mutter hatte schon beobachtet, daß der Sohn die Tabletten ab

und zu "vergaß" ; bei der drogenabhängigen Tochter einer anderen Mutter konnte

die Zweier-Kombitherapie nicht in die Substitutionsbehandlung eingebunden

werden . Andere Eltern wiederum konnten berichten. daß sich der körperliche und

damit oftmals auch der psychische Zustand ihrer Kinder verbessert habe.

Für eine Mutter, deren Sohn in diesen Tagen gerade am Beginn einer Therapie

stand. war dies der Schritt in ein neues Stadium der Infektion: Nun hatte der Arzt

dringend zur Behandlung geraten. jetzt war der Sohn auf Tabletten angewiesen.

die Krankheit konnte nicht mehr verdrängt werden - ,.machen wir uns nichts vor".

Viele Fragen kamen zum sinnvollen Zeitpunkt für den Beginn einer Therapie und

zu der besten Auswahl der Medikamente - Fragen. die man nicht pauschal beant­

worten kann.

Mit diesem Workshop habe ich versucht. eine kritische Betrachtung der antiretro­

viralen Kombinationstherapie zu bestärken und vor leichtfertiger Euphorie zu

warnen .

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Page 27: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Soziale Sicherung (Anleitung: Silke Eggers, Diplom-Sozialpädagogin, Aids-Arbeitskreis Göttingen)

I n diesem nur von vier Personen besuchten Workshop konnte nur ein kurzer

Überblick über die sozialen Sicherungssystem gegeben werden. Die Teilneh­

mer nutzten in dem kleinen Kreis die Möglichkeit, persönliche Fragen zu klären.

1.

27

Page 28: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Die Ventil-Runde

Am Samstagmorgen um neun knistert die Luft im Raum Nina Pinta. Auf

Wunsch der Angehörigen haben sich alle versammelt, um das nachzuholen,

was beim einzigen, sehr knapp ausgefallenen Plenum am Donnerstagabend ver­

säumt worden ist. "Man macht ja manchmal Fehler", eröffnet Karl Lemmen die

außerplanmäßige Runde. Bei der Vorbereitung habe man es für das Beste gehal­

ten, ein breites Spektrum von Workshops anzubieten; daneben sollten die Teil­

nehmer die Bundespositivenversammlung besuchen können. Dabei ist offensicht­

lich das Gemeinsame auf der Strecke geblieben. Nun bleibt eine Dreiviertel­

stunde, um Defizite zu klären und die spürbar angespannte Atmosphäre zu

lockern .

Was Barbara N. sagt, ist noch öfter in den gleichen oder ähnlichen Worten zu

hören: Sie hatte am Freitag den "totalen Frust" und fühlte sich "sehr, sehr verlo­

ren; auf einmal war alles zerstreut, es gab überhaupt nicht Gemeinsames. Mir hat

der Zusammenhalt gefehlt." Einige Frauen sehen sich selbst genauso wie jeden

einzelnen in der Verantwortung. die Entwicklung zu beeinflussen; sie werfen sich

vor. nichts getan zu haben. um das schnelle Ende am Donnerstag abzuwenden und

es jedem zu ermöglichen, über seine Gefühle zu reden. Eine Mutter findet es

.. unQ:eheuerlich", daß am Vortag nur sehr weniQ:e Eltern und Geschwister in die ~ ~ ~

Gruppen gekommen sind. Sie habe nicht gewußt. wo sie hingehöre, erklärt dar­

aufhin eine Mutter. sie habe sich von keinem Workshopthema direkt angespro­

chen gefühlt. Eine andere sagt: . .In mir ist eine Unruhe. die ich nicht beschreiben

kann . Die medikamentöse Situation erzeugt eine Ruhe. die unterschwellig Unruhe

ist. Ich konnte hier auch noch nichts tun ." Marlene G. zeigt sich dagegen mit dem

bisherigen Verlauf zufrieden: ,.Wenn ich das Bedürfnis gehabt hätte , hätte ich am

Donnerstag etwas sagen können. Und ich habe es sehr genossen, mich mit zwei

Freunden meines Bruders auf der BPV treffen zu können."

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Page 29: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Mit fremden Kindern redet es sich leichter/Mit fremden Eltern redet es sich leichter

(Anleitung und Dokumentation: Karl Lemmen)

Diese Veranstaltung war als Forum der Begegnung zwischen den Teilnehme­

rInnen der Bundespositivenversammlung und des Netzwerktreffens der

Eltern und Geschwister angesetzt. Deshalb war er unter je unterschiedlichem Titel

in den Programmen der beiden Veranstalungen angekündigt.

Ausgangsüberlegung war dabei. daß es leichter ist, mit "fremden Vertretern" der

jeweils anderen Generation ins Gespräch zu kommen, wenn diese Begegnung

nicht durch die aktuelle Familiendynamik vorgeprägt ist. Auf der anderen Seite

ermöglicht die Annäherung an das Gespräch über so überfrachtete Themen wie

Sexualität. Drogengebrauch, HIV und Aids mit einem fremden Gegenüber eher

ein Verständnis für die emotionale Situation dieses Gegenübers: es ist zum Bei­

spiel leichter, Verständnis für das Leiden einer .anderen Mutter (eines anderen

Sohnes) zu entwickeln. weil hier nicht automatisch die Dynamik von Schuldge­

fühl und familiärer Verstrickung mit ins Spiel kommt.

Der Workshop sprengte mit seinen über 30 TeilnehmerInnen alle von den Veran­

staltern vorgesehenen zeitlichen und räumlichen Grenzen; zwei Drittel der Anwe­

senden gehörten zur Generation der Eltern, ein Drittel waren HIV-positive Söhne.

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde teilte sich die Runde in die zwei Untergrup­

pen Eltern und Söhne auf. um in diesem geschützteren Rahmen die Themen zu

sammeln, die mit den eigenen Eltern beziehungsweise den eigenen Kindern als

emotional sehr belastet bis unansprechbar erscheinen.

Nach etwa zwanzig Minuten kehrten beide Untergruppen zurück, um die gesam­

melten Themen gegenüberzustellen:

29

Page 30: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Eltern:

• Rücksichtnahme

• falsche Rücksichtnahme

• meinen Sohn nicht mit der eigenen Trauer belasten wollen

• eigene Verzweiflung

• Verlustängste

• nicht über meinen Schmerz reden

• nicht über medizinische Probleme sprechen

• auf seine Sprechbedürfnisse eingehen wollen

• ein Grab für das eigene Kind kaufen

Söhne:

• Reaktion der Eltern auf die Diagnose HIV-positiv

• Infektionsaufklärung in der Familie

• Sind Eltern noch konfliktfähig?

• Wie gehen Eltern mit dem Tod um?

• .. Endzeitpflege"

• Angst vor dem Tod

• Regelung der Beerdigung

• Reaktion der Väter

• Erwartungskonflikte des Sohnes

• Angst vor dem Ende

• Angst. die Sehnsüchte von Eltern zu enttäuschen '-

• sexuelle Neigungen '- ~

• Existenzsicherung angesichts von Krankheit

Im Anschluß an die gemeinsame Sichtung der Themen spricht einer der Söhne

den Konflikt an, den er in der Gruppe der HIV-Positiven als den zentralsten erlebt

hat: die Angst. die Erwartungen der eigenen Eltern zu enttäuschen. Sie zu enttäu­

schen, weil man ein anderes Leben lebt, andere Vorstellungen von Sexualität hat,

sie nicht mit Enkeln beglückt und sie mit der verkürzten Lebenserwartung kon­

frontieren muß. Von den anwesenden Eltern will der Sohn wissen, wie sie mit

ihrer Enttäuschung umgegangen sind.

30

Page 31: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Die Angst, enttäuschen zu müssen

Zwischen den bei den Gruppen beginnt eine lebhafte Diskussion. Andere HIV­

Positive bestätigen diesen Konflikt: Sie leben schon seit Jahren mit ihrem Wissen

um die Infektion, haben zum Teil sichtbare Krankheitsanzeichen, können die häu­

figen Arztbesuche kaum noch verbergen und dennoch nicht ihre Angst überwin­

den, die eigenen Eltern mit dem Wissen zu belasten und sie zu enttäuschen.

Während einige diese Ängste zu beschwichtigen versuchen, stehen andere zu

ihrem Anfangsschock, der dennoch nicht Anlaß sein sollte, sie zu schonen; je eher

man/frau über alles spricht, umso leichter lassen sich Konflikte bearbeiten und

kann Verständnis für das "andere Leben" des Kindes entwickelt werden. Aber der

Anfang ist hart, es ist immer ein Schock, das Reden kann aber dennoch als Befrei­

ung erlebt werden, weil Eltern häufig sowieso schon spüren. daß irgendetwas

nicht stimmt, daß etwas zwischen ihnen und dem Kind steht... Aber das Leid

gemeinsam zu tragen, macht es letzten Endes leichter.

Natürlich konfrontiert diese Auseinandersetzung die Eltern mit ihrem selbstver­

ständlich erlebten Wertesystem, zum Teil stellen sich Scham- oder Ekelgefühle

ein, aber die Auseinandersetzung kann auch zur Veränderung führen. sofern beide

Seiten die Grenzen ihrer Kräfte respektieren können .

Die Zukunft muß neu gefunden werden

Die HIV-Infektion ändert nichts an der Beziehung zum eigenen Kind - so die

gewagte These einer Mutter einer HIV-positiven Tochter - immer in Abhängig­

kei t von der bisher erlebten Qualität der Beziehung zwischen Eltern und Kind.

Dennoch bricht für Eltern in der ,.ersten Schockphase" zunächst einmal ,.ihre

Welt" zusammen: Wünsche. Phantasien und Projektionen bezüglich der eigenen

Zukunft und der der Kinder. die wie unauflöslich miteinander verbunden schei­

nen. müssen aufgegeben und neue gefunden werden . Vorerst bleibt das Gefühl der

Leere. und das schmerzt. Kinder spüren das und wollen deshalb ihre Eltern so

lange wie möglich schonen.

Auf der anderen Seite haben alle Eltern, die den Weg der schmerzlichen Ausein­

andersetzung gegangen sind, dies für sich im nachhinein als Chance erlebt. Einige

31

Page 32: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

hätten sich gewünscht, früher konfrontiert zu werden, denn die Beziehung hatte

vorweg dadurch gelitten, daß man schwieg und nicht miteinander reden konnte.

Die neue Basis der Beziehung - auch wenn sie durch die Themen Angst vor Tod

und Sterben überschattet ist - hat eine befriedigendere Qualität.

Bei allen Wünschen nach Nähe und Versöhnung auf bei den Seiten stehen aber

auch die Erfahrungen anderer Söhne im Raum, deren Eltern jegliche Gesprächs­

bereitschaft verwehrten. Was tun, wenn die Eltern seit Jahren den Willen zur

Klärung und Auseinandersetzung verweigern, wenn der Sohn mit seinen Wün­

schen nach Nähe und Aussöhnung ins Leere läuft oder, schlimmer noch, spürt,

wie er wegen seines Schwulseins abgelehnt wird.

Diese dramatische Schilderung eines betroffenen Sohnes läßt innerhalb der

Gruppe atmosphärisch das Erleben von Hilflosigkeit und Verzweiflung spürbar

werden. Manche versuchen sie wegzureden nach dem Motto: Das wird schon

werden. das braucht seine Zeit... Aber daran glauben will doch keiner. Deutlich

wird hier, wie erstarrt auch Eltern in ihrem Leid sein können und wie schlimm

sich dies auf ihre betroffenen Kinder auswirkt.

Vater und Sohn liegen einander weinend in den Armen

In dieser Situation steht einer der Söhne aus der Gruppe plötzlich auf. geht auf sei­

nen ebenfalls anwesenden Vater zu und sagt ihm. wie sehr er ihn als Vater schätze

und liebe. Weinend halten sich Vater und Sohn in den Armen . Die meisten Teil­

nehmerinnen können eigene Tränen nicht zurückhalten . Und das ist gut so. denn

so löst sich bei allen die Anspannung. die mit dem schwierigen Thema Eltern­

Kind-Beziehungen verbunden ist.

Die vorgesehene Zeit ist längst überschritten. doch die Gruppe kann in dieser

hochemotionalisierten Stimmung nicht einfach so auseinandergehen. Nach einer

kurzen Pause erfol2:t über eine Schlußrunde eine Inte2:ration des Erlebten . ~ ~

In den Rückmeldungen zum Netzwerktreffen und zur BPV gaben viele Teilneh­

merInnen an. daß dieser Workshop für sie der wichtigste war und sie innerlich tief

bewegt hat. Er hat gezeigt. wie stark auf beiden Seiten die Wünsche nach Klärung

und Aussöhnung sind und wie wichtig es ist, einen schützenden Rahmen für die

Bearbeitung dieses Themas anzubieten .

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Page 33: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Brüderchen und Schwesterchen

(Anleitung: Beatrix Reimann, Diplom-Sozialpädagogin und Supervisorin In

Osnabrück)

Ein kleines Häufchen hat sich da zu einem eigenen Workshop zusammenge­

funden: vier Frauen, die jüngste 16, die älteste 48 Jahre alt. Zu ihnen hat sich

ein junger Mann gesellt - er mag Mitte Zwanzig sein - der auf der BPV von die­

sem Treffen erfahren hat. Die Rolle der Geschwister von HIV-Infizierten wird in

der Aids-Arbeit vernachlässigt; sogar auf diesem Treffen ist meist nur von den

Eltern die Rede. Im Vordergrund steht der oder die Betroffene selbst. der Lebens­

partner und die Eltern; nach den Bedürfnissen der Brüder und Schwestern fragt

kaum jemand. Umso mehr kommt hoch, wenn es einmal allein um sie geht -

zumal Geschwister noch seltener den Weg zu den wenigen Angehörigengruppen

in regionalen Aids-Hilfen zu finden scheinen als die Eltern. Die fünf in Bremen

sind fast erstaunt und sehr erfreut darüber. daß es außer ihnen selbst noch andere

Geschwister gibt: ,.Ich dachte immer. ich bin die einzige Schwester in Deutsch­

land" . wie Marlene es sagt.

Für Tim ist dieses Treffen der erste Schritt. sich .Hilfe zu holen . Sein wesentlich

älterer Bruder ist seit elf Jahren HIV-positiv ; Tim hat als erster in der Familie

davon erfahren . ,.Ich bin cool geblieben. hab ' es weggesteckt. jetzt hab' ich das

Gefühl. es geht nicht mehr:' Noch bevor er mit dem Begriff etwas anfangen

konnte. wußte er. daß sein Bruder schwul war. Die Eltern hatten den älteren Sohn,

der dem jüngeren immer als Vorbild hingestellt wurde, nach seinem Coming-out

hinausgeworfen. ,.Meine Mutter tut so. als ob nichts wäre ; sie hatte nur ober­

flächlichen Kontakt zu ihm . Er hat dann eine Therapie gemacht und wollte auf sie

zugehen, aber sie hat dicht gemacht. Ich verstehe sie nicht. Sie verurteilt sein

Leben. se in Schwulsein : wenn sie ehrlich wäre. würde sie sagen: Du hast dir die

Suppe eingebrockt. nun löftle sie aus:'

Auch bei Stefanie war der Bruder früher das Aushängeschild der Familie. "Meine ....

Eltern haben alles in ihn investiert, ich war das schwarze Schaf. Sie wollten ihn

unterstützen, damit er später mir helfen könnte . Jetzt bin ich das Vorbild für die

Eltern. ich muß meinem Bruder helfen, und ich bekomme nichts . Ich mußte ihn

lange vor den Eltern schützen und habe für ihn die Elternrolle übernommen. "

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Page 34: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Nachdem der Vater einmal seinen Mut zusammen nahm und wissen wollte, was

los sei, stehen die Eltern inzwischen wieder total hinter ihrem Sohn; da sie in

Amerika leben, erwarten sie, daß die Schwester sich um ihn kümmert.

"Ich bin der Prellbock für alle"

Daß er schwul ist, konnte Sabines Bruder der Mutter sagen. die es, wie Sabine

sagt, "eigentlich auch akzeptiert". Seine Infektion wollte er jedoch geheimhalten.

Nur unter der Bedingung, daß sie es nicht weitererzählte, weihte er Sabine vor

einigen Jahren ein. Seiner Mutter schrieb er in einem Brief, sie solle sich, wenn

sie Fragen habe, an Sabine wenden. Er selbst wollte keinen Kontakt mehr zu ihr .

.. Nun ist da die immer fragende Mutter, meine Kinder mußten auch großgezogen

werden. und mein Bruder ist eifersüchtig auf das gute Verhältnis. das sein Partner

mit unserer Familie hat. Ich hänge alleine da; ich bin der Prellbock für alle."

Antje hat kaum gesagt. daß ihre Schwester aidskrank ist und ein Kind hat, da

kommen ihr schon die Tränen. und sie kann nicht weiterreden. Marlene nimmt

ihre Hand und drückt sie fest. Antje ist enttäuscht von den Eltern, die die kleine

Tochter vor dem belastenden Wissen beschützen wollten. ,.Meine Mutter war oft

traurig und hat geweint, und ich wußte überhaupt nicht warum." Ihre Schwester

hat .. es" ihr dann erzählt. bevor sie ein Interview im Fernsehen gab. Nun traut sich

die kleine Schwester nicht. der großen zu sagen. daß sie gerne öfter mit ihr zusam­

men wäre und mehr mit ihr machen würde . . .Ich hatte nie viel von ihr. Sie ist viel

unterwegs ."

Die Frau, die ihn geboren hat

Marlene ist schon eine .. hinterbliebene" Schwester. aber da brodelt noch viel in

ihr. Sie erzählt von ihrer erzkatholischen zehnköpfigen Familie, von den Eltern,

die den schwulen Sohn zum Psychiater schickten . von der extrem engen Bindung.

di e sich zwischen ihr und dem elf Jahre jüngeren Bruder entwickelte, von den

Geschwistern. die den Kontakt sofort abbrachen. als sie von seiner Infektion

erfuhren. Am meisten erzählt sie aber von der Mutter. die sie nicht Mutter nennen

kann. sondern .. die Frau. die ihn geboren hat" . Diese Frau habe es nicht geschafft,

bei ihren weiten Fahrten zur Verwandtschaft einen kurzen Abstecher zum kranken

Sohn zu machen. und als er auf den Tod im Krankenhaus lag, fragten weder sie

34

Page 35: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

noch die Geschwister ein einziges Mal nach ihm. Nun weint Marlene heftig, und

Stefanie rückt zu ihr und nimmt sie in den Ann. "Markus hat sich sehr geärgert in

der Klinik. Es ging ihm dadurch immer wieder besser. Er ist anschließend seinem

Wunsch gemäß zu Hause gestorben. Es tut immer noch sehr weh. Nachdem die

Frau , die ihn geboren hat, erfuhr, daß sie sein Haus nicht erben konnte, ist sie

nicht zur Urnenbeisetzung gekommen. Ich habe keinen Kontakt mehr zu der Frau

und den Geschwistern."

Marlene empfindet es jedoch als großes Glück, daß sie sich auf den Tod des Bru­

ders vorbereiten und seine Vorstellungen vom Sterben, Abschiednehmen und der

Beisetzung verwirklichen konnte. Die Wochenendserninare für Angehörige seien

ihr dabei eine riesengroße Hilfe gewesen. "Es hat mir Mut gemacht zu sehen, daß

es andere Eltern gibt, die zu ihren Kindern stehen. Ich bin Helga sehr dankbar."

Beatrix Reimann greift das Stichwort vom Ärger und der Wut auf, die Marlenes

Bruder geholfen haben, wieder zu Kräften zu kommen. Sie schlägt eine Übung

vor, für die sie drei Stühle in einem Dreieck aufstellt: Einer steht für die jeweils

eigene Person, einer für die Eltern und einer für den kranken Bruder oder die

kranke Schwester. Wer möchte, soll sich nun in dieses Dreieck begeben, sich vor

den Stuhl-Repräsentant hocken, auf den man die meiste Wut hat, und dann kräf­

tig mit der Faust auf die Sitzfläche hauen .

Alle drei Frauen. die die Übung nutzen. lassen sich zuerst vor dem eigenen Stuhl

nieder und beschimpfen ihn (,.Sieh endlich ein. daß die Dinge so sind, wie sie

sind ~" ) . Anfangs sind die Schläge noch zaghaft. und nur zögerlich rückt die erste

im Dreieck weiter zum nächsten Stuhl. Doch dann kommt mehr Entschlossenheit

ins Spiel. Vom Stuhl der Eltern geht es zu dem des Bruders und wieder zurück zu

den Eltern , zwi schendurch auch noch einmal zum eigenen Stuhl ("Lerne endlich.

nein zu sagen !"). Es scheint so. als käme die Einsicht, wer woran schuld ist und

wer sein Verhalten ändern muß, erst in diesem Moment. Mit diesem Stühlen kann

man abrechnen, man kann bei ihnen loswerden, was man schon lange sagen

wollte. und man kann ihnen zeigen, daß Verletzungen. die längst überwunden

schi enen, immer noch sehr präsent sind . Das Spiel geht nicht ohne Tränen ab,

doch offensichtli ch weckt es bei den Frauen die Kampfkraft und den Mut, Gren­

zen zu ziehen und nein zu sagen . Zumindest für den Moment scheinen sie ent­

schlossen. mehr auf sich selbst zu achten und sich nicht mehr als Prellbock

mißbrauchen zu lassen.

35

Page 36: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Antje und Tim sind nicht in das Dreieck gegangen. Tim sagt, er sei sehr durch­

einander; was er hier erlebt habe, gehe ihm sehr ans Herz. "Ich bin es gewohnt,

hart zu sein, aber ich kam mir mit meinen Gefühlen immer sehr allein vor. Mir

war eigentlich immer zum Heulen." Für Antje stand nicht der passende Stuhl da.

"Es gibt viele in meiner Altersklasse, von denen man sich dumme Spruche

anhören muß", erzählt sie, "zum Beispiel: 'Nimm die Aids-Schleife ab! Da waren

auch Freunde und Freundinnen von mir dabei." Nun hat sie neue Freunde gefun­

den, die zu ihr stehen, die Rote Schleife tragen und in der Schule Filme über Aids

sehen wollen . "Ich bin auch nicht mehr sauer auf meine Eltern, die stehen ja hin­

ter mir und meiner Schwester." Beatrix Reimann versucht vergeblich. etwas Wut

auf die große Schwester aus Antje herauszukitzeln. Was sie sagt, klingt eher resig­

niert: ,.Soll sie machen, was sie will . Sie hat eben keine Zeit. Wenn wir zusam­

men sind. ist immer noch jemand dabei. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß

wir auch nur einmal alleine waren."

"Er ist doch nur dein Bruder"

Keiner der fünf Geschwister scheint die Hoffnung zu hegen, daß der Bruder oder

die Schwester die Krankheit überleben könnte. Bis auf Marlene, die den Bruder

schon bis zum Ende begleitet hat. sehen alle dem bevorstehenden Verlust entge­

gen . ,.Ich habe immer gedacht. wenn ich alt bin. ist mein Bruder da. irgendwo in

der Welt". sagt Stefanie . Tim drückt es anders aus: ,.Ich habe das GefühL ich bin

der einzige. der von dieser Scheißfamilie übrigbleibt. .. Auch Antje ist sicher, daß

sie irgendwann allein sein wird . . .Ich hatte immer die Vorstellung. daß ich mit

meiner Schwester durch die Straßen laufe und daß wir beide einen Kinderwagen

vor uns her schieben. Das wird nicht sein ."

Wie Stefanie feststellen mußte. wird Geschwistern jedoch nur ein eingeschränk­

tes Recht auf Schmerz und Trauer zugebilligt. Vor einigen Jahren lernte sie auf der

Suche nach anderen Angehörigen in der Aids-Hilfe den Partner eines schwulen

Mannes kennen. Da sich niemand zu ihnen gesellte , trafen sich die beiden alleine,

führten intensive Gespräche und weinten gemeinsam, bis der Mann sagte: "Ich

verstehe nicht. warum du so traurig bist. Er ist doch nur dein Bruder."

Der Zeitplan ist weit üherzogen; schon zum zweiten Mal ruft eine mahnende

Stimme die Teilnehmer. die untereinander Adressen austauschen , zum Essen.

Beatrix Reimann will ihnen zwei Hinweise mit auf den Weg geben. Aus dem, was

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Page 37: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

die fünf gesagt hatten, war herauszuhören, daß sie immer wieder hofften und ent­

täuscht wurden, wenn sie etwa zwischen Eltern und dem betroffenen Geschwister

vermitteln wollten. Veränderung könne es aber auch sein, sitzenzubleiben, nicht

mehr hinterherzurennen, einfach zu sehen, was dann passiert. Im Spiel mit den

Stühlen habe sich das Bedürfnis gezeigt, draufzuhauen, etwas kaputtzuschlagen -

"und da geht dann auch was zu Bruch". "So wie etwas kaputtgegangen ist, als wir

von der Infektion unserer Geschwister erfuhren", sagt Stefanie.

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Page 38: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Elternnetzwerk -von der Utopie zur Realität?

(Anleitung: Mara Seibert, Karl Lemmen, Helga Thielmann)

Zum letzten Workshop des Angehörigentreffens sind wieder alle in der großen

Runde zusammengekommen. Mara Seibert, die seit etwas über einem Jahr

das Frauenreferat in der DAH leitet, stellt das Netzwerk Frauen & Aids vor;

anschließend soll diskutiert werden, ob sich ein Netzwerk für Angehörige daran

orientieren könnte .

Das Netzwerk Frauen & Aids wurde im November 1992 gegründet. nachdem auf '- ~

den sehr vereinzelten Seminaren zu diesem Thema ein großer Bedarf an Vernet­

zung deutlich geworden war. Zu einer Zeit, in der die Aids-Hilfe noch sehr schwul

dominiert war, ging es vor allem darum. Frauenthemen in die Aids-Hilfe einzu­

bringen. Am Anfang stand dann die Frage nach der Struktur und den Zielen und

Aufgaben eines solchen Netzwerks. Aus den Diskussionen einer Arbeitsgruppe

wurde schließlich eine Präamabel formuliert. in der die Zielsetzung beschrieben

ist : Das Netzwerk versteht sich als Interessenver.tretung von und für Frauen mit

HIV und Aids und Frauen aus dem Arbeitskontext Aids . Es will ein Lobby für

infizierte und erkrankte Frauen schaffen und ein Netz von Anlaufstellen bieten.

das der Bündelung und Verbreitung von Informationen. der Konzept- und Projekt­

entwicklung und dem Erfahrungsaustausch dient.

Konkret geht es zum einen darum. wichtige Informationen untereinander auszu­

tauschen und zugänglich zu machen: einige Frauen. die in Aids-Hilfen arbeiten,

fungieren dabei als .. Knotenfrauen": Sie sind die Ansprechpartnerin in ihrer zum

Teil mehrere Bundesländer umfassenden Region und geben Informationen an

andere Frauen in ihrer Region und an die anderen Knotenfrauen weiter. Zum

anderen sollen frauenspezifische Ansätze in Prävention, Beratung und Selbsthilfe

sowie in den Bereichen Forschung und medizinische und psychosoziale Versor­

gung gefördert werden .

Das Netzwerk ist inzwischen die kompetente Institutionen zum Thema Frauen

und Aids , das nun über hundert Frauen aus dem gesamten Bundesgebiet mitein-

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Page 39: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

ander verbindet; Hauptinfonnationspunkt sind die Netzwerktreffen, die viennal

im lahr stattfinden und von der DAH finanziert werden. Daneben spielen private

Kontakte eine wichtige Rolle.

Mara Seibert verschweigt nicht, daß die Arbeit im Netzwerk keineswegs kon­

fliktfrei ist. Die Interessen, Bedürfnisse und Probleme von HIV-betroffenen

Frauen, von denen viele die Aids-Hilfe sowohl als Klientin als auch als ehren­

amtliche Mitarbeiterin kennen, sind eben andere als die von hauptamtlichen Sozi­

alarbeiterinnen oder -pädagoginnen. Im Netzwerk stehen jedoch beide auf der

gleichen Stufe.

Die anschließende Diskussion, die eigentlich klären soll, ob sich das Frauennetz­

werk als Modell für die Angehörigen eignet, kommt nicht recht in Gang. Eva 1.s

Frage, ob man nicht einfach anfangen könne, verhallt ohne Echo. Es melden sich

viele Stimmen, die zu einer realistischen Einschätzung ennahnen: Die Eltern und

Geschwister, die angesprochen werden sollen, würden sich nicht heraustrauen

und auch die Angebote sehr engagierter Beratungsstellen nicht nutzen; wollen

unsere Kinder, die ja ein Selbstbestimmungsrecht einfordern, überhaupt. daß wir

eine Kraft werden? Und wer soll das bezahlen?

Wie Karl Lemmen feststellt. steht für diese Runde wohl eine andere Frage im Vor­

dergrund : Besteht überhaupt der Wunsch. dem informellen Netzwerk, das durch

die Wochenendseminare entstanden ist. eine Form und ein Konzept zu geben?

Rei cht es möglicherwei se aus, sich einmal im Jahr zur BPY zu treffen? Niemand

äußert sich daraufhin gegen das Netzwerk. Aber die zutage getretenen Spannun­

gen sind noch nicht überwunden. und Hilde W. spricht offenbar vielen aus der

Seele : .,Wir müssen auch sehen. wie wir miteinander umgehen. Gemeinsam

haben wir alle das Problem Aids. Sonst nichts." Eva 1. ist dagegen nach Bremen

gekommen, um die in Leipzig geborene Idee des Netzwerks umzusetzen . Sie will

handeln .

An dieser Stelle greifen die Moderatoren Karl und Mara ein . Sie bitten Eva J .. sich

in den vorderen Teil des Raums zu stellen. alle anderen sollen sich nach hinten

begeben. Karl Lemmen erklärt: Eva will in großen Schritten vorangehen. Nun soll

jeder für sich entscheiden: Will man da näher heran oder ist man noch nicht so

weit? Braucht man selbst noch Unterstützung, bevor man anderen Unterstützung

geben kann ? Sind hat noch zu viele andere Probleme zu klären?

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Page 40: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Es sind schließlich zwölf Frauen und Männer, die sich um Eva scharen, die einen

sehr entschlossen, die anderen etwas zögerlich. Die Gruppe zieht sich in einen

eigenen Raum zurück, und plötzlich ist sie wieder zu spüren, die Aufbruchstim­

mung, die Ungeduld, die Begierde, etwas zu tun. Von einer Lawine ist die Rede,

die ins Rollen kommt, denn: "Je mehr wir nach außen gehen, desto mehr werden

auf uns zukommen und mitmachen wollen."

In den ersten Äußerungen über die Erwartungen an ein Netzwerk läßt sich noch

nicht klar erkennen, wohin der Weg führen soll. "Ich wünsche mir, daß es ganz

starke Eltern gibt", sagt Susanne G. "Ich habe viel Diskriminierung erlebt, weil

meine Tochter laut schreiend ins Fernsehen geht, aber wenn der Nachbar nicht

mehr grüßt - egal! " "Bevor wir etwas abgeben, müssen wir etwas haben" , meint

Eva J. "Wir müssen uns eine Substanz erarbeiten, von der andere profitieren kön­

nen. ,. Die Gruppe erkennt schnell, daß ihr Vorhaben eine Struktur braucht, näm­

lich zunächst einmal klar umrissene Ziele und eine Zielgruppe.

Es gibt eine kurze Diskussion darüber, ob das Netzwerk auch für die Partner von

Betroffenen offen sein sollte. Positive und ihre Partner haben schon eine Lobby.

meinen die einen, wir wollen doch niemanden ausgrenzen, sagen die anderen. Aus

ihrer Erfahrung mit dem Frauennetzwerk setzt Mara Seibert darauf. daß manche

Fragen sich von selbst regeln: ,.Ein Netzwerk lebt von den Menschen, die es

gestalten. Sie müssen sich entscheiden. ob sie mitmachen wollen. Es wird auch

immer wieder jemand gehen."

Wenige Minuten später ist auch ein Name für das Projekt gefunden: Netzwerk

Angehörige von Menschen mit HIV und Aids . Diesen Namen an der Tafel lesen

zu können, löst unter den Anwesenden eine fast kindliche Freude aus . Der Name

macht das Ding konkret. er scheint das Gefühl zu geben: Jetzt ist es geschafft.

Jetzt geht es weiter. Nun scheint es auch einfacher. Ziele zu formulieren . Bald ste­

hen an der Tafel folgende Punkte :

• Vorurteile abbauen

• Angehörige stützen

• politisches Engagement. z. B. gegen Sozialabbau

• Informationsaustausch über die medizinische Situation

• Freizeitgestaltung

• Kraft sammeln

• psychische Not lindern

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Page 41: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

• Angehörigen helfen, wenn sie mit Aids konfrontiert werden

• Erfahrungswerte weitergeben, zum Beispiel mit einem praktischen Leitfaden

über den Alltag mit HIV und Aids (wie ernährt man sich am besten, wie

bekommt man einen Rollstuhl)

• Weiterbildung.

Mara Seibert rät, daß die Gruppe spätestens innerhalb der nächsten drei bis vier

Monate zu einem Arbeitstreffen zusammenkommen sollte, damit sich das Netz­

werk weiter konstituiert. Sie sagt zu, daß die DAH - sobald ein Termin feststeht

- ein Tagungshaus sucht, Einladungen verschickt, Fragen der Finanzierung klärt

und für eine neutrale Moderation sorgt. Die Gruppe beschließt, daß das Netzwerk

offen für andere sein wird, jedoch Statuten bekommen soll. Die Gesichter strah­

len Zufriedenheit aus. "Ich finde es toll, daß es in unseren Herzen ist. etwas für

unsere Kinder zu tun", sagt Eva J. und fällt den anderen vor Freude um den Hals.

Als sich die Tür zum Nachbarraum wieder für das Plenum öffnet, ist deutlich zu

spüren, daß es in diesem Kreis nicht so frohgemut zugegangen ist. Nachdem Mara

das Ergebnis der Netzwerkgruppe und die zukünftigen Schritte vorgestellt hat,

erklärt Karl Lemmen: ,.Bei uns ging es mehr um die Rückschau. Es gab sehr viele

Spannungen in der Gruppe. Wir haben versucht, uns zu nähern . Ich weiß nicht, ob

sie nun aufgelöst sind; es war der Wunsch nach einem Gewitter mit ordentlichem

Platzregen zu spüren, jetzt war es eher ein leichtes Grummeln mit einem sachten

Regen. "

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Page 42: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Das Wort zum Abschluß

I nder Abschlußrunde bleiben die kritischen Stimmen nicht aus. Doch die Kri­

tik findet immer noch eine positive Wendung: Man sei froh und dankbar, hier­

gewesen zu sein, weil man aus dem einen oder anderen Workshop manches für

sich mit nach Hause nehmen könne. Sehr viele der Mütter und Väter erklären, daß

der Workshop am Vormittag "Mit fremden Kindern redet es sich leichter" für sie

der Höhepunkt gewesen sei und einen tiefen Eindruck hinterlassen habe, während

für die Geschwister "Brüderchen und Schwesterehen" am wichtigsten war. Einige

heben die menschliche Nähe hervor, die sie erfahren haben, andere die Freude

über die Fortschritte des Netzwerks. Die folgenden Äußerungen mögen einen

Eindruck geben:

• ,.Ich möchte mich bedanken für die Vermittlung bei der 'Vergangenheitsbewäl­

tigung' und wünsche dem kleinen Netzwerk, daß es ein großes wird ."

• "Das Erlebnis heute morgen war wunderschön, das wird man im Leben nicht

vergessen. "

• " Ich habe mich riesig gefreut, vertraute Menschen wiederzusehen, danke, daß

ihr so tolle Vorzeigeeltern seid~"

• "Was ich hier erlebe ist einmalig, ihr seid alle liehr nah an mein Herz gerückt.

Ich danke sehr herzlich. daß das überhaupt möglich ist. "

• ,.Ich bin sehr froh, Menschen gefunden zu haben. die mit mir schneller gehen

wollen ."

Helga Thielmann, für die, wie sie sagt. dieses Treffen das schwierigste in ihrer

bisherigen Zeit in der Aids-Hilfe war. reicht jedem der Anwesenden zum

Abschied eine rote Rose und wünscht ihnen eine gute Heimkehr, viel Gesundheit

und Kraft.

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Page 43: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Zusammenfassung

"Es kann so hilfreich sein, unter Gleichen zu sein" - dieser Satz einer Mutter mag

dafür stehen, welche Bedeutung eine bundesweite Zusammenkunft von Eltern

und Geschwistern HIV-betroffener Menschen für diese Angehörigen hat. Obwohl

sich der gesellschaftliche Blick auf die stigmatisierte Krankheit im Lauf der Jahre

stark verändert hat und Aids in Zeiten besserer Behandelbarkeit in die Nähe wenig

beachteter chronischer Krankheiten rückt, ist es für Angehörige keineswegs nor­

mal , sich Unterstützung in der nächstgelegenen Aids-Hilfe zu suchen. Aids-Hil­

fen , die Angehörigenarbeit anbieten, klagen über mangelnden Zulauf; immer

noch scheint die Angst zu groß, beim Schritt über die Schwelle vom Nachbarn,

Arbeitskollegen oder auch der eigenen Mutter entdeckt zu werden.

In diesem geschützten Kreis in einem Bremer Hotel kann man sehen: Ich bin mit

meinem Schicksal nicht allein. Hier gibt es Menschen, die mich verstehen, weil

ihre Welt durch die Infektion ihres Kindes oder Geschwisters genauso aus den

Fugen geraten ist wie meine . Hier kann ich erzählen, was mich bedrückt, ent­

täuscht und verletzt; ich kann hören, wie andere mit ähnlichen Prob~emen umge­

hen. Ich kann aber auch meine Freude weitergeben und den anderen Hoffnung

machen. weil ich für meine Tochter ein Licht am Ende des Tunnels sehe .

Die Mutter, die den oben erwähnten Satz formuliert hat, bemerkte gegen Ende des

Treffens. daß das HI-Virus das einzige Bindeglied zwischen den Anwesenden sei .

In Bremen waren Spannungen zutage getreten , die von denen, die sich seit Jahren

kennen. lange unter den Teppich gekehrt worden waren. Diesen Spannungen, die

im letzten Workshop nicht gänzlich gelöst werden konnten, gilt es weiter zu

hegegnen. Etliche TeilnehmerInnen übten Kritik am Programm: Man konnte kei­

nen passenden Workshop für sich finden . für die einzelnen Veranstaltungen war

zu wenig Zeit angesetzt. es gab zuviele parallel laufende Angebote, so daß sich

statt dem gewohnten Zusammenhalt eher ein Gefühl der Zerrissenheit eingestellt

habe. Bei der Planung künftiger Treffen sollten diese Kritikpunkte berücksichtigt

werden.

Das wichtigste Ergebnis dieser Tage in Bremen war der große Schritt voran in

Richtung Netzwerk . Hier haben Leute zusammengefunden, die zeigen wollen,

daß die Angehörigen von Menschen mit HIV und Aids eine politische Kraft dar-

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Page 44: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

stellen, die Rechte einfordern und den Vorurteilen der Gesellschaft begegnen

kann. Sie wollen ihren infizierten Kindern und Geschwistern öffentlich den

Rücken stärken und den vielen Angehörigen, die die bestehenden Unterstüt­

zungsangebote aus Unwissenheit oder Furcht nicht in Anspruch nehmen, aus ihrer

Isolation heraushelfen . Sie wollen einander zu gut informierten, selbstbewußten

und starken Menschen machen. Es liegt an der DAH, diesen Willen mit allen Mit­

teln zu unterstützen.

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Page 45: Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister

Die Resolution

(verlesen auf der Abschlußveranstaltung der 8. BPV)

Die 8. Bundesversammlung der Menschen mit HIV und Aids ist in diesem

Jahr in Bremen vor Anker gegangen. Auf dem großen Pott "SOLIDA­

RIT Ä T" befinden sich ungefähr 600 Menschen, deren Leben durch HIV und Aids

maßgeblich beeinflußt wurde. Sie haben im Laufe der Zeit gelernt, ihre Wünsche

und Vorstellungen von Lebensqualität in der Öffentlichkeit vorzustellen und teil­

weise erfolgreich einzufordern.

In einem kleinen Beiboot im Windschatten des großen Pottes haben sich etwa 40

Angehörige von Betroffenen versammelt. Auch ihnen hat das Virus erheblich

zugesetzt, sie aus den Rhythmus gebracht und ihr Leben teilweise stark verändert.

Relativ spät haben sie den Mut gefunden, sich miteinander zu verbinden. und sie

versuchen, anderen in vergleichbaren Situationen zu helfen - ihnen Mut zu

machen, das heißt, ihnen zu zeigen, daß man sich trotz des Stigmas Aids nicht ver­

stecken oder ausgrenzen muß ... Netzwerk· ' heißt das Zauberwort, mit dessen Hilfe

versucht wird, überregional und wirksam den Angehörigen Gelegenheit zu geben,

über ihre Sorgen und Nöte. ihre seelischen Ängste und wirtschaftlichen Schwie­

rigkeiten. die ihnen das Virus beschert hat. miteinander zu sprechen.

Die DAH hat vor einigen Jahren erkannt. daß nicht nur der HIV-Infizierte und

Aidskranke der Hilfe berdarf. sondern auch seine Angehörigen. Es sind Konzepte

in Arbeit. die den Belangen der Angehörigen gerecht werden sollen . Seit Jahren

finden Wochenendseminare statt. die Gelgenheit bieten. sich in einem "geschütz­

ten Raum" mit anderen Angehörigen auszutauschen. Vielen hat dies die Kraft

gegeben, sich persönlich in der Aids-Arbeit im eigenen Heimatort zu engagieren

und für andere da zu sein. ihnen Kraft zu gehen. ihr schweres Schicksal zu tragen.

Als Ergänzung zu diesen Seminaren und den Selbsthilfegruppen vor Ort findet

nach Leipzig in diesem Jahr ebenfalls parallel zur Bundespositivenversammlung

das Netzwerktreffen der Eltern und Geschwister in Bremen statt. Auch hier wer­

den Wege gesucht, Angehörige zu erreichen, denen die Hilfsangebote bisher nicht

hekannt sind oder die sie bisher teilweise aus Scham vor der Nachbarschaft oder

der restlichen Verwandtschaft nicht annehmen konnten . Denn das eingangs auf­

gezeigte Bild vom großen Pott und dem kleinen Beiboot zeigt, daß es offensicht-

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lieh an einer zündenden Idee fehlt, um mehr Angehörige aus der Scham-Ecke

hervorzuholen und zur Teilnahme an einer derartigen Veranstaltung zu ermutigen.

Die Teilnehmer am Netzwerktreffen sind der Auffassung, daß zur Linderung der

persönlichen seelischen Not und zum Abbau der Angst vor sozialer Ausgrenzung

eine auf Dauer ausgerichtete Solidargemeinschaft erstrebenswert. ja unverzicht­

bar ist. Wir sind der Auffassung, daß die DAH für dieses Ziel die notwendige

Unterstützung bereitstellen muß, und wir appellieren an die politisch Verantwort­

lichen, der DAH die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen.

Auch in Zeiten knapper finanzieller Möglichkeiten müssen Wege gefunden wer­

den, noch mehr Angehörigen Hilfe anzubieten, damit sie mit den Begleit- und

Folgeerscheinungen von Aids besser fertigwerden . In vielen Fällen ist damit auch

eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den Erkrankten und ihren

Angehörigen verbunden, die uns allen am Herzen liegen sollte.

Die TeilnehmerInnen

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