Musiktheater...Akkordeon Margit Kern a.G. Altzither Georg Glasl a.G. Flöte Jhong-Yun Chey...

25
MEDEA MUSIKTHEATER

Transcript of Musiktheater...Akkordeon Margit Kern a.G. Altzither Georg Glasl a.G. Flöte Jhong-Yun Chey...

  • 1

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    MEDEAMusikthe ater

  • 2

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    3

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    Der Mythos [zeigt] die Menschheit dabei, etwas zu bearbeiten und zu verarbeiten, was ihr zusetzt, was sie in Unruhe und Bewegung hält. Es lässt sich auf die einfache Formel bringen, dass die Welt den Menschen nicht durchsichtig ist und nicht einmal sie selbst sich dies sind.

    Hans Blumenberg

  • 4

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    MEDEAMusiktheater von Leopold Hurt für eine Sängerin, Schauspielerinnen und Schauspieler, Instrumentalensemble und Elektronik nach dem Roman „Medea Stimmen“ von Christa Wolf.

    inhalt

    DoMinik neuner 8MEDE A: DiE AllMählichE VErfErtigung EinEr gEstAlt„Das alles hat herr euripiDes erreicht . . .“ 12leopolD hurt 17instruMEntAriuM, instruMEntAtion unD instruMEntAlisiErung. gEDAnkEn zu EinEr MEDE A-Musikesther k aufMann 22„WArEn Wir nicht AllE opfEr, zur stillEn DulDung gEbrAchtE opfEr, DiE zur schl AchtbAnk trot tEtEn“. AnMErkungEnBet tina knauer 27„ Aus DEr tiEfE DEr zEitEn koMMt siE uns EntgEgEn“.notizEn zu thE AtEr unD gEDächtniskinDsMörDerin? 34Be atrix Bor charD 39„io? MEDE A!“ oDEr: MAriA c All A s Als MEDE Aprovok ation MeDe a – 44 projekt zuM „forschenDen lernen“ an Der hochschule für Musik unD the aternachweise/iMpressuM 46

    Wir danken:

    Sängerin Melanie WandelMedea Ariella HirshfeldAgameda Barbara SchedivyGlauke Wiebke WackermannAkamas Martin WinkelmannJason Rune Jürgensen

    ensemble IntégralesAkkordeon Margit Kern a.G.Altzither Georg Glasl a.G.Flöte Jhong-Yun CheyKlarinette Michael WagenerKlavier Ashley HribarKontrabasshackbrett

    Birgit Stolzenburg a.G.Saxophon Burkhard FriedrichSchlagzeug Cornelia MonskeTrompete Michael LangkampVioloncello Sonja Lena SchmidElektronik Katharina Raspe

    Komposition /Musikalische Leitung Leopold Hurt

    Textfassung/Regie/RaumkonzeptDominik Neuner

    Kostüme Julia DebusVideo Jakob Klaffs

    Dramaturgie Bettina Knauer,Beatrix Borchard

    Dramaturgieassistenz Esther Kaufmann

    Regieassistenz Anna PhilippInspizienz Marcos Darbyshire

    Technische Leitung Heinz UlbrichBühnenmeister Wolfgang ThiessBeleuchtungsmeister Christof ErtzTon Katharina Raspe, Philipp SchulzLicht Andreas Kehler, Karsten Seider,Klaus Uhlich, Ramzi Chenitir Bühnentechnik Andreas Heiss, Volker Teppich, Michael Haase, Detlev Feist

    junges forum Musik+TheaterPeter Krause (Leitung)

    Koordination Mascha Wehrmann

    STIFTUNG DER FREUNDEDER HAMBURGER HOCHSCHULE FÜR MUSIK UND THEATER

    Fächerübergreifende Projekt konzeption /GesamtleitungBeatrix Borchard, Bettina Knauer, Dominik NeunerProduktionsleitung Bettina Knauer

    Eine Produktion der Hochschule für Musik und Theater Hamburgjunges forum Musik+Theater

    Uraufführung: 15. Oktober 2008Weitere Vorstellungen: 16./17./18. Oktober 2008 jeweils um 20 Uhr, am 19. Oktober um 16 UhrEinführungsvortrag jeweils eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung. Publikumsgespräch im Anschluss an die Vorstellung am 17. Oktober 2008

  • 6

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    7

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    MEDEA: das verführerische, ruchlose und grausame Weib, das aus Rache an ihrem treulosen Mann die gemeinsamen Kinder tötet; MEDEA: die heil-kundige Zauberin, Gastfreundin und leidenschaftlich Liebende, die verraten wird; MEDEA: der schwarze Todesengel, die geächtete Fremde und Asylan-tin, die zum Sündenbock gestempelt wird. MEDEA ist über Jahrtausende hinweg eine ambivalente Bezugsfigur gewesen, eine Tabus und Grenzen überschreitende Figur und „ihr Fall“ ist keineswegs festgestellt.

  • 8 9

    300 v. Chr. Apollonius von Rhodos Argonautika (Epos)

    431 v. Chr. Euripides Medea (Drama)

    13 v. Chr Ovid Heroides-Briefe (fiktive Briefe)

    700 v. Chr. Hesiod Theogonie (Epos)

    500 v. Chr. Pindar Phythischen Oden (Lyrik)

    Die moralischen Gesetze von Leben und Tod sind längst polit-ökonomisch usurpiert. Ob Krieg oder Frieden entscheiden keine Mütter mehr. Die Gebären-den sind ihrer ursprünglichen Zuständigkeit für Leben und Tod enthoben. Der Selbstzerstörungstrieb der abendländischen Kultur beschäftigt Christa Wolf seit Langem. Und gerade im Mythos findet sie die Gestalten wieder, deren „Grundverhalten … in ähnlichen Situationen schon dem unseren ähn-lich oder gleich war“.

    Geschichtliche Realität ist als lineare Abfolge von markanten Ereignissen nicht mehr zu begreifen. Erst im „Geschichte“ der übereinandergelagerten Epochen wird die „unwiderrufliche Verflechtung von Gegenwart und Vergangenheit“ erfahrbar, wie Walter Benjamin meint. Und Elisabeth Lenk schreibt im Vorwort zu Medea Stimmen: „Achronie ist nicht das gleichgültige Nebeneinander, son-dern eher ein Ineinander der Epochen nach dem Modell eines Stativs, eine Flucht sich verjüngender Strukturen. Man kann sie auseinanderziehen wie eine Ziehharmonika, dann ist es sehr weit von einem Ende zum andern. Man kann sie aber auch ineinander stülpen wie die russischen Puppen, dann sind die Wände der Zeiten einander ganz nah …“. Und aus dieser Achronie taucht in Christa Wolfs Bewusstsein schemenhaft eine sich immer wieder verflüchti-gende Medea auf. Im Schreibprozess erfährt sie „das zufällige Auftauchen und die allmähliche Verfertigung einer Gestalt“.

    Ihr Roman beginnt:„Wir sprechen einen Namen aus und treten, da die Wände durchlässig sind, in ihre Zeit ein, erwünschte Begegnung, ohne zu zögern erwidert sie aus der Zeit-tiefe heraus unsern Blick. Kindsmörderin? Zum erstenmal dieser Zweifel. Ein spötti sches Achselzucken, ein Wegwenden, sie braucht unseren Zweifel nicht mehr, nicht unser Bemühen, ihr gerecht zu werden, sie geht. Uns voran? Von uns zurück? Die Fragen haben unterwegs ihren Sinn verloren. Wir haben sie auf den Weg geschickt, aus der Tiefe der Zeit kommt sie uns entgegen, wir las-sen uns zurückfallen, vorbei an den Zeitaltern, die, so scheint es, nicht so deut-lich zu uns sprechen wie das ihre. Irgendwann müssen wir uns begegnen …wir müssen sie warnen. Unsere Verkennung bildet ein geschlossenes System, nichts kann sie widerlegen. Oder müssen wir uns in das Innerste unserer Ver-

    MEDEA: DiE AllMählichE VErfErtigung EinEr gEstAltDoMinik neuner

    Wer sich heutzutage mit dem „Medea“-Stoff beschäftigt, kommt an dem Roman Medea Stimmen von Christa Wolf nicht vorbei. Ihre literarische Reha-bilitierung der „rachsüchtigen Kindsmörderin“ zwingt uns eine Lesart der Geschichte auf, die Geschichtsschreibung per se in Frage stellt.

    „Geschichte ist das Muster, das wir im Nachhinein in den Teppich der Ereig-nisse weben“ meint der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, und Walter Benjamin macht in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte die Sieger als heroische Repräsentanten für eine Geschichtsinterpretation verantwortlich, die den Opfern keinen Raum für ihre eigene Geschichte mehr gönnt. Warum sind sieg-reiche politische Systeme „niemals bereit und in der Lage, die Lebensweise, die Ziele … und Ideale … der unterlegenen Gruppe … zu begreifen“ fragt Christa Wolf. Und mit ihrer Antithese „Die hat ihre Kinder nicht umgebracht“ folgt sie Pindaros, der den Medea-Stoff noch vor Euripides behandelte und keine Mörderin beschreibt.

    Hat sie nun oder hat sie nicht? Die Frage wird obsolet vor dem Hintergrund eines Mythos, der seit dreitausend Jahren zur Dämonisierung des Weiblichen taugt, die alten Mutterrechtsgesellschaften ignoriert und in der Tochter, Geliebten, Gattin, Mutter, Schwiegermutter noch immer den Sündenbock für die eigenen Lebensdefizite erkennen lässt. Was sagt Christa Wolfs Kassandra über die Krieger und Sieger: „O, dass sie nicht zu leben verstehen. Dass dies das wirkliche Unglück, die eigentlich tödliche Gefahr ist, nur allmählich habe ich es verstanden.“

  • 10 11

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1 n. Chr. Ovid Metamorphosen (Epos)

    18 n. Chr. Ovid Medea (Drama)

    kennung und Selbstverkennung hineinwagen, einfach gehen, miteinander, hinter einander, das Geräusch der einstürzenden Wände im Ohr. Neben uns, so hoffen wir, die Gestalt mit dem magischen Namen, in der die Zeiten sich treffen, schmerzhafter Vorgang. In der unsere Zeit uns trifft. Die wilde Frau.Jetzt hören wir Stimmen.“

    … Und wir sehen durch die Zeitwände hindurch.

    Wir befinden uns in einem labyrinthischen Ereignisraum. Allseitig umgeben von Schleierwänden, die Durchsichten auf dahinterliegende Wände erlauben. Wandschichtungen, die sich von Mal zu Mal verdichten oder den Blick frei-geben auf die performativen Vorgänge in den Zwischenräumen. Bildmotive, Textfragmente, Licht und Schatten dringen Schicht um Schicht zu uns durch. Inmitten der Schichten sind wir in der Geschichte. Jenseitiges wird gegenwär-tig. Medea begegnet uns heute. Vielgestaltig sind ihre Erscheinungen, und klangreich ihre Welten. Zu Klang und Raum wird hier die Zeit.

    „Die Literatur darf ihre verschiedenen Möglichkeiten durchspielen“, sagt Christa Wolf, und spricht damit für die Kunst im Allgemeinen . „Den Mitspie-lern bleibt überlassen, welche ihnen einleuchtet. Soll in der Mitte des Laby-rinths unangefochten der Minotaurus herrschen? Wird da immer eine Ariadne sein, die dem männlichen Menschen, der das Ungeheuer besiegt – nicht zuletzt in sich selbst – den Lebensfaden in die Hand gibt, an dem er sich aus der Finsternis heraustasten kann?“ Den verstummten Stimmen der Geschichte Gehör zu verschaffen, erweitert erst das historische Bewusstsein. „Es muss … immer selbstverständlicher werden, dass der männliche und weibliche Blick gemeinsam erst ein vollständiges Bild von der Welt vermitteln.“ … und in der Neu deutung des Mythos, in dem wir die Achronie der Geschichte erfahren, liegt die „Sehnsucht von uns allen, gemeinsam einen Ausweg aus dem Laby-rinth zu suchen und ihn, vielleicht, zu finden …“.

  • 12 13

    1287 Konrad von Würzburg Der Trojanische Krieg (Epos)

    1373 Giovanni Boccaccio Die großen Frauen (Biographiensammlung)

    1385 Geoffrey Chaucer The Legend of Good Women (Epos)

    49 n. Chr. Seneca Medea (Drama)

    75 n. Chr. Valerius Flaccus Argonautica (Epos)

    „DAs AllEs hAt hErr EuripiDEs ErrEicht ...“

    Christa Wolf: Tagebuchnotizen Berlin, 11. November 1991

    Ein Triumph – auf dem Gebiet, auf dem Triumphe mir noch etwas bedeuten: In Wolfsberg hat ein Museumsdirektor mich an eine Medea-Spezialistin in Basel vermittelt – durch die habe ich nun erfahren, was ich vermutet hatte: Medea hat in den älteren Überlieferungen ihre Kinder nicht umgebracht, dies hat erst Euripides ihr erfunden; sie hat die Kinder in den Tempel der Hera gebracht, dort wurden sie dann von den Korinthern getötet.

    Christa Wolf: Brief an Heide Göttner-Abendroth Santa Monica, 13. Oktober 1992

    Sie ist die „schreckliche Frau“, das Monster, die Unnatur in Person. Das alles hat Herr Euripides erreicht (man bezweifle also doch nicht die Wirksamkeit von Literatur!), auch wenn ich nicht glauben will, was manche Forscher behaupten, er sei von den Korinthern dafür bestochen worden, daß er nicht sie – wie in „Wirklichkeit“, das heißt, in der alten Sage – als Kindsmörderin darstellte, sondern die Frau, die Mutter, die ja, als sie Korinth verlassen mußte, ihre Kinder dem Altar der Hera anvertraute, wo sie sie für absolut sicher hielt. Die Korinther aber, wahnsinnig vor Angst vor den Zauberkünsten der Medea, außerdem einem Rachebedürfnis nachgehend, gingen hin und erschlugen sie: Wie sonst hätte sich übrigens die Einrichtung des Sühneopfers für die Medea-Kinder in Korinth erklären lassen? […]

    Nun wird aber von Medeas Bruder Absyrtos mit Abscheu behauptet, sie, die Schwester, habe ihn auf der Flucht mit Jason „zerstückelt“ und die einzelnen Teile dem sie verfolgenden Vater hingeworfen, damit er sie wieder zusammen-setze und so kostbare Zeit zur Ergreifung der Flüchtenden verliere. Diese Geschichte nun erscheint mir mindestens ebenso absurd wie die Kindermord-geschichte. Ich bitte sie also, doch einmal mit mir zu überlegen – ähnlich wie Sie es bei der Deutung anderer Märchen und Sagen getan haben –, ob nicht auch hier eine Umdeutung der alten, gewiss bruchstückhaft überlieferten Sachverhalte durch die patriarchalen frühen Griechen vorliegt, die eine andere als ihre Gedanken- und Gefühlswelt einfach nicht begreifen konnten und als

    „wild“ abqualifizieren mußten. Da beginnt ja dann wohl das Bedürfnis, ein Bild der „schrecklichen Mutter“, der „schrecklichen Schwester“ herzustellen. – Also war Absyrtos nicht vielleicht der Jahreskönig der Medea (in einer früheren Schicht des Mythos), ihr Bruder, und war nicht seine „Zerstückelung“ – genau wie die des Dionysos durch die Bacchen – eben ein Teil des Wiedergeburtsri-tuals, auf das ja der ganze Jahreszyklus hinauslief? Und ist eben dieser Glaube, die Grundlage der matriarchalen Gesellschaften, die unüberwindliche Barriere für das Verständnis ihrer Riten durch die patriarchalen Indogermanen und dann durch die Achaer, denen der Tod ein unwiderruflicher Schrecken ist?[…]Was ich sagen will, ist: Besonders in der Medea-Sage scheinen verschiedene und verschieden alte Überlieferungen sich zu überlagern und ein schwer zu entwirrendes Gewebe eingegangen zu sein. Ich denke, sie zeugt von der Domes tizierung und „Entzauberung“ der Frau nach der Eroberung einst matri-archal strukturierter Gebiete. Die Griechen dann haben diese anscheinend auch sehr faszinierende Figur nach ihrem Verständnis umgemodelt: Natürlich muß sie für den Helden in Liebe entbrennen, ihm also, ihre Sippe verratend, folgen, ihren Zauber in seinem Sinne einsetzen; muß dann, wie jedes Weib-chen im Patriarchat, eifersüchtig werden auf die Nebenbuhlerin, Kreusa (oder Glauke) und sie hinterlistig vernichten – sie, die ja als matriarchale Frau weder die Monogamie noch natürlich die Eifersucht kennt!

  • 14 15

    1649Francesco Cavalli Giasone (Oper)

    1693 Marc-Antoine Charpentier Médéé (Oper)

    1694 Hilaire de Longepierre Médéé (Drama)

    1405 Christine de Pizan Livre de la Cité des Dames (Philosophisch-literarische Schrift)

    1635 Pierre Corneille Médéé (Drama)

    welt“ dieses Gefüge in Unordnung; die Heilung, zu der Medea fähig wäre, „entfällt“. So ist ja auch das unzeitige Dazwischentreten Jasons (in einer der korinthischen Versionen) schuld daran, daß Medea die Handlung, mit der sie die Kinder unsterblich machen will (und könnte!), nicht vollendet.

    Heide Göttner-Abendroth: Brief an Christa Wolf Weghof, 11. März 1992

    Medea wird bewußt und durchsichtig zur „schrecklichen Mutter/Schwester“, zur Dämonin und „Hexe“ gemacht. Denn wo immer sie ihren Fuß hinsetzt, ereignen sich Morde, Vergiftungen, Zerstückelungen, ein Pest- und Schwefel-hauch scheint sie zu umgeben, der zuletzt noch im Feuer aufgeht. Gegenüber der schöne, mutige Jason. Das ist sehr durchsichtig!Über das Thema „Medea als schreckliche Mutter“ schrieben Sie ja bereits die entlarvenden Punkte, die dagegen sprechen: Sie versucht, ihre Kinder im Hera-Tempel zu schützen, die Korinther töten sie dort, leisten später Sühneopfer. Das wäre in der Tat widersinnig, wenn Medea ihre Kinder selbst getötet hätte.Zum Thema „Medea als schreckliche Schwester“ (Mord an Absyrtos) denke ich analog wie Sie: Die angeblich grausame Zerstückelung des Bruders ist ein Ritual des Todes des Hlg. Königs und erinnert an den Tod des Orpheus/ Dionysos/Kret. Zeus/Osiris durch Zerreißen.

    Margot Schmidt: Brief an Christa Wolf Basel, 8. November 1992

    Mit der Absyrtos-Geschichte komme ich nicht über meine ursprüngliche Über-legung hinaus, daß sie sich in das allgemeine Muster der Medea als Zerstück-lerin fügt, das – im positiven Aspekt der Medea als Heilerin bzw. Verjüngerin, der vermutlich der ursprünglichste war – auf ein komplementäres Wieder- Zusammenfügen angelegt ist. Vielleicht bringt der Konflikt mit der „Männer-

    Christa Wolf (© Helga Paris)

  • 16 17

    1784 Georg Benda Medea (Oper)

    1786 Friedrich Maximilian Klinger Medea in Korinth (Drama)

    1713 Georg Friedrich Händel Teseo (Oper)

    1761 Richard Glover Medea (Drama)

    1763 Jean Georges Noverre Médéé et Jason (Ballett)

    instruMEntAriuM, instruMEntAtion unD instruMEntAlisiErung.GeDanken zu einer MeDe a-MusikleopolD hurt

    Analog zur dramaturgischen Idee Dominik Neuners, die komplexen Zeit-strukturen in Christa Wolfs Medea Stimmen in einen multidimensionalen Büh-nenraum einzulassen, ging es mir bei der musikalischen Umsetzung um die Vertiefung des Textes in einen ebenso vielschichtigen Klangraum. Sowohl die Positionierung der Instrumente um die Bühne herum, als auch die Mehrkanal-Elektronik ist dabei nur ein besonders augenscheinlicher Aspekt dieser Gesamt-idee. Interessanter war für mich, das Prinzip der chronologischen Schichtung auch auf die Instrumentation zu übertragen.

    Die Einbeziehung von Instrumenten wie Altzither, Kontrabasshackbrett und Akkordeon mag zunächst befremdlich wirken, zumal sie das ohnehin hetero-gen besetzte Ensemble klanglich nochmals aufbrechen. Die Saiteninstrumente sind darüber hinaus mikrotonal gestimmt, und somit in sich bereits verfremdet bzw. harmonisch seltsam verzahnt. Im Zusammenhang wirken diese Klang-körper zugleich archaisch und neu, ebenso „gefunden“ wie „erfunden“, und spielen dabei auf ein Element an, das im Subtext der Romanvorlage mit-schwingt. Christa Wolf geht es um das Aufspüren des alten, vermutlich „wah-ren“ Mythos, bevor er durch Euripides verfälscht wurde. Wir können erkennen, dass Medea vor allem auch die Wissende, die Priesterin, die schamanische Heilerin ist, die von einer von Angst zerfressenen Gesellschaft aufs heftigste vorverurteilt wird. Das Instrumentarium bestätigt Medea als „Fremde“, die über ein geheimes Wissen kolchischer Kulte verfügt, sich nun jedoch in einer

    Medea mit den Kindern (Pompeji, 300 v. Chr.)

  • 18

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    19

    1792 Gaetano Marinelli La vendetta di Medea (Oper)

    1797 Luigi Cherubini Médéé (Oper)

    Umgebung namens Korinth neu definieren muss. Ihr uraltes Wissen wirkt hier weiter, kann aber von der Gesellschaft nicht mehr zur Gänze gedeutet werden.

    Medea selbst ist eine Wahrheitssuchende: Sie entdeckt das Verbrechen, auf dem die Stadt Korinth buchstäblich gebaut ist, und benennt die unausgespro-chenen Ängste, obwohl sie um die damit verbundene Gefahr weiß. Sie bringt Verborgenes, Verdrängtes hervor, macht es erneut sichtbar. Die erwähnten Zusatzinstrumente spiegeln dabei das Verständnis von uraltem Wissen und

    „neuer Klangrede“ der Protagonistin. Sie begleiten als eigentümliches Instru-mentarium auch die seltsamen Rituale, die von Medea zelebriert werden. Diese sind womöglich authentisch, werden aber im gesellschaftlichem Zusam-menhang nicht mehr verstanden und müssen neu interpretiert werden. In dieser diffizilen kulturpolitischen Aufgabe versagt Korinth. Man kann hierin eine Ur-Idee der Oper von Monteverdi bis Stockhausen erkennen: Bestimmten Charakteren werden dezidierte Instrumentalklänge und Tonzentren zuge-ordnet, aus deren Beziehungsgefüge sich ein konkreter Formablauf generiert. Diese Idee der Instrumentation wird hier insofern aufgegriffen, als manche Protagonisten direkt mit Instrumenten gekoppelt werden und nahezu syn-chron agieren. Ihre Ängste, das Ausgeliefert-Sein an einen verbrecherischen Plan, über den sie nach und nach die Kontrolle verlieren, verhaftet sie förmlich an die instrumentale Führung: aus Instrumentation wird Instrumentalisierung, die musikalische Setzung wird zu einem Abbild einer komplexen Gesellschafts-form.Die verwendeten Mundharmonikas gegen Ende des Stückes definieren als musikalische Knebel einen beschränkten Tonvorrat, der mit der gesell-schaftlichen Enge in Korinth gleichgesetzt wird. Außerhalb und in den Lücken dieser separatistischen Klangwelt bewegt sich Medea, die sich, stets im Voll-besitz ihrer Kräfte, in ein tonales Exil begibt. Zum Schluss verschwindet sie, begleitet von elektronischen Vocoder-Klängen, dem Akkordeon und den Rohr-blatt-Instrumenten auf einer Art „Riesen-Harmonika“, und verlässt mit einem Fluch die gescheiterte Gesellschaftsform Korinth. Wohin, ist bei Christa Wolf eine Frage, die vorerst keine Antwort findet.

  • 20 21

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1813 Giovanni Simone Mayr Medea in Corinto (Oper)

    1814 Julius von Soden Medea (Drama)

    Leopold Hurt (© Nils Rohenkohl)

    Leopold Hurt (geboren 1979 in Regensburg) studierte am Richard-Strauss-Konservatorium Mün-chen Zither bei Georg Glasl, sowie Viola da Gamba/Violone und Historische Auf-führungspraxis. In Komposition wurde er von Peter Kiesewetter unterrichtet. Er nahm an Meisterkursen bei Dieter Schnebel, Paul-Heinz Dittrich (Komposi-tion) sowie bei Nigel North (Alte Musik) teil und belegte Kurse für Elektronische Musik am IRCAM in Paris. Momentan setzt er seine Studien im Fach Komposition bei Manfred Stahnke an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg fort.

    Leopold Hurt machte unter anderem mit der Kammeroper Anna Livia Plurabelle (Auftragswerk von A*Devantgarde München 2001) und mit dem abendfüllenden Oratorium Muspilli (Auftragswerk der Regensburger Philharmoniker) auf sich aufmerksam. Eine Reihe von Werken spiegelt seine analytische Auseinandersetzung mit regionalen Spuren mitteleuro-päischer Volksmusik wider, letzteres auch mit elektronischen und multimedialen Mitteln.

    Als Interpret erhielt er u. a. Engagements beim Sinfonieorchester des Bayerischen Rund-funks, beim Sinfonieorchester des WDR, sowie als Solist beim Orchestra di Roma. Daneben tritt er auch als Dirigent auf und ist beständig auf der Suche nach neuen Einsatzmöglich-keiten für sein Instrument. So entstand beispielsweise die intensive Zusammenarbeit mit dem DJ-Duo Gebrüder Teichmann (Berlin). Konzertreisen führten ihn nach China, in den Libanon (Goethe-Institut) und nach Moskau.

    Neben frühen Preisen und Auszeichnungen war Leopold Hurt Stipendiat des Freistaats Bayern, der Stiftung „Podium Junger Musiker“ und Preisträger im Internationalen Wett-bewerb für Zither „Ernst Volkmann-Preis“ (2004), in dessen Jury er 2008 berufen wurde. 2003/2004 erhielt er ein Stipendium für einen Aufenthalt an der „Cité Internationale des Arts“ in Paris. 2008 wurde er mit dem „Annemarie und Hermann Rauhe Preis für Neue Kammermusik“ und mit dem ersten Preis beim „Gustav-Mahler-Kompositionswettbewerb“ (Klagenfurt) ausgezeichnet.

    Für 2009 erhielt Leopold Hurt Kompositionsaufträge für das Münchner Kammerorchester sowie für das Frankfurter Ensemble Modern.

  • 22 23

    1851 Giuseppe Saverio Mercadante Medea (Oper)

    1895 Paul Heyse Medea (Novelle)

    1926 Hans Henny Jahnn Medea (Drama)

    1821 Franz Grillparzer Das goldene Vlies (Drama)

    1843 Giovanni Pacini Medea (Oper)

    „WArEn Wir nicht AllE opfEr, zur stillEn DulDung gEbrAchtE opfEr, DiE zur schlAchtbAnk trottEtEn.“ anMerkunGen von esther k aufMann

    Menschenopfer sind wesentlicher Bestandteil des Mythos’ Medea. Neben den Tieropfern auf dem Frühlingsfest zu Ehren Demeters werden zwei Königs-kinder in Kolchis und Korinth, Absyrtos und Iphinoe, und auch Medeas Söh-ne – so in Christa Wolfs Umschrift des Mythos – im Rachewahn der Korinther geopfert.

    Das Wort Opfer lässt sich vom lateinischen operari ableiten, was übersetzt „religiöses Handeln“ heißt, bzw. vom lateinischen Wort sacrificium, was ganz ähnlich „heilig machen“ heißt. Opfern bedeutet zunächst die Hingabe von etwas Wichtigem an eine göttliche Macht – für etwas noch Wichtigeres. Das Opfer steht immer in einem zeremoniellen Rahmen und setzt die Gemein-schaft in Kommunikation mit dem Sakralen.

    Der Religionswissenschaftler René Girard hat versucht, den Mechanismus hinter Menschenopfern zu ergründen: Sie dienen der Abwendung von Gewalt-eskalationen, indem ein Ersatzopfer als Ventil fungiert, an dem sich das Gewaltpotential einer Gesellschaft legitim abreagieren kann. Durch seine als geheiligt definierte Außenseiterstellung provoziert es auch keine gefährlichen Rachezirkel. Opfer sind Sündenböcke. Sie stabilisieren die Gesellschaftshar-monie und bauen Ängste ab: „Funktion des Rituals ist es, die Gewalt zu ‚reini-gen‘, d. h. sie zu ‚täuschen‘ und an Opfern auszulassen, die mit Sicherheit nicht gerächt werden“. Girard vermutet, dass nach jeder Krise der Gemeinschaft im Opferritus eine ‚Gründungsgewalt‘ wiederholt wird, die am Anfang jeder

    Gesellschaftsentwicklung steht.

    Die Forschung steht vor dem Problem der wissenschaftlich fundierten Belege für historische Menschenopfer. Beweise lassen sich nur über zwei Wege fin-den: Einerseits durch archäologische Funde von Skeletten, mumifizierten Moorleichen oder Kultstätten und andererseits durch literarische Berichte oder bildliche Quellen. Allerdings sind Ausgrabungsfunde immer aus ihrem Kontext gerissen und auch künstlerische Werke können bewusst verzerrt worden sein, so dass Menschenopfer letztlich eine Deutungssache bleiben. Aufgrund der Vielzahl von Hinweisen können Menschenopfer dennoch seit der Frühsteinzeit überall auf der Welt in unterschiedlicher Form vermutet werden. Speziell in der Antike sind zahlreiche Beispiele von Menschenopfern archäologisch identi-fiziert und literarisch verarbeitet. Vor allem über ihre Nachbarn kursierten bei den Griechen und Römern beständig übertriebene Gräuelgeschichten. Doch auch in den eigenen Mythen waren Menschenopfer ganz normale Ereignisse, man denke nur an die häufigen Jungfrauenopfer durch den eigenen Vater wie in der Iphigenie. Vermutlich waren Menschenopfer zur Zeit der Entstehung des Medea-Mythos schon die Ausnahme statt die Regel. In Rom wurde aber faktisch erst um 100 n. Chr. ein Verbotsgesetz erlassen und in Griechenland waren sogenannte pharmakos als Menschenopfer in spe, die sozusagen auf Vorrat ernährt und bei Bedarf als Opfer genutzt wurden, in den Städten Nor-malität.

    „Je akuter die Krise ist, desto ‚kostbarer‘ muß das Opfer sein.“ (René Girard)

    Opfer können sein: Sach-, Tier- oder Menschenopfer, bewusst oder per Zufall Ausgewählte, körperlich Auffällige (z. B. Behinderte oder auch Zwillinge), Frauen oder Männer, spezielle Altersgruppen und Menschen mit einem beson-deren Status (z. B. Sklaven, Verbrecher oder Kriegsgefangene). Wesentlich scheint, dass die Opfer außerhalb der Gesellschaft stehen und ‚opferwürdig‘ sind. Im Medea-Mythos (nach Christa Wolf) werden Tiere und Kinder geopfert. Die Kinder sind Königskinder, durch ihren hohen Status „besonders wertvoll“, aber auch besonders isoliert. Medeas Kinder scheinen als Kinder einer Verbre-cherin opferungswürdig und bleiben als Fremde isoliert.

  • 24 25

    1939 Darius Milhaud Médéé (Oper)

    1944 Marie Luise Kaschnitz Die Nacht der Argo (Erzählung)

    1946 Jean Anouilh Medée (Drama)

    1931 Gertrud Kolmar Eine jüdische Mutter (Roman)

    1934 Bertold Brecht Die Medea von Lodz (Gedicht)

    oder unblutig ablaufen, der Mord kann durch Verbrennen, Ersticken, Erstechen oder Erschlagen erfolgen. In Medea Stimmen zeigt Christa Wolf: Alle Opfer erfolgen unfreiwillig, es sind Reaktionsopfer ohne einen Gott als Adressat. Die Königskinderopfer werden von Priestern an einem speziellen Ort im Verbor-genen durchgeführt und beide durch Erstechen geopfert, Medeas Kinder wer-den von einer Menge durch Erschlagen getötet.

    Opferungstötungen sind die Grunderfahrung des „Heiligen“; homo religiosus setzt Selbstbewusstsein um und erhält es als homo necans [tötender].Walter Burkert

    Der Brauch der rituellen Tötung von Menschen scheint für den oberfläch-lichen Betrachter mit der vermeintlich so humanen Kultur der Griechen un vereinbar zu sein. Erstaunliche Befunde bei neueren Ausgrabungen legen jedoch die Vermutung nahe, daß noch auf Kreta und zur Zeit der Blüte des mächtigen Mykene Menschenopfer und grausame Totenrituale durchaus nicht unbekannt waren. Thomas Fontaine

    Die „Funktion des Opfers“: Es gibt Grundsteinopfer beim Gebäudebau, Wahr-sageopfer als Material für Orakel, Begleitopfer als Ahnenehrung zum Tod wichtiger Personen, Racheopfer besonders zu Kriegszeiten, Lobopfer um sich mit einen Gott generell gut zu stellen, Bittopfer um etwas zu erreichen und Besänftigungsopfer um etwas zu vermeiden. In Christa Wolfs Medea Stimmen handelt es sich bei den Königskindopfern um typische Besänftigungsopfer, bei Medeas Kinder spielt zusätzlich das Bittopfer als Wunsch nach einer Her-stellung der alten Ordnung ohne Fremde und das Rachemotiv als Auslöschung potentieller Verbrecher eine Rolle.

    Opferung kann freiwillig oder gezwungen erfolgen, regelmäßig oder als Reaktion auf eine Extremsituation passieren, das Opfer kann für bestimmte Götter bestimmt sein (häufig Kriegsgötter), es kann von Priestern oder von einer Menschenmenge durchgeführt werden, es kann an heiligen Orten erfol-gen (z. B. bestimmten Seen oder in Klöstern), es kann in einem Festkontext oder im Verborgenen sowie geplant oder spontan geschehen, es kann blutig

    Opfervase (Vulci, 4. Jh. v. Chr.)

  • 26

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    27

    1946 Samuel Barber The Serpant Heart/Cave of the Heart (Ballett)

    1948 Anna Seghers Das Argonautenschiff (Erzählung)

    „Aus DEr tiEfE DEr zEitEn koMMt siE uns EntgEgEn“.notizen zu the ater unD GeDächtnisBet tina knauer

    Die Arbeit am Mythos Medea ist Erinnerungsarbeit. „Helft mir heraus, herauf aus dem Schacht“ lässt Christa Wolf Medea rufen und verbindet damit eine umfassende Spurensuche. Hinter den so scheinbar sicheren Vorstellungen von der Medea (Kindsmörderin, Furie, Barbarin?) gewinnt eine andere Geschichte Raum, Verdrängtes, Vergessenes tut sich auf. Eine Revision des (kulturellen) Gedächtnisses und seiner Methodik insgesamt scheint notwendig.

    Der Lyriker Simonides von Keos (557–467 v. Chr.) ist Held einer Geschichte, die als Gründungslegende der Gedächtniskunst (Mnemotechnik) gilt. Nach einem Vortrag in einer Festhalle wird der Dichter vor die Tür gerufen. In die-sem Augenblick passiert ein Unglück: Die Halle stürzt ein und begräbt alle Anwesenden unter sich. Nun wird der Dichter ein weiteres Mal gebraucht, nicht zur Unterhaltung, sondern zur Identifizierung der Toten. Simonides, der die genaue Sitzordnung der Gäste erinnert, ist durch imaginäres Abschreiten des Raumes in der Lage, den Verstümmelten ihren Namen und ein Bild von ihnen zurückzugeben. Über der Zerstörung hinweg entsteht der Raum ein zweites Mal – als Gedächtnistopographie und es entstehen fiktive Bilder, die ihre Macht über Tod und Vergessen behaupten. Entscheidend ist die Anord-nung der Gedächtnisbilder. Nur die wiedergefundene Ordnung, so Cicero, kann das Gedächtnis „erleuchten“.

    Simonides hat zum ersten Mal praktiziert, was in Zukunft systematisch gelehrt und gelernt werden kann. Die antike Gedächtniskunst liefert die Grundlage für den Aufbau und die Funktion von Denkmälern, Bildersälen, Museen, Enzy-klopädien, Bibliotheken, Architekturen, Wissensspeichern; sie zeigt, wie Ver-

    Medea: Gerechtigkeit wohnt nämlich den Augen der Menschen nicht inne,wenn jemand, bevor er eines Menschen Herz genau kennengelernt hat, ihn haßt auf den ersten Blick hin, ohne Unrecht erlitten zu haben.Der Fremdling muss sich sorgsam der Stadt anpassen …

    Euripides

  • 28 29

    1959 Mattias Braun Medea (Drama)

    1969 Pier Paolo Pasolini Medea (Film)

    1974 Heiner Müller Medeaspiel (Skizze)

    1948 Robinson Jeffers Medea (Drama)

    1949 Max Zweig Medea in Prag (Drama)

    1950 Elisabeth Langgässer Märkische Argonautenfahrt (Roman)

    gangenes bewahrt, Gedächtnis gestiftet und eine Kultur zirkuliert werden kann. Was in den Räumen und Speichern aufgenommen, Bild und Schrift geworden ist, überlebt und hat kulturelle Deutungsmacht, was aussortiert wird, versinkt ins Vergessen.

    Auch im Medium des Theaters gab es schon immer die Bestrebung, Gedächt-nisräume zu inszenieren. Im 16. Jahrhundert fasste Giulio Camillo die Idee eines „Theatro della Memoria“, indem repräsentatives Kulturwissen szenisch imaginiert werden sollte. Die Bilder sollten über ihre Funktion von Merkzei-chen hinaus emotional bewegen und ein „emphatisches Erinnern“ bewirken. Dazu ordnete Camillo die Bilder in einer amphitheatralischen Konstruktion so an, dass sie das Gedächtnis des Zuschauenden erschütterten. Das auf der Büh-

    ne stehende Publikum sah sich von einen Arrangement von Bildern umgeben; so involviert wurde es gleichsam in das Gedächtnis der Welt hineingezogen. Da das Publikum dabei mnemotechnisch geführt wurde – den Bilder waren Erklärungen beigegeben, die sie zu Serien bzw. zu bedeutsamen Konstellatio-nen zusammenschlossen – konnte das Publikum einen höheren Zusammen-hang erkennen, nach Camillo sogar kosmische Erkenntnis erhalten. Richtig erinnern hieß dann letztlich: „in der Wahrheit sein“.

    Welche Bilder und Geschichten in Camillos Theater und anderen Tempeln der Erinnerung freilich aufgenommen und inszeniert wurden, darüber entschied man zumeist nach Maßgabe des Ruhmes und der Übertreibung; große und wunderbare Taten, Götter und Heroen, kosmische und magische Symbole, die an alle Geheimnisse des Daseins erinnerten, bedienten den herrscherlichen Repräsentationswillen und folgten auch später noch dem bürgerlichen Begeh-ren nach Selbstdarstellung, nach Erhöhung oder, schlichter, nach Stabilität. Die Geschichten, die inszeniert wurden, waren die Geschichten von Siegern, diejenigen, die sie entzifferten und immer wieder lesen oder sehen wollten, reihten sich wie selbstverständlich darin ein.

    Gewaltig ist der Antrieb der Männer,in Erinnerung zu bleibenund sich einen unsterblichen Namenauf ewige Zeiten zu erwerben. (Platon, Symposion)

    Spätestens seit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts – das ist längst ein Gemeinplatz – sind solche Konzepte geschlossener Repräsentation in den Küns ten obsolet. Mnemotechnisch geleitetes Verstehen mit der Ausrichtung auf einen bestimmte Ordnung, nämlich die Ordnung und Geschichte der Sie-ger und damit auf die Bestätigung von Machtwissen ist mehr als fragwürdig geworden. Was von den theatralen Gedächtniskonzepten aber heute in Perfor-mances oder auch Installationen, die sich dem Thema des Erinnerns stellen, aufgenommen wird, ist die Immersion des Beobachters/Zuschauers ins Dar-gestellte. Das heißt: Dieser wird hineingenommen in einen Prozess, in dem

    Mikael Thejll, Ausstellungsinstallationen „Anatomisches Theater“ und„Memorialtheater“ im Nationalmuseet Kopenhagen (1993)

  • 30 31

    1987 Ursula Haas Freispruch für Medea (Roman)

    1985 George Tabori M (Drama)

    1979 Franca Rame/Dario Fo Nur Kinder, Küche, Kirche (Monolog)

    1982 Heiner Müller Verkommenes Ufer. Medeamaterial. Landschaft mit Argonauten (Drama)

    kulturelle Vorstellungen und Bilder fokussiert werden, die nun aber freilich nicht mehr (hierarchisch, ideologisch, linear) im Sinne von Ciceros „erleucht-ender“ Ordnung da stehen, sondern radikal verzeitlicht, in- und übereinander-gestülpt erscheinen. Verzögernd, kontingent, changierend, lösen sie so beim Zuschauer eine Korrosion der Bedeutungen aus, führen von den scheinbaren Gewissheiten ins Unbestimmte. Das Erinnerungsgeschehen insgesamt wird instabil, der Zuschauer wird mit Unschärfen oder Leerstellen konfrontiert oder gerät an eine Schwelle, die zum Anlass einer Revision des kulturellen Gedächt-nisses werden kann.

    Es sind die Unschärfen, die Unvollständigkeit, Kontingenz, die Platz machen für andere Spuren, für affektive Resonanzen im Raum, für Allusionen. Durch diese kann Verborgenes oder auch schon längst Vergessenes in Zwischenzonen aufscheinen. Für den Zuschauer folgt daraus: Er befindet sich nicht mehr in einer Geschichte „über“ etwas, sondern wird selbst Teil von deren Aufzeich-nung.

    Impulse erhalten solche perfomativen Gedächtniskonzepte aus dem kunst- und kulturwissenschaftlichen Bereich. Aby Warburg (1866–1922) hat mit sei-nem monumentalen Mnemosyne-Projekt, das sich mit nichts weniger als dem Nachleben der Antike in unterschiedlichen Bereichen der abendländischen Kultur beschäftigt, eine Revision der Gedächtniskunst vorgelegt. Mit seinen sogenannten „Gespenstergeschichten für Erwachsene“ konzentriert er sich aufÄngste, auf Verdrängtes, das durch die antike Tragödientradition – auch eines Euripides – zum Schweigen gebracht wurde.

    Auf schwarz bespannten Leinwänden – den Tafeln seines Mnemosyne-Atlas’ – hat Warburg Bilder und Dokumente aus verschiedensten Zeiten und Quellen angeordnet. Die Verbindung untereinander ist locker bis enigmatisch, manch-mal sind es physiognomische Ähnlichkeiten, manchmal nur ähnliche Gesten oder Attitüden, die eine Konstellation bestimmen. So enthält z. B. eine Bild-reihe eine antike Darstellung der Medea, den Arm mit dem Mordmesser ver-bergend, eine andere Tafel eröffnet mit Delacroixs berühmter Darstellung der Medea, wie sie mit den Kinder in eine Höhle flüchtet, hat im Mittelpunkt aber Aby Warburg, Mnemosyne-Atlas, Tafel 77

  • 32 33

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1988 Lars von Trier Medea (Film)

    1988 Dagmar Nick Medea, ein Monolog (Monolog)

    eine Golfspielerin aus den 1920 Jahren, die zum Schlag ansetzt. Dazu konstel-liert ist eine Anzeige der „Hapag“ mit dem Versprechen „Sommer, Sonne, Luft und Wasser. Mit der Hapag an die Nordsee“.

    Warburg geht es in seiner Gedächtniskunst nicht um das stabile Bild, eine Funktion in dem Sinne: „Hier ist der Archetyp der Kindsmörderin und so wur-de er fortgeschrieben“, sondern es geht ihm um „bewegte“ Erfahrung, einen Prozess im Raum, um andere, neue Beziehungen zur Vergangenheit. Die War-burgschen Mnemosyne-Tafeln wollen abgeschritten werden, es sind Topogra-phien, in denen die Spannung von Wissen und Nicht-Wissen, Bekanntem und Unbekanntem, Erinnern und Vergessen, Bild und Leere, kultureller Tradition und Alltagswissen neu ausgelotet wird. So geben sie Raum für eine andere Sicht der Dinge.

    Und Medea? Auf Aby Warburgs Gedächtnistafel ist sie zusammen mit der Golf-spielerin zu sehen. Die eine verbirgt den Arm mit dem Messer, die andere hebt den Arm, um den Golfball zu schlagen: ein Ergebnis oder Ausgang bei beiden

    „Schlägen“ bleibt ungewiss. Und es gibt keine Tradition, von der aus sich die Verbindung erklären ließe. Die Offenheit eröffnet den Zwischenraum und zwingt zur Überprüfung des Gedächtnisses. Medea. Kindsmörderin?

    Und Nacht für Nacht ertasten meine Fingerspitzen die feinen Knöchelchen, die ich in jener Höhle unter dem Palast fand, den schmalen Schädel, das kindliche Schulterblatt, die zerbrechliche Wirbelsäule. Iphinoe.

    Christa Wolf

  • 34 35

    1992 Pascal Dusapin Medeamaterial (Oper)

    1992 Gordon Kerry Medea (Kammeroper)

    1990Mikis Theodorakis Medea (Oper)

    1990 Katja Lange-Müller Doch hoffe ich, Medea hört mich nicht (Roman)

    kinDsMörDErin?

    Das Motiv des Kindsmordes in der bei Eur. [Euripides] vorliegenden Form wurde mit großer Wahrscheinlichkeit erst in seiner 431 aufgeführten Tragödie mit M. [Medea] als rächender Täterin verbunden. Schol. Pind. O. 13, 74 g [Pindaros] berichtet dagegen von M.s Versuch, ihren Kindern durch den rätsel-haften Akt des Katakpúnteiv die von Hera versprochene Unsterblichkeit zu sichern, was durch das unzeitige Einschreiten Jasons vereitelt wird. Nach anderer Version (Schol. Eur. Medea 264 [Scholarium Euripides]) tötet M. zwar nicht ihre Kinder, vergiftet aber – aus nicht überliefertem Grund – Kreon; bei der anschließenden Flucht aus Korinth setzt sie die Kinder im Heiligtum der Hera aus, wo sie diese geschützt glaubt, doch die Korinther töten sie. Wie der wissentlich begangene Kindsmord ist auch die Verbindung mit Kreousa, die in der gesamten späteren Überlieferung vorausgesetzt wird, erst in der euripideischen Tragödie faßbar. (Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae)

    Den Kindermord haben dann Neophron und nach ihm vor allem Euripides auf die att. Bühne gebacht, wo er untrennbar mit Medeas Namen in die römische und in die Weltliteratur einging.(Der neue Pauli)

    Es darf seit v. Wilamowitz Herm. [Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff] XV 484ff. als unerschütterliche Tatsache gelten, daß der bekannteste Zug der Medeasage, die Ermordung ihrer Kinder, erst aus dem Werk des Euripides in die Literatur eingegangen ist.(Paulys Realenzyklopädie)

    So kommen die Kinder bei Medeas oder Heras Versuch, sie im Tempel der Hera unsterblich zu machen, ums Leben: eine andere Version besagt, die Korinther hätten die von Medea bei der Flucht im Tempel zurückgelassenen Kinder getötet.(Der neue Pauli)

    Schol. Eur. Med. hat uns eine Polemik erhalten, in der zunächst Parmeniskos zu Worte kommt; danach wollen die Korinther die Herrschaft der Barbarin und Giftmischerin nicht und morden ihre Kinder(7 Knaben und 7 Mädchen) im Heiligtum der Hera Akraia, wohin sie sich geflüchtet hatten. Hungersnot befällt die Stadt und legt sich erst nach Erfüllung des Orakel-Spruches, der jährlich wechselnden Tempeldienst von 7 Knaben und ebensoviel Mädchen aus vornehmen Familien mit Opfern zur Beschwichtigung des Zornes der Göttin und der getöteten Kinder anordnet, ein Kultbrauch, den Parmeniskos noch zu seiner Zeit lebendig bezeichnet. Didymos nun stellt dem den Bericht eines Kreo phylos entgegen, eines für uns in keiner Weise greifbaren Schriftstellers. Medea hat Kreon, den König von Korinth, getötet, sie flieht, läßt jedoch ihre Kinder auf dem Altar der Hera Akraia zurück in der Hoffnung, Iason werde sie schützen. Die Angehörigen des Kreon töten sie aber und verbreiten das Gerücht, Medea selbst habe die Kinder umgebracht.

    […] Kreophylos nahe steht der Pausian, der an eine nach Glauke benannte, am Wege nach Sikyon gelegene Quelle anknüpft, in die sich die Königstochter gestürzt haben soll, um Medeas Zauber zu entgehen. In der Nähe ist auch ein Denkmal für Medeas Kinder zu sehen gewesen, die von den Korinthern wegen des Überbringens der verhängnisvollen Gaben an Glauke gesteinigt worden waren.(Paulys Realenzyklopädie)

    Begräbnis der Kinder im Heraheiligtum und Heroenehrung auf Weisung des Orakels erwähnt auch Diodor IV 55,1, wo im übrigen die euripideische Version befolgt ist.(Paulys Realenzyklopädie)

    An wahrscheinlichsten ist es, daß Euripides eine Legende vorfand, die sich an die mit einem Kultus ausgezeichneten Gräber der Medeiakinder im Haine der Hera knüpfte, wonach Medeia bei dem Versuche, sie unsterblich zu machen, die eigenen Kinder tötete; Euripides oder sein Vorgänger würde das Motiv der Eifersucht und die damit zusammenhängende Erzählung von Kreon und seiner Tochter dazu erfunden haben. (Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie)

  • 36 37

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1995 Rolf Liebermann Freispruch für Medea (Oper)

    1996 Christa Wolf Medea Stimmen (Roman)

    … die, dem Vater zuwider, sich Vermählung bereitende Medeia, die Retterin des Schiffes Argo und seiner Diener.

    [Jason], Sohn des Aison, daß er von Medea nähme die Scheu vor den Eltern, und die Sehnsucht nach Hellas sie brennenden Herzens umtrieb mit der Peitsche der Verlockung. Alsbald wies sie ihm Wege, zu durchkreuzen des Vaters Prüfungen; mit Öl bereitete sie Wurzelsäfte als Gegenmittel gegen harte Schmerzen, und gab sie ihm, sich zu salben. Sie kamen überein, gemeinsam eine süße Verbindung untereinander zu mischen.

    Pindar

    Maria Callas als Medea in Pier Pasolinis Film „Medea“ (1969)

  • 38

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    39

    1997 Ljudmila Ulitzkaja Medea und ihre Kinder (Roman)

    1997 Andreas Staudinger Medea Good Girl (Drama)

    „io? MEDEA!“ oDEr: MAriA cAllAs Als MEDEABe atrix Bor charD

    Keine andere Opernsängerin ist so stark mit der Figur der MEDEA verknüpft wie Maria Callas. Das hat natürlich zunächst damit zu tun, dass sie Cherubinis Oper Médée aus dem Jahre 1797 wieder zum Bühnenleben erweckt hat (1953 in Florenz), und zwar zu einer Zeit, als Frauen sittsam und rein abends auf ihren sie ernährenden Ehemann zu warten hatten. Zudem galt sie dank ihrer stimmlichen und darstellerischen Ausdrucksskala sowie der Tatsache, dass sie zwar in den USA aufgewachsen war, aber aus einer griechischen Familie stammte, als besonders authentische Darstellerin. Dann gab es schließlich den Pasolinifilm (1969), ein radikaler Bruch mit den Erwartungshaltungen des Publikums an das, was man sich gemeinhin unter MEDEA vorstellte, nämlich eine wild um sich schlagende Furie. Nicht nur, dass die berühmteste Sängerin dieser Zeit in diesem Film nicht sang, auch ihre Interpretation der Hauptfigur jenseits aller herkömmlichen Moralvorstellungen als archaische Gestalt sorgte für Irritationen. Geradezu anrührend die Mordszene: Sanft und leise lächelnd mit sparsamen Bewegungen entkleidet sie erst den jüngsten, dann den älteren Sohn, wäscht sie, hüllt sie in ein Tuch, trocknet sie ab und zieht ihnen ein Nachthemd über, dann nimmt sie erst das eine, dann das andere Kind auf den Schoß und wiegt es in den Schlaf. Im Hintergrund ist ein archaisch anmuten-der Gesang zu hören, der den rituellen Charakter der Szene unterstreicht. Vor dem ersten Mord wird nur kurz ein reichverziertes Messer eingeblendet. Vor dem zweiten schweigt die Musik, man sieht Medeas Hand nach dem Messer greifen. Was für eine Szene! MEDEA nimmt die Kinder in ihren Schoß zurück. Wir sehen kein denaturiertes Weib, sondern eine liebende Mutter, die Leben gibt und Leben nimmt. Beide Kinder liegen wie schlafend da.

    Man kann diese Verkörperung von MEDEA als eine Vorwegnahme von Christa Wolfs Medea Stimmen (1996) begreifen. Vielleicht jedoch haben

  • 40 41

    2000 Doris Gercke Dir Frau vom Meer (Roman)

    2001 Rolf Liebermann Medea (Oper)

    2001 Tom Lanoye Mamma Medea (Drama)

    1999 Jean Renshaw Medea (Ballett)

    1999 Dea Loher Manhattan Medea (Drama)

    Pasolini und Maria Callas nur Cherubinis Musik zweihundert Jahre zuvor genau gelesen. Cherubinis Oper macht die menschliche Tragödie einer Außen-seiterin hörbar, deren schlußendliche Rache Ergebnis ihrer emotionalen und gesellschaftlichen Ausgrenzung ist – selbst im Kindermord ist sie noch Mutter, selbst in ihrem Zorn noch liebende Frau.

    Diese Arie ist mörderisch. Sie ist schwierig am Anfang, und am Ende ist sie noch schwieriger. Bevor Sie das Stück singen, sollten Sie es analysieren, mit kühlem Kopf. Finden Sie heraus, wo die Probleme liegen und wie sie zu lösen sind. Achten Sie besonders auf den Rhythmus, studieren Sie ihn so ein, als würde Sie eine schwierige Passage auf dem Klavier üben, langsam, überaus sorgfältig. Versuchen Sie sich nicht an äußerlicher Leidenschaft, bevor Sie das Stück nicht verinnerlicht haben. Leidenschaft ohne Intellekt ist in der Oper nicht gut; sie sind dann ein wildes Tier, aber kein Künstler. (Maria Callas zu der Arie „Dei tuoi figli“,1. Akt. In: John Ardoin (Hrsg.), Maria Callas: Meine Meisterklasse. Ein Übungsbuch für Sänger, Berlin 2002)

    Maria Callas hat Cherubinis Medée mehr als 30 Mal gesungen, es gibt fünf Livemitschnitte (Florenz 1953, Mailand 1953, Dallas 1958, London 1959 und wieder Mailand 1961) und eine Studioproduktion (1957). Was alle Aufnahmen miteinander verbindet, ist eine „Expressivität von äußerster Radikalität“. Medea oder Stimme des Abgrunds, so überschreibt Jürgen Kesting in seinem Callas-Buch das Medeakapitel.

    Maria Callas – leidend und groß wie die Operngestalten, deren vollkommenste Verkörperung sie war – der Norma, der Medea, der Anna Bolena, der Lucia, der Elvira (...) läßt sich nicht allein begreifen als Sängerin. Vielmehr ist sie, wie die von ihr dargestellten Figuren, ein Opfer gewesen, und ihr triumphaler Leidensweg ist im Verlauf der Jahrzehnte zu einem Kunstmythos stilisiert worden. (Jürgen Kesting, Maria Callas 1990)

    Musikalisch gesehen, war Maria Callas ein ungewöhnlich vielseitiges Talent, sie sang Rollen so unterschiedlicher Couleur wie kaum eine andere Sängerin vor oder nach ihr. Und dennoch: Es ist bezeichnend, dass ihre wohl Maria Callas in Cherubinis „Medea“ (Teatro alla Scala 1961)

  • 42 43

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    2002 Georg Katzer Medea in Korinth (Oratorium)

    2003 Michèle Reverdy Médéé (Oper)

    2005 Christoph Hein Das goldene Vlies (Erzählung)

    berühmtesten und am häufigsten gesungenen Rollen, die Norma, die Medea und die Tosca, tragische Rollen sind, die eine große Bandbreite von Emotionen beinhalten – oft Verzweiflung, Trauer, Wut – gesellschaftlich gerade bei Frauen tabuisierte Gefühle, die im Alltag nicht ausagiert werden dürfen und denen die Callas auf der Bühne nach übereinstimmender Beurteilung vieler Kritiker darstellerisch und stimmlich einen erschütternden Ausdruck verlieh, der niemanden unberührt ließ. Zahlreiche Schallplattenaufnahmen, vor allem die Livemitschnitte ihrer Auftritte lassen dies bis heute erahnen. Das gilt auch für die erhaltenen „Medea“-Mitschnitte, vor allem den Mitschnitt einer Auffüh-rung an der Mailänder Scala mit dem in dieser Oper debütierenden Leonard Bernstein aus dem Jahre 1953.

    Man höre nur, wie Maria Callas gefragt, wer sie sei, singt/spricht/artiku-liert „Io? Medea!“ – Ich bin Medea! In dieser kurzen Phrase ist bereits die ganze Oper enthalten, die mehr ist als eine musikalische Erzählung von einer Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde und daraufhin ihre gemeinsamen Kinder ermordet. In dem Moment, in dem MEDEA sich besinnt, wer sie ist, verlieren alle gesellschaftlichen, darunter vor allem geschlechtsspezifische Zuschreibungen ihre Kraft. Ecce homo!– seht her, ein Mensch!

  • 44 45

    2006A. FilettaMedea (Chorbearbeitung)

    2007 Frank Schwemmer Medea (Kammeroper)

    2007 Nino Haratischwili Mein und dein Herz. Medeia (Drama)

    proVokAtion MEDEAprojekt zuM „forschenDen lernen“ an Der hochschule für Musik unD the ater

    Das Projekt „Provokation Medea“ unter der Leitung von Prof. Dr. Beatrix Borchard (Musikwissenschaft), Dr. Bettina Knauer (Literaturwissenschaft) und Prof. Dominik Neuner (Regie), das sich der Arbeit am Mythos Medea resp. dem „Fall Medea“ widmete, erstreckte sich über knapp vier Semester und fand in Kooperation mit der Körber-Stiftung statt. Es findet nun seinen Abschluss in dieser Uraufführung. Die Uraufführung hat sich aus der Arbeit an dem wissen-schaftlich-künstlerischen Projekt entwickelt. Sie versteht sich als Darlegung, Veranschaulichung und klangräumliche Vertiefung einer der jüngsten litera-rischen Auseinandersetzungen mit dem Mythos Medea durch Christa Wolf.

    In interdisziplinären Seminaren für Studierende aller Fachrichtungen wurden im Sommersemester 2007 zunächst historische und rezeptionsgeschichtliche Aspekte des Medea-Mythos erarbeitet. Im Wintersemester 2007/08 und im Sommersemester 2008 wurde die wissenschaftliche Arbeit mit künstlerischen Umsetzungsversuchen verzahnt. Dabei entstanden verschiedene Formate – Tanztheater („Medeamord“ von Kerstin Steeb), Sprechtheater („Ich träumte von Medea“ von Tine Topsoe), ein inszeniertes Konzert („Alte Musik im Dialog mit Medea“ von Hanna Zumsande und Danka Nikolic) –, die die Studierenden im Museum für Kunst und Gewerbe sowie in der Hochschule für Musik und Theater präsentierten. Konzeption und Ausführung lagen dabei ausschließlich in den Händen der Studierenden, die in Seminaren, Workshops und im regu-lären Einzelunterricht intensiv begleitet wurden.

    Das „forschende Lernen“ umfasste gleichermaßen Studium, Forschung und Aufführungspraxis an der Hochschule. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten so Erfahrungen mit einem von vornherein transdisziplinär angelegten Lernen und Lehren unter einer praktisch-experimentellen Perspektive der über die engen Semestergrenzen hinaus zu verwirklichenden Projekte sammeln.

  • 46 47

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    ImpressumRedaktion: Dr. Bettina Knauer, Esther KaufmannRechte: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs

    GmbHGestaltung: Veronika Grigkar, grigkar.deDruck: diedruckerei.de

    TextnachweiseHans Blumenberg, Arbeit am Mythos. Frankfurt

    a. M. 1996. S. 303.Christa Wolfs Medea. Vorraussetzungen zu einem

    Text. München 2000. S. 26, 31f., 34f., 36, 40, 44f.Euripides, Medea. Übersetzt und hrsg. Von Karl

    Heinz Eller. Stuttgart 1983. 1. Epeisodion.René Girard, Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt

    a. M. 1992. S. 33, 58.Walter Burkert, Homo Necans: The Anthropology

    of Ancient Greek Sacrificial Ritual and Myth. Berkeley 1983. S. 3.

    Thomas Fontaine, Blutrituale und apollinische Schönheit. Grausame vorgeschichtliche Opferpraktiken in der Mythenwelt der Griechen und Etrusker In: Hans-Peter Kuhnen und Frank Unruh (Hrsg.), Morituri: Menschenopfer, Todgeweihte, Strafgerichte. Trier 2000. S. 49.

    Sonja Hilzinger (Hrsg.), Christa Wolf, Medea Stimmen: Roman. Voraussetzungen zu einem Text. München 2001. S. 96f.

    Margot Schmidt, Medeia. In: Nikolaos Gialur_s, Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae Band 6.2. Zürich, München u. a. 1992. S. 386–398, hier: S. 386.

    Paul Dräger, Medeia. In: Hubert Cancik und Helmuth Schneider (Hrsg.), Der Neue Pauly. Stuttgart 1999. Z. 1091–1093, hier Z. 1092 und 1093.

    K. Seelinger, Medeia. In: Wilhelm Heinrich Roscher: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Bd. 2, Abt. 2: Laas – Myton. Leipzig 1894–1897. Z. 2482–2515, hier Z. 2494.

    Albin Lesky, Medeia. In: Georg Wissowa u. A. (Hrsg.); August Pauly, Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Reihe 1],15,[1]=Halbband 29, Stuttgart 1931. Z. 30–66, hier Z. 43 und 44.

    Pindar, Dreizehnter Olympischer Siegesgesang auf Xenophon, den Korinther, Sieger im Wettlauf und Fünfkampf. In: J. Gurlitt, Pindars Olympischer Siegesgesänge. Hamburg 1809. S. 18.

    Pindar, 4. Pythische Ode: Für Arkesilaos aus Kyrene, Sieger mit dem Wagen. In: Dieter Bremer (Hrsg.); Pindar: „Siegeslieder“. München 1992. S. 159.

    John Ardoin (Hrsg.), Maria Callas: Meine Meister-klasse. Ein Übungsbuch für Sänger. Berlin 2002. S. 46.

    Jürgen Kesting, Maria Callas. Düsseldorf 1990. S. 15.

    BildnachweiseMedea mit den Kindern. In: Nikolaos Gialurēs,

    Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae Band 6.2. Zürich, München 1992. S. 195.

    Partitur Copyright Leopold HurtBild der gefesselten Kinder. In: Wijnand van der

    Sanden, Vereeuwigd in het veen. De verhalen van de Noordwest-Europese veenlijken. Amsterdam 1996. S. 93.

    Opfervase. Paris, Bibliothèque Nationale Inv. 920. In: Hans-Peter Kuhnen und Frank Unruh (Hrsg.), Morituri. Trier 2000. S. 62.

    Mikael Thejll, Memorialtheater. In: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hrsg.), Wunderkammer des Abendlandes. Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit. Bonn 1994. S. 27.

    Mnemosyne-Tafel 77. In: Martin Warnke (Hrsg.), Aby Warburg, Der Bilderatlas Mnemosyne (= Aby Warburg, Gesammelte Schriften. Abt. 2, Bd. 1). Berlin 2000. S. 129.

    Kinderskelett. In: Michael Rind, Menschenopfer: Vom Kult der Grausamkeit. Regensburg 1998. S. 170.

    Maria Callas als Medea. In: Jürgen Kesting, Maria Callas. Düsseldorf 1990. S. 96 a.

    Szenenfotos: Copyright Hochschule für Musik und Theater Hamburg.

  • 48

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    1926 Künstlername „Werktitel“ (Blindtext)

    Hochschule für Musik und Theater

    Eine Produktion der Hochschule für Musik und Theater Hamburg