MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on...

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LV-Nr. 315.037, WS 2010/11 SE: Tendenzen der 1960er Jahre in den USA: Fluxus, Minimal Art, Konzeptkunst Leiter: Dr. Eckhard Leuschner Fachbereich für Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft UNIVERSITÄT SALZBURG MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“ Philipp Dollwetzel Matrikelnr.: 0820518 14.01.2011

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Donald Judd gab 1965 mit der Veröffentlichung seines Aufsatzes Specific Objects im ArtsYearbook 8 den Anstoß zu einer intensiven Diskussion der Merkmale von minimalerKunst. Morris' vierteilige Aufsatzreihe Notes on Sculpture, die zwischen 1966 und 1969im Artforum erschien, wird als direkte Reaktion auf Judds Publikation betrachtet.Morris entwickelte in diesen Texten eine Kunsttheorie der Minimal Art, die in gewissenPunkten Judds Ansichten widerspricht. Beide Künstler konnten durch ihre Schriften dieInterpretation der Minimal Art maßgeblich prägen und somit sind ihre Theorien nichtnur für das Verständnis ihrer Arbeiten bedeutsam.

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LV-Nr. 315.037, WS 2010/11SE: Tendenzen der 1960er Jahre in den USA: Fluxus, Minimal Art, KonzeptkunstLeiter: Dr. Eckhard LeuschnerFachbereich für Kunst-, Musik- und TanzwissenschaftUNIVERSITÄT SALZBURG

MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

Philipp DollwetzelMatrikelnr.: 0820518

14.01.2011

Page 2: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

Inhalt

1 Einleitung............................................................................................................... 3

2 Publikationen zum Thema..................................................................................... 3

3 Fragestellung und Methodik.................................................................................. 4

4 Specific Objects und Notes on Sculpture 1-3 im Vergleich................................... 5

4.1 Donald Judd: Specific Objects........................................................................ 5

4.1.1 Inhalt des Aufsatzes................................................................................ 6

4.1.2 Was sind spezifische Objekte?................................................................ 11

4.1.3 Warum macht Claes Oldenburg spezifische Objekte?............................ 11

4.1.4 Sind Judds Werke spezifische Objekte?.................................................. 12

4.1.5 Kritik an Specific Objects....................................................................... 13

4.2 Robert Morris: Notes on Sculpture, Part 1-3.................................................. 13

4.2.1 Inhalt der Schriften und Morris' Ansichten............................................. 15

4.2.2 Kritik an Notes on Sculpture................................................................... 21

4.3 Zusammenfassender Vergleich....................................................................... 21

5 Schlussbetrachtung................................................................................................ 23

6 Literaturverzeichnis............................................................................................... 24

7 Abbildungsverzeichnis........................................................................................... 26

8 Anhang................................................................................................................... 28

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1 Einleitung

Heutzutage sprechen wir wie selbstverständlich von Pop Art, Op Art, Colorfield

Painting und Minimal Art, doch mindestens bis zur Mitte der sechziger Jahre existierte

noch keine klare Unterscheidung zwischen diesen diversen nach 1945 in den

Vereinigten Staaten entstandenen Kunstformen.1 Da jedoch all diese Stile

offensichtliche Gemeinsamkeiten besitzen, waren die Künstler um so mehr bemüht, sich

von einander abzugrenzen und ihre eigenen Motive darzulegen.2 Aus diesem Grund war

die Szene durch intensive, polemische Diskussion und Konkurrenz geprägt. Kritiker wie

Künstler äußerten sich in Zeitschriftenartikeln über ihre Ansichten.3 Donald Judd (1928

– 1994) und Robert Morris (*1931) gehörten in diesem Zusammenhang zu den

zentralen Vertretern der sogenannten Minimal Art. Ihr Einfluss begründete sich nicht

allein auf ihren Werken, sondern im besonderen Maße auch auf ihren Texten. Donald

Judd gab 1965 mit der Veröffentlichung seines Aufsatzes Specific Objects im Arts

Yearbook 8 den Anstoß zu einer intensiven Diskussion der Merkmale von minimaler

Kunst. Morris' vierteilige Aufsatzreihe Notes on Sculpture, die zwischen 1966 und 1969

im Artforum erschien, wird als direkte Reaktion auf Judds Publikation betrachtet.4

Morris entwickelte in diesen Texten eine Kunsttheorie der Minimal Art, die in gewissen

Punkten Judds Ansichten widerspricht. Beide Künstler konnten durch ihre Schriften die

Interpretation der Minimal Art maßgeblich prägen und somit sind ihre Theorien nicht

nur für das Verständnis ihrer Arbeiten bedeutsam.5

2 Publikationen zum Thema

Bereits 1972 hat sich Jutta Held in einem Aufsatz mit beiden Texten beschäftigt und den

Bezug zur Gestalttheorie wie auch den Zusammenhang mit der amerikanischen

Industriegesellschaft untersucht.6 Da die Theorien von Judd und Morris heute zum

Grundkanon der Minimal Art gehören, werden ihre Positionen in Überblickswerken

zum Thema oft aufgegriffen, ohne aber detailliert besprochen zu werden. Frances

Colpitt behandelt in einem Kapitel ihres Buches Minimal Art - The Critical Perspective

1 Perica 2004, X. - Bis heute fehlt eine genaue Definition von Minimal Art und eine einstimmigeZuordnung von einzelnen Künstlern zu der Strömung (Perica 2004, 16-17).

2 Meyer 2001, 45-47, 50, 55-56. - Colpitt bezeichnet diese Zeit als „terminological warfare of thesixties" (Colpitt 1990, 112).

3 Meyer 2001, 45-48; Colpitt 1990, 101.4 Meyer 2001, 4, 7.5 Seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Kommentar des Künstlers zu seinem Werk oftmalsessentieller Teil des Kunstwerkes (Perica 2004, II-III).

6 Held 1972, 660-677.

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(1990) die theoretischen Aspekte der Minimal Art. Die Positionen von Judd und Morris

werden dort in einem größeren Rahmen betrachtet und die Konkurrenz nur in einigen

speziellen Punkten angesprochen.7 Auch David Batchelor (1997) und Constanze von

Marlin (2005/2008) erwähnen die jeweiligen Ansichten im größeren Kontext und

reduziert auf ihre Kerngedanken.8 James Meyers Minimalism - Art and polemics in the

sixties von 2001 dreht sich speziell um die Polemik, die die Minimal Art mit sich

brachte. Er widmet Specific Objects und Notes On Sculpture jeweils ein Kapitel und

geht sehr detailliert auf die einzelnen Texte ein. Meyer betont die starke Rivalität

zwischen Judd und Morris und die Gegensätzlichkeit ihrer Ansichten.9 Zu erwähnen ist

noch eine Dissertation von Blazenka Pericas (2004), in der sie das Verhältnis zwischen

Judds Theorie und seinen Werken untersucht und Unstimmigkeiten herausgearbeitet

hat.10

3 Fragestellung und Methodik

Über die kunstgeschichtliche Bedeutung der oben genannten Schriften wurde bereits

ausgiebig geschrieben und so liegt der Fokus dieser Arbeit weniger auf dem

historischen Kontext, sondern auf der konkreten Argumentation und den

unterschiedlichen Standpunkten von Judd und Morris. Welche Ansichten werden

vertreten? Wie wird argumentiert? Welche Folgen ergeben sich? Wie reagiert Morris auf

Judd? Der Chronologie folgend wird zuerst Specific Objects und daraufhin in derselben

Weise Notes on Sculpture, Teil 1-3 besprochen und schließlich verglichen.11

7 Colpitt 1990, 101-132.8 Batchelor 1997, 14-27, 38-45; Marlin 2008, 43-45, 99-112.9 Meyer 2001, 134-141, 153-166.10 Perica 2004, 13-18.11 Im vierten Teil von Notes on Sculpture distanziert sich Morris von seinen vorherigen Äußerungen,indem er die Objekte nun von der Skulptur abgrenzt. Die Objekte hätten das Ende der Skulptur undeinen künstlerischen Neubeginn markiert (Morris, Notes 4, 1969, 63-64). Er geht in dem Text mit demUntertitel „Beyond Objects“ somit über die Objekte hinaus und beschreibt eine Kunst, die denProduktionsprozess betont (Morris, Notes 4, 1969, 65-66; vgl. Titz/Krümmel 2010, 8). Da der Aufsatzdamit weiterführend und nicht mehr Teil des Diskurses um das Objekt der Minimal Art ist, wird erhier nicht weiter behandelt.

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4 Specific Objects und Notes on Sculpture 1-3 im Vergleich

4.1 Donald Judd: Specific Objects

Specific Objects von 1965 ist Donald Judds bekanntester Aufsatz.12 Laut eigenen

Angaben hat er ihn bereits 1964 verfasst.13 Judd war zu dieser Zeit bereits ein

einflussreicher Kritiker.14 Die Schrift wird bis heute als Grundlegung seiner

Kunsttheorie betrachtet, was Judd selbst aber energisch ablehnte.15 Er sei schlicht

beauftragt worden, einen Bericht über die gegenwärtige Situation in der Kunstszene zu

verfassen.16 Doch es ist offensichtlich, dass es sich nicht um eine neutrale und rein

deskriptive Schilderung handelt. Die Auswahl der zeitgenössischen Künstler ist selektiv

und der normativer Charakter deutlich erkennbar.17 Es handelt sich hauptsächlich um

Künstler aus den Vereinigten Staaten, nur wenige Europäer werden genannt. Sich selbst

und auch wichtige Zeitgenossen wie Carl Andre oder Sol LeWitt erwähnt er nie, dafür

aber Robert Morris und Dan Flavin.18

Judd interpretiert die Kunstwerke seiner Kollegen nach seinen Kriterien und

unterschlägt dadurch gewisse Aspekte. Obwohl Judd selbst jede Klassifizierung und

Kategorisierung nach Stilen und Richtungen ablehnte,19 beurteilt er in Specific Objects

die Kunstwerke gemäß ihrer Relevanz für die neue Kunstrichtung.20 Seine Kriterien

12 Zuerst veröffentlicht in Arts Yearbook 8 (1965), 74-82. Der Aufsatz wurde mehrfach ins Deutscheübersetzt. Englisch mit deutscher Übersetzung in Vries, Gerd de (Hg.): Über Kunst/On Art, Köln1974, 120-135. Dann englisch in Donald Judd. Complete Writings 1959-1975, Halifax/New York1975, 181-189. Deutsche Teilübersetzung von Peter Stephan in Rowell, Margit (Hg.): Skulptur im 20.Jahrhundert, München 1986, 299-303. Erneuter englischer Abdruck in Harrison, Charles, Wood, Paul(Hgg.): Art in Theory 1900-1990. An Anthology of Changing Ideas, Oxford/Cambridge 1992, 809-813. In deutscher Übersetzung von Christoph Hollender in Stemmrich, Gregor (Hg.): Minimal Art.Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel 1995, 58-73. Auszugsweise in Stiles, Kristine, Selz, Peter(Hgg.): Theories and documents of contemporary art. A sourcebook of artists' writings, Berkeley/LosAngeles/London 1996, 114-117. Und nochmals vollständig auf Deutsch in Harrison, Charles:Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Ostfildern 1998, 997-1002.

13 Perica 2004, VIII. - Judds Specific Objects erschien in dem Jahr, in dem Richard Wollheim denBegriff 'Minimal Art' prägte (Held 1972, 660).

14 Perica 2004, I.15 Stemmrich hat deshalb seinem Buch Judds Aufsatz dem Kapitel „Künstler über ihre Kunst“zugeordnet. Perica hat auf darauf hingewiesen, dass er in dem Artikel nicht über sich spricht, sondernüber andere Künstler (Perica 2004, 1).

16 Perica 2004, 1-2; Meyer 2001, 134. - „'Despite what people thought,' he later told Lippard, 'SpecificObjects' was not supposed to be 'a doctrinaire, or dogmatic, or definitive, or anything article.' Theeditors at Arts Magazine had requested a survey of 'what they called a 'big bunch of three-dimensionalart,'' and this became the essay's subject." (Meyer 2001, 134.) Auf die Frage, ob er mit dem Aufsatzseine eigene Situation beschreibe, antwortete Judd in einem Interview: „I don't know“ (Zit. n. Perica2004, 1).

17 Es werden über vierzig verschiedene Künstler genannt, über die Judd zum Großteil bereits Kritikenverfasst hat (Batchelor 1997, 16).

18 Perica 2004, X.19 Perica 2004, I-II. - So lehnte er auch die Bezeichnung 'Minimal Art' ab (ebd.).20 Marlin 2008, 43; Meyer 2001, 134-135, 139. - Die Arbeiten von Yayoi Kasuma betrachtet er reinformal und ohne Beachtung der Anspielungen (Meyer 2001, 135). Duchamps ready-mades lobt er nurhinsichtlich der Möglichkeit, sie auf einmal zu erfassen (Meyer 2001, 139).

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wendet Judd im Text teils subtil, teils direkt erkennbar an. Er argumentiert für eine

Kunst frei von Mehrdeutigkeit und subjektivem Aufbau.21

4.1.1 Inhalt des Aufsatzes

Der Essay beginnt mit einer Feststellung: „Mindestens die Hälfte der besten neuen

Arbeiten, die in den letzten Jahren entstanden sind, gehört weder zur Malerei noch zur

Skulptur."22 Diese „neuen dreidimensionalen Arbeiten" besäßen untereinander sowohl

Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten und einige Merkmale, die in der bisherigen

Malerei und Skulptur nicht vorhanden seien. Diese eher wenigen und allgemeinen

Gemeinsamkeiten seien aber nicht hinreichend, um von einer neuen „Bewegung, Schule

oder Stilrichtung“ zu sprechen, denn es gebe keine gemeinsamen, bedingenden

Grundprinzipien.23 Das wesentliches Merkmal all dieser Werke sei ihre

Dreidimensionalität. Durch sie versuchten sie sich von Malerei und Skulptur

abzugrenzen, denn in der Malerei und in der Skulptur sei die Dreidimensionalität nur

ein „Behälter“ und hier sei sie nun konkret und eröffne „alle Möglichkeiten“.24 Obwohl

die neuen Werke mehr der Skulptur ähnelten als der Malerei, seien sie aber der Malerei

näher.25

Die neue Dreidimensionalität beruhe auf einer positiven wie negativen Kritik der

althergebrachten Skulptur und Malerei. Die ablehnenden Gründe seien dabei die

stärksten Triebfedern. Diese Kritik sei aber nicht historisch rückwirkend. „Neue

Arbeiten bringen immer Einwände gegenüber dem Alten mit sich, doch sind solche

Einwände nur für das Neue wirklich relevant."26 Es sei zudem offensichtlich, dass

21 Meyer 2001, 56.22 Judd 1965, 59. - Perica hat darauf hingewiesen, dass damit die neuen Arbeiten nicht nur „wederMalerei, noch Skulptur“, aber auch „sowohl Malerei, als auch Skulptur“ sind (Perica 2004, 9).

23 Judd 1965, 5924 Judd 1965, 6025 Judd 1965, 64. - „Es handelte sich tatsächlich eher um eine Verräumlichung der bildhaften,malerischen Qualitäten als um die skulpturale Raumdefinierung, wie dies die traditionelle Plastikpraktizierte.“ (Perica 2004, 3.)

26 Judd 1965, 60

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Malerei und Skulptur durch die neuen Arbeiten nicht abgelöst werden können.27 „Einige

Dinge sind nur auf einer flachen Oberfläche zu bewerkstelligen.“28

Weshalb sind nun die neuen Arbeiten besser als Malerei und Skulptur? „Die neuen

Arbeiten übertreffen die Malerei an schierer Kraft, doch Kraft ist nicht der einzige

Gesichtspunkt, auch wenn der Unterschied zwischen Kraft und Ausdruck nicht allzu

groß sein dürfte."29 Judd drückt sich hier sehr vage aus. Das Kriterium ist Kraft, wobei

er 'Kraft' und 'Ausdruck' gleich setzt; wohl spricht er schlicht von Ausdruckskraft.

„Was vor allem an der Malerei nicht stimmt, ist die Tatsache, daß es eine rechteckige

Fläche ist, die flach auf die Wand gesetzt wird. Ein Rechteck ist selbst eine Form,

offensichtlich eine ganze Form; es bestimmt und begrenzt alles, was auf oder in ihm

geordnet ist.“30 In allen Arbeiten vor 1946 würden die Kanten des Rechtecks die Grenze

des Bildes markieren (Abb. 1). Die Komposition müsse auf diese Ränder abgestimmt

sein, „ohne daß dabei die Form des Rechtecks betont würde; die Teile sind wichtiger,

und die Beziehungen zwischen Farbe und Form treten zwischen ihnen auf.“31

In neueren Arbeiten32 (Jackson Pollock, Mark Rothko, Clyfford Still, Barnett Newman,

Ad Reinhardt und Kenneth Noland) werde nun die Form des Rechtecks betont, indem

große und einfache Formen im Bild unmittelbar mit dem Rechteck korrespondieren

(Abb. 2).33 Hierdurch werde das Bild beinahe „eine Entität, ein einziges Ding und nicht

27 Judd 1965, 60. - Indem Judd behauptet, dass „sich die lineare Geschichte ein wenig zerfasert" hat,scheint er auf einen Stilpluralismus anzuspielen (Judd 1965, 60). Doch gleichzeitig präsentiere er, wiePerica behauptet, „die Ideen des der Moderne immanenten Fortschritts, der Neuerung und derEntwicklung“ (Perica 2004, 2). Der Widerspruch, den sie hier andeutet, liegt streng genommen nichtvor, denn Fortschritt wird stets hinsichtlich eines Zwecks definiert, was bedeutet, dass es auch beieinem Stilpluralismus Fortschritt vorhanden sein kann, nämlich genau dann, wenn in den einzelnenTeilgebieten eine lineare Entwicklung vorliegt. Spricht man von einem Fortschritt der Kunst, dannspricht man vom Fortschritt aller Formen der Kunst, womit oftmals ein Fortschreiten vom Primitivenzum Modernen gemeint ist. Judd spricht von Entwicklungen bestimmter, konkreter Kunstformen,nämlich Malerei und Skulptur, und nicht von aller Kunst. Auch behauptet Perica: „Judd kündigte stetsan, wie unabdingbar es sei, daß das Neue das Alte ablöse.“ Seine Äußerungen in Specific Objectslassen dies so nicht erkennen.

28 Judd 1965, 61. - Als Beispiel nennt Judd hier „Liechtensteins Darstellung einer Darstellung“ (ebd.).29 Judd 1965, 60-61.30 Judd 1965, 61.31 Judd 1965, 61.32 Vorläufer der neuen Kunst seien Werke von Hans Arp, Constantin Brancusi und Marcel Duchamp,doch den wirklichen Anfang bildeten Robert Rauschenberg und Jasper Johns mit ihren Assemblagen,Flachreliefs und gegossenen Arbeiten (Judd 1965, 65-66). - Duchamps Arbeiten seien wegen derAnspielung noch nicht spezifisch (Judd 1965, 65). - Siehe hierzu auch Meyer 2001, 139.

33 Judd 1965, 61. - Vor allem Stellas Werke hätten wichtige Merkmale mit den neuen Arbeiten gemein.Die Linien im Inneren des Bildes korrespondieren mit den umgebenden Formen und würden nie zuEinzelelementen. Der Abstand zwischen Bildrahmen und Wand ist größer als üblich, aber parallel zuWand. Es herrsche Vereinheitlichung und kaum Raumwirkung. Die Fläche werde deutlich. DieOrdnung sei einfach und kontinuierlich („eine Sache nach der anderen“). „Die Formen, die Einheit,Projektion, Ordnung und Farbe sind spezifisch, aggressiv und kraftvoll.“ (Judd 1965, 67.)

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die undefinierbare Summe einer Gruppe von Entitäten und Bezügen.“34 Dies nennt Judd

„Sinn für Einssein (singleness)“.35 Die einfache Rechteckform sei nun nicht mehr

neutrale Begrenzung.36 Dieses Ergebnis könne nur durch Verwendung dieser einfachen

Formen erreicht werden, die Gestaltungsmöglichkeiten seien daher begrenzt.37

Neben der Form des Rechtecks werde nun auch die Fläche betont, sie stehe „nahezu für

sich“.38 Ein Bild sei im Grunde eine Fläche mit einem gewissen Abstand parallel zu

einer anderen Fläche, nämlich der Wand. „Das Verhältnis zwischen beiden Flächen ist

spezifisch; es ist eine Form.“39 Um diese Behauptung zu verstehen, muss zuerst die

Bedeutung von 'spezifisch' erklärt werden. Etwas, das spezifisch ist, kommt einer Sache

ihrer Eigenart gemäß zu. Ein spezifisches Merkmal ist arteigen, kennzeichnend und

eigentümlich. Damit wird eine Eigenschaft beschrieben, die als Kriterium verwendet

werden kann, um ein Ding von anderen abzugrenzen. Das Verhältnis von zwei Flächen

ist nach Judd also spezifisch. Dies ist nachvollziehbar, denn entfernt man den Abstand

zwischen zwei Flächen, dann fallen beide zusammen und es kann nicht mehr von einer

Form gesprochen werden. Der Abstand zwischen zwei Flächen ist also in dem Sinne

spezifisch, dass erst durch ihn von einer dreidimensionalen Form gesprochen werden

kann.

Fast alle Bilder würden in irgendeiner Art Raum suggerieren. Es gebe nur wenige

Ausnahmen, so seien die blauen Bilder von Yves Klein nicht räumlich und Stellas

Arbeiten „fast unräumlich“.40 „Alles auf einer Fläche hat hinter sich Raum. Zwei Farben

auf derselben Fläche befinden sich fast immer in verschiedenen Tiefenebenen.“41 Wenn

zwei Farben auf einer Fläche angewendet werden, suggeriert dies Räumlichkeit

dadurch, dass eine Farbe zum Umraum der anderen wird.42 Generell sei die

34 Judd 1965, 62.35 Judd 1965, 62.36 Diese Einschätzung teilt auch Morris mit Judd (Morris, Notes 4, 1969, 62).37 Judd 1965, 62.38 Judd 1965, 62.39 Judd 1965, 62.40 Judd 1965, 62. - Obwohl nicht immer genau erkennbar, scheint Judd hier in zwei unterschiedlichenSinnen von Räumlichkeit zu sprechen, nämlich der realen räumlichen Beziehung zwischen Bild undWand und der suggerierten Raumbeziehung zwischen Farben und Formen im Bild. Bei derErwähnung von Yves Klein kann er nur die nicht vorhandene Raumsuggestion in seinenmonochromen Bilder gemeint haben, denn das materielle Bild ließ Klein im Abstand von circa 20 cmvon der Wand hängen, um die Räumlichkeit zu betonen. Zudem existiert kein materielles Ding, das„fast unräumlich“ sein kann.

41 Judd 1965, 62. - Auch hier lässt Judds Ausdrucksweise Klarheit vermissen, indem er nichtkonkretisiert, ob er hier von der tatsächlichen Räumlichkeit der verschiedenen materiellenFarbschichten oder der suggerierten Raumwirkung durch Farbwirkung spricht (Hell-Dunkel, Kalt-Warm). Letzteres scheint naheliegender.

42 Seine Behauptung, eine gleichmäßig mit Farbe bedeckte Fläche sei „fast immer sowohl flach als auchunendlich räumlich“, wird nicht erläutert und scheint in Widerspruch zu seinen übrigen Äußerungen

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Räumlichkeit bei Arbeiten, die die Rechteckform betonen, geringer, was er an konkreten

Beispielen (Rothko, Reinhardt, Pollock, Noland) beschreibt.43 Doch auch diese Werke

seien noch bis zu einem gewissen Grad illusionistisch. „Mit Ausnahme eines

vollkommen mit Farbe oder Markierungen gleichmäßig bedeckten Feldes suggeriert

alles, was sich innerhalb eines Rechtecks und auf einer Fläche befindet, etwas in und

auf etwas anderem, etwas in einer Umgebung (…). Die in letzter Zeit entstandenen

Bilder sind nicht völlig eins.“44 Bestimmte Hauptformen würden stets gegenüber

nebensächlichen Teilen betont, aber dadurch, dass die Bilder den Eindruck erzeugen,

„als seien Stücke von etwas unbestimmbar Größerem angeschnitten worden“, seien sie

weit weniger „solipsistisch“ wie die früheren Bilder.45

Judd wendet in diesem Abschnitt also seine Kriterien der nicht-relationalen und nicht-

hierarchischen Bildstruktur auf zeitgenössische Kunstwerke an. Dies seien notwendige

Merkmale für neue Kunst.46

Die wirklichen Farben der Materialien seien stärker als Ölfarbe auf Leinwand. Neben

den großen Formaten sei somit auch die Betonung des Materials ein weiteres wichtiges

Merkmal neuer Kunst.47 Doch auch hier bestünden trotzdem noch Anspielungen und

Bezüge zu Gegenständen und der menschlichen Figur. Als Beispiel nennt er u.a.

Skulpturen von Mark di Suvero (Abb. 3). Seine Skulpturen seien im Aufbau additiv,

hierarchisch, bieten ein „naturalistisches und anthropomorphes Bild“ und widersprächen

dem Sinn für Einssein.48

Die neuen dreidimensionalen Arbeiten (Philip King, Larry Bell, Edward Kienholz,

Frank Stella, George Brecht, Anne Truitt, Robert Morris, Yayoi Kusama, George Segal,

etc.) besäßen dagegen keine Hierarchien, keine Anspielungen und keine

Anthropomorphie49; sie bestechen durch ihre Ganzheit und einfache Ordnung der Teile

(Abb. 4, 5, 6). Judd unterscheidet hier Einzeldinge (Objekte) und Environments, wobei

der Unterschied nur von äußerlicher Bedeutung sei.50 „Das Bild, jedes seiner Teile und

zu stehen.43 Judd 1965, 63.44 Judd 1965, 63.45 Judd 1965, 64. - Er verwendet hier den Begriff 'Solipsismus' synonym zu 'Illusionismus'. DaSolipsismus eine extreme Form des Phänomenalismus ist, scheint mit der Kritik des Illusionismuseine tiefere philosophische Kritik verbunden zu sein.

46 Perica 2004, 4.47 Judd 1965, 64. - Hier äußert sich eine gewisse Art von platonistischer Ästhetik: das Wirkliche sei imAusdruck stärker als sein Abbild.

48 Judd 1965, 64-65. - Ihr Fokus liege auf gebräuchlichen Materialien, vor allem Holz und Metall.Farbwirkung sei dabei nebensächlich, es herrsche eine „natürliche Monochromie“ (ebd.).

49 Judd 1965, 65. - Wenn eine anthropomorphe Bildsprache verwendet wird, dann nur einfach undexplizit (Judd 1965, 71).

50 Judd 1965, 65.

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die Gesamtform sind ein und dasselbe.“51 Bild, Form, Material, Oberfläche und Farbe

seien deckungsgleich.52 „Jedes Material kann verwendet werden, so wie es ist oder

bemalt.“53 Dadurch, dass drei Dimensionen wirklicher Raum seien, werde der

illusionistische Raum im herkömmlichen Bild überwunden. Dies sei eine Befreiung von

einem Relikt der europäischen Kunst.54 Neue, industrielle Materialien seien spezifisch

und bei direkter Anwendung noch spezifischer, denn sie seien weniger illusionistisch

und mit Anspielungen behaftet als herkömmliche Materialien und „nicht von vornherein

Kunst“.55 Durch industrielle Materialien sei die Massenproduktion von Kunst prinzipiell

möglich.56

Auch Robert Morris mache spezifische Objekte,57 er wird lakonisch am Ende des Textes

kritisiert: „George Brecht und Robert Morris verwenden reale Objekte und sind davon

abhängig, was der Betrachter von diesen Objekten weiß.“58

51 Judd 1965, 71.52 Judd 1965, 67-69. - „Eine Arbeit braucht nur interessant zu sein." ((Judd 1965, 69) Diese Äußerungüber das Interesse führte zu unterschiedlichen Interpretationen. Judd selbst erklärte, dass er hier demPhilosophen Ralph Barton Perry folgte. Für diesen sei das Interesse an einem Objekt Ausdruck einesWertempfindens. Damit ein Kunstwerk interessant ist, muss es schlicht wert sein, es zu betrachten.Die Aussage wurde auch als Angriff auf Greenberg gewertet, was aber nachweislich nicht zutrifft(Meyer 139-141). Siehe hierzu Colpitt 1990, 116-125. - Judd fasst seine Ansichten sehr treffendzusammen: „Die meisten Werke haben letztendlich eine Qualität. In der früheren Kunst wurdeKomplexität vorgeführt und als Qualitätsmerkmal verstanden. In der jüngeren Malerei lag dieKomplexität im Format und den wenigen Hauptformen, die sich aus bestimmten Interessen undProblemen ergaben. Ein Gemälde von Newman ist letztendlich nicht einfacher als eines von Cézanne.Bei den dreidimensionalen Arbeiten entsteht das Ganze aufgrund komplexer Absichten, und diesewerden nicht zerstreut, sondern durch eine Form geltend gemacht. Es ist nicht nötig, daß eine Arbeitviele Dinge zum Anschauen bietet, zum Vergleichen, zum Eins-nach-dem-anderen-Analysieren oderzum Nachsinnen. Die Sache als Ganze, ihre Qualität als ein Ganzes, ist das Interessante. Diewichtigen Dinge stehen für sich und sind intensiver, klarer und kraftvoller. Sie werden nicht durch einübernommenes Format verwässert, durch Variationen einer Form, milde Kontraste oder durchverbindende Teile und Bereiches. Die europäische Kunst mußte einen Raum und dessen Inhaltdarstellen sowie hinreichend einheitlich und ästhetisch interessant sein. Die abstrakte Malerei vor1946 und der Großteil der darauf folgenden Malerei behielten die darstellerische Unterordnung desGanzen unter dessen Teile bei. Die Skulptur tut dies noch immer. In den neuen Arbeiten sind Form,Bild, Farbe und Oberfläche eins und keine Teile, nicht verstreut. Es gibt keine neutralen odergemäßigten Partien oder Teile, keine Verbindungen oder Übergangsbereiche. (...) Der Gebrauch vondrei Dimensionen ermöglicht die Verwendung aller erdenklichen Materialien und Farben.“ (Judd1965, 69-70.)

53 Judd 1965, 68-69. - Judd gab seinen Objekten die charakteristische Farbe cadmium red light. EineFarbe, die seiner Meinung nach am effizientesten die dreidimensionale Form definiere (Meyer 2001,57). Trotzdem scheint die Behauptung, dass auch bemalte Flächen bei spezifischen Objekten zulässigseien, dem Gedanken der Spezifität zu widersprechen, denn eine Bemalung besitzt keinen Bezug mehrzur Farbe des Materials. Ein Kritikpunkt, den Morris in Notes on Sculpture aufgegriffen hat.

54 Judd 1965, 68. - „Tatsächlicher Raum ist aus sich selbst heraus viel kraftvoller und spezifischer alsFarbe auf einer ebenen Oberfläche.“ (Judd 1965, 68.)

55 Judd 1965, 70-71. - Siehe Meyer 2001, 135.56 Judd 1965, 70.57 Judd 1965, 66. - Morris lehnte diese Bezeichnung für seine Werke ab (Colpitt 1990, 110).58 Judd 1965, 73.

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4.1.2 Was sind spezifische Objekte?

Spezifische Objekte59 sind also dreidimensionale Gegenstände, die auf die Merkmale

reduziert werden, die untrennbar mit ihnen verbunden sind. Aufgabe des Objektes ist,

auf die ihm wesentlichen Merkmale hinzuweisen. Spezifische Objekte sind also in erster

Linie selbstbezügliche Objekte.60 Die Qualitäten wie Form, Farbe, Oberflächenstruktur

und so weiter sind alles Teilqualitäten und untrennbar mit dem Ding verbunden, dadurch

sei es eins. Betonung einzelner Elemente würde diese einfache, einheitliche Ordnung

zerstören, was praktisch bei Malerei und Skulptur der Fall sei, weshalb das spezifische

Objekt eine hybride Form zwischen Malerei und Skulptur bilde.61 Neue industrielle

Materialien würden bei direkter Anwendung die Spezifität erhöhen.62

Der Begriff 'Reduktion' bzw. 'Minimalismus' kann nach Judd deshalb nur auf

hergebrachte künstlerische Merkmale angewendet werden, weil spezifische Objekte

durch Reduktion solcher Eigenschaften neue Qualitäten erzeugen würden.63 Die

Grenzen in der dreidimensionalen Arbeit seien 1965 aber noch nicht erreicht und es

bestehe noch Entwicklungspotenzial.64

4.1.3 Warum macht Claes Oldenburg spezifische Objekte?

Formen, die auf Gegenstände anspielen (z.b. Möbel, Nahrungsmittel) sind laut Judd

„emotionsgeladen“.65 Darin sieht Judd einen Anthropomorphismus. Diesen habe Claes

Oldenburg ins Extreme gesteigert, indem er solche Formen wie Objekte behandle und

zeige, dass nichts, das vom Menschen geschaffen ist, „völlig objektiv, rein praktisch

oder nur präsent“ sei (Abb. 7). Dadurch werde also deutlich, dass jedes

menschengemachte Ding eine untrennbare emotionale Bedeutung besitzt.66

59 Der Begriff 'specific objects' war zu seiner Zeit einer von vielen Vorschlägen für die Bezeichnung derneuen Kunstobjekte (Perica 2004, V-VI). Laut Colpitt deutet 'specific' den Gebrauch von realem,nicht-illusionärem Raum und neuem Material an (Colpitt 1990, 110). - Zur Begriffsgeschichte siehePerica 2004, V-VIII.

60 Siehe hierzu auch Colpitt 1990, 101-102. - Die entsprechende Definition lautet wie folgt: x ist einspezfisches Objekt gdw x ist dreidimensional und x ist selbstbezüglich. Als Definition derSelbstbezüglichkeit wird in diesem Fall vorgeschlagen und vorausgesetzt: x ist selbstbezüglich gdwdie Bedeutung von x ist mit der Beschreibung von x identisch.

61 „In der Wiedererkennbarkeit des Materials, das trotz der visuellen Täuschung nichts als sich selbstdarstellt und seine physische Präsenz im Raum betont, liegt der Schlüssel zu Judds Konzept des Anti-Illusionismus." (Marlin 2008, 44-45.)

62 Perica 2004, XI.63 Judd 1965, 73.64 Judd 1965, 67.65 Judd 1965, 72.66 Judd 1965, 72-73. - Siehe auch Meyer 2001, 135. - Interessant ist hierbei, dass mit derEmotionsgeladenheit des Objekts kein physisches oder empirisches Merkmal des Dings beschriebenwird, sondern eher ein psychologisches. Durch die oben gegebene Definition wird dieser Fall nichtausgeschlossen.

11

Page 12: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

4.1.4 Sind Judds Werke spezifische Objekte?

Laut James Meyer entsprachen die Objekte in Judds erster Einzelausstellung 1963 klar

den Ansichten, die er zwei Jahre später in Specific Objects erläuterte.67 Frances Colpitt

ist der Meinung, dass Judd seine Position mit Specific Objects vollständig ausformuliert

hat.68 Doch laut Perica waren die Charakteristika, die Judd dort vorstellte, „noch zu

allgemein, um differenzierend einsetzbar und wirksam zu sein.“69 So sei er bei einigen

Arbeiten in der Beurteilung hinsichtlich ihrer Dimensionalität unentschieden.70 Einige

essentielle Aspekte seiner Werke sind nicht Teil der Forderungen im Aufsatz. Von den

spezifischen Objekten verlangt er keine streng geometrische Struktur und eine

subjektive, expressive Ausdrucksweise ist nicht verboten; die expressiven Arbeiten von

Bontecou und Chamberlain werden sogar gelobt. Er unterscheidet zwischen

Anthropomorphismus und Figuration, letzteres sei zulässig (Segal, Oldenburg,

Kienholz, Westermann, Artschwager). Er lobt auch gemalte und nicht industriell

hergestellte Werke.71 Der für seine Arbeiten charakteristische Verzicht auf Sockel wird

nicht erwähnt.72 Der Begriff 'specific object' ist also weiter gefasst und beschreibt nicht

deckungsgleich Judds eigene Arbeiten.73 Es gibt jedoch gemeinsame Merkmale

zwischen seinen Werken und den spezifischen Objekten, dies sind u.a.:

Dreidimensionalität, Objekthaftigkeit, Nicht-Komposition, Nicht-Relationalität74

(einfache Ordnung), Nicht-Hierarchie, Kompaktheit, Nicht-Illusion, Nicht-

Referentialität (nicht anthropomorph, keine Anspielungen).75 Perica kommt deshalb zu

dem Schluss, dass „eine Übernahme der bisherigen Interpretationen von Judds Specific

Objects im Hinblick auf die Verwendung dieses Begriffs für seine eigenen Werke und

im Kontext der Minimal Art-Diskussionen nur in bestimmten Umfang, doch nicht

immer und restlos möglich ist.“76

67 Meyer 2001, 56-57.68 Colpitt 1990, 110.69 Perica 2004, 8.70 Perica 2004, 9.71 Perica 2004, 13-1472 Perica 2004, 15.73 Perica 2004, 15.74 „Die Struktur ihrer eigenen Werke bezeichnen sie als nicht-relational, da heißt die Teile sind nachdieser Theorie nicht wie in der sogenannten relationalen Kompositionsweise der gesamten bisherigenwestlichen Malerei, einschließlich der geometrischen Abstraktion Mondrians, vielfältig aufeinanderbezogen und gegeneinander ausbalanciert, sondern sie sind angeblich ohne Bezug zueinander gereiht.Das Ganze ist insofern vorrangig, da, 'in one shot', wie Judd sagt, als es sich konsequent aus demeinmal konzipierten Schema der Reihung ergibt. Die Teile passen sich diesem Schema des Ganzenvollkommen ein.“ (Held 1972, 666.)

75 Perica 2004, 15. - Eine detaillierte Diskussion der Bedeutung all dieser Begriffe kann in diesemRahmen nicht durchgeführt werden.

76 Perica 2004, 18.

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Page 13: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

4.1.5 Kritik an Specific Objects

Judd argumentierte also für eine Auflösung der traditionellen Grenzen zwischen den

Disziplinen und nahm damit die Gegenposition zu Clement Greenberg ein, der die

Beibehaltung dieser Trennung forderte.77 Rosalind Krauss und Robert Smithson haben

Judds Behauptung kritisiert, dass Spezifität und neue Materialien sich bedingen. Laut

Smithson wird der konkrete Charakter von Judds Arbeiten durch die transparenten und

reflektierenden Materialien zerstört. Krauss behauptete, Judds Werke erhielten ihre

Wirkung erst durch den illusionistischen Effekt der glänzenden Materialien.78 Dies

bemerkte auch Barbara Rose.79 Die Objekte seien somit nicht spezifisch und minimal,

sondern mit komplexen Effekten versehen. Judd selbst sah hierin kein Problem, da es

sich hier um keine Illusion von Räumlichkeit handle.80 Auch laut Meyer stimmen bei

Judd Theorie und Werk nicht immer überein.81 Diese Kritik griff auch Morris in Notes

on Sculpture auf. Morris kritisierte zudem, dass Judds Reliefs, Farbe und serielle

Strukturierung relational, also nicht einfach geordnet sind.82 Jutta Held kritisierte

allgemein den Begriff der non-relationalen Komposition, denn eine Komposition sei

auch dann noch relational, wenn die Beziehung der Teile „schematisiert worden ist, alle

Teile gleichgewichtig sind und keines vor den übrigen hervortritt.“83

4.2 Robert Morris: Notes on Sculpture, Part 1-3

Morris' frühe Werke waren ohne Zweifel mit Anspielungen behaftet, indem er sie durch

ihre Titel mit Säulen und Portalen in Verbindung brachte (Column (1961), Steles (1961),

Portals (1961)).84 In den darauffolgenden Jahren tilgte er diese Anspielungen in seinen

Arbeiten vollständig. Das Programm dazu beschrieb er ab 1966 in den Notes on

Sculpture.85 Aufgrund seiner Wurzeln in Theater und Tanz sind in seiner Kunst

Architektur, Körper und Bewegung zentrale Aspekte, die zu einer anderen Auffassung

von minimaler Kunst führten als bei Judd. Während für Judd das Werk in erster Linie

77 Perica 2004, XIV.78 Rosalind Krauss schlug deshalb hierfür die Unterscheidung zwischen einer bildhaften und einer

erlebten Illusion vor (Marlin 2008, 44).79 Colpitt 1990, 105-106.80 Meyer 2001, 138; Colpitt 1990, 106. - Auch Grégoire Müller bezeichnete Judds Werk alsillusionistisch (Colpitt 1990, 103).

81 Meyer 2001, 138.82 Meyer 2001, 160.83 Held 1972, 668.84 Trotzdem leugnete Morris einen Zusammenhang seiner Objekte mit kunsthistorischer Tradition (Held1972, 661).

85 Meyer 2001, 50-51. - Erst in den siebziger Jahren stellte er wieder Bezüge zur Architektur her (Meyer2001, 51).

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etwas statisches ist, das betrachtet wird, ist bei Morris die Bewegung des Betrachters

um und durch das Werk essentiell.86

Die ersten beiden Teile von Notes on Sculpture wurden 1966 in der Februar- und

Oktoberausgabe von Artforum publiziert.87 Der dritte Teil folgte 1967 und der vierte

1969 jeweils beide wieder im Artforum.88 1966 war Morris als Künstler bereits bekannt

und obwohl er vorher nur wenig publiziert hatte, wurde er durch die Texte zum

maßgeblichen Theoretiker der Minimal Art.89 Laut Meyer wollte Morris sich mit den

Texten seinen Platz in der Bewegung sichern. Seit der gemeinsamen Ausstellung in der

Green Gallery wurde Morris' und Judds Kunst derselben Theorie zugeordnet und Morris

versuchte sich nun durch den Aufsatz von Judd, dem bis dahin führenden Sprecher der

Minimal Art, abzugrenzen.90

Einfluss hatten auch die Kritiken von Clement Greenberg und Michael Fried, denn der

Essay war nach eigener Aussage zuerst als Parodie auf deren Kritiken geplant und erst

durch Einwirkung von Barbara Rose zu einer seriösen Abhandlung geworden.91 Morris

86 Meyer 2001, 51-53. - Die dadaistischen Qualitäten von Morris' frühen Arbeiten irritierten Judd (Meyer2001, 53-54). „Morris's focus on the process of making rather than the finished result, his historicalallusions and refusal to relinquish content, his introduction of temporality, movement, and traces of'real life', and his irreverance for modernist notions of formal and authorial integrity were antagonistto Judd's thinking." (Meyer 2001, 54.) Der Konflikt kam bei einer Gruppenausstellung 1961 in derGreen Gallery deutlich zum Ausdruck. Judd fand die Proportionen von Morris Werken „dumb".Morris' Wheels waren wie ein Requisit Teile einer Aktion, was Judds Ansichten eines statischenKunstwerks zuwiderlief, da sie durch die Aktion keine Aufmerksamkeit als Objekt erhalten würden(Meyer 2001, 52). Judd selbst sagte: „I am interested in static visual art and hate imitation ofmovement" (Zit. n. Meyer 2001, 135).

87 Morris, Robert: Notes on Sculpture, in: Artforum, Los Angeles, 4, 6 (Februar 1966), 42-44; Morris,Robert: Notes on Sculpture, Part 2, in: Artforum, Los Angeles, 5, 2 (Oktober 1966), 20-23. - 1966 wardas Jahr der legendären Ausstellung Primary Structures im Jewish Museum in New York. Durch dieseund zahlreiche andere Ausstellungen 1966 wurde die Minimal Art in der breiten Öffentlichkeitbekannt (Held 1972, 660; Meyer 2001, 153-154).

88 Morris, Robert: Notes on Sculpture, Part 3: Notes and Nonsequiturs, in: Artforum, Los Angeles, 5, 10(Juni 1967), 24-29; Morris, Robert: Notes on Sculpture, Part 4: Beyond Objects, in: Artforum, NewYork, 7, 8 (April 1969), 50-54. - Teil eins und zwei wurden erneut abgedruckt in Battcock, Gregory(Hg.): Minimal art: a critical anthology, New York 1968, 222-235. Eine Publikation aller vier Teileerfolgte erst wieder mit Morris, Robert: Continuous project altered daily. The writings of RobertMorris, Cambridge/London/New York 1993, 1-8, 11-21, 23-39, 51-70. Teil eins bis drei finden sich indeutscher Übersetzung von Wilhelm Böck und Gerd de Fries in Vries, Gerd de (Hg.): Über Kunst/OnArt, Köln 1974, 192-225. Die Übersetzungen wurden wieder abgedruckt als „Anmerkungen überSkulptur" in Stemmrich, Gregor (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel1995, 92-120. Teil drei findet sich auszugsweise in Stiles, Kristine, Selz, Peter (Hgg.): Theories anddocuments of contemporary art. A sourcebook of artists' writings, Berkeley/Los Angeles/London1996, 588-593. Die erste vollständige unkommentierte deutsche Übersetzung aller vier Teile vonSusanne Titz und Clemens Krümmel erschien erst kürzlich mit Morris, Robert, Titz, Susanne,Krümmel, Clemens (Hgg.): Bemerkungen zur Skulptur. Zwölf Texte, Zürich 2010, 23-52, 61-73.

89 Meyer 2001, 153. - 1961 schrieb er Blank Form und 1965 veröffentlichte er Notes on Dance (Meyer2001, 153). Bereits in Notes on Dance wird der unbildliche Charakter aller Formen beschrieben(Titz/Krümmel 2010, 7).

90 Meyer 2001, 154. - In der Green Gallery hatten Donald Judd und Robert Morris 1963 auch beide ihreerste Einzelausstellung (Meyer 2001, 45; Perica 2004, IX).

91 Meyer 2001, 155. - Als Morris Notes on Sculptures verfasste, schrieb er gerade seine Masterarbeit

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Page 15: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

kritisierte Fried und Greenberg. die einerseits behaupteten, dass jedes Medium für sich

stehen müsse, aber gleichzeitig solche Skulpturen lobten, die Effekte der Malerei

suggerieren.92 Dabei formulierte Morris in Notes on Sculpture selbst eine sehr orthodoxe

Position, in der die Skulptur ihre Autonomie bewahren soll.93

4.2.1 Inhalt der Schriften und Morris' Ansichten

Auch Morris merkt zu Beginn des ersten Teils von Notes on Sculpture an, dass die

Gemeinsamkeiten der zeitgenössischen Kunstformen keiner gemeinsamen Intention

entspringen. Er beurteilt die Situation jedoch anders als Judd: „Die Anliegen der

Skulptur [sind] nicht nur anders, sondern gar feindlich zu denen der Malerei“.94 Das

Problem der Malerei sei ihre „illusionäre Undefinierbarkeit bzw. ein unbestimmtes

Anspielungsvermögen“.95 Bei der Betrachtung eines Gemäldes müsse zwischen

Gegenstand und Abbildung abstrahiert werden, dies ist laut Morris Ergebnis einer

kulturellen und historischen Entwicklung.96 „Die Dualität der Erfahrung ist nicht direkt

genug. Was hier an Doppeldeutigkeit eingebaut ist, ist für eine empirische und

pragmatische Weltanschauung nicht akzeptabel.“97 Die Skulptur sei dagegen nie vom

Illusionismus betroffen gewesen, denn dort sei „Raum, Licht und Material stets ganz

konkret und buchstäblich.“98 Die Skulptur besäße einen taktilen Charakter, die Malerei

nur einen optischen.99 Die Konstruktivisten hätten gezeigt, dass die nicht-bildhafte

Skulptur unabhängig von der Architektur sei. Dieses „Nicht-Bildhafte“ benennt er als

grundlegende Bedingung.100

Jules Olitski (Abb. 8) und Morris Louis (Abb. 9) hätten durch Eliminierung der

Zeichnung die Farbe von ihrem festen Umriss befreit, sie sei damit nicht mehr an feste

über Brancusi. Dort orientierte er sich an der Methode von George Kubler, die vor allem ausFormbetrachtung beruht, dies beeinflusste Morris bei Notes on Sculpture (Meyer 2001, 154-155).

92 Meyer 2001, 155-156.93 Meyer 2001, 156.94 Morris, Notes 1, 1966, 24.95 Morris, Notes 3, 1967, 45.96 Morris, Notes 3, 1967, 45. - Siehe Colpitt 1990, 103.97 Morris, Notes 3, 1967, 45-46.98 Morris, Notes 1, 1966, 2599 Morris, Notes 1, 1966, 23-25. - „Wenn die Malerei nach einer Nähe zum Objekt strebte, strebte sie imgleichen Zuge danach, sich auf dem Weg dorthin zu entmaterialisieren.“ (Morris, Notes 1, 1966, 25.)

100Morris, Notes 1, 1966, 25 - Laut Meyer sei Morris' Unterscheidung der Ziele von konstruktivistischerArchitektur und Skulptur falsch. Die Konextrelation bleibe unbeachtet und zeige die Fremdheit desKonstruktivismus in der New Yorker Szene (Meyer 2001, 156). Judd dementierte eine Beeinflussungdurch die russischen Konstruktivisten, Bauhaus und de Stijl (Perica 2004, 107-108). Als Vorläuferbenennt Morris Wladimir Tatlin, Alexander Rodtschenko, Naum Gabo, Nikolaus Pevsner, GeorgesVantongerloo (Morris, Notes 1, 1966, 25).

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Formen gebunden.101 Das „optische, immaterielle, nicht eingrenzbare, nicht-taktile

Wesen der Farbe“ vertrage sich nicht mit der materiellen Skulptur. Eigenschaften wie

Maßstab, Proportion, Umriss und Masse seien rein physisch. „Der Einwand gilt hier

einer Verwendung von Farbe, die das Optische hervorhebt und damit das Physische

untergräbt.“102 Er plädiert deshalb für eine neutrale Farbgebung der Skulpturen.103

Morris nimmt in seiner Theorie direkten Bezug auf die Gestaltpsychologie und

Phänomenologie.104 Farbe und Form einer Skulptur verändern sich je nach Lichteinfall

und Position des Betrachters. Jedes Mal erhalte der Betrachter dabei einen

Sinneseindruck, der dem darauffolgenden niemals gleicht.105 Dabei seien verschiedene

Sinneseindrücke von einander abhängig (z.B. Farbe genau dann, wenn Form), aber jeder

Eindruck zeige immer nur einen beschränkten Aspekt des Dinges.106 Das Ganze sei

nicht wahrnehmbar (transzendent). Außer dem homogenen Konstrukt aus diesen

zufälligen Sinnesdaten, wüssten wir nichts über das wirkliche Ding, und erst die

Annahme eines solchen konstanten Objekts erlaube es, überhaupt von Illusion zu

sprechen.107

Es könne somit kein wahrnehmbares Werk existieren, dass nur eine Eigenschaft besitzt.

Gewisse dreidimensionale Formen scheinen sich aber einen solchen Einheit anzunähern,

denn sie bieten „der unterscheidenden Wahrnehmung ein Maximum an Widerstand“,

dies seien die einfachen Polyeder (z.B. Quader, Pyramiden, Prismen).108 Sie sind die

möglicherweise „einfachste Anordnung ihrer Teile im Verhältnis zum Ganzen.“109

Solche einfachen Formen nennt Morris „unitary forms“.110

101Morris, Notes 1, 1966, 26.102Morris, Notes 1, 1966, 26-27.103Morris, Notes 1, 1966, 26-27. - Siehe Meyer 2001, 159104Batchelor 1997, 24-25; Marlin 2008, 99-101. - Die Gestaltpsychologie untersucht die Gesetze derWahrnehmung von Gegenständen. Es geht um die Anordnung und Gliederung vonWahrnehmungsgegenständen. „Diese konstanten Ordnungstendenzen werden nicht alsNachwirkungen früherer, individueller Erfahrungen angenommen, sondern als 'feste Verdrahtungen'im Hirn.“ (Held 1972, 663.) Unser Wahrnehmungs- und Denkapparat ist stets bestrebt, aus denSinneseindrücken eine Vorstellung von größtmöglicher Einfachheit und Regularität zu konstruieren.„Die von Wertheimer so benannte Prägnanztendenz bevorzugt geordnete Gestalten, sie zielt vomdiffus Ganzheitlichen hin zum gestalthaften Ganzen, zur sogenannten 'guten Gestalt', die durchGleichgewicht und Einfachheit charakterisiert ist.“ (ebd.) Diese Prägnanztendenz kann dieWahrnehmung verfälschen, sie ist eine „ästhetische Hypothese, die der Organismus grundsätzlich überdie Wirklichkeit“ macht (ebd.). Er wird als angeborener Mechanismus betrachtet (Held 1972, 664).Morris übernimmt in seinem Text den unübersetzten Terminus 'gestalt'.

105Diese grundsätzlich zeitlich-lineare Erfassung des Werkes stehe im Gegensatz zu denSimultanansichten im Kubismus (Morris, Notes 2, 1966, 39).

106Morris, Notes 1, 1966, 27-28.107Morris, Notes 3, 1967, 43-44.108Morris, Notes 1, 1966, 27-28109Morris, Notes 3, 1967, 49.110Morris, Notes 1, 1966, 29.

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Während der Betrachter solche sich ständig verändernden Sinneseindrücke von einem

Gegenstand erhalte, besäße er gleichzeitig stets die Vorstellung von einer konstanten

Gestalt des wirklichen Dings. Somit bestehe ein Gegensatz zwischen der Konstanten der

Vorstellung und Variablen der Wahrnehmung. Eindrücke und Vorstellung werden bei der

Wahrnehmung stetig abgeglichen.111 Werden nun diese einfachen Formen auf ein Objekt

angewendet, dann erzeugen sie eine starke Empfindung der Gestalt dieses Objekts, denn

durch ihre Regelmäßigkeit könne das Objekt schnell als Ganzes erfasst werden.112 „Wir

sehen und 'glauben' sogleich, dass das Muster in unserer Vorstellung dem existenziellen

Faktum dieses Objekts entspricht.“113 Dies sei Ergebnis unserer Erfahrung.114 Komplexe

Formen wie beispielsweise eine barocke Figur oder ein Kristall seien schwer bis gar

nicht fassbar.115 Sei die Gestalt eines Dings einmal erfasst, sei alles von ihr erkannt.116

Der Unterschied zur vergangenen Skulptur liege also nicht so sehr in der Verwendung

neuer Materialien und auch nicht in der nicht-hierarchischen, nicht-kompositorischen

Struktur, denn diese gebe es bereits in der Malerei, sondern „vielmehr in der Art der

Ordnung, die der Gestaltung dieser Werke zugrunde liegt. Diese Ordnung hat ihre

Grundlage nicht in früheren Ordnungen der Kunst, sondern ist eine für die Kultur so

grundlegende Ordnung, dass ihre Offensichtlichkeit sie nahezu unsichtbar macht. Die

neuen dreidimensionalen Werke haben die kulturelle Infrastruktur des Gestaltens selbst

erfasst, die seit dem Neolithikum in Gebrauch ist, weiterentwickelt wird und in der

Technologie industrieller Produktion ihren Höhepunkt findet.“117 Die Gemeinsamkeiten

aller neuen dreidimensionalen Werke seien „Symmetrie, Fehlen von Spuren der

Bearbeitung, Abstraktheit, nichthierarchische Anordnung von Teilen, nicht-

anthropomorphe Vorstellungen, allgemeine Ganzheitlichkeit. Diese Konstanten liefern

womöglich die Basis für eine allgemeine Bildsprache.“118 Der Kubus bilde in dieser

Sprache die kleinste bedeutungstragende Gestalteinheit (Morphem), das rechtwinklige

111Morris, Notes 2, 1966, 39.112Morris, Notes 2, 1966, 38-39. - Das Werk muss autonom sein „im Sinne einer geschlossenen Einheit,die die Gestalt als unteilbare und unauflösliches Ganzes bildet, [so] sind die entscheidendenästhetischen Bedingungen nicht in diesem autonomen Objekt selbst, sondern in Abhängigkeiten vonihm zu finden, sie existieren als freie Variablen, die ihre besondere Ausprägung durch den jeweiligenRaum, das jeweilige Licht und den physischen Standort des Betrachters finden. Nur ein Aspekt desWerks ist unmittelbar: das Erfassen der Gestalt.“ (Morris, Notes 2, 1966, 39.)

113Morris, Notes 1, 1966, 28.114Morris, Notes 1, 1966, 28.115Morris, Notes 1, 1966, 28-29.116Morris, Notes 1, 1966, 29. - „Man sucht beispielsweise nicht die Gestalt einer Gestalt.“ (Morris, Notes1, 1966, 29.)

117Morris, Notes 3, 1967, 47.118Morris, Notes 3, 1967, 47. - Diese Bildsprache verweise auf die Gegenwart, die industrielleProduktion und besitze Affinitäten zur Pop Art (ebd.).

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Raster die Syntax. Dies sei die „kulturelle Basis der Formgebung“ und finde sich bereits

in vielen Kunstwerken der Vergangenheit.119 Solange diese Rasterordnung beibehalten

werde, besäße eine aus Kuben zusammengesetzte Form dieselbe Qualität wie alle ihre

Teile.120 Innerhalb dieser Bildsprache121 könne je nach Interesse spezifiziert werden und

„all diese Einzelheiten ergeben konkrete, greifbare Unterschiede zwischen einzelnen

Werken und erfassen ihre jeweilige Qualität.“122

Immer, wenn der Mensch einem Gegenstand gegenüberstehe, setze er seine eigene

Größe als Konstante in einer Größenrelation. „Das Größenspektrum von Nutzlosen

dreidimensionalen Dingen ist ein Kontinuum zwischen Monument und Ornament.“123

Die Skulpturen, die oft „Strukturen“ oder „Objekte“ genannt werden, stünden zwischen

diesen Polen. Sie seien zudem weder figurativ noch architektonisch.124 Die im Verhältnis

zum Betrachter kleineren Dinge besäßen die „Eigenschaft der Intimität“ bzw. des

Privaten, größere Objekte die „Eigenschaft des Öffentlichen“.125 Um eine Skulptur im

Rahmen dieser Relationen adäquat zu erfassen, sei physische Bewegung im Raum

notwendig.126

119Morris, Notes 3, 1967, 49-50. - Verständlicherweise sei somit der Quader auch Standardform vielerindustrieller Produkte (Morris, Notes 3, 1967, 49). Die rechtwinklige Einheit und das Gittermusterseien weder organische noch anthropomorphe Formen. Nur geschwungene Formen ließen Arbeit undBewegung erkennen und seien deshalb anthropomorph (Morris, Notes 3, 1967, 51-52).

120Morris, Notes 3, 1967, 49.121Es besteht ein Zusammenhang mit dem logischen Empirismus (auch Neopositivismus) bzw. späteranalytischen Philosophie. „Wie die Philosophie sich, statt Aussagen über die reale Welt zu machen(für die vornehmlich die Naturwissenschaften zuständig sind), auf Sprachanalysen beschränken soll,so fordern die Minimalisten für die Kunst eine Beschränkung auf deren Syntax, die in früherer,semanischer (sic!) [gemeint ist: 'semantischer', Ph. D.] Kunst, nur darstellerisches Mittel war.“ (Held1972, 667.)

122Morris, Notes 3, 1967, 51. - Somit übernimmt Morris die wichtige Eigenschaft der Transponierbarkeitder Gestalt ausdrücklich nicht (Held 1972, 664). - Es könne in der neuen Kunst gute von schlechterQualität unterschieden werden, was Morris aber nicht näher erläutert (Morris, Notes 3, 1967, 51).Dabei vertritt er eine eher pragmatische Kunstdefinition: „Was immer als Kunst Verwendung findet,ist als Kunst zu definieren.“ (Morris, Notes 3, 1967, 52.) Eine offensichtlich zirkuläre Definition. DerSatz besitzt die Form: x ist Kunst gdw x wird als Kunst verwendet. Hier kommt das Wort 'Kunst'sowohl im Definiendum als auch im Definiens vor, somit verstößt diese Definition gegen die(formale) Bedingung der Eliminierbarkeit und ist somit keine korrekte Definition. Zudem besitzt derSatz eine sehr zweifelhafte Aussage: was immer als x verwendet wird, ist x. Wäre auch alles, was alsHammer benutzt wird, ein Hammer? Die Verwendung eines Dings ist nie eine (vollständige)Beschreibung des Dings. Zudem wenn etwas als Kunst verwendet wird, setzt dies voraus, dass manweiß, was der Terminus 'Kunst' bedeutet.

123Morris, Notes 2, 1966, 33.124Morris, Notes 2, 1966, 33-34. - Laut Morris ist jeder feste Körper ein Objekt und der Begriff 'Struktur'bezieht sich auf die Zusammensetzung eines Dings. Die Begrifflichkeiten seien aber gegenüber demVerständnis der neuen Skulpturen nebensächlich (Morris, Notes 2, 1966, 34).

125All diese Eigenschaften würden den Objekten vom Menschen zugeschrieben (Morris, Notes 2, 1966,34). Ornamente seien beispielsweise intim, da sie viele, kleine Details besitzen. MonumentaleSkulpturen brächten dagegen Größe an sich zum Ausdruck. „Der Modus des Intimen ist seinem Wesennach in sich geschlossen, raumlos, verdichtet und ausschließlich.“ (Morris, Notes 2, 1966, 34-35.)

126Morris, Notes 2, 1966, 35.

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Details seien Merkmale mit der Eigenschaft der Intimität. Sie können genutzt werden,

um „spezifische Elemente aus dem Ganzen herauszulösen und so Beziehungen

innerhalb des Werks entstehen“ zu lassen.127 Intensive Farben, Spuren des

Produktionsprozesses, „sinnliche Materialien oder perfekte Verarbeitungen“ stören als

Details die Einheit des Werkes.128 Dies sei in der neuen Skulptur nicht der Fall.129

Abzulehnen sei auch die Anwendung von mathematischem Denken auf die Erstellung

von Skulpturen. Dies funktioniere zwar bei Jasper Johns Zahlen- und Alphabetbildern,

aber materiell hieße dies nichts anderes als die „Anwendung der kubistischen Ästhetik

einer vernünftigen oder logischen Beziehung aller Teilelemente.“130

Das Objekt sei nur ein Teil der neuen Skulptur. Das Werk bestehe insgesamt aus einer

„Funktion von Raum, Licht und dem Gesichtsfeld des Betrachters.131 Die Skulptur, die

auf die grundlegenden Elemente der Bildsprache reduziert wurde, weise auf die

Beziehung zwischen Objekt, Raum und Betrachter hin.132 Diese Relationen werden vom

Betrachter hergestellt und das neue Werk mache dies durch die Möglichkeit, es aus

verschiedenen Positionen wahrzunehmen, explizit bewusst.133 Dadurch werde die alte

Bildhauerei belanglos, denn erst durch diese neue Art der Skulptur könne dem

Betrachter sein grundlegender Wahrnehmungsmechanismus veranschaulicht werden.134

Um ein Objekt zu erleben, sei „Gespür für die Gravitationskraft, die im tatsächlichen

Raum auf das Objekt einwirkt“, notwendig. Deshalb ist eine Positionierung am Boden

einer Wandhängung vorzuziehen und das Relief abzulehnen.135 Da durch das Objekt

immer eine Veränderung im Raum stattfindet, wäre eine Ausstellung im Außenraum

127Morris, Notes 2, 1966, 36. - Bei dieser relationalen Definition von Detail kann so gut wie alles aneiner Skulptur zum Detail werden, abhängig von der Position des Betrachters.

128Dies ist eine offensichtliche Kritik an Judds Werken. - Morris erklärt eine Konstruktion ausMaschendraht damit, dass auch die Unterseite der Form erkennbar sein soll. Ähnlich auch Judd mitseinen Boxen aus Plexiglas (Held 1972, 663).

129Durch diese Behauptung schließt er Judds Werke implizit von der neuen Skulptur aus.130Morris, Notes 2, 1966, 36-37. - Dies ist eine Kritik an Judd. Serialität sei akzeptabel in Malerei, abernicht bei Objekten. Skulptur solle seine eigene Natur ergründen und nicht durch eine vorher geplanteOrdnung bestimmt werden, die nicht aus dem Material heraus zu begründen ist (Meyer 2001, 159-160). - Judd selbst beobachtete bereits 1964 bei Morris eine anti-kompositionelle Tendenz (Meyer2001, 160).

131Morris, Notes 2, 1966, 37132Siehe Marlin 2008, 102-109.133Morris, Notes 2, 1966, 37 Die Betonung von Details sei für eine solche Erfahrung hinderlich unddeshalb nutzen viele neue Skulpturen große Dimensionen (Morris, Notes 2, 1966, 37).

134Morris, Notes 2, 1966, 39. - „Morris will den Betrachter darauf aufmerksam machen, daß seineWahrnehmung und Sinngebung eines Objekts nicht oder doch nicht ausschließlich durch dessen Formbestimmt wird, sondern durch seine Relation zum Betrachter. (...) Den Sinn der Ausstellung seinerObjekte sieht Morris also darin, dem Rezipienten klarzumachen, daß die Werte, die dieser einemKunstwerk zuschreibt, nicht in diesem selbst liegen, sondern durch die Perspektive des Betrachtersbestimmt. Diese ist nach Morris weniger durch historische Tradition konditioniert als durch konstanteWahrnehmungsgesetze.“ (Held 1972, 665.)

135Morris, Notes 1, 1966, 26. - Meyer deutet dies als Kritik an Judd (Meyer 2001, 156-157).

19

Page 20: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

empfehlenswert, da auch die Wände einer Galerie ebenso wie das Objekt einen

strukturierenden Einfluss besitzen. „Ideal wäre ein Raum ohne Architektur als

Hintergrund oder Bezugspunkt“.136 Für eine optimale Wirkung benötige der Künstler

also volle Kontrolle über die Ausstellungssituation, damit die „Variablen Objekt, Licht,

Raum und Körper funktionieren.“137 Weitere Grundbedingungen der neuen Werke seien

eine feste Masse (nicht feste Massen sind z.B. alle Arten von Flüssigkeiten) und die

Schwerkraft. Ohne sie wäre Stabilität und eine Orientierung an horizontalen und

vertikalen Achsen unwichtig. Arbeiten im Weltraum oder unter Wasser würden diese

Grundbedingungen jedoch verändern und neue Möglichkeiten eröffnen.138

Morris unterscheidet im dritten Aufsatz Strukturen, Objekte und Skulpturen nach ihren

Aufgaben. Diese „Objektklassen“ würden sich gegenseitig nicht ausschließen, besäßen

aber unterschiedliche Schwerpunkte. Kunstwerke, die Strukturen genannt werden,

weisen auf die ihnen inhärenten Eigenschaften der Teilung und Modulation hin. Hierfür

würden oft „Sätze, Serien, Module, Permutationen oder andere einfache Systeme“

verwendet. Diese Eigenschaften seien nicht materiell, sondern metaphysisch, deshalb

sei damit auch oftmals eine Skepsis gegenüber dem Physischen verbunden.139 Objekte

seien durch ihre handliche Größe, den betont physischen Charakter, ihre aufwändige

Verarbeitung, eine Betonung der Oberfläche, Intimität im Detail und ihr traditionelles

Spektrum plastischer Effekte geprägt.140 „Die monistischen oder strukturell ungeteilten

unter ihnen bauen interne Beziehungen auf durch die Gegenüberstellung von

Materialien oder auch durch ein starkes Reflektieren, mit dem sie Teile der Umgebung

in sich aufnehmen“.141 Morris betont auch ihren industriellen Charakter.142 Dabei seien

aber nur die Materialien industriell und die Verarbeitung handwerklich, denn viele

industrielle Methoden seien noch zu teuer.143 In Strukturen bilden Objekte die einzelnen

Module.144

136Morris, Notes 2, 1966, 38.137Morris, Notes 2, 1966, 39.138Morris, Notes 3, 1967, 50.139Morris, Notes 3, 1967, 44.140Morris, Notes 3, 1967, 44-45. - Im Wandobjekt sei „die Form zu einem wirklichen Objekt aufgleichermaßen wirklicher Wand oder wirklichen Grund“ geworden, womit es sich von einem Gemäldetrotz seiner malerischen Qualitäten unterscheide. Trotzdem besäßen Wandobjekte „gewissebildnerische Sensibilitäten“ (Morris, Notes 3, 1967, 44-45).

141Morris, Notes 3, 1967, 44. 142Morris, Notes 3, 1967, 45. - Damit scheint er hier insgesamt gezielt Judds Objekte zu beschrieben. 143Morris, Notes 3, 1967, 48.144Morris, Notes 3, 1967, 44. - Somit ist jede Struktur eine Art von Objekt, aber nicht jedes Objekt eineStruktur.

20

Page 21: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

'Skulptur' ist Morris' Bezeichnung für „jene Gruppen von Werken, die keinen

eindeutigen Informationsgehalt oder eine singuläre Orientierung aufweisen.“145 Somit

ist 'Skulptur' der weiteste Begriff, unter den sowohl Objekte wie auch Strukturen fallen

können. Die neuen Skulpturen unterscheiden sich „von früheren Formen der Skulptur

(und von den Objekten) dadurch, dass sie den Schwerpunkt ihres Interesses nicht nur

nach innen richten und den Kontext ihrer räumlichen Umgebung nicht ausschließen.“146

Somit sieht Morris seine Werke zwar als Skulpturen, aber nicht als Objekte. Skulpturen

seien weniger geschlossen als Objekte und offen für den Raum.147

4.2.2 Kritik an Notes on Sculpture

Judd kritisierte, dass nicht klar ist, über wen Morris in den Aufsätzen eigentlich

spreche.148 Auf die Kritik, dass seine Arbeiten zu farbig seien, reagierte Judd mit den

Worten: „I don't say people shouldn't paint gray sculpture. I can have colored sculpture

if I want to. To hell with Bob Morris!"149 Für Judd war das Ergebnis von Morris

Theorien ein Objekt, das nicht interessant sei.150 Judd schrieb zudem: „Ja, ich glaube,

das Wort 'Skulptur' ist ziemlich veraltet. Es bedeutet 'schnitzen' und das ist lächerlich.

(…) Ferner verbinde ich den Begriff 'Skulptur' mit Kompositionen, wie er bei David

Smith zu finden ist. Mein Denken kommt aus der Malerei, wenngleich ich nicht male.

Ich habe nichts dagegen, einer dritten Kategorie anzugehören.“151 Es wurde in der Folge

heftig diskutiert, ob Morris nun nur Skulpturen oder bedingt durch seine Theorie doch

im Grunde Environments schuf. Für Morris waren es ohne Zweifel Skulpturen (Abb.

10.152 Ähnlich wie bei Judd wurde auch an Morris' Arbeiten kritisierte, sie würden

illusionistisch wirken.153

4.3 Zusammenfassender Vergleich

Während Judd in seinem Aufsatz eine große Bandbreite von Künstlern und Werken

behandelt, scheint Morris in wesentlichen nur über sein eigenes Werk zu sprechen.154.

Beide Künstler beschäftigten sich mit Wahrnehmungstheorie. Doch während sich Judd

145Morris, Notes 3, 1967, 46146Morris, Notes 3, 1967, 46.147Morris, Notes 3, 1967, 46.148Meyer 2001, 157.149Zit. n. Meyer 2001, 159.150Meyer 2001, 160; Colpitt 1990, 126-127.151Zit. n. Perica 2004, 57, Anm 160.152Meyer 2001, 166.153Batchelor 1997, 25.154Batchelor 1997, 23.

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Page 22: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

rein auf das Objekt und dessen Merkmale konzentrierte, ging es Morris um eine

Erfahrung des Gegenstandes im größeren räumlichen Kontext: das Objekt in seiner

Beziehung zum Betrachter und der Umgebung.155 Die Skulptur existiert somit bei

Morris nicht um ihrer selbst Willen, sondern soll die Gestaltwahrnehmung eines sich um

das Ding bewegenden Betrachters erleichtern.156 Die Gestalt des Objekts ist

transzendent und ein Vorstellungsinhalt des Betrachters, der damit auch immer zum

Teilnehmer wird. Dies ist bei Judd nicht der Fall und auch nicht intendiert.157 Judd ging

es um das einheitliche, statische Objekt selbst.158 Während er die Einheit als eine

Eigenschaft bezeichnete, die Objekten zukäme, die weder Skulptur noch Malerei seien,

behielt Morris die klassische Trennung bei und schrieb diese Eigenschaft einzig den

Skulpturen zu.159 Doch beide waren sich einig, dass diese Einheit nur in drei

Dimensionen erreichbar sei.

Morris kritisierte Judds Auffassung von Farbe. Für Judd ist sie objektspezifisch, für ihn

dagegen etwas rein optisches ohne materielle Bedeutung. Farbe fügt laut Morris dem

Werk eine Relation hinzu und wirke trennend. Glänzende Materialien und Oberflächen

erschweren deshalb die Gestaltwahrnehmung.160 Ebenso lehnte Morris im Gegensatz zu

Judd die Serialität ab, denn auch sie sei ebenso wenig objektspezifisch wie die Farbe,

sondern vom Künstler nachträglich hinzugefügt.161 Beide Künstler gehen von einem

empiristischen Weltbild aus und erklären die Wahrnehmung anhand einer

Sinnesdatentheorie. In beiden Konzepten sollen die Kunstwerke deshalb keine

Informationen liefern, die über die Wahrnehmungserfahrung hinausgehen. Während

Judd aber keine konkrete Theorie der Betrachtung entwickelte,162 formulierte Morris in

Notes on Sculptures eine solche durch direkten Bezug auf die Gestaltpsychologie und

155Batchelor 1997, 42-43.156Meyer 2001, 159; Marlin 2008, 110-112. - „Die Reduktion der Plastik auf einfache, geometrisierteObjekte hat für sie den Sinn, starke Gestalt-Empfindungen beim Betrachter hervorzurufen. Die Formder Objekte soll mit einem Blick erfaßbar sein. Der Betrachter soll durch sein Vorwissen überGestalten, das heißt Gebilde, die einfachen, regelmäßigen geometrischen Formen nahekommen,ergänzen können, was ihm in der Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich ist.“ (Held 1972, 662.)

157Meyer 2001, 166.158Laut Held behauptet Judd, dass das Ganze mehr als seine Teile ist (Held 1972, 666). DieseBehauptung findet sich nicht in Specific Objects. Dafür aber diese Aussage: „Das Bild, jedes seinerTeile und die Gesamtform sind ein und dasselbe.“ (Judd 1965, 71.) Dies ist eine grundlegendmereologische Auffassung des Kunstwerkes, d.h. das Ganze ist die Summe aller Teile. Somit kann dasGanze nie mehr als seine Teile sein.

159Vgl. Batchelor 1997, 14-15.160Meyer 2001, 159.161Vgl. Batchelor 1997, 23.162Held 1972, 666; Meyer 2001, 158. - Laut Jutta Held nimmt auch Judd Bezug auf dieGestaltpsychologie (Held 1972, 663). Dies ist in Specific Objects niemals der Fall.

22

Page 23: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

Phänomenologie.163 Sowohl Judd wie auch Morris nehmen in ihren Aufsätzen Bezug auf

Entwicklungen vor 1965. Dabei werden besonders der Abstrakte Expressionismus und

die Post Painterly Abstraction als Vorläufer der Minimal Art benannt. Beide

Kunstrichtungen waren 1965 bereits etabliert.164 Judd und Morris möchten sich von der

europäisch geprägten Tradition lösen und versuchen dies durch Berufung auf kulturell

übergreifende und grundlegend menschliche Wahrnehmungsmechanismen.165

5 Schlussbetrachtung

Judd wie auch Morris wurden durch ihre Publikationen zu den führenden Sprechern der

neuen Kunstrichtung.166 Specific Objects wurde oft zitiert, um Minimal Art zu

charakterisieren, doch, wie von Perica gezeigt wurde, ist der Begriff 'specific object' zu

weit, um allein auf die Minimal Art angewendet zu werden.167 Jedoch definierte Judd

dadurch, dass er „das Objekthafte des Werkes expliziert und zum entscheidenden

Merkmal der neuen Kunst hervorhebt“ eine wesentliche Eigenschaft der Minimal Art.168

Morris' Argumentation hatte enormen Einfluss.169 Seine Theorie wurde zum Nachteil

von Judd zur offiziellen Theorie der Minimal Art.170 Bis heute gilt er als einer der

wesentlichen Denker der Minimal Art.171 Vor allem die konzeptuellen Elemente in

Morris' Kunsttheorie zeigen, dass das endgültige Verschwinden des materiellen

Objektes im Kunstwerk in der Concept Art eine durchaus konsequente Folge der

Minimal Art war.

163Morris bedient sich der Phänomenologie von Merleau-Ponty, die 1962 in englischer Übersetzungherauskam (Meyer 2001, 160-161).

164Meyer 2001, 55. - Einige Autoren haben den Standpunkt vertreten, Minimal Art sei aus einerAblehnung des Abstrakten Expressionismus heraus entstanden. Dies sei nach Perica im Lichte derÄußerungen von Judd und Morris sehr zweifelhaft (Perica 2004, XIV-XV).

165Held 1972, 669-671.166Meyer 2001, 54. - Vor allem Specific Objects wurde oft falsch interpretiert. Einige Kritiker waren derAuffassung, Judd habe Langeweile zu einem ästhetischen Kriterium erklärt (Colpitt, 117).

167Perica 2004, 15, 18.168Perica 2004, V.169Michael Fried reagierte 1967 durch seinen Essay Art and Objecthood direkt auf die ersten beidenTeile von Notes on Sculpture. Nicht zufällig erschien dieser Aufsatz in derselben Ausgabe (Artforum,5, 10 (Sommer 1967)) wie Morris' Notes on Sculpture, Part III (Titz/Krümmel 2010, 7-8; Batchelor1997, 65-66).

170Meyer 2001, 166.171Titz/Krümmel 2010, 5.

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Page 24: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

6 Literaturverzeichnis

Batchelor 1997

Batchelor, David: Minimalism, London 1997.

Colpitt 1990

Colpitt, Frances: Minimal Art. The Critical Perspective, Seattle, Washington

[u.a.] 1990.

Held 1972

Held, Jutta: Minimal-art - eine amerikanische Ideologie, in: Neue Rundschau, 4

(1972), 660-677.

Judd 1965

Judd, Donald: Spezifische Objekte, übers. v. Christoph Hollender, in Stemmrich,

Gregor (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden/Basel 1995,

58-73 (engl. 1965).

Marlin 2008

Marlin, Constanze von: Public - art – space. Zum Öffentlichkeitscharakter der

Minimal Art; Carl Andre, Dan Flavin, Donald Judd, Sol LeWitt, Robert Morris,

Weimar 2008 (Diss. 2005).

Meyer 2001

Meyer, James Sampson: Minimalism. Art and polemics in the sixties, New

Haven/London 2001.

Morris, Notes 1, 1966

Morris, Robert: Bemerkungen zur Skulptur, in: Morris, Robert, Titz, Susanne,

Krümmel, Clemens (Hgg.): Bemerkungen zur Skulptur. Zwölf Texte, Zürich

2010, 23-31 (engl. 1966).

Morris, Notes 2, 1966

Morris, Robert: Bemerkungen zur Skulptur, Teil 2, in: Morris, Robert, Titz,

Susanne, Krümmel, Clemens (Hgg.): Bemerkungen zur Skulptur. Zwölf Texte,

Zürich 2010, 33-41 (engl. 1966).

Morris, Notes 3, 1967

Morris, Robert: Bemerkungen zur Skulptur, Teil 3: Fußnoten und

Gedankensprünge, in: Morris, Robert, Titz, Susanne, Krümmel, Clemens (Hgg.):

Bemerkungen zur Skulptur. Zwölf Texte, Zürich 2010, 43-52 (engl. 1967).

24

Page 25: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

Morris, Notes 4, 1969

Morris, Robert: Bemerkungen zur Skulptur, Teil 4: Jenseits der Objekte, in:

Morris, Robert, Titz, Susanne, Krümmel, Clemens (Hgg.): Bemerkungen zur

Skulptur. Zwölf Texte, Zürich 2010, 61-73 (engl. 1969).

Perica 2004

Perica, Blaženka: Specific objects. Theorie und Praxis im Werk von Donald

Judd, Kassel 2004.

Titz/Krümmel 2010

Titz, Susanne, Krümmel, Clemens: Vorwort, in: Morris, Robert, Titz, Susanne,

Krümmel, Clemens (Hgg.): Bemerkungen zur Skulptur. Zwölf Texte, Zürich

2010, 3-10.

25

Page 26: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

7 Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Claude Lorrain: Hafen mit dem Aufbruch der Königin, 1648, Öl auf

Leinwand, 148,6 x 193,7 cm, London, Nationalgalerie, aus: Prometheus-

Bildarchiv, URL: http://prometheus.uni-

koeln.de/pandora/image/large/Image-heidicon_kg-

cce637a738cef6fac143931ad866d768e84f2260 (Zugriff am 26.12.2010).

Abb. 2: Mark Rothko: O.T. (Gelb, Orange, Rot auf Orange), 1954, Öl auf

Leinwand, 292 x 231 cm, Sammlung Kate Rothko Prizel, aus:

Prometheus-Bildarchiv, URL: http://prometheus.uni-

koeln.de/pandora/image/large/Image-giessen_kup-

234535f5dd8e01bc641562fc4ac5ed7f395bc17c (Zugriff am 26.12.2010).

Abb. 3: Mark di Suvero: Tom, Installation im Atelier des Künstlers in New York,

1959, Holz, Metall, Seil und Elektrokabel, 274 x 305 x 366 cm, Detroit,

The Detroit Institute of Arts, aus: Prometheus-Bildarchiv, URL:

http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/large/Image-digidia-

44d4b881d357d79640881920ebaf24d1f9140330 (Zugriff am

26.12.2010).

Abb. 4: Anne Truitt: One, 1962, aus: Prometheus-Bildarchiv, URL:

http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/large/Image-digidia-

2921219239cfa2af2a164cc43104cc7e892dc5f4 (Zugriff am 26.12.2010).

Abb. 5: Richard Artschwager: Handle, 1962, Holz, 76,2 x 121,9 x 10,2 cm, Köln,

Sammlung Kasper König, aus: Prometheus-Bildarchiv, URL:

http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/large/Image-dadaweb-

4550afeeab04dde701f1f0d752c228fc82e8be9c (Zugriff am 26.12.2010).

Abb. 6: Frank Stella: Tomlinson Court Park, 1. Version, 1959, Emailfarbe auf

Leinwand, 220 x 280 cm, Essen, Museum Folkwang, aus: Prometheus-

Bildarchiv, URL: http://prometheus.uni-

koeln.de/pandora/image/large/Image-digidia-

6b9a185442d4f0c728a82c0a3a60090f0f40592a (Zugriff am 26.12.2010).

Abb. 7: Claes Oldenburg: Floor Burger, 1962, 132 x 213 x 65 cm, Toronto, Art

Gallery of Ontario, aus: Prometheus-Bildarchiv, URL:

http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/large/Image-digidia-

13a95ec53d44c4f950dbefbc8de391d22cf71c63 (Zugriff am 26.12.2010).

26

Page 27: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

Abb. 8: Jules Olitski: Hidden Combination, 1965, Acryl auf Leinwand, 215 x 53

cm, Privatsammlung, aus: Prometheus-Bildarchiv, URL:

http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/large/Image-digidia-

42e68fcaf830574bc0458f58176e0f1b96101fa4 (Zugriff am 26.12.2010).

Abb. 9: Morris Louis: Painting of Waters, 1961, Acryl auf Leinwand, 235 x 140

cm, Zürich, Kunsthaus, aus: Prometheus-Bildarchiv, URL:

http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/large/Image-heidicon_kg-

82f86027660d1d75098b73bb691723a40d0614a7 (Zugriff am

26.12.2010).

Abb. 10: Robert Morris: Installation in der Dwan Gallery, o. T. (Battered Cubes),

1966, Los Angeles, aus: Prometheus-Bildarchiv, URL:

http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/large/Image-hamburg-

a79e9a409bded1928e5dad9765d53e7bce91d555 (Zugriff am

26.12.2010).

27

Page 28: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

8 Anhang

28

Abb. 1:

Claude Lorrain: Hafen mit

dem Aufbruch der Königin,

1648, Öl auf Leinwand,

148,6 x 193,7 cm, London,

Nationalgalerie

Abb. 2:

Mark Rothko: O.T. (Gelb,

Orange, Rot auf Orange),

1954, Öl auf Leinwand, 292

x 231 cm, Sammlung Kate

Rothko Prizel

Page 29: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

29

Abb. 3:

Mark di Suvero: Tom, Installation im

Atelier des Künstlers in New York, 1959,

Holz, Metall, Seil und Elektrokabel, 274 x

305 x 366 cm, Detroit, The Detroit

Institute of Arts

Abb. 4:

Anne Truitt: One, 1962

Page 30: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

30

Abb. 5: Richard Artschwager: Handle, 1962, Holz, 76,2 x 121,9 x 10,2 cm, Köln,

Sammlung Kasper König

Abb. 6:

Frank Stella: Tomlinson Court Park, 1. Version, 1959, Emailfarbe auf Leinwand, 220 x

280 cm, Essen, Museum Folkwang

Page 31: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

31

Abb. 7: Claes Oldenburg: Floor Burger, 1962, 132 x 213 x 65 cm, Toronto, Art Galleryof Ontario

Abb. 8:

Jules Olitski:

Hidden

Combination,

1965, Acryl auf

Leinwand, 215 x

53 cm,

Privatsammlung

Abb. 9:

Morris Louis: Painting of Waters, 1961, Acryl

auf Leinwand, 235 x 140 cm, Zürich, Kunsthaus

Page 32: MINIMALISTEN IM KONFLIKT Donald Judd „Specific Objects“ versus Robert Morris „Notes on Sculpture“

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Abb. 10: Robert Morris: Installation in der Dwan Gallery, o. T. (Battered Cubes), 1966,Los Angeles