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Meister Eckhart Meister-Eckhart-Portal der Erfurter Predigerkirche Eckhart von Hochheim (bekannt als Meister Eck- hart, auch Eckehart ; * um 1260 in Hochheim oder in Tambach; [1] † vor dem 30. April 1328 in Avignon) war ein einflussreicher spätmittelalterlicher Theologe und Philosoph. Schon als Jugendlicher trat er in den Orden der Dominikaner ein, in dem er später hohe Ämter erlang- te. Mit seinen Predigten erzielte er nicht nur bei seinen Zeitgenossen eine starke Wirkung, sondern beeindruck- te auch die Nachwelt. Außerdem leistete er einen wich- tigen Beitrag zur Gestaltung der deutschen philosophi- schen Fachsprache. Sein Hauptanliegen war die Verbrei- tung von Grundsätzen für eine konsequent spirituelle Le- benspraxis im Alltag. Aufsehen erregten seine unkonven- tionellen, teils provozierend formulierten Aussagen und sein schroffer Widerspruch zu verbreiteten Überzeugun- gen. Umstritten war beispielsweise seine Aussage, der „Seelengrund“ sei nicht wie alles Geschöpfliche von Gott erschaffen, sondern göttlich und ungeschaffen. Im See- lengrund sei die Gottheit stets unmittelbar anwesend. Eckhart wird vielfach als Mystiker charakterisiert. In der neueren Forschung dominiert allerdings die Auffassung, dass der unterschiedlich definierte Begriff „Mystik“ als Bezeichnung für Elemente seiner Lehre irreführend oder zumindest erläuterungsbedürftig und nur eingeschränkt verwendbar ist. [2] Nach langjähriger Tätigkeit im Dienst des Ordens wur- de Eckhart erst in seinen letzten Lebensjahren wegen Häresie (Irrlehre, Abweichung von der Rechtgläubig- keit) denunziert und angeklagt. Der in Köln eingeleitete Inquisitionsprozess wurde am päpstlichen Hof in Avignon neu aufgerollt und zu Ende geführt. Eckhart starb vor dem Abschluss des Verfahrens. Da er sich von vornher- ein dem Urteil des Papstes unterworfen hatte, entging er als Person einer Einstufung als Häretiker, doch Papst Johannes XXII. verurteilte einige seiner Aussagen als Irr- lehren und verbot die Verbreitung der sie enthaltenden Werke. Dennoch hatte Eckharts Gedankengut beträchtli- chen Einfluss auf die spätmittelalterliche Spiritualität im deutschen und niederländischen Raum. 1 Leben 1.1 Herkunft, Ausbildung und Tätigkeit an der Pariser Universität Eckhart wurde um 1260 im heutigen Landkreis Gotha in Thüringen geboren. Wahrscheinlich war er ein Sohn des Ritters Eckhart, „genannt von Hochheim“, dessen Tod in einer Urkunde vom 19. Mai 1305 festgestellt wird. [3] Predigerkirche und Predigerkloster Erfurt Vermutlich um 1275 trat er in Erfurt in den Orden der Dominikaner (Predigerbrüder) ein. Im dortigen Domini- kanerkloster erhielt er wohl seine Grundausbildung. An einer der Hochschulen (Studium generale) seines Ordens, vermutlich in Köln, absolvierte er ein Studium. Dieses be- 1

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  • Meister Eckhart

    Meister-Eckhart-Portal der Erfurter Predigerkirche

    Eckhart von Hochheim (bekannt als Meister Eck-hart, auch Eckehart; * um 1260 in Hochheim oderin Tambach;[1] † vor dem 30. April 1328 in Avignon)war ein einflussreicher spätmittelalterlicher Theologe undPhilosoph. Schon als Jugendlicher trat er in denOrden derDominikaner ein, in dem er später hohe Ämter erlang-te. Mit seinen Predigten erzielte er nicht nur bei seinenZeitgenossen eine starke Wirkung, sondern beeindruck-te auch die Nachwelt. Außerdem leistete er einen wich-tigen Beitrag zur Gestaltung der deutschen philosophi-schen Fachsprache. Sein Hauptanliegen war die Verbrei-tung von Grundsätzen für eine konsequent spirituelle Le-benspraxis im Alltag. Aufsehen erregten seine unkonven-tionellen, teils provozierend formulierten Aussagen undsein schroffer Widerspruch zu verbreiteten Überzeugun-gen. Umstritten war beispielsweise seine Aussage, der„Seelengrund“ sei nicht wie alles Geschöpfliche von Gotterschaffen, sondern göttlich und ungeschaffen. Im See-lengrund sei die Gottheit stets unmittelbar anwesend.Eckhart wird vielfach als Mystiker charakterisiert. In derneueren Forschung dominiert allerdings die Auffassung,dass der unterschiedlich definierte Begriff „Mystik“ alsBezeichnung für Elemente seiner Lehre irreführend oder

    zumindest erläuterungsbedürftig und nur eingeschränktverwendbar ist.[2]

    Nach langjähriger Tätigkeit im Dienst des Ordens wur-de Eckhart erst in seinen letzten Lebensjahren wegenHäresie (Irrlehre, Abweichung von der Rechtgläubig-keit) denunziert und angeklagt. Der in Köln eingeleiteteInquisitionsprozess wurde am päpstlichen Hof in Avignonneu aufgerollt und zu Ende geführt. Eckhart starb vordem Abschluss des Verfahrens. Da er sich von vornher-ein dem Urteil des Papstes unterworfen hatte, entginger als Person einer Einstufung als Häretiker, doch PapstJohannes XXII. verurteilte einige seiner Aussagen als Irr-lehren und verbot die Verbreitung der sie enthaltendenWerke. Dennoch hatte Eckharts Gedankengut beträchtli-chen Einfluss auf die spätmittelalterliche Spiritualität imdeutschen und niederländischen Raum.

    1 Leben

    1.1 Herkunft, Ausbildung und Tätigkeitan der Pariser Universität

    Eckhart wurde um 1260 im heutigen Landkreis Gotha inThüringen geboren. Wahrscheinlich war er ein Sohn desRitters Eckhart, „genannt von Hochheim“, dessen Tod ineiner Urkunde vom 19. Mai 1305 festgestellt wird.[3]

    Predigerkirche und Predigerkloster Erfurt

    Vermutlich um 1275 trat er in Erfurt in den Orden derDominikaner (Predigerbrüder) ein. Im dortigen Domini-kanerkloster erhielt er wohl seine Grundausbildung. Aneiner der Hochschulen (Studium generale) seines Ordens,vermutlich in Köln, absolvierte er ein Studium. Dieses be-

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    https://de.wikipedia.org/wiki/Predigerkirche_(Erfurt)https://de.wikipedia.org/wiki/1260https://de.wikipedia.org/wiki/Hochheim_(Th%C3%BCringen)https://de.wikipedia.org/wiki/Tambach-Dietharzhttps://de.wikipedia.org/wiki/30._Aprilhttps://de.wikipedia.org/wiki/1328https://de.wikipedia.org/wiki/Avignonhttps://de.wikipedia.org/wiki/Sp%C3%A4tmittelalterhttps://de.wikipedia.org/wiki/Theologehttps://de.wikipedia.org/wiki/Philosophhttps://de.wikipedia.org/wiki/Ordensgemeinschafthttps://de.wikipedia.org/wiki/Dominikanerhttps://de.wikipedia.org/wiki/Spiritualit%C3%A4thttps://de.wikipedia.org/wiki/Gesch%C3%B6pflichkeithttps://de.wikipedia.org/wiki/Mystikhttps://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4resiehttps://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6lnhttps://de.wikipedia.org/wiki/Inquisitionhttps://de.wikipedia.org/wiki/Avignonhttps://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_XXII.https://de.wikipedia.org/wiki/Landkreis_Gothahttps://de.wikipedia.org/wiki/Th%C3%BCringenhttps://de.wikipedia.org/wiki/Erfurthttps://de.wikipedia.org/wiki/Ordensgemeinschafthttps://de.wikipedia.org/wiki/Predigerkirche_(Erfurt)https://de.wikipedia.org/wiki/Predigerkirche_(Erfurt)https://de.wikipedia.org/wiki/Studium_generale

  • 2 1 LEBEN

    gann mit den artes („Künsten“). Darunter verstand manin der ordensinternen Ausbildung nicht die Gesamtheitder Sieben Freien Künste, sondern speziell die Logikdes Aristoteles. Der nächste Abschnitt umfasste die na-turalia („Naturkunde“) und die Moralphilosophie. Dar-auf folgte die theologische Ausbildung und der Empfangder Priesterweihe. In Köln hat Eckhart vielleicht AlbertusMagnus, der 1280 starb, noch kennenlernen können. Manhat vermutet, dass er in Paris studierte, doch gibt es dafürkeinen konkreten Anhaltspunkt.[4]

    Jedenfalls hielt sich Eckhart von 1293 bis 1294 in Parisauf, wo er an der Universität als Lektor der Sentenzendes Petrus Lombardus tätig war. Für dieses Amt war einMindestalter von 33 Jahren vorgeschrieben. Seine An-trittsvorlesung, mit der er seine Lehrtätigkeit in Paris er-öffnete, hielt er im September oder Oktober 1293. Daserste gesicherte Datum aus seinem Leben ist der 18.April 1294, ein Ostersonntag, an dem er in der Kirchedes Dominikanerkonvents St. Jacques in Paris die Fest-predigt hielt. Nach Beendigung dieses Ausbildungsab-schnitts kehrte er noch vor Ende 1294 nach Erfurt zurück.1302wurde Eckhart in Paris, an der damals berühmtestenUniversität des Abendlandes, zum Magister der Theolo-gie promoviert. Auf seinen eingedeutschten Magisterti-tel bezieht sich die gängige Bezeichnung „Meister“ Eck-hart. Nach der Promotion erhielt er für ein Jahr den fürNichtfranzosen reservierten Lehrstuhl der Dominikaner.Zu seinen Aufgaben gehörte neben der Vorlesung und derLeitung der Disputationen auch das Predigen.

    1.2 Im Dienst des Ordens

    1294 wurde Eckhart Prior des Erfurter Dominikaner-klosters und Vikar (Stellvertreter) des Provinzials, der dieOrdensprovinz Teutonia leitete, in Thüringen. Das Amtdes Provinzials übte damals der Philosoph Dietrich vonFreiberg aus, dessen Denkweise Eckhart beeinflusste.[5]

    Auf dem am 8. September 1303 erstmals stattfinden-den Provinzkapitel in Erfurt wurde Eckhart zum erstenProvinzial der Ordensprovinz Saxonia gewählt, die wei-te Teile Nord- und Mitteldeutschlands sowie die heutigenNiederlande umfasste und im Osten bis Lettland reichte.Die Saxonia war aus der Teilung der zu groß geworde-nen Provinz Teutonia (Eckharts Heimatprovinz) hervor-gegangen, die das Generalkapitel des Ordens zu Pfings-ten 1303 beschlossen hatte. Bei ihrer Gründung bestanddie Saxonia aus 47 Männerklöstern, zu denen währendEckharts Amtszeit drei weitere hinzukamen, und einigenFrauenklöstern. Sie wurde von Erfurt aus geleitet. Aufdem Generalkapitel in Toulouse Pfingsten 1304 wurdedie Wahl Eckharts bestätigt. Wahrscheinlich zu diesemAnlass hielt der neue Provinzial auf dem Provinz- unddem Generalkapitel je eine Predigt und Vorlesung überdas 24. Kapitel des Buches Jesus Sirach (Ecclesiasticus).Zu Pfingsten 1307 wurde Eckhart auf dem Generalkapi-tel in Straßburg zum Generalvikar (Vertreter des Gene-

    ralmeisters) für die böhmische Dominikanerprovinz er-nannt. In den dortigen Konventen sollte er durchgrei-fende Reformen durchführen. Im Herbst 1310 wurde erauf dem Provinzkapitel der Ordensprovinz Teutonia inSpeyer zu deren Provinzial gewählt. Der Generalmeisterweigerte sich jedoch, die Wahl zu bestätigen. Das Gene-ralkapitel in Neapel entband Eckhart am 30. Mai 1311seines Amtes als Provinzial der Saxonia und schickte ihnzu einer zweiten Lehrtätigkeit wieder an die Universi-tät Paris. Dort besetzte er erneut den für Nichtfranzo-sen bestimmten Lehrstuhl. Die wiederholte Übernahmedes Lehrstuhls war eine Auszeichnung, die vor ihm nurThomas von Aquin zuteilgeworden war.Eckharts Aufenthalt in Straßburg, oft als sein „Straßbur-ger Jahrzehnt“ bezeichnet, soll von 1313/1314 bis1322/1324 gedauert haben. In der Forschung wird ange-nommen, dass er als Generalvikar dem dortigen Domini-kanerkloster zugewiesen war. Allerdings wird ein durch-gängiger Aufenthalt in Straßburg von manchen Forschernbezweifelt, da er nur durch drei datierte Urkunden von1314, 1316 und 1322 gestützt wird. Oft wird die Ansichtvertreten, dass in diesen Jahren die Seelsorge in Frauen-klöstern zu seinen Hauptpflichten gehörte. Einer ande-ren Forschungsmeinung zufolge war er in Straßburg mitLehraufgaben betraut.[6]

    Ab 1323/24 war Eckhart in Köln. Zu seinen dortigenHauptaufgaben gehörte das Predigen. Für eine Lehrtä-tigkeit gibt es keinen Beleg, doch angesichts seiner Qua-lifikation liegt die Vermutung nahe, dass der Orden ihnals Lektor am Studium generale einsetzte.[7]

    1.3 Anklage und Prozess in Köln

    In Köln wurde Eckhart 1325 von seinen Ordensbrü-dern Hermann de Summo und Wilhelm von Nideckebeim dortigen Erzbischof Heinrich II. von Virneburg derHäresie (Abweichung von der Rechtgläubigkeit) bezich-tigt. Laut einer 1327 abgefassten Stellungnahme Ger-hards von Podanhs, der Vikar des Generalprokuratorsdes Dominikanerordens war, handelte es sich bei bei-den Anklägern um Mönche, die sich mit schwerwiegen-den Verstößen gegen die Ordensdisziplin strafbar ge-macht hatten; Gerhard forderte ihre Verhaftung. Obwohldie beiden Ankläger offenbar im eigenen Orden kei-nen Rückhalt hatten, war ihr Vorstoß erfolgreich. Derfür Härte in Fällen von Häresieverdacht bekannte Erz-bischof leitete eine Untersuchung ein, mit der er zweiInquisitionskommissare, Reinerius Friso und Petrus deEstate, beauftragte. Reinerius war ein Kölner Domherr,Petrus gehörte dem mit den Dominikanern rivalisieren-den Franziskanerorden an. Zwischen August 1325 undSeptember 1326 wurde Anklage erhoben. Die Kommis-sare, die zugleich die Richter im Häresieprozess waren,legten dem Angeklagten zwei Listen seiner beanstande-ten Aussagen vor. Die erste enthielt 49 Sätze aus seinenlateinischen Werken und − in lateinischer Übersetzung– aus einer seiner deutschen Schriften (dem Trostbuch)

    https://de.wikipedia.org/wiki/Sieben_Freie_K%C3%BCnstehttps://de.wikipedia.org/wiki/Logikhttps://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteleshttps://de.wikipedia.org/wiki/Moralphilosophiehttps://de.wikipedia.org/wiki/Weihesakramenthttps://de.wikipedia.org/wiki/Albertus_Magnushttps://de.wikipedia.org/wiki/Albertus_Magnushttps://de.wikipedia.org/wiki/Lesemeisterhttps://de.wikipedia.org/wiki/Sentenzhttps://de.wikipedia.org/wiki/Petrus_Lombardushttps://de.wikipedia.org/wiki/Konvent_(Kloster)https://de.wikipedia.org/wiki/Jakobinerkloster_Parishttps://de.wikipedia.org/wiki/Magisterhttps://de.wikipedia.org/wiki/Promotion_(Doktor)https://de.wikipedia.org/wiki/Lehrstuhlhttps://de.wikipedia.org/wiki/Disputationhttps://de.wikipedia.org/wiki/Priorhttps://de.wikipedia.org/wiki/Vikarhttps://de.wikipedia.org/wiki/Provinzialhttps://de.wikipedia.org/wiki/Ordensprovinzhttps://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_von_Freiberghttps://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_von_Freiberghttps://de.wikipedia.org/wiki/Provinzkapitelhttps://de.wikipedia.org/wiki/Niederlandehttps://de.wikipedia.org/wiki/Lettlandhttps://de.wikipedia.org/wiki/Generalkapitelhttps://de.wikipedia.org/wiki/Toulousehttps://de.wikipedia.org/wiki/Jesus_Sirachhttps://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fburghttps://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6hmenhttps://de.wikipedia.org/wiki/Speyerhttps://de.wikipedia.org/wiki/Neapelhttps://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_von_Aquinhttps://de.wikipedia.org/wiki/Seelsorgehttps://de.wikipedia.org/wiki/Erzbischofhttps://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_II._von_Virneburghttps://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4resiehttps://de.wikipedia.org/wiki/Generalprokuratorhttps://de.wikipedia.org/wiki/Inquisitionhttps://de.wikipedia.org/wiki/Domherrhttps://de.wikipedia.org/wiki/Franziskanische_Orden

  • 1.4 Prozess in Avignon und Tod 3

    und aus seinen deutschen Predigten. Die zweite Liste be-stand aus 59 ins Lateinische übersetzten Sätzen aus dendeutschen Predigten. Offenbar wurden noch weitere Lis-ten erstellt. Schon zuvor hatte der Dominikaner Nikolausvon Straßburg, der damals Generalvikar der Ordenspro-vinz Teutonia war, eine ordensinterne Überprüfung vonEckharts Rechtgläubigkeit eingeleitet, womit er auf Be-schuldigungen reagierte. Nikolaus fand nichts Anstößi-ges. Weil er sich für Eckhart einsetzte, wurde er eben-falls angeklagt. Der Vorwurf lautete, er habe die Häresiebegünstigt.

    Eine Seite aus Eckharts Stellungnahme zur Anklage. HandschriftSoest, Stadtarchiv und Wissenschaftliche Stadtbibliothek, CodexNr. 33, Blatt 57v

    Am 26. September 1326 überreichte Eckhart den Inqui-sitionskommissaren eine Stellungnahme, die Responsioad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis. Dar-in bestritt er nicht nur seine Schuld, sondern auch dieRechtsgrundlage des Verfahrens, da wegen der Privile-gien seines Ordens ein erzbischöfliches Gericht für sei-nen Fall nicht zuständig sei. Dennoch sei er bereit, zu denVorwürfen Stellung zu nehmen. Das Fehlen eines Präze-denzfalls – es war noch nie ein Häresieverfahren gegen ei-nen so hochrangigen Theologen und Ordensmann durch-geführt worden − verunsicherte anscheinend die Inqui-sitoren. Jedenfalls wurde das Verfahren verschleppt. Am24. Januar 1327 appellierte Eckhart an denApostolischenStuhl. Dabei beklagte er, dass die Richter immer wie-der Termine ansetzten, aber zu keinem Urteil kämen,und dass die Kommission schlecht beleumundeten Per-

    sonen (den Anklägern) mehr Vertrauen schenke als ihm.Außerdem sei er bereits durch die Untersuchung des Ni-kolaus von Straßburg entlastet worden. Am 13. Februar1327 ließ er einen schriftlichen pauschalen Widerruf sei-ner allfälligen Glaubensirrtümer in der Dominikanerkir-che öffentlich verlesen. Diese Erklärung (protestatio), dienotariell beglaubigt wurde, übersetzte er persönlich insDeutsche. Sie ist allgemein formuliert und enthält keineDistanzierung von einzelnen beanstandeten Äußerungen,sondern nur die Versicherung, er widerrufe im Vorhin-ein jeden Irrtum, den man ihm nachweisen könne. Da-mit beugte er der Beschuldigung vor, ein hartnäckigerHäretiker zu sein, was nach damaligem Recht im Falleines Schuldspruchs zu einem Todesurteil hätte führenmüssen.[8]

    1.4 Prozess in Avignon und Tod

    Die Kölner Inquisitionskommission akzeptierte die Beru-fung an den Papst nicht und teilte dies dem Angeklagtenam 22. Februar 1327 mit. Dennoch wurde das Verfah-ren in Köln abgebrochen und die Klärung der Angelegen-heit dem Papst überlassen. Damals residierte der Papstnicht in Rom, sondern in Avignon. Dorthin begab sichEckhart. Er wurde von mehreren Ordensbrüdern, darun-ter dem Provinzial der Teutonia, begleitet und vom Vikardes Generalprokurators der Dominikaner nachdrücklichunterstützt. Zu diesem Zeitpunkt stand somit sein Ordennoch hinter ihm.Nun prüfte eine päpstliche Untersuchungskommissiondie aus Köln übersandten Akten und gab dem Beschul-digten Gelegenheit zur Stellungnahme. Von den insge-samt rund 150 verdächtigen Aussagen, welche die An-klage in Köln zusammengestellt hatte, blieben 28 übrig,die von der Kommission als verwerflich eingestuft wur-den. Wie schon in Köln machte der Angeklagte auch inAvignon geltend, er könne zwar in seinen theologischenAnnahmen geirrt haben, doch sei dies kein Grund, an sei-ner Rechtgläubigkeit zu zweifeln und ihn als Häretikereinzustufen. Häresie könne nur vorliegen, wenn der Wil-le dazu vorhanden sei. Diesmal war er mit dieser Argu-mentation erfolgreich. In dem neuen Prozess am päpstli-chen Hof ging es nicht mehr um die Frage, ob er als Hä-retiker einzustufen war, sondern es wurde nur in einemLehrbeanstandungsverfahren geprüft, ob seine suspektenAussagen häretische Irrtümer enthielten.Schließlich erstellte die Kommission ein Protokoll, das„Gutachten von Avignon“, in dem sie die Verwerflichkeitder 28 Sätze feststellte und begründete. Wie in solchenVerfahren üblich wurden nicht ganze Schriften des An-geklagten oder sein Gesamtwerk beurteilt, sondern nureinzelne Sätze gemäß ihrem Wortlaut (prout sonant) oh-ne Berücksichtigung des Sinns der Texte, denen sie ent-nommen waren. Eckharts Werke lagen der Kommissi-on nicht vor. Der Kardinal Jacques Fournier, der späterePapst Benedikt XII., erstellte ein zusätzliches ausführli-ches Gutachten, in dem er einen Teil von Eckharts Sätzen

    https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_von_Stra%C3%9Fburghttps://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_von_Stra%C3%9Fburghttps://de.wikipedia.org/wiki/Soesthttps://de.wikipedia.org/wiki/Rechtsgrundlagehttps://de.wikipedia.org/wiki/Berufung_(Recht)https://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Stuhlhttps://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Stuhlhttps://de.wikipedia.org/wiki/Avignonesisches_Papsttumhttps://de.wikipedia.org/wiki/Lehrbeanstandungsverfahrenhttps://de.wikipedia.org/wiki/Benedikt_XII.

  • 4 2 WERKE

    für häretisch erklärte.

    Abschrift der Bulle In agro dominico (Handschrift I 151, Stadt-bibliothek Mainz).

    Eckhart starb zwischen Juli 1327 undApril 1328 vor demAbschluss des Verfahrens, aller Wahrscheinlichkeit nachimDominikanerkloster Avignon, denn es ist davon auszu-gehen, dass er sich dem päpstlichen Gericht während derganzenDauer des Prozesses zur Verfügung haltenmusste.Als Todestag gilt traditionell der 28. Januar 1328, dennnach einem Vermerk des Dominikaners Friedrich Steillaus dem Jahr 1691 wurde am 28. Januar im Orden dasGedächtnis seines Todes begangen. Ob das Gedenken aufeiner tatsächlichenKenntnis des Todestags basierte, ist al-lerdings unklar.[9]

    Nach Eckharts Tod wurde das Verfahren fortgesetzt. Esendete mit der Verurteilung der 28 Sätze, die teils als hä-retisch, teils als häresieverdächtig eingestuft wurden.[10]In der Bulle In agro dominico vom 27. März 1329 teilteder Papst mit, Eckhart habe vor seinem Tod seine Irrtü-mer vollständig widerrufen. Der Wortlaut dieser Urkun-de lässt allerdings erkennen, dass Eckhart es vermiedenhat, seine angegriffenen Lehren als unwahr zu bezeich-nen. Vielmehr hielt er an seinen theologischen Überzeu-gungen fest und distanzierte sich nicht von dem, was ermit seinen beanstandeten Aussagen gemeint hatte. Er ver-warf nur pauschal möglicherweise vorkommende häre-tische, glaubensfeindliche Fehldeutungen seiner Thesen.Damit gab sich der Papst zufrieden.[11]

    2 Werke

    Die Werke Eckharts sind teils in lateinischer, teils inmittelhochdeutscher Sprache abgefasst. Keines von ih-nen ist als Autograf erhalten. Die deutschen Werke sindwesentlich breiter überliefert als die lateinischen. Nebenkompletten Werken sind Entwürfe, teils winzige Frag-mente sowie Zitate in fremden Schriften erhalten. Inmanchen Fällen ist die Authentizität allerdings strittig.

    2.1 Deutsche Werke

    Mit seinen deutschen Werken wendet sich Eckhart aus-drücklich auch und besonders an die „ungelehrten Leute“.Er verwirft die Vorstellung einer nur den theologisch ge-bildeten Lateinkundigen zugänglichen Wahrheit, die vordem einfachen Volk zu verbergen sei. Nach seiner Über-zeugung soll man auch die erhabensten Lehren der allge-meinen Öffentlichkeit verkünden, denn die Ungelehrtenseien diejenigen, die der Belehrung bedürfen. Das Risiko,dass manches nicht richtig verstanden wird, sei in Kauf zunehmen.[12] Die deutschen Werke sind:

    • Die rede der underscheidunge (oft als „Reden derUnterweisung“ übersetzt; der überlieferte Titel istnicht authentisch). Dies ist eine Sammlung vonzwanglos aneinandergereihten Unterweisungen übereine Vielzahl geistlicher Themen und Fragen der Le-bensführung. Die zwischen 1294 und 1298 in Er-furt entstandene Schrift enthält Antworten auf Fra-gen der (geistlichen) „Kinder“, das heißt der Mön-che, mit denen der Autor als Prior Lehrgesprächeführte. Es ist das am breitesten überlieferte WerkEckharts.

    • Die Predigten. Bisher sind 110 deutsche Predigtenkritisch ediert, weitere 18 werden noch zur Editionvorbereitet. Zu den bekanntesten Predigten zählenNr. 86 Intravit Iesus in quoddam castellum und Nr.52 Beati pauperes spiritu. Eine Predigtsammlung des14. Jahrhunderts, der Paradisus anime intelligentis(„Paradies der vernünftigen Seele“), enthält 64 Pre-digten, von denen die Hälfte von Eckhart stammt.In der älteren Forschung wurde vermutet, dass essich bei den erhaltenen Predigttexten großenteils umunautorisierte Aufzeichnungen von Hörern handelt.Das ist aber nach heutigem Forschungsstand un-wahrscheinlich. Philologische und historische Indi-zien sprechen dafür, dass Eckhart die Texte autori-siert hat (abgesehen von vereinzelten Ausnahmen).Wahrscheinlich hat er selbst eine Sammlung seinerdeutschen Predigten schriftlich fixiert, wobei es sichnicht um bloße Kopien gehaltener Ansprachen han-delte, sondern um für ein Lesepublikum redigier-te Fassungen. Allerdings wurden die überliefertenTexte zum Teil von späteren Redaktoren erheblich

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  • 2.2 Lateinische Werke 5

    Fragment der deutschen Predigt 5b in einer Handschrift, die zuEckharts Lebzeiten angefertigt wurde[13]

    überarbeitet. Außerdem muss mit überlieferungsbe-dingter Textverderbnis gerechnet werden.[14]

    • Das „Buch der göttlichen Tröstung“. Eckhartschrieb das zur Gattung der Trostschriften gehören-de Werk für die verwitwete Königin Agnes von Un-garn, deren Vater, König Albrecht I., 1308 ermordetworden war. Dass die Königin Eckhart mit der Ab-fassung dieser Schrift beauftragte, zeugt von seinemhohen Ansehen. Zusammen mit der Predigt „Vomedlen Menschen“ bildet das „Buch der göttlichenTröstung“ den Liber Benedictus („Buch ’Gelobt’“),der nach den lateinischen Anfangsworten Benedic-tus deus („Gelobt sei Gott“) so genannt wird.

    • Das GedichtGranum sinapis („Das Senfkorn“), des-sen Echtheit nicht gesichert, aber plausibel ist. Esist zusammen mit einem lateinischen Kommentarüberliefert, der früher zu Unrecht Eckhart selbst zu-geschrieben wurde.[15]

    Umstritten ist die Echtheit des Traktats „Von Abgeschie-denheit“, in dem ein zentraler Begriff von Eckharts Leh-re erläutert wird. Der Herausgeber Josef Quint hält denTraktat für echt, andere Forscher bestreiten die Authen-tizität. Nach Ansicht von Kurt Ruh bestehen weitgehen-de Übereinstimmungen mit Eckharts authentischer Lehreund seinem Stil, doch stammt die Schrift nicht von ihmselbst.[16]

    2.2 Lateinische Werke

    Unter den lateinischen Werken nimmt das unvollendete„dreiteilige Werk“ (Opus tripartitum) den größten Raumein. In den drei Teilen gedachte der Autor umfassend überseine Lehre zu informieren sowie seine Hinweise und An-weisungen für die Lebenspraxis zusammenzustellen. Sei-nem in der Vorrede dargelegten Plan zufolge sollte denersten Teil das „Werk der Lehrsätze“ (Opus propositio-num) bilden, für das die Behandlung von mehr als tau-send Lehrsätzen vorgesehen war, verteilt auf 14 Abhand-lungen (tractatus). In jeder Abhandlung wollte Eckhartzunächst einen grundlegenden philosophischen Terminusund dessen Gegensatz erörtern und klären (beispielsweisedas Seiende und das Nichts, das Eine und das Viele, dasWahre und das Falsche, das Gute und das Übel) und danndie Lehrsätze vortragen, die sich auf den jeweiligen Ter-minus beziehen. Als zweiter Teil war ein „Werk der Fra-gen (Probleme)“ (Opus quaestionum) geplant. Der dritteTeil, das „Werk der Auslegungen“ (Opus expositionum),sollte die exegetischen Werke umfassen und aus zwei Be-standteilen bestehen: den Bibelkommentaren – Eckhartplante alle Bücher beider Testamente zu kommentieren –und einer Sammlung von lateinischen Predigten, in denenbiblische Texte ausgelegt wurden. Das gewaltige Vorha-ben konnte nur ansatzweise verwirklicht werden. Einigeder Kommentare zu Büchern der Bibel liegen vor.Von den lateinischen Werken sind erhalten geblieben:

    • Vorreden zum Opus tripartitum: eine allgemeineVorrede (Prologus generalis) und Vorreden zum„Werk der Lehrsätze“ und zum „Werk der Ausle-gungen“

    • Zwei Kommentare zum Buch Genesis. Der zweitemit dem Titel „Buch der Gleichnisse der Genesis“(Liber parabolarum Genesis) behandelt die symbo-lische Deutung von Begebenheiten, die im Buch Ge-nesis erzählt werden.

    • Der Kommentar zum Buch Exodus

    • Der Kommentar zum Buch der Weisheit (Expositiolibri Sapientiae)

    • Die Auslegung des Evangeliums nach Johannes

    • Zwei Predigten und zwei Vorlesungen über das 24.Kapitel des Buches Jesus Sirach (Sermones et lectio-nes super Ecclesiastici caput 24)

    • Ein Fragment eines Kommentars zum Hohen Lied

    • Die „Pariser Quaestionen“ (Quaestiones Parisien-ses), aus dem Lehrbetrieb hervorgegangene Proble-merörterungen, in denen Eckhart unter anderem sei-ne Position in der Frage des Verhältnisses von Seinund Erkennen in Gott und in Geschöpfen darlegtund damit den Gegensatz zwischen seiner Theolo-gie und der thomistischen herausarbeitet.

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  • 6 3 LEHRE

    • Die in Paris 1293 gehaltene Antrittsvorlesung (prin-cipium) über die Sentenzen des Petrus Lombardus(Collatio in libros Sententiarum)

    • Die Predigten (sermones). Nur ein Teil davon istvollständig ausgearbeitet, für andere liegen nur Ent-würfe oder bloße Stichwortsammlungen vor.

    • Eine kurze Erklärung des Vaterunsers

    3 Lehre

    Eckharts Lehre kreist um zwei Pole: Gott und diemenschliche Seele. Er will seine Hörer bzw. Leser überdie Beschaffenheit der Seele und (soweit möglich) überGott aufklären und darüber belehren, wie sich Gott undSeele zueinander verhalten. Dabei spielt für ihn der Pra-xisbezug seiner Ausführungen eine zentrale Rolle. DerHörer oder Leser soll dazu angeleitet werden, anhand ei-gener Selbst- und Gotteserfahrung zu den von Eckhartbeschriebenen Einsichten zu gelangen. Den Ausgangs-punkt der Behandlung dieser Thematik bildet die Frage,wie Gotteserkenntnis zustande kommen kann und welcheVoraussetzungen dafür erfüllt sein müssen.

    3.1 Vorgehensweise

    Zur Untermauerung und Illustration seiner Behauptun-gen zitiert Eckhart reichlich Autoritäten: sowohl bibli-sche Texte als auch antike und mittelalterliche Kirchen-schriftsteller und nichtchristliche Philosophen. Er be-dient sich der vom Aristotelismus geprägten Termino-logie der Universitätswissenschaft seiner Zeit; inhaltlichsteht er allerdings dem Neuplatonismus näher als demaristotelischen Denken. Unter den Autoren, die er beson-ders schätzt, spielt neben dem spätantiken KirchenvaterAugustinus der mittelalterliche Philosoph Maimonideseine herausragende Rolle.[17] Die Kernaussagen seinerLehre fußen aber trotz dieses geistesgeschichtlichen Hin-tergrunds nicht in erster Linie auf einer allgemein an-erkannten philosophischen und theologischen Tradition,der er sich anschließt. Wichtiger als die Berufung auf Au-toritäten ist für ihn die auf Vernunft und Erfahrung[18] ge-stützte Einsicht. Er hält seine Einsichten für universal gül-tig und will seinem Publikum den Nachvollzug auch an-spruchsvoller Inhalte ermöglichen. Allerdings erfordertder Nachvollzug viel mehr als ein rein gedankliches Er-fassen der Schlüssigkeit der Darlegungen. Jeder, der Eck-harts zentrale Aussagen wirklich verstehen und beurtei-len will, hat erst in sich selbst die erforderlichen Voraus-setzungen zu schaffen: Denn, solange der Mensch dieserWahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nichtverstehen; denn dies ist eine unverhüllte Wahrheit, die dagekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar. Dasswir so leben mögen, dass wir es ewig erfahren, dazu hel-fe uns Gott.[19] Sind die Voraussetzungen geschaffen, so

    kann dieWahrheit als solche mit Gewissheit erkannt wer-den.Mit dieser Herangehensweise gelangt Eckhart zu Ergeb-nissen, die für einen kirchlichen Autor seiner Zeit un-gewöhnlich sind und sein Denken als kühn und origi-nell erscheinen lassen. Dabei besteht – entgegen einerfrüher verbreiteten Ansicht – kein Gegensatz zwischenden deutschen und den lateinischenWerken. Eckhart willnicht nur ein gebildetes Publikum erreichen, sondern al-le, die seiner Lehre Interesse entgegenbringen. Als Pre-diger wendet er sich in deutscher Sprache auch an Höreroder Leser, die über wenig philosophische oder theologi-sche Vorkenntnisse verfügen. Er stellt aber hohe Anfor-derungen an die Bereitschaft des Publikums, sich auf un-gewohnte und mitunter überspitzt formulierte Gedanken-gänge einzulassen. In der Exegese weicht er oft von derwörtlichen Bedeutung der auszulegenden Bibelstellen ab,um einen verborgenen Sinn zu finden.[20] Über die scho-ckierende Kühnheit seiner Behauptungen ist er sich imklaren; im Prolog zum Opus tripartitum schreibt er, man-ches erscheine auf den ersten Blick monströs, zweifelhaftoder falsch.

    3.2 Lehre von Gott und der Gottheit

    Gott ist für die mittelalterlichen Scholastiker das Objektsowohl philosophischer als auch theologischer Erkennt-nisbemühungen. Er soll einerseits über die Offenbarungund andererseits mittels der Vernunft erkannt werden.Eckhart unterscheidet nicht zwischen diesen beiden Her-angehensweisen. Theologie und Philosophie bilden fürihn eine Einheit; weder ist die Philosophie der Theo-logie untergeordnet noch sind sie wegen unterschiedli-cher Methodik zu trennen. Philosophische Überlegun-gen und Argumente stehen gleichwertig neben theologi-schen. Für Eckhart ist – im Gegensatz zur Auffassungvieler patristischer und mittelalterlicher Theologen – je-der Bereich der Theologie grundsätzlich philosophischerReflexion zugänglich und mit philosophischen Aussagenerfassbar.[21] Gemäß dieser Grundhaltung hält Eckhartauch den Unterschied zwischen natürlichen und über-natürlichen Vorgängen für unwesentlich und empfiehlt,man solle sich nicht darum kümmern, da beides gleicher-maßen von Gott gewirkt sei.[22] Fundamental ist für dasVerhältnis des Menschen zu Gott der Unterschied zwi-schen Glauben und Kennen; der Glaube verhält sich zumSchauen oder vollkommenen Erkennen wie eineMeinungzum Beweis, wie etwas Unvollkommenes zum Vollkom-menen. Es gilt also nicht beim Glauben zu bleiben, son-dern vom Glauben zum Kennen voranzuschreiten.[23]

    Gott und GottheitEckhart weist den Begriffen „Gott“ und „Gottheit“ nichtdie gleiche Bedeutung zu, sondern er bezeichnet mit ih-nen unterschiedliche Ebenen, auf denen sich die göttlicheWirklichkeit dem Menschen zeigen kann. Er behauptet,Gott und Gottheit seien so weit voneinander verschieden

    https://de.wikipedia.org/wiki/Vaterunserhttps://de.wikipedia.org/wiki/Aristotelismushttps://de.wikipedia.org/wiki/Neuplatonismushttps://de.wikipedia.org/wiki/Kirchenvaterhttps://de.wikipedia.org/wiki/Augustinus_von_Hippohttps://de.wikipedia.org/wiki/Maimonideshttps://de.wikipedia.org/wiki/Exegesehttps://de.wikipedia.org/wiki/Scholastikhttps://de.wikipedia.org/wiki/Patristik

  • 3.2 Lehre von Gott und der Gottheit 7

    wie Himmel und Erde.[24] Durch die Offenbarung begeg-net dem nach Gotteserkenntnis strebenden Menschen zu-nächst der im Sinne der Trinitätslehre dreifaltige Gott.Als Vater zeugt Gott, als Schöpfer ist er die vorbildli-che Ursache alles Geschaffenen, als Dreifaltigkeit tritt erin drei Personen in Erscheinung. Die drei Personen (Va-ter, Sohn und Heiliger Geist) bilden zwar aufgrund ihrerWesensgleichheit eine Einheit, doch besteht zwischen ih-nen zugleich ein realer Unterschied, sodass innerhalb derTrinität innergöttliche Beziehungen und Vorgänge mög-lich sind.Vom Dasein Gottes, insoweit er Schöpfer ist und sei-nen Geschöpfen in dieser Eigenschaft entgegentritt, un-terscheidet Eckhart eine höhere Ebene der Wirklichkeitdes Göttlichen, auf der dieses als „Gottheit“ oder als „ein-faltiges Eins“ erscheint, „oberhalb von Gott“.[25] Termi-nologisch ist die Unterscheidung zwischen Gott und Gott-heit bei Eckhart allerdings nicht durchgängig konsequentdurchgeführt. Er verwendet das Wort „Gott“ auch fürAussagen, die sich auf das beziehen, was er sonst „Gott-heit“ nennt. Damit richtet er sich nach der seinem Publi-kum – insbesondere den Hörern seiner Predigten – ge-läufigen Ausdrucksweise. Was gemeint ist, ist jeweils ausdem Zusammenhang ersichtlich.[26]

    Auf der Ebene der „Gottheit“ oder des „Einen“ ist diegöttliche Wirklichkeit für den, der sich ihr nähern will,nicht mehr eine im Sinne der Dreifaltigkeitslehre be-stimmbare Instanz, die zeugt und schafft. Die Gottheitbringt nichts hervor, sie teilt sich nicht zeugend underzeugend mit, sondern ist auf nichts als sich selbstbezogen.[27] Doch obwohl auf der Gottheitsebene die Be-ziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf gerade nichtin Betracht kommt, ist sie ebenso wie die Ebene desSchöpfergottes dem Menschen real zugänglich. Man sollbei Gott nicht „stehen bleiben“, sondern „durchbrechen“zur Gottheit.[28] Die Gottheit ist der überpersönliche As-pekt der göttlichen Gesamtwirklichkeit. Nichts Bestimm-tes kann über sie ausgesagt werden, da sie sich jenseitsjeglicher Differenzierung befindet. Sie ist „weiselos“ (oh-ne Eigenschaften, durch die sie definiert werden könnte),ist ein „grundloser Grund“ und eine „stille Wüste“, eine„einfaltige Stille“.[29] Darin stimmt die Gottheit Eckhartsmit dem Einen überein, der höchsten Gegebenheit imSystem des Neuplatonismus. Das Eine ist der Ursprungvon allem und kann daher keinerlei Merkmale aufweisen,denn jedes Merkmal wäre zugleich eine Begrenzung undals solche mit dem allumfassenden und undifferenzier-ten Charakter des Einen unvereinbar. Da Gott keine sol-chen Begrenzungen aufweist, gibt es nichts, was er nichtist; somit ist er „ein Verneinen des Verneinens“.[30] Mitdiesem Ansatz folgt Eckhart der Tradition der negativenTheologie, insbesondere der Lehre des Pseudo-DionysiosAreopagita.Gott als Person mit persönlichen Eigenschaften, die inseinen Namen ausgedrückt werden, existiert auf einerEbene, die von derjenigen der Gottheit abgetrennt undihr untergeordnet ist. Wenn er sich seinem eigenen unper-

    sönlichen Aspekt zuwenden wollte, so müsste er – eben-so wie ein Mensch, der dies tut – alles beiseitelassen, wasseine Besonderheit ausmacht. Somit kommt auch die Ei-genschaft, Dreifaltigkeit zu sein, zwar Gott zu, nicht aberder Gottheit. Dazu bemerkt Eckhart: Dies ist leicht ein-zusehen, denn dieses einige Eine ist ohne Weise und ohneEigenheit. Und drum: Soll Gott je darein lugen, so muss esihn alle seine göttlichen Namen kosten und seine person-hafte Eigenheit; das muss er allzumal draußen lassen, soller je darein lugen.[31]

    Wie die Neuplatoniker spricht Eckhart der Gottheit so-mit nicht nur alle Gott kennzeichnenden Eigenschaftenwie „gut“ oder „weise“ ab, sondern konsequenterweiseauch das Sein, da das Sein auch eine Bestimmung istund als solche dem Bestimmungslosen nicht zukommenkann. Wenn daher vom göttlichen Bereich nicht unterdemAspekt „Gott“, sondern unter demAspekt „Gottheit“die Rede ist, trifft die Aussage, dass diese Wirklichkeit„ist“, nicht zu; vielmehr handelt es sich um „ein übersei-endes Sein und eine überseiende Nichtheit“.[32] Daher istdie Gottheit auch kein Erkenntnisobjekt, weder für sichselbst noch für andere, denn wo ein erkennendes Subjektvon einem erkannten Objekt geschieden ist, handelt essich nicht um die Ebene der Gottheit. Dazu bemerkt Eck-hart: Die verborgene Finsternis des unsichtbaren Lichtesder ewigen Gottheit ist unerkannt und wird auch nimmer-mehr erkannt werden.[33]

    Die IdeenIn der Gottheit haben die platonischen Ideen ihren Ort.Eckhart nennt sie deutsch „Urbilder“, lateinisch „ideae“oder „rationes (ideales)“, wobei er ausdrücklich aufPlaton Bezug nimmt.[34] Sie sind ungeschaffen wie dieGottheit selbst; in ihr existieren sie, aber nicht als Einzel-dinge, sondern ungeschieden, da die Einheit der Gottheitkeine Differenzierung zulässt. Außerdem existieren dieIdeen aber auch auf die differenzierte Weise, nach wel-cher der menschliche Verstand sie erfassen kann, denn siesind nicht nur in der Gottheit bzw. in Gott, sondern sindauch aus Gott „geboren“ worden. Unter diesem Gesichts-punkt betrachtet sind die Ideen oder Formen Elementeder göttlichen Weisheit. Diese ist, in der Terminologieder Dreifaltigkeitslehre ausgedrückt, das „Wort Gottes“(nach dem Prolog des Johannes-Evangeliums) oder der„Sohn“, den der Vater aus sich gezeugt hat. Gott als Weis-heit ist die Form aller Formen.[35] Die Ideen verleihen densinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen deren Formen unddamit die Existenz; die formlose Materie fasst Eckhartwie die Neuplatoniker als ontologisch nichtseiend auf.[36]

    Gottes Denken und Gottes SeinIn seinen Aussagen über Gott befasst sich Eckhart mitder Frage nach dem Verhältnis zwischen dem göttlichenIntellekt und dem göttlichen Sein. Ein wichtiges Themader spätmittelalterlichen scholastischen Theologie ist dieFrage, welche dieser Bestimmungen Gottes, das „Den-ken“ und „Erkennen“ (intelligere) oder das Sein (esse),die ursprüngliche und damit höherrangige und welche aus

    https://de.wikipedia.org/wiki/Dreifaltigkeithttps://de.wikipedia.org/wiki/Heiliger_Geisthttps://de.wikipedia.org/wiki/Wesensgleichheithttps://de.wikipedia.org/wiki/Das_Einehttps://de.wikipedia.org/wiki/Neuplatonismushttps://de.wikipedia.org/wiki/Negative_Theologiehttps://de.wikipedia.org/wiki/Negative_Theologiehttps://de.wikipedia.org/wiki/Pseudo-Dionysius_Areopagitahttps://de.wikipedia.org/wiki/Pseudo-Dionysius_Areopagitahttps://de.wikipedia.org/wiki/Ideenlehrehttps://de.wikipedia.org/wiki/Platonhttps://de.wikipedia.org/wiki/Wort_Gotteshttps://de.wikipedia.org/wiki/Ontologiehttps://de.wikipedia.org/wiki/Intellekt

  • 8 3 LEHRE

    der anderen abgeleitet ist. Im Thomismus, einer damalseinflussreichen theologischen Richtung, gilt Gottes Seinals Voraussetzung seines Intellekts. Im Gegensatz dazuvertritt Eckhart den Primat des Intellekts: Es ist also of-fensichtlich, dass (…) Gott Intellekt oder Denken (Erken-nen) ist und dass er nur Denken (Erkennen) schlechthinist, ohne dass ein anderes Sein hinzukäme.[37] Das heißt,das Sein kommt Gott durch das Denken (Erkennen) zuund nicht umgekehrt. Zur Begründung führt Eckhart un-ter anderem an, das Sein sei als Prinzip im Sinne derKategorienlehre des Aristoteles kategorial fassbar, wäh-rend das Denken oberhalb des Rahmens des Kategorien-systems stehe und keiner formalen Bestimmtheit unter-liege. Somit sei das Denken als das höherrangige Prin-zip die Grundlage von Gottes Sein.[38] Denken und Seinwerden allerdings nur zum Zweck einer analytischen Be-trachtung getrennt. Hinsichtlich ihres Vorhandenseins inGott sind sie nicht getrennte Elemente, sondern existierenununterschieden in ihm. Die Aussage „Gott ist Sein“ istebenso wahr wie die Aussage „Gott ist Denken (Erken-nen)“, wobei seine Seinsweise allerdings von derjenigender Schöpfung scharf zu unterscheiden ist.[39]

    Gott als SchöpferDie Ideen als Urbilder alles Geschaffenen sind in Gott.Die sinnlich wahrnehmbare Welt bildet diese Urbilder abund verdankt ihnen ihr Dasein. Somit ist jedes Einzel-ding hinsichtlich seines Wesens, welches im Urbild liegt,in Gott vorhanden. Die Schöpfung erweist sich bei dieserBetrachtungsweise als Selbstentfaltung Gottes.Eckhart betont jedoch die Schärfe des fundamentalenGegensatzes zwischen Gott und allem Geschaffenen.Gottes Einfachheit, Erhabenheit, Unwandelbarkeit undAllursächlichkeit (universalis causalitas) steht in Kontrastzu den entgegengesetzten Merkmalen des Geschaffenen.Alles Geschaffene ist mannigfaltig, veränderlich, erlei-dend (patiens), verursacht und vergänglich. Nichts Wan-delbares kann einfach sein, denn zu jedem Zeitpunkt istes in einer bestimmten Hinsicht beharrend und in eineranderen im Wandel begriffen.[40]

    Aufgrund seiner Vergänglichkeit weist das Geschaffenekein „Sein“ im eigentlichen Sinne, im Sinne einer abso-luten, überzeitlichen Existenz auf. So gesehen existiert esnicht wirklich. Verwendet man den Begriff „Sein“ im Sin-ne des absoluten Seins Gottes, so „sind“ die Dinge nicht;verwendet man ihn in dem Sinne, in dem er auf die Dingeangewendet wird, so „ist“ Gott nicht.Das Dasein der geschaffenen Dinge ist nichts anderes alsein Werden und Vergehen. Diesem Ansatz folgend fasstEckhart die Schöpfung nicht als abgeschlossenen Akt derVergangenheit auf, sondern als fortwährenden Vorgang.Gott hat den sinnlich wahrnehmbaren Einzeldingen nicht,als er sie schuf, die Eigenschaft der Beständigkeit undFortdauer verliehen, sondern die Schöpfung vollzieht sichin jedem Augenblick aufs Neue. Wäre dies nicht der Fall,so müsste das Geschaffene sofort ins Nichts fallen, daes im Gegensatz zum Schöpfer außerstande ist, aus sich

    selbst seine eigene Fortdauer zu ermöglichen. Alle Krea-turen sind ein reines Nichts.[41]

    Verständnis der Schöpfung bedeutet somit Verständnisdes Phänomens Zeit. Der überzeitlich existierende Gottschafft in einer permanenten Gegenwart, im „Jetzt“ oder„Nun“ (lateinisch nunc, mittelhochdeutsch nû) seinerZeitlosigkeit (Ewigkeit). Eckhart unterscheidet zwischendem nû der zît, dem Zeitpunkt innerhalb des Zeitflusses,und dem nû der êwicheit, dem Jetzt der Ewigkeit (latei-nisch nunc aeternitatis). Die Überzeitlichkeit des Ewigenwird in Eckharts Sprache als „Augenblick“ („nun“) wie-dergegeben, doch ist dieser „Augenblick“ nicht mit einemZeitpunkt zu verwechseln, sondern er umfasst „alle Zeit“,also die Gesamtheit dessen, was in aller Zeit gegeben ist.Das Jetzt der Ewigkeit ist auch nicht im Sinne eines sta-tischen Zustands zu verstehen, es bedeutet keinen Still-stand (das wäre eine unangemessene Beschreibung ausder Perspektive der Zeitlichkeit). Gemeint ist eine über-zeitliche „Gegenwart“, die wegen ihrer Gegenwärtigkeit(lateinisch praesentialitas) eine Bezeichnung erhält, diean den innerzeitlichen Gegenwartsbegriff anknüpft. Als„Fülle der Zeit“ unterscheidet sich die Gegenwärtigkeitdes ewigen „Jetzt“ vom Zeitpunkt dadurch, dass sie nichtder vergangenen und künftigen Gegebenheiten beraubtist, sondern diese in sich einschließt.Aus der Perspektive der Ewigkeit erscheint die Welt alsanfangslos, weil ihr Dasein nicht eine Aneinanderreihungvon Zeitpunkten ist. Dass sie einen Anfang in der Zeitgehabt habe, ist nur eine für das menschliche Denkennötige und angemessene Vorstellung, nicht eine Aussa-ge über die Schöpfung an sich. Nur aus der menschlichenPerspektive, die auf der Vorstellung einer linearen zeit-lichen Ordnung mit „vorher“ und „nachher“ basiert, istdie Schöpfung ein zeitlicher Vorgang. In Wirklichkeit istGott nicht zeitlich „früher“ als die Welt. Der Mensch lebtaber in der Zeit, in der die Einheit des göttlichen Seinszerfallen ist. Daher bewegen sich seine Vorstellungen in-nerhalb eines Rahmens, der sich aus seinem Erleben vonZeit ergibt.[42]

    3.3 Die Seele, ihre Erkenntnisweisen undihr Verhältnis zu Gott

    Der SeelengrundDie Kluft zwischen dem ewigen Gott und dem vergängli-chen Geschaffenen ist bei Eckhart so tief, dass nichts Ge-schaffenes einen Zugang zu Gott finden kann. Das Unte-re fasst und begreift das Obere nicht.[43] Die Beziehungenzwischen Gott und seinen menschlichen Geschöpfen ste-hen aber imMittelpunkt der christlichen Lehre, und auchEckharts Denken kreist um sie. Diesen Widerspruch be-seitigt Eckhart, indem er die menschliche Seele hinsicht-lich ihres Kernbereichs nicht dem Bereich der geschaffe-nen Dinge zuordnet, sondern ihr eine göttliche Qualitätzuspricht. Die Gottheit selbst ist unmittelbar zuinnerst inder Seele ständig anwesend. Somit ist in der Seele etwas,

    https://de.wikipedia.org/wiki/Thomismushttps://de.wikipedia.org/wiki/Kategorienhttps://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteleshttps://de.wikipedia.org/wiki/Mittelhochdeutsch

  • 3.3 Die Seele, ihre Erkenntnisweisen und ihr Verhältnis zu Gott 9

    dem die Ungeschaffenheit, Unvergänglichkeit und Eigen-schaftslosigkeit der Gottheit zukommt. Der Kernbereichder Seele ist ewig und einheitlich wie Gott, genauer gesagtwie Gott als „Gottheit“ oberhalb der Dreifaltigkeit. Eck-hart spricht ausdrücklich von einem „Teil“ der Seele, derim Unterschied zu den anderen Teilen „gottgleich“ ist.[44]Der göttliche „Teil“ der Seele ist aber nicht ein Teil ei-nes Ganzen neben anderen Teilen, sondern von all demin der Seele, was geschaffen ist, seiner Natur nach fun-damental verschieden. Ausdrücke wie „Teil“ und „in derSeele“ scheinen eine Position anzudeuten. Sie sind abernur in einem übertragenen Sinn gemeint, denn sie erwe-cken die Vorstellung einer räumlichen Struktur, womit sieder gemeinten Realität nicht gerecht werden.Der göttliche Kernbereich der Seele, ihr „Innerstes“,ist der zeit- und raumlose „Seelengrund“, in dem völli-ge Ruhe herrscht. Eckhart verwendet dafür auch ande-re Bezeichnungen. Unter anderem spricht er vom „Fün-klein“ oder „Bürglein“, vom „Höchsten“, „Lautersten“oder „Haupt“ der Seele; auch mit dem „Intellekt als sol-chem“ meint er den Seelengrund. Er betont aber auch,dass der Seelengrund eigentlich so wie die Gottheit na-menlos ist.[45] Das Fünklein leuchtet immer, ist aber ver-borgen. Der Seelengrund steht so hoch über der Sinnes-welt wie der Himmel über der Erde. Von diesem unwan-delbaren Kernbereich unterscheidet Eckhart die äußerenBereiche, in denen sich die Tätigkeiten der Seele abspie-len. Dort treten die Ausdrucksformen ihrer weltlichenAktivität wie Begehren, Gedächtnis undWille in Erschei-nung. Sie werden benötigt, damit die Seele den Erforder-nissen ihrer Verbindung mit dem Körper Genüge tun undmit den geschaffenen und vergänglichen Dingen in Kon-takt sein kann. Davon ist der Seelengrund abgetrennt; dieEindrücke, die aus derWelt der Sinneswahrnehmung ein-strömen, erreichen ihn nicht. Er ist ihnen so fremd undfern wie die Gottheit, denn der Seelengrund ist von derGottheit ununterschieden.[46]

    Von den vergänglichen und daher nichtigen Aspekten sei-nes Daseins kann der Mensch sich emanzipieren, indemer sich dem zuwendet, was in ihm – das heißt in der Seele– göttlich ist. Dank Gottes Anwesenheit in der Seele istihre Selbsterkenntnis Gotteserkenntnis.[47] Unter diesemAspekt sind alle menschlichen Seelen gleich. Die hier ge-meinte Gotteserkenntnis ist nicht eine reflektierte, in derein Subjekt einem Objekt betrachtend gegenübersteht,sondern eine unmittelbare, in der keine Distanz zwischendem Erkennenden und seinem göttlichen Erkenntnisob-jekt besteht. Während bei einer reflektierten Erkenntniseine Abstraktionstätigkeit stattfindet, mit der aus einemAbbild dessen Urbild erschlossen wird, vollzieht sich dieGotteserkenntnis ohne jegliche Vermittlung: Das mussgeschehen ohne Mittel und Jederart Vermittlung ist Gottfremd.[48]

    Intellekt und WilleAls höchste Manifestation seelischer Aktivität betrach-tet Eckhart wie andere Dominikaner den Intellekt und

    nicht – wie manche Franziskaner – denWillen. DemWil-len misstraut er, denn er sieht in ihm den gottfernen, aufdas Geschaffene abzielenden Eigenwillen, der auch dann,wenn er sich auf Gott richtet, die Getrenntheit von Sub-jekt und Objekt, Seele und Gott voraussetzt: Darum istdie Vernunft allwegs nach innen suchend. Der Wille hin-gegen geht nach außen auf das hin, was er liebt.[49] DerIntellekt ist diejenige Instanz in der Seele, welche dieInformationen, die aus der Außenwelt kommen, auswer-tet, indem sie das Materielle vomGeistigen (Intelligiblen)trennt und so zum Verständnis des Allgemeinen (der Ide-en) gelangt, indem sie die Ideen von den Sinnesobjek-ten abstrahiert. Eckhart teilt die von Albert dem Großenbesonders prägnant formulierte Sichtweise der domini-kanischen Tradition, wonach der Mensch, insoweit erMensch ist, nur Intellekt ist; der Intellekt macht das spe-zifisch Menschliche amMenschen aus.[50] Dabei verwen-det Eckhart den Begriff Intellekt in einem anderen Sinnals dem heute gängigen. Der Intellekt „als solcher“ (intel-lectus inquantum intellectus) ist für Eckhart nicht eine derFähigkeiten („Seelenvermögen“) oder Instrumente, überwelche die Seele verfügt, sondern eine eigenständige inder Seele tätige Instanz. Er ist etwas nicht Geschaffenes,sondern Göttliches im Menschen, das einer Dimensionoberhalb von Raum und Zeit angehört.[51]

    Die Stufen der ErkenntnisDie Seele gelangt auf unterschiedliche Weisen zur Er-kenntnis verschiedenartiger Gegenstände. Die Sinnesor-gane vermitteln ihr zwar Informationen aus der Sinnes-welt, doch ihr Wissen über diesen Bereich entnimmt sienicht der Sinneswahrnehmung, sondern sie trägt es be-reits latent in sich und wird durch das, was über die Sin-nesorgane hereinkommt, nur an dieses schon vorhande-ne Wissen erinnert. Hierfür beruft sich Eckhart auf Au-gustinus sowie auf Platon, der versucht hatte, das Wis-sen als etwas in der Seele bereits Angelegtes zu erwei-sen (Anamnesis-Konzept). Eine höherrangige Erkenntnisverdankt die Seele den fünf „inneren Sinnen“, die Eckhartgemäß dem gängigen Modell Avicennas annimmt: demGemeinsinn (sensus communis), der Vorstellungskraft (visimaginativa), der für die Begriffe zuständigen Denkkraft(vis cogitativa), der Beurteilungskraft (vis aestimativa)und demGedächtnis (memoria). Sie ermöglichen ihr, sichetwas nicht Gegenwärtiges vorzustellen und dessen Be-deutung einzuschätzen. Über den inneren Sinnen stehtdas auf äußere Dinge bezogene Erkenntnisvermögen desschlussfolgernden Verstandes (ratio) und über diesem alshöchstes Erkenntnisvermögen der auf Gott hingeordne-te Intellekt, den Eckhart auch „höheren Verstand“ (ra-tio superior) nennt und als Abbild Gottes bezeichnet. Mit„Intellekt“ meint Eckhart stets den intellectus possibilis,den „möglichen“ oder „passiven“ (empfänglichen) Intel-lekt des Aristotelismus, der nicht handelt, sondern nurempfängt.[52]

    Das LebenDie Seele ist das Prinzip des Lebens, denn sie steuert das

    https://de.wikipedia.org/wiki/Intelligibelhttps://de.wikipedia.org/wiki/Albertus_Magnushttps://de.wikipedia.org/wiki/Anamnesishttps://de.wikipedia.org/wiki/Avicennahttps://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinsinnhttps://de.wikipedia.org/wiki/Phantasie

  • 10 3 LEHRE

    Lebewesen von innen her und bewirkt damit, dass es sichselbst bewegt, worin das Wesen des Belebtseins besteht.Das Leben fließt unmittelbar von Gott, es ist „GottesSein“ und Ausdruck seiner Präsenz, es quillt aus seinemEigenen und ist Selbstzweck („ohne Warum“). Daher istfür Eckhart nichts so begehrenswert wie das Leben, auchunter schlimmsten und beschwerlichsten Umständen.[53]

    Die SündeZu den genannten Annahmen passt Eckharts Verständnisder Sünde, die in seinen Werken ebenso wie Beichte undBuße eine auffallend geringe Rolle spielt. Mit der Lehrevon der Erbsünde und der Vorstellung einer Sühne durchein stellvertretendes Leiden Christi setzt er sich nicht aus-einander. Sünde ist für ihn eine willentliche Abkehr vonGott. Philosophisch ausgedrückt ist sie „immer ein Zu-rückschreiten vom Einen zu den vielen Dingen“. Das be-deutet, dass „die Ordnung der Dinge aufgehoben wirdund das Obere dem Niederen unterworfen wird“.[54] Dieswird rückgängig gemacht, indem man sich Gott wiederzuwendet.[55] Das Übel oder Böse fasst Eckhart neuplato-nisch auf; es ist für ihn eine Minderung und ein teilweiserVerlust des Guten und existiert somit nur durch seinen je-weiligen Bezug zu dem bestimmten Guten, das es beein-trächtigt. Es kann das Gute mindern, aber niemals ganzauslöschen. Etwas durch und durch Übles oder absolutBöses kann es nicht geben.[56] Als bloßer Mangel hat dasÜbel keine Ursache, sondern ist durch das Fehlen einerUrsache verursacht.[57] Die Vollkommenheit des Univer-sums erfordert, dass es Übel gibt, und das Übel ist auf dasGute hingeordnet.[58] Man soll zwar nicht sündigen, aberman soll auch eine begangene Sünde nicht bereuen in demSinne, dass man wünscht, sie wäre nicht geschehen. Einsolcher Wunsch wäre Ausdruck eines Eigenwillens, dersich gegen den Willen Gottes richtet, denn Gott hat dasGeschehene zum Besten des Menschen gewollt.[59]

    Die Gottesgeburt in der SeeleDie Hinwendung zu Gott soll zu einer Erfahrung führen,die in Eckharts Lehre eine zentrale Rolle spielt. Er nenntsie Gottesgeburt in der Seele. Gemeint ist, dass die See-le die Göttlichkeit ihrer eigenen Natur wahrnimmt undso Gott in sich selbst findet. Sie wird nicht etwas, wassie vorher nicht war, sondern erkennt das, was sie über-zeitlich ist. Die Gottesgeburt geht vom Seelengrund deseinzelnenMenschen aus und erfasst die Seele in ihrer Ge-samtheit. Darin besteht für Eckhart der Sinn und Zweckder Schöpfung.[60] Es handelt sich nicht um ein punktu-elles Ereignis, das zum Abschluss kommt, sondern umeinen fortdauernden Vorgang ohne Ende. Die Betonungder Prozesshaftigkeit des Geschehens ist ein besonderesMerkmal von Eckharts Denken.Die Gottesgeburt in der Seele geschieht, wenn die Vor-aussetzungen erfüllt sind, zwangsläufig. Sie zu veranlas-sen ist für Gott eine Naturnotwendigkeit, er folgt dabeiseiner eigenen Natur, könnte also gar nicht anders wollenund handeln: Er muss es tun, es sei ihm lieb oder leid undGottes Natur, sein Sein und seine Gottheit hängen daran,

    dass er in der Seele wirken muss.[61] Die Grundlagen derGottesgeburt sind nicht der Glaube, ein Gefühl oder eineVision des betreffenden Individuums, sondern seine Er-kenntnis und Vernunft („Vernünftigkeit“). Die Erkennt-nis „läuft voran“ und „bricht durch“; die Vernunft „fälltins reine Sein“.[62] Dabei wird die Vernunft nicht tran-szendiert, vielmehr spielt sie weiterhin eine wesentlicheRolle, gemäß Eckharts Feststellung: Und der Mensch sollzu allen seinenWerken und bei allen Dingen seine Vernunftaufmerkend gebrauchen.[63]

    Die Gottesgeburt verleiht allen Handlungen des so mitGott verbundenen Menschen eine außerordentliche Be-deutung. Dadurch werden auch seine geringsten Tatenweit über alles emporgehoben, was Menschen tun, dienicht auf dieseWeise Gott zugekehrt sind. Wenn jemand,der Gott ergriffen hat, auf einen Stein tritt, so ist dies eingöttlicheres Werk, als wenn man ohne solche Gesinnungdie Eucharistie empfängt.[64]

    Gottes SohnDie Lehre vom Göttlichen im Menschen bestimmtauch Eckharts Verständnis des christlichen Konzepts derMenschwerdung Gottes. Nach dem kirchlichen Dogmaist Christus Gott undMensch zugleich, er vereinigt in sicheine göttliche und eine menschliche Natur. Dabei sinddie beiden Naturen ungetrennt, aber auch unvermischt.Er ist ganz Mensch und zugleich ganz Gott. Eckhart be-tont, dass die menschliche Natur Christi keine andere seials die jedes anderen Menschen. Alle Menschen habendiemenschliche Natur mit Christus gemeinsam, und zwarin gleichem Sinn und auf die gleiche Weise (univoce etequaliter). Da Eckhart überdies jedem Menschen eine inder Seele liegende Göttlichkeit zuspricht, besteht aus sei-ner Sicht auch hinsichtlich der göttlichen Natur kein prin-zipieller Unterschied zwischen Christus und anderen.[65]Christus ist zwar ein unerreichtes Vorbild, nicht aber vonNatur aus von anderen Menschen prinzipiell verschieden.Grundsätzlich ist jeder befähigt, das zu verwirklichen undzu vollbringen, was Christus verwirklicht und vollbrachthat. Eine naturgegebene Einzigartigkeit Christi findet inEckharts Denken keinen Platz. Vielmehr stellt er fest: (…)und es gebiert der Vater seinen Sohn in der Seele in der-selben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit gebiert und nichtanders. (…) Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unter-lass, und ich sage mehr noch: Er gebiert mich als seinenSohn und als denselben Sohn. Ich sage noch mehr: Er ge-biert mich nicht allein als seinen Sohn; er gebiert mich alssich und sich als mich und mich als sein Sein und als seineNatur.[66] Dies hält Eckhart für notwendig: Darum, wasimmer er (der Vater) ihm (Jesus Christus) gab, damit ziel-te er auf mich und gab mir’s recht so wie ihm; ich nehmeda nichts aus, weder Einigung noch Heiligkeit der Gottheitnoch irgend etwas (…), denn Gott kann nicht nur wenigesgeben; entweder muss er alles oder gar nichts geben.[67]

    Vorbereitung der GottesgeburtVoraussetzung für die Gottesgeburt ist, dass sich die Seelevon dem reinigt, was nicht zu ihr gehört, und dadurch ihre

    https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCndehttps://de.wikipedia.org/wiki/Beichtehttps://de.wikipedia.org/wiki/Bu%C3%9Fe_(Religion)https://de.wikipedia.org/wiki/Erbs%C3%BCndehttps://de.wikipedia.org/wiki/Das_%C3%9Cbelhttps://de.wikipedia.org/wiki/Das_B%C3%B6sehttps://de.wikipedia.org/wiki/Eucharistiehttps://de.wikipedia.org/wiki/Menschwerdung_Gottes

  • 3.3 Die Seele, ihre Erkenntnisweisen und ihr Verhältnis zu Gott 11

    wahre Natur hervortreten lässt. Gott kann nur in der See-le geboren werden, wenn der Mensch ihm dafür Raumschafft und das entfernt, was im Wege steht. Das sindnicht nur Sünden und Laster im herkömmlichen Sinn,sondern schlechthin alles Ungöttliche und daher Vergäng-liche. Dazu gehören insbesondere die „Bilder“ der Sin-nesobjekte, die man aufgenommen hat, denn sie bindenund behindern den Menschen.[68] In dem Maße, wie derMensch die Hindernisse beiseiteschafft, wird er für Gottempfänglich. Was dabei in der Praxis zu beachten ist, er-läutert Eckhart ausführlich.Für die Ermöglichung der Gottesgeburt ist nicht einediskursiv gewonnene Einsicht in den Wahrheitsgehaltphilosophisch-theologischer Lehrsätze ausschlaggebend,sondern die Lebenspraxis. Daher besteht ein Unterschiedzwischen dem „Lesemeister“, der in seinen Schriften ar-gumentiert, beweist und widerlegt, und dem „Lebemeis-ter“, der das von der Theorie Geforderte in seinem ei-genen Leben umsetzt. Ein Eckhart zugeschriebener Aus-spruch lautet, ein Lebemeister sei nötiger als tausend Le-semeister. In diesem Sinne bemerkt er: Der Mensch sollsich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; dennwenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Mansoll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit er-haben ist über die Gedanken desMenschen und aller Krea-tur.[69]

    Gott kann auf viele verschiedene Weisen ergriffen wer-den. Niemand kann alle Weisen verwirklichen, sondernman soll eine von ihnen haben – diejenige, die Gott ei-nem zugewiesen hat – und konsequent bei ihr bleiben.Einem anderen, der auf eine andere Weise lebt, die eige-neWeise aufzudrängen ist verkehrt, vielmehr soll jeder inseiner Weise das Gute aller Weisen finden. Christus hattezwar die höchste Weise, aber das bedeutet nicht, dass je-der versuchen soll, die Weise Christi zu übernehmen.[70]

    Abgeschiedenheit und GelassenheitDie Hinwendung zu Gott ist mit einem auf die Welt ge-richtetenWollen und Begehren unvereinbar. Daher ist dieerste Aufgabe des Menschen, der eine Einigung mit Gotterstrebt, sich von allen solchen Bestrebungen zu reinigen.Das ist die Voraussetzung dafür, dass er vergöttlicht wird.Das Ergebnis der Abtrennung von der Welt nennt Eck-hart „Abgeschiedenheit“. Der Seelengrund ist von Naturaus immer abgeschieden. Es kommt aber darauf an, auchdie übrigen Seelenbereiche restlos von „allen Dingen“ zutrennen, sodass der Mensch leer wird wie ein aufnahme-bereites Gefäß. Dann kann Gott die gesamte Seele ausfül-len. Der Mensch soll Gott in allen Dingen ergreifen undsoll sein Gemüt daran gewöhnen, Gott allzeit gegenwär-tig zu haben.[71] Dadurch wird er vergöttlicht: Ganz sowerde ich in ihn verwandelt, dass er mich als sein Seinwirkt, und zwar als eines, nicht als gleiches; beim lebendi-gen Gotte ist es wahr, dass es da keinerlei Unterschied gibt.Dies bekräftigt Eckhart mit den Worten: Manche einfäl-tigen Leute wähnen, sie sollten Gott so sehen, als stünde erdort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind

    eins.[72] Die Abgeschiedenheit ist für Eckhart die höchs-te Tugend und steht sogar über der Demut und der Liebe.Sie ist die Grundlage der Vereinigung mit Gott; die Liebehingegen kann den Liebenden niemals in Gott versetzen,denn sie kann nur zwischen schon Vereinigtem bestehen,sie vereint im Wirken, nicht aber im Sein.[73] Gottes Liebeist immer Selbstliebe; sie richtet sich auf alle Dinge, aberin den Dingen liebt er nur sich selbst.[74]

    Zu den „Dingen“, von denen der Mensch sich befreiensoll, gehört in erster Linie er selbst: Richte dein Augen-merk auf dich selbst, und wo du dich findest, da lass vondir ab; das ist das Allerbeste.[75] Er soll seine persönli-che Hauptschwäche herausfinden und seinen Fleiß daraufrichten, sie zu überwinden. Befreiung von sich selbst be-deutet aber mehr als das: Wer sich für Gott empfänglichmachen will, hat alle Hoffnungen, Wünsche und Ziele,die sein eigenes Wohlergehen im Diesseits oder Jenseitsbezwecken, aufzugeben. Er vergisst sich selbst und alleDinge. Damit verzichtet er auf seinen Eigenwillen. Al-le Erwartungen und alle damit verknüpften Empfindun-gen verschwinden gänzlich. Dadurch werden Gemütsbe-wegungen wie Hoffnung, Furcht und Jammer verunmög-licht. Alles Leid endet, denn es ist ausnahmslos eine Fol-ge der Hinwendung zu den geschaffenen Dingen.[76] Inder Seele tritt an die Stelle des Weggeräumten die Leereund geistige Armut. So erlangt man die „Gelassenheit“.Dieser anscheinend von Eckhart neu gebildete Begriff[77]bezeichnet die Haltung dessen, der nicht nur die Din-ge gelassen hat, sondern gelassen ist. Beim Lassen gehtes zuerst um ein innerliches Sein, erst danach um einäußerliches Handeln.Man kann nicht durch ein Lassen imHandeln zu einem gelassenen Sein gelangen. AsketischePraktiken wie Kasteiungen und Bußübungen sind nichterforderlich, wichtig ist nur die konsequente Ausrichtungnach innen. Nach Armut und Erniedrigung zu streben istsinnlos und Ausdruck des Eigenwillens.[78] Die Gelassen-heit ergibt sich aus dem Zugekehrtsein zu Gott im Sein.Sie ist allerdings nur annäherungsweise erreichbar. Eck-hart meint, das Lassen sei noch nie einemMenschen ganzgelungen.[79] Er vergleicht das Einüben der Gelassenheitmit dem Erlernen des Schreibens, bei dem der Lernen-de fleißig sein muss, „wie sauer und schwer es ihm auchwerde“.[80]

    Aufzugeben ist der Eigenwille nicht nur insoweit er aufdas eigene Wohlergehen zielt, sondern auch in einer an-deren seiner Erscheinungsformen, in welcher er schein-bar verschwunden ist, indem das Individuum seinen Wil-len mit dem Willen Gottes identifiziert hat. Zu wollen,was Gott will, ist aber immer noch ein Eigenwille undbildet als solcher ein Hindernis zwischen dem Menschenund Gott. Der Abgeschiedene will nicht das, was Gottwill, sondern er will gar nichts, damit Gott in ihm wollenkann. Auch das Streben nach der Ewigkeit und nach Gott,das den ursprünglichen Antrieb zum Beschreiten des Er-kenntniswegs bildete, ist als Eigenwille abzustreifen. Werdie Ewigkeit und Gott begehrt, ist noch nicht richtig arm(aller Wünsche entblößt). Ein wahrhaft armer Mensch ist

    https://de.wikipedia.org/wiki/Askesehttps://de.wikipedia.org/wiki/Kasteiunghttps://de.wikipedia.org/wiki/Bu%C3%9Fe_(Religion)

  • 12 3 LEHRE

    nur der, der nichts will und nicht begehrt. Er lässt nichtnur sich selbst los, sondern auch Gott. Seine Armut be-steht darin, dass er nichts „hat“; er verfügt weder über ei-nen Willen noch über Wissen noch über Besitz.[81] Gottsoll nicht im Menschen eine Stätte zum Wirken finden,sondern erforderlich ist, dass der Mensch „so ledig Got-tes und aller seiner Werke steht“, dass Gott, wenn er inder Seele wirken will, jeweils selbst die Stätte ist, in derer wirken will.[82]

    Die Lebensweise, für die Eckhart eintritt, ist ein Leben„ohne Warum“ (mittelhochdeutsch sunder warumbe).Diese Formulierung war schon im frühen 13. Jahrhun-dert von Beatrijs von Nazareth und später vonMargueritePorete verwendet worden. Gott hat kein „Warum“ außerund neben sich, und auch seine Liebe ist grundlos. Eben-so sind auch göttliche Werke des Menschen dadurch ge-kennzeichnet, dass sie ohne Grund vollbracht werden.Was einen Grund hat, besteht um des Grundes willen undist ihm somit untergeordnet. Das Grundlose ist sein eige-ner Grund und Zweck und damit höherrangig als das, waseiner Begründung durch etwas anderes bedarf.[83]

    3.4 Das Verhältnis der Menschen unter-einander

    Abwendung und ZuwendungEckhart fordert Abwendung von allem, was in der Weltist, und ausschließliche Konzentration auf den eigenenSeelengrund, wo Gott zu finden ist. Die damit erreichteAbgeschiedenheit äußert sich aber nicht als Gleichgültig-keit gegenüber der Welt. Der Mensch hat sich zwar aufder Suche nach Gott konsequent von der Welt abgewen-det, aber Gott, den er in seinem Seelengrund gefundenhat und dem er die Herrschaft über sich restlos überlassenhat, ist den Menschen zugewandt. Das äußert sich darin,dass der Abgeschiedene und Gelassene kein zurückgezo-genes Leben führt, sondern ein aktives und soziales. Ervollbringt Werke, die seinen Mitmenschen zugutekom-men. Im Unterschied zu denen, welche die Gottesgeburtnicht erlebt haben, verfolgt er mit seinen sozialen Betäti-gungen aber nicht weltliche Ziele, sondern göttliche. Nurwenn dies der Fall ist, haben seineWerke einenWert, unddann ist er ein „Gerechter“. Anderenfalls können sich gu-te Werke sogar als Hindernis erweisen, denn sie bietendem, der sie verrichtet, „Halt, Stütze und Verlass“. Da-mit trennen sie die „guten Menschen“ von Gott, der „will,dass er allein ihr Halt und Verlass sei“.[84]

    GerechtigkeitEckharts Gerechtigkeitsbegriff hat mit modernen Ge-rechtigkeitsvorstellungen nichts zu tun. Unter Gerechtig-keit versteht Eckhart nicht eine bestimmte Art der Ver-teilung irdischer Güter, sondern die Haltung desjenigen,der nicht aus eigenem Antrieb, sondern aus göttlichemImpuls handelt und daher stets das Richtige – der jewei-ligen Situation Angemessene – tut. Zwar hat sich der Ge-rechte um Gottes willen von allen Dingen getrennt, aber

    eben dadurch geschieht es, dass alle Dinge ihm lauter Gottwerden. (…) und alle Werke dieses Menschen wirkt alleinGott.[85] Das Geringste, das man als in Gott erkennt, ja,erkennte man selbst nur eine Blume so, wie sie ein Sein inGott hat, das wäre edler als die ganzeWelt.[86] Der im Sin-ne Eckharts Gerechte bewahrt gegenüber allen äußerenVerhältnissen und Ereignissen Gleichmut, sein Gemüts-zustand kann von äußeren Entwicklungen nicht berührtwerden: Wenn die Menschen ein Ding erfreuen kann undein anderes sie betrüben, so sind sie nicht gerecht; vielmehr,wenn sie zu einer Zeit froh sind, so sind sie zu allen Zeitenfroh.[87] Gott selbst ist gerecht, weil sein Wirken stets aufdas Beste abzielt. Nur deswegen – nicht weil er Gott ist– richten sich die gerechten Menschen nach ihm: Den ge-rechten Menschen ist es so ernst mit der Gerechtigkeit, dasssie, wenn Gott nicht gerecht wäre, nicht die Bohne auf Gottachten würden.[88]

    Sein und TunEckhart betont, dass die Heiligkeit niemals auf ein Tungegründet ist, sondern ausschließlich auf ein Sein. DieWerke heiligen den, der sie vollbringt, ganz und gar nicht,sondern soweit jemand heilig ist, heiligt er alle seineWer-ke, „sei es Essen, Schlafen, Wachen oder was immer“.[89]Für den spirituellen Status einer Person sind ihre Wer-ke bedeutungslos; wesentlich ist nur, ob ihr Sein von Ab-geschiedenheit geprägt ist.[90] Die Werke sind aber un-trennbar mit der Spiritualität verbunden. Daher sind siekeineswegs nebensächlich oder gar entbehrlich, sonderneine notwendige Folge des rechten Seins; der Gerechtekann nicht anders als gerecht handeln.Eckharts Hochschätzung der von einem göttlichen Im-puls geleiteten sozialen Aktivität führt ihn sogar zu ei-ner unkonventionellen Auslegung der biblischen Erzäh-lung von den Schwestern Maria und Martha, die demherkömmlichen Verständnis völlig widerspricht. Er folgtnicht der traditionellen Interpretation der Darstellung imLukasevangelium (Lk 10,38–42 ), wonach Christus dortden Vorrang der rein kontemplativen Haltung Marias ge-genüber der aktiven Marthas feststellt. Vielmehr stehtnach Eckharts Deutung die äußerlich aktive Martha hö-her als die nur Christus zuhörende Maria. Martha warzwar mitten in den Sorgen der Welt tätig, aber unbeküm-mert, auf besonnene Weise und ohne dabei Gott aus demAuge zu verlieren. So verband sie in ihrer Haltung dieVorzüge von Kontemplation und Aktion. Maria hingegenbeschränkte sich auf die Kontemplation, da sie das rechteHandeln noch nicht gelernt hatte. Martha war die ältereder beiden Schwestern und hatte daher mehr Erkenntnisgewinnen können als die noch unerfahrene, auf kontem-plativen Genuss ausgerichtete Maria. Das Lob, das Chris-tus Maria spendete, bezieht sich nach Eckharts Ausle-gung auf eine Einsicht, dieMaria damals noch nicht hatte,sondern die ihr noch bevorstand.[91] Eckharts Ablehnungeiner weltflüchtigen Haltung ergibt sich aus seiner Über-zeugung, dass nicht die Dinge an sich Hindernisse sind,sondern nur ein verkehrtes Verhältnis des Menschen zuihnen.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Beatrijs_von_Nazarethhttps://de.wikipedia.org/wiki/Margareta_Poretehttps://de.wikipedia.org/wiki/Margareta_Poretehttps://de.wikipedia.org/wiki/Maria_von_Bethanienhttps://de.wikipedia.org/wiki/Martha_von_Bethanienhttps://de.wikipedia.org/wiki/Evangelium_nach_Lukas

  • 4.1 Spätmittelalter 13

    Den Vorrang der sozialen Aktion vor der passiven Kon-templation betont Eckhart noch drastischer in einemTraktat, wo er schreibt, dass jemand, der im Zustand derVerzückung ist wie der Apostel Paulus, wenn er von ei-nem kranken Menschen weiß, der eines Süppleins vonihm bedarf, von der Verzückung ablassen soll, um demBedürftigen zu dienen. Dabei versäumt man keine Gna-de, sondern gibt im Gegenteil Gott den Vorrang.[92] Miteiner weltlichen Liebe hat dies nichts zu tun. Die Liebeunter den Menschen, soweit sie aus einem menschlichenImpuls kommt, hält Eckhart für spirituell wertlos: AlleLiebe dieser Welt ist gebaut auf Eigenliebe. Hättest du diegelassen, so hättest du die ganze Welt gelassen.[93]

    4 Rezeption

    4.1 Spätmittelalter

    Am 30. April 1328 teilte Papst Johannes XXII. dem Erz-bischof von Köln mit, dass Eckhart verstorben sei, derProzess gegen ihn jedoch fortgesetzt und zügig beendetwerde. Am 27.März 1329 ließ der Papst die Bulle In agrodominico veröffentlichen. Darin stellt er fest, die häresie-verdächtigen 28 Sätze seien von vielen Theologen, vomKardinalskollegium und von ihm selbst überprüft wor-den. Dabei habe sich herausgestellt, dass siebzehn Sätzeirrig oder häretisch seien; bei zweien von ihnen sei Eck-harts Urheberschaft allerdings unklar. Mit der Formulie-rung, die Sätze enthielten Irrtum „oder“ Häresie, lässt derPapst die Möglichkeit offen, dass Eckhart in gutem Glau-ben irrte und somit kein Häretiker war. Die restlichen elfSätze seien auf üble Weise und sehr verwegen formuliertund daher verdächtig, aber mit vielen Erläuterungen undErgänzungen in rechtgläubigem Sinn interpretierbar. Imübrigen habe Eckhart hinsichtlich aller seiner Schriftenund Äußerungen pauschal jede Entscheidung des Papstesvon vornherein akzeptiert. Daher sprach der Papst demAngeklagten nicht die Rechtgläubigkeit ab, sondern ver-urteilte nur die Sätze. Allerdings stellte er in der Präambel(narratio) der Bulle ausdrücklich fest, Eckhart sei vomTeufel verführt worden.Am 15. April 1329 befahl Johannes XXII. dem Köl-ner Erzbischof, die Bulle In agro dominico in seinerKirchenprovinz zu veröffentlichen. Auch in anderen Kir-chenprovinzen Nordwesteuropas wurde die päpstlicheVerurteilung von Eckharts Lehren bekannt gemacht.[94]Die Bulle verurteilt nicht nur die Lehrsätze Eckharts, dieim Inquisitionsverfahren als irrig oder häretisch bzw. alshäresieverdächtig eingestuft worden waren, sondern auchjedes seinerWerke, das auch nur einen der Lehrsätze ent-hält. Sie verbietet jede Verteidigung oder Verbreitung derverurteilten Lehren und droht bei Zuwiderhandlung einHäresieverfahren an. Der Papst hebt hervor, seine Sorgegelte besonders der Gefahr einer Irreführung der einfa-chen Gläubigen.Das Ergebnis des Verfahrens erregte großes Aufsehen.

    Dennoch wurden im Spätmittelalter die deutschen Wer-ke weiterhin im deutschen und niederländischen Sprach-raum verbreitet und die lateinischen Schriften zum Teilin die Volkssprache übersetzt, allerdings gewöhnlich oh-ne Nennung des Verfassernamens oder mit Zuschreibungan einen anderen Autor.Ein Schüler Eckharts, Heinrich Seuse, verteidigte – wennauch ohne Namensnennung und auf indirekte Weise –nach dem Tod seines Lehrers dessen Theologie im Büch-lein der Wahrheit. Daher wurde Seuse vor Gericht ge-stellt, kam aber glimpflich davon. Stark von EckhartsIdeen beeinflusst war Johannes Tauler. Auch andere Au-toren des 14. Jahrhunderts wie Nikolaus von Landau,Johannes von Dambach und der Franziskaner Marquardvon Lindau zitierten ihn, gewöhnlich ohne ihn als Quel-le zu nennen, und in zahlreichen anonym überliefer-ten Schriften des Spätmittelalters lässt sich sein Einflussfeststellen.[95] Der Inquisitor Jordan von Quedlinburg be-kämpfte die vom Papst verurteilten Lehren heftig, zitier-te aber auch in seinen Schriften zustimmend und ohneNamensnennung Passagen aus Eckharts Kommentar zumJohannesevangelium.[96]

    Neben der Rezeption in der Gelehrtenwelt lebte EckhartsAndenken auch im Volk weiter. Erzählungen und Anek-doten aus seinem Leben – teils in Gesprächsform – wur-den im Laienpublikum verbreitet („Eckhartlegenden“).Für seine Bewunderer wurde er zum „weisen Meister“,zum Muster eines geistlichen Lehrers und leuchtendenVorbild. Sein Wirken wurde nach Art der Heiligenlegen-den dargestellt und verherrlicht.[97]

    Einerseits wirkte der Häresievorwurf abschreckend, an-dererseits trug Eckharts Konflikt mit der kirchlichenHierarchie dazu bei, dass sich kirchenkritisch gesinn-te Laienkreise auf ihn beriefen. Die Bestrebungen die-ser rebellischen Strömung werden in der modernen For-schung unter der Bezeichnung „antihierarchische Ten-denzen“ zusammengefasst. Aus der Perspektive der an-tihierarchisch Gesinnten erscheint Eckhart als Freundund Förderer der einfachen Leute, der theologisch un-gebildeten Laien, die sich gegen Bevormundung durchdie Theologen zur Wehr setzen und dem Klerus Reich-tum und Verweltlichung vorwerfen. Das bedeutends-te und umfangreichste Schriftstück aus diesem Milieuist der mittelniederländische Dialog „Eckhart und derLaie“ (De dialoog van Meester Eggaert en de onbeken-de leek). Er entstand wohl 1340/41 im Umkreis desBenediktinerinnenklosters Rijnsburg. In einem fiktivenZwiegespräch antwortet Eckhart auf Fragen eines sehrselbstsicher auftretenden Laien, der für sich ein theolo-gisches Mitspracherecht in Anspruch nimmt und seiner-seits Fragen Eckharts beantwortet. Der Laie tadelt dieKetzerverfolgungen durch die Inquisition heftig. Er spieltdie Laienfrömmigkeit gegen den Überlegenheitsanspruchdes Klerus aus und fühlt sich dabei im Einverständnis mitEckhart.[98]

    Ganz anders fiel das Urteil der im Armutsstreit von Papst

    https://de.wikipedia.org/wiki/Paulus_von_Tarsushttps://de.wikipedia.org/wiki/In_agro_dominicohttps://de.wikipedia.org/wiki/In_agro_dominicohttps://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4ambelhttps://de.wikipedia.org/wiki/Kirchenprovinzhttps://de.wikipedia.org/wiki/Sp%C3%A4tmittelalterhttps://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Seusehttps://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Taulerhttps://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_von_Dambachhttps://de.wikipedia.org/wiki/Marquard_von_Lindauhttps://de.wikipedia.org/wiki/Marquard_von_Lindauhttps://de.wikipedia.org/wiki/Jordan_von_Quedlinburghttps://de.wikipedia.org/wiki/Mittelniederl%C3%A4ndischhttps://de.wikipedia.org/wiki/Benediktinerinnenhttps://de.wikipedia.org/wiki/Rijnsburghttps://de.wikipedia.org/wiki/Armutsstreit

  • 14 4 REZEPTION

    Johannes XXII. exkommunizierten Franziskanertheolo-gen des 14. Jahrhunderts über Eckhart aus. Michael vonCesena und Wilhelm von Ockham betrachteten Eckhartals Verbreiter abscheulicher Irrtümer. Die franziskani-schen Kritiker beklagten sich darüber, dass Eckarts Leh-ren so zahlreiche Anhänger gefunden hatten. Ockhamhielt Eckharts Ansichten für eher phantastisch und ver-rückt als häretisch. Er warf Papst Johannes XXII., dener wegen seiner Haltung zur Streitfrage der Armut Jesuund der Apostel selbst der Häresie beschuldigte, vor, erhabe Eckharts unsinnige Lehren begünstigt, und behaup-tete, die Irrtümer des Dominikaners seien nie verurteiltworden. Offenbar kannte er die Verurteilungsbulle nicht.In den Niederlanden erhob sich im 14. Jahrhundert gegendie dort populären Lehren Eckharts ein heftiger Wider-stand, der von maßgeblichen Persönlichkeiten der Fröm-migkeitsbewegung getragen wurde. Jan van Ruysbroekgriff ihn scharf, doch ohne Namensnennung, als „falschenPropheten“ an. In den fünfziger Jahren des 14. Jahrhun-derts polemisierte Jan van Leeuwen in mehreren Trak-taten leidenschaftlich gegen den „Antichrist“ und „teuf-lischen Menschen“ Eckhart, dem er ein pantheistischesWeltbild unterstellte. Geert Groote, der Inspirator derDevotio moderna, schloss jeden, der Eckharts verurteilteAnsichten vertrat oder einschlägige Schriften besaß, ausseiner Kongregation aus. Auch Gerard Zerbolt van Zut-phen warnte vor Eckhart.[99]

    Nikolaus von Kues. Zeitgenössisches Stifterbild vom Hochaltarder Kapelle des St.-Nikolaus-Hospitals, Bernkastel-Kues

    Im 15. Jahrhundert fand Eckhart starkes Interesse undhohes Lob bei Nikolaus von Kues. Nikolaus ließ sich1444 eine umfangreiche Abschrift des ihm zugänglichenTeils der lateinischen Werke des Dominikaners erstel-len, die er mit kommentierenden Randnotizen versah.

    Er schrieb in seiner Apologia doctae ignorantiae (1449),man finde in Eckharts Schriften „viel Scharfsinniges undNützliches“, doch seien solche Erkenntnisse nur klugenLesern (intelligentes) hilfreich; für einfache Gemüter sei-en diese Lehren unverständlich, daher solle man sie demVolk (vulgus) nicht zugänglich machen. Nikolaus ant-wortete damit seinem Widersacher Johannes Wenck, ei-nem Heidelberger Theologieprofessor. Wenck hatte ihmin der Streitschrift Ignota litteratura Nähe zu Eckhartund pantheistisches Gedankengut vorgeworfen und sichdabei auf die päpstliche Verurteilungsbulle von 1329berufen.[100]

    Im Benediktinerkloster Melk wurden im 15. Jahrhundertdeutsche Predigten und Sprüche Eckharts abgeschrieben,wobei der Name des Autors sogar angegeben wurde. Ineiner bearbeiteten, entschärften Fassung sollten sie zurBelehrung der Laienbrüder dienen. Auch in anderen ös-terreichischen Klöstern waren im Spätmittelalter TexteEckharts bekannt.[101]

    4.2 Frühe Neuzeit

    Vier von Eckharts Predigten, die damals fälschlich Jo-hannes Tauler zugeschrieben wurden, fanden Aufnahmein die ersten Taulerdrucke (Leipzig 1498 und Augsburg1508). In Adam Petris 1521 erschienenem Basler Tau-lerdruck stehen auch Predigten, die der Herausgeber Au-toren zuschreibt, die Tauler beeinflussten. Unter diesen„Lehrern“ hebt Petri Eckhart hervor, der ein „vortrefflichhochgelehrter Mann“ gewesen sei, aber von vielen seinergelehrten Zeitgenossen nicht verstanden worden sei. Pe-tris Druck enthält zahlreiche Predigten Eckharts. Auchim 1543 erschienenen, von Petrus Canisius bearbeitetenKölner Taulerdruck und in dessen lateinischer Überset-zung durch Laurentius Surius (1548) finden sich TexteEckharts. Surius wagte es, Eckhart als Verfasser zu nen-nen. Seine Ausgabe wurde im 16. und 17. Jahrhundertmehrmals neu aufgelegt und in eine Reihe von weite-ren Sprachen übersetzt. Dadurch wurden einige Predig-ten Eckharts auch außerhalb des deutschen Sprachraumsbekannt.Den Taulerdruck von 1508 hat Martin Luther studiert.Seine Randbemerkungen sind erhalten; einige davon be-ziehen sich auf eine in dem Druck enthaltene, Tauler zu-geschriebene Predigt Eckharts. Es gibt aber keinen An-haltspunkt dafür, dass Luther oder sein Umkreis bewusstvon Eckhart Notiz nahm.[102] Ein evangelischer Schrift-steller, der Gedankengut Eckharts nicht nur indirekt überTauler, sondern auch direkt aus Eckharts Predigten imBasler Taulerdruck aufnahm, war Valentin Weigel (†1588). Er griff unter anderem das Konzept der geistlichenArmut auf und berief sich ausdrücklich auf Eckhart.[103]Der evangelische Liederdichter Daniel Sudermann ver-arbeitete Gedanken Eckharts, den er bewunderte, in ei-nigen seiner Liedertexte. Er sammelte und kopierte eif-rig Handschriften mittelalterlicher religiöser Werke, dar-unter auch Abschriften von Texten Eckharts. Der Pietist

    https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_von_Cesenahttps://de.wikipedia.org/wiki/Michael_von_Cesenahttps://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_von_Ockhamhttps://de.wikipedia.org/wiki/Jan_van_Ruysbroekhttps://de.wikipedia.org/wiki/Antichristhttps://de.wikipedia.org/wiki/Pantheismushttps://de.wikipedia.org/wiki/Geert_Grootehttps://de.wikipedia.org/wiki/Devotio_modernahttps://de.wikipedia.org/wiki/Gerard_Zerbold_van_Zutphenhttps://de.wikipedia.org/wiki/Gerard_Zerbold_van_Zutphenhttps://de.wikipedia.org/wiki/St._Nikolaus-Hospitalhttps://de.wikipedia.org/wiki/Bernkastel-Kueshttps://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_von_Kueshttps://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Wenckhttps://de.wikipedia.org/wiki/Benediktinerhttps://de.wikipedia.org/wiki/Stift_Melkhttps://de.wikipedia.org/wiki/Adam_Petrihttps://de.wikipedia.org/wiki/Petrus_Canisiushttps://de.wikipedia.org/wiki/Laurentius_Suriushttps://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Lutherhttps://de.wikipedia.org/wiki/Valentin_Weigelhttps://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Sudermannhttps://de.wikipedia.org/wiki/Pietismus

  • 4.3 Moderne 15

    Gottfried Arnold († 1714) war ein profilierter Vertretereiner evangelischen Eckhart-Rezeption, die den Domini-kaner zu einem Vorläufer der Reformation erklärte.[104]

    Im Zeitalter der Aufklärung fand Eckhart in der gebil-deten Öffentlichkeit wenig Beachtung. In weiten Kreisender an mittelalterlicher Spiritualität Interessierten hieltman sich an die 1719–1721 in Paris veröffentlichte Stan-darddarstellung der Literaturgeschichte des Dominika-nerordens von Jacques Quétif und Jacques Echard, Scrip-tores Ordinis Praedicatorum. Dort war eine von Qué-tif stammende relativ unvoreingenommene Präsentationund Interpretation des damals bekanntenMaterials zu fin-den, was viel zur Rehabilitierung Eckharts bei Katholi-ken, die für sein Gedankengut empfänglich waren, bei-trug. Andererseits wurde im kirchlichenMilieu aber auchmit Berufung auf die Verurteilungsbulle das Bild vomErzketzer und Gotteslästerer Eckhart gepflegt. Ein Wort-führer dieser Richtung war im 17. Jahrhundert der italie-nische Kirchengeschichtsschreiber Odoricus Raynaldus(Odorico Rinaldi), auf den sich spätere Eckhart-Gegnerstützten.[105]

    4.3 Moderne

    Historisch-philologische Erforschung und Er-schließung

    Franz Pfeiffer

    Im frühen 19. Jahrhundert kam es zu einer Wiederent-deckung Eckharts, zu welcher der Philosoph Franz vonBaader maßgeblich beitrug. Vorarbeiten, die Baader be-gonnen bzw. angeregt hatte, verwertete der GermanistFranz Pfeiffer, der 1857 die erste moderne Ausgabe mit-telhochdeutscher Predigten und Traktate Eckharts her-ausgab. Damit leitete Pfeiffer die wissenschaftliche Er-forschung von Eckharts Schriften ein. Der Dominikaner-pater Heinrich Denifle entdeckte zuvor unbekannte latei-

    nische Werke, aus denen er 1886 Auszüge veröffentlich-te. Damit brachte er erstmals Eckhart als „Scholastiker“zur Geltung. Denifle kritisierte, dass die ältere Forschungsich weitgehend darauf beschränkt habe, auf der Basis derdeutschen Werke Eckhart als „Mystiker“ zu behandeln,obwohl die Existenz der lateinischen Werke, in denen ersich als scholastischer Denker zeigt, beispielsweise überNikolaus von Kues bekannt war.Der Philosophiehistoriker Raymond Klibansky plantemit einer Gruppe von Kollegen eine kritische Ausgabeder lateinischen Werke. Er konnte aber nur drei Faszikelherausbringen, die im Zeitraum 1934–1936 erschienen.Erfolgreich war hingegen ein umfassenderes Projekt, daseine große endgültige Standardedition sämtlicher Wer-ke zum Ziel hatte. Dieses Vorhaben nahm im Herbst1934 die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Angriff.Sie gründete eine Eckhart-Kommission. Mit der Her-ausgabe der deutschen Werke wurde Josef Quint beauf-tragt, die Edition der lateinischen Werke übernahm Jo-sef Koch. Bezüglich einzelner Predigten waren schwieri-ge Echtheitsfragen zu klären. Heute ist das Editionspro-jekt fast abgeschlossen.Philosophische und theologische Rezeption im 19.JahrhundertHegel schätzte den spätmittelalterlichen Denker und be-trachtete ihn als Geistesverwandten.[106] Schopenhauerbeschäftigte sich in seinen letzten Lebensjahren mit Eck-hart. Er meinte, Eckhart habe „wundervoll tiefe und rich-tige Erkenntniß“ besessen, doch habe er sie nur schlechtmitteilen können, denn er sei genötigt gewesen, seine Ge-danken „in die Sprache und Mythologie des Christenth-ums zu übersetzen“.[107]

    Der Hegelschüler Karl Rosenkranz prägte das Schlag-wort „deutsche Mystik“ als Bezeichnung für eine mit-telalterliche philosophische Bewegung, in der er einenVorläufer einer spezifisch deutschen Philosophie sah. BeiRomantikern und Anhängern des Deutschen Idealismusformte sich ein von Bewunderung bestimmtes Eckhart-bild, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auchnationale Züge zeigte. Man sah in dem Dominikaner ei-nen typisch deutschen Denker, der sich seiner Mutter-sprache zu bedienen wagte und sich der lateinischspra-chigen Welt der Scholastik und der katholischen Kir-chenhierarchie widersetzte. Er wurde zum Begründer ei-ner spezifisch deutschen Philosophie und Theologie ge-macht und unter die deutschen Helden der Vergangen-heit eingereiht. Verbreitet war außerdem die von demHegelianer Adolf Lasson propagierte Vorstellung, Eck-hart sei Pantheist gewesen, und die damit verbundene An-sicht, er habe sich gänzlich von der kirchlichen Autoritätgelöst.[108]

    Gegen diese verbreiteten Vorstellungen wandte sichHeinrich Denifle, der Eckhart nicht nur unter die Scho-lastiker einreihte, sondern zugleich auch ein vernichten-des Urteil über seine Leistung im Rahmen der scholas-tischen Wissenschaft fällte. Er charakterisierte ihn als

    https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Arnold_(Theologe)https://de.wikipedia.org/wiki/Aufkl%C3%A4runghttps://de.wikipedia.org/wiki/Franz_von_Baaderhttps://de.wikipedia.org/wiki/Franz_von_Baaderhttps://de.wikipedia.org/wiki/Germanistikhttps://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Pfeiffer_(Germanist)https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Deniflehttps://de.wikipedia.org/wiki/Raymond_Klibanskyhttps://de.wikipedia.org/wiki/Heft_(Papier)https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Forschungsgemeinschafthttps://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Wilhelm_Friedrich_Hegelhttps://de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Schopenhauerhttps://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Rosenkranzhttps://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Mystikhttps://de.wikipedia.org/wiki/Romantikhttps://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Idealismushttps://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Lassonhttps://de.wikipedia.org/wiki/Pantheismus

  • 16 4 REZEPTION

    Heinrich Denifle

    schlechten Scholastiker und verworren denkenden Theo-logen, der sich unpräzise ausdrücke, und bestritt seineOriginalität. Denifle kritisierte Eckhart aus thomistischerSicht, wobei er ihm „krankhaftes Denken“ vorwarf undzum Ergebnis kam, die kirchliche Verurteilung sei völligzu Recht erfolgt.[109]

    Weltanschauliche Kontroversen des 20. Jahrhun-dertsAb der Jahrhundertwende kam es in der Wissenschaft –zunächst von germanistischer Seite – zu einer Korrekturdes von Denifle geprägten negativen Bildes, das einsei-tig auf Eckharts Rolle als lateinisch schreibender Scho-lastiker basiert. Außerhalb der Gelehrtenwelt dominierteohnehin nach wie vor die traditionelle positive Einschät-zung Eckharts. Aus theologischer Sicht hatte Denifle aus-drücklich an die kirchliche Tradition der Verurteilungvon Eckharts Lehre als Häresie angeknüpft. In kirchen-fernen Kreisen spielte dieser Aspekt jedoch keine Rolle,oder Eckharts Konflikt mit demLehramt wurde sogar po-sitiv gewertet. Kirchenkritiker und Antidogmatiker sahengerade in der Emanzipation von dogmatisch-kirchlicherBefangenheit, die ihm gelungen sei, eine besonders lo-benswerte Leistung.[110]

    Zur Ausformung und Verfestigung des antikirchlichenbzw. antikatholischen Eckhartbilds trug maßgeblich die1903–1909 bei Eugen Diederichs erschienene zweibän-dige Übertragung der mittelhochdeutschenWerke in mo-dernes Deutsch von Hermann Büttner bei. Sie erzielte ei-ne außerordentliche Breitenwirkung; noch 1959 erschien

    eine Neuauflage. Büttner, der sehr frei übersetzte un