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Anna Schapire
Meine Tante Chane
Als Vorlage diente:
Anna SchapireMeine Tante Chane
aus: Ost und West, Illustrierte Monatschrift für das gesamte JudentumHerausgegeben und redigiert von Leo Winz, VII. Jahrgang, Heft 8/9
August/September 1907 S. 513-526
Coverillustration: Gemälde von Berthe Morisot
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ngiyaw eBooksn
Anna Schapire
Meine Tante Chane
Wenn meine alte Tante Chane abends ihre
Brille auf setzte und nach der Zei tung griff,
über schlug sie jedes mal mit einer nach läs si gen
Gebärde Leit ar ti kel, Feuil le ton und Depe schen.
Ihr Inter esse begann erst dort, wo das ande rer
Leute gemein hin auf hört: beim Annon cen teil.
Und auch bei den Annon cen fes sel ten sie nicht
die Rubri ken, in die andere Leute einen Blick
wer fen: Käufe und Ver käufe, Stel len ge su che,
Woh nun gen, Hei rats ge su che und wie alle die
schö nen Ein tei lun gen heis sen, mit denen eine
moderne Zei tung ihren Lesern auf war tet.
Meine Tante Chane machte keine Gele gen heits -
käufe, denn die Kreu zer klim per ten nicht reich -
lich in dem alten schä bi gen Geld beu tel chen;
Arbeit suchte sie auch nicht, denn in dem muf fi -
gen Mehl ge schäft gab es mehr zu tun, als den
alten Glie dern heil sam dünkte; und Woh nung —
nein, die bei den klei nen Dach zim mer, die die
Ver wand ten ihr gross mü tig ein ge räumt hat ten,
waren gerad das Schön ste, was meine Tante
Chane hatte. Diese Woh nung bot eine ganze
Reihe von Vor tei len, die andere viel leicht nicht
gleich über sa hen, die meine Tante Chane aber
sehr zu schät zen wusste. Dass sie keine Miete zu
zah len brauchte, war einer der gering sten —
meine Tante Chane war eine sehr noble Natur,
obgleich sie nie Geld genug besass, um sich ein
gutes Kleid zu lei sten. Bei aus ser or dent li chen
Gele gen hei ten muss ten die Ver wand ten auch
für die Gar de robe sor gen. Aber durch die freie
Woh nung war ihre Zuge hö rig keit zur Fami lie
ein für alle Mal fest ge legt und aner kannt. Moch -
ten immer hin tags über Käu fer die alte Frau hin -
ter dem mor schen Laden tisch ein bischen über
die Ach sel anschauen und fre che Wei ber um
einen Kreu zer so unent wegt feil schen, bis Tante
Chane müde wurde und wirk lich nach gab;
wenn sie abends das rostige Vor le ge schloss an
der blech be schla ge nen Laden tür zuklappte, war
das alles abge tan. Dann wurde sie wie der das
wür dige, wenn auch ver armte Mit glied einer
wür di gen Fami lie und sass an einem soli den run -
den Tisch mit einer schö nen gros sen Lampe
drauf, an der kein Petro leum ge spart wurde.
Ihre Hände waren röter als die der übri gen
Haus ge nos sen. Das kam daher, dass sie Som -
mer und Win ter hin ter dem Laden tisch hock te
und die blauen Puls wär mer, die sie bei kal tem
Wet ter trug, die alten Fin ger nicht genug wärm -
ten. Ihre Klei der waren etwas stau bi ger und
schmut zi ger als die der ande ren; auch das hing
mit dem Laden zusam men, und an beide Tat sa -
chen hat ten sich alle längst gewöhnt. Viel leicht
schim merte auch hier etwas her ab las sen des Mit -
leid durch. Mein Gott, so ein altes ver hut zel tes
Weib lein, das eigent lich Gna den brot isst —, der
Vet ter war froh, wenn das Mehl ge schäft kein
Defi zit ergab, das er auch noch decken musste.
Aber mei ner Tante Chane war Mit leid nicht
schreck lich, und sie trug es ganz ruhig, ja sie
fand es sogar rich tig, dass ihr beim Nacht mahl
zuletzt auf ge legt wurde und die Zei tung erst
durch alle ande ren Hände ging, ehe sie zu ihr
kam. Ord nung muss sein, und es ist ein Unter -
schied zwi schen einem rei chen Geschäfts mann
und einer klei nen Laden frau, wenn sie auch zur
Fami lie gehört. Wenn aber alle ande ren ihre Lek -
türe been det hat ten und die Zei tung an meine
Tante Chane gelangte, dann fei erte sie die
gemüt lich ste Stunde des gan zen Tages. Sie
drehte mit einem Hand griff die Blät ter um und
fing rück wärts auf der letz ten Seite an. Dann
suchte sie auf merk sam alle Todes an zei gen her -
aus und unter warf sie einer sach ge mä ßen Kri -
tik. Sie fand es nicht hübsch, wenn die Anzeige
nur einen beschei de nen Raum ein nahm, es war
ihr auch nicht recht, wenn sie nicht sehr viel
Namen von trau ern den Hin ter blie be nen ent -
hielt. Am unan ge nehm sten aber berührte sie es,
wenn der Tote in einem recht hohen Alter ver -
schie den war. Dann haderte meine Taute Chane
förm lich mit dem lie ben Gott, vor dem sie sonst
einen gewal ti gen Respekt hatte, und warf ihm
ziem lich unver blümt vor, warum er so einem
alten Men schen, der sich sicher lich schon stark
ans Leben gewöhnt hatte, nicht noch ein paar
Jahre Zeit liess. Der Tod von jun gen Leu ten
berührte sie weni ger. Gott weiss, was denen
noch für ein Schick sal geblüt hätte, manch
einem ist das Leben so bit ter, dass der Tod zur
Wohl tat wird, aber ein alter Mensch, der schon
alles hin ter sich hat, Leid und Freud, dem sind
seine letz ten Jahre immer lieb, und man sollte sie
ihm nicht kür zen. Das war mei ner Tante Cha -
nes Lebens phi lo so phie, und sie rich tete sich
wenig stens sel ber streng nach ihr, was sich nicht
von allen Ver fech tern von Lebens phi lo so phien
sagen lässt. Als das Ster ben an sie kam, da
kämpf ten die alten Kno chen einen zähen
Kampf, und der Tod hatte Mühe, bis er sie
bezwang. Wochen lang lag sie in ihrem Dach stüb -
chen und. rang mir. ihm schwer und bit ter, bis
sie doch all mäh lich den Kür ze ren zog. Da
wurde sie still und ver driess lich und es gelang
ihren Haus ge nos sen nur sel ten, sie auf zu rüt teln.
Ein Mit tel frei lich hat ten sie, und es bewährte
sich bis zu aller letzt. Wenn die Kranke apa thisch
wurde, dann brauchte sich nur ihre Lieb -
lings-Gross nichte — denn die Tante Chane war
gar keine wirk li che Tante, man nannte sie nur
aus Höf lich keit so — mit ihrem Strick zeug an ihr
Bett zu set zen; Das Mäd chen hielt die Nadeln
unge schickt zwi schen den dicken Fin gern, und
dar über amü sierte sich Tante Chane und lachte
so, dass ihr grosse Trä nen über die runz li gen
Wan gen kol ler ten und der Tod erstaunt in sei -
ner Arbeit ein hielt. Aber es half ihr alles nichts;
eines Tages lag sie tot in ihrer alten Bett stelle.
Ach, Tante Chane, wenn ich an deine letz ten
fried li chen Jahre denke, dann dünkt es mich wie
ein wir res Mär lein, was sie mir alles von dir
erzählt haben, und wenn ich mir dein runz li ges
ver fal le nes Gesicht vor stelle, dann scheint es
mir unmög lich, dass es ein mal schön war, sehr
schön sogar, sagen die Leute. Was sagst du? ich
soll nicht wer ter reden? Die Schön heit, gerade
die war dein Unglück und brachte dir soviel
Leid, ̂dass du damals gar den Tod riefst, mit dem
du spä ter einen so har ten Strauss foch test, und
Schande brachte sie dir, sagst du, soviel
Schande, dass du anfangs nicht wuss test, wie sie
tra gen! Ach, Tante Chane, es war wohl nicht die
Schön heit allein, auch ein Trop fen süd li chen
Bluts wird mit Schuld gewe sen sein. Das süd li -
che Blut, das ihr von Urvä ter zeit mit ge bracht
habt in gali zi sche Sümpfe und Sand flä chen. Die
Män ner konn ten es nicht ver wah ren, die hat ten
genug mit Tal mud und Thora zu tun, über dem
vie len Ler nen, was die Väter gesagt und was sie
gewollt, ver lo ren sie ’s; aber ihr Wei ber, bei euch
hielt es sich bes ser. Ihr tum melt euch mehr unter
Got tes blauem Him mel und mehr auch in sei -
nem Kot, den er dort zu lande nicht eben spär lich
geschenkt hat. Die einen das Blut, die ande ren
die Lehre, es klappt nicht immer, wenn das
zusam men stösst. Was sagst du? auf hö ren soll
ich, du hät test es schwer genug gehabt, bis die
Leute still wur den mit den alten Geschich ten.
Ach, Tante Chane, die Leute, denen ich heute
erzähle, die wis sen ja nichts von dir. Tritt nur still
bei Seite und leg dich ruhig in dein Grab zurück,
kein Mensch soll dich stö ren, ich erzähle die
Geschichte eines jun gen Mäd chens.
In einem gali zi schen Markt flec ken war es, ein
paar müh se lige Weg stun den hin ter einer grös se -
ren Han dels stadt. In der Han dels stadt gab es
gemau erte Häu ser und gepfla sterte Stras sen. Sie
hatte viel Ver kehr, und ihre Bewoh ner waren
sehr auf ge klärt. Es lag wohl man ches durch ein -
an der in die sen Köp fen an alter Tal mud weis heit
und deut schen libe ra len Zei tungs phra sen, denn
brave fort schritt li che Män ner waren sie, und die
Revo lu tion von 48 fand viel Begei ste rung bei
ihnen. Sie taten blos nicht mit, das schick te sich
bei ihnen doch nicht. Klug waren sie auch und
ver stan den ihren Vor teil. Erst trie ben sie offen
Han del mit Russ land, und als man der Stadt
ihre Pri vi le gien nahm und die Frei stadt auf hob,
orga ni sier ten sie den Schmug gel vor treff lich. Es
ging zwar nicht mehr so gut wie ehe dem, aber
dafür konn ten sie nichts. Helle Köpfe waren es,
in ganz Gali zien und noch drü ber hin aus in Litt -
hauen rühmte man ihren Ver stand. Und auch
kühne Män ner gab es unter ihnen, es war gar
nicht so leicht für die Ersten, die Stirn loc ken
abzu schnei den und die lan gen Röcke zu kür zen.
Spä ter, da wurde es Mode, da schli chen selbst
die halb wüch si gen Bur schen am Sams tag hin ter
die Stadt und rauch ten eine Ziga rette nach der
ande ren. Aber anfangs gehörte Mut zu allen die -
sen Din gen. Nun, sie hat ten ihn eben und führ -
ten es aus. — In dem Markt flec ken war alles
anders. Von Stras sen war über haupt nicht viel
zu sehen. Die höl zer nen Häus chen der Bewoh -
ner stan den rings um den gros sen, unre gel mäs si -
gen Markt platz, jedes mit einem klei nen Vor bau
ver se hen, der sich wie das fei ste Bäuch lein eines
sonst zer lump ten Bet tel manns vor drängte: eine
lehm ge stampfte Diele war es meist, die von brei -
ten hohen Holz bal ken ein ge fasst war, und drü -
ber ein Schin del dach, das sich auf zwei höl zerne
Säu len stützte. Die Säu len hat ten son der bare
Aus buch tun gen und Beu len und waren rosa
oder hell blau ange stri chen. Aber die Farbe hielt
nicht, und so schim merte denn über all das
wurm sti chige Holz durch und bil dete zusam -
men mit dem abge bröc kelten Kalk be wurf der
Wände einen trüb se li gen Anblick. Die Vor bau -
ten wur den zu aller lei häus li chen Arbei ten,
geschäft li chen Ver rich tun gen und gesel li gen
Zusam men künf ten benutzt. Die Wei ber sas sen
trat schend auf den Bal ken, das Strick zeug in den
Hän den oder ein Kind auf dem Schooss, die
Män ner hiel ten Aus schau, ob nicht ein Bäu er -
lein des Wegs käme, dem man ein paar Eier ab -
kau fen oder ein Gläs chen Brannt wein anbie ten
konnte, die Kin der spiel ten hier und balgten
sich. Ihre wich tig ste Auf gabe aber hat ten die Vor -
bau ten im Früh ling und Herbst. Dann ver wan -
delte sich der Markt platz in ein wogen des übel -
rie chen des Kot meer, in das sich ein Fuss gän ger
höch stens mit Röh ren stie feln aus ge rü stet hin ein -
wa gen konnte. Und da Röh ren stie fel ein kost -
spie li ges Ding sind und über dies ein unbe que -
mes Klei dungs stück, klet ter ten die Bewoh ner lie -
ber von Vor bau zu Vor bau, wenn sie sich besu -
chen woll ten. War der Abstand zwi schen zwei
Häus chen etwas grös ser, so trat man gele gent -
lich auf einen Stein, der schon für sorg lich im
Som mer hin ge legt wurde, sonst schwang man
sich ruhig von Diele zu Diele und hielt sich an
den Säu len fest. Man machte so oft gemäch lich
die Runde um die halbe Stadt, wenn man sei -
nem Nach bar, der einem gerad vor der Nase
wohnte, guten Tag sagen wollte. Es war etwas
umständ lich und zeit rau bend, aber die Bewoh -
ner des Markt flec kens hat ten ohne dies nicht viel
zu tun. Ihre Geschäfte mach ten sie an den
Markt ta gen ab, wenn die Bau ern aus den klei -
nen Dör fern kamen. Die Bau ern waren miss -
trau isch und die Juden vor sich tig, es gab viel
Geschrei und viel Über re dungs kunst, aber
schliess lich kam man zu Rande. An den übri gen
Tagen der Woche dösten die Leute ruhig vor
sich hin, die Bur schen und Män ner sas sen viel
im Bet haus, und stu dier ten auch zu Hause ihre
hebräi schen Foli an ten, deut sche Let tern kannte
kaum einer von ihnen. Die Wei ber mach ten sich
mit der Wirt schaft und den Kin dern zu schaf -
fen, am schlimm sten aber waren die Mäd chen
daran. Für sie gab es keine andere Beschäf ti -
gung als Stric ken und Häkeln. Es gab Vir tuo sin -
nen unter ihnen, die ihre Kunst mit wah rer Hin -
gabe pfleg ten; ihre gehä kel ten Rosen stan den
den wirk li chen in nichts nach, und wenn man
bedenkt, dass sie halt ba rer waren, musste man
ihnen sogar den Vor zug geben. Aber wenn eine
kei nen Gefal len daran fand — und die junge
Chane, die mit Eltern und Brü dern in einem der
geräu mig sten Häu ser des Flec kens wohnte,
fand lei der gar kei nen Gefal len an den herr li -
chen Mustern der Gespie lin nen. Sie lang weilte
sich, sie lang weilte sich eigent lich den gan zen
Tag. Die Mut ter trieb einen klei nen Eier han del,
der Vater war ein from mer Mann, der sich nicht
gern mit welt li chen Din gen abgab, son dern lie -
ber die Geschäfte der Frau über liess und dafür
tag aus tagein aus der Thora lernte. Die Brü der
lern ten auch. Für Chane gab es gar nichts zu
tun, denn fürs Geschäft war sie noch zu jung
und zu dumm, und es schickt sich über dies nicht
für ein Mäd chen. Zum Ler nen hielt sie auch nie -
mand an; man hatte sie lesen gelehrt, damit sie
als ver hei ra tete Frau ein mal ihr Mor gen ge bet
her un ter has peln konnte, mehr war nicht von
Nöten.
Sie hock te im Win ter in der Stube und im Som -
mer im Vor bau, es war immer das selbe. Die
schwer fäl li gen Glie der waren zu dumm zur
häus li chen Arbeit und der junge Kopf war
womög lich noch düm mer. Viel Ge dan ken steck -
ten nicht drin. Wie es wohl in der Stadt aus se -
hen mag, wo die Mut ter Ver wandte hatte, und
wie es wohl ist, wenn man hei ra tet. Mit un ter ver -
schmol zen die bei den Gedan ken rei hen, und die
junge Chane fragte sich, wie es ist, wenn man
eine ver hei ra tete Frau in der Stadt ist. Dann
wurde ihr ganz heiss, und das junge Blut, das
sonst lang sam durch den trä gen Kör per schlich,
krei ste plötz lich rascher und trieb ganze Wel len
zu dem törich ten Kopf empor. Ja, die Stadt, stun -
den lang konnte Chane sich aus ma len wie das
ist, wenn man in der Stadt lebt, wo es rich tige
Stras sen gab und rich tige Kauf lä den, in denen
man alle Herr lich kei ten der Welt kau fen konnte.
Zif fre Men del, die in ihrer Wohn stube ein
Waren la ger ein ge rich tet hatte, brachte jeden
Früh ling von ihrer Geschäfts reise drei Stüc ke
Kat tun mit; das reichte gerad’ für die ganze weib -
li che Bevöl ke rung und sogar noch zu Hem den
für die Män ner. Chane konnte sich den gan zen
Win ter ein grü nes Kleid mit roten Punk ten aus -
den ken; brachte Zif fre blau mit, so musste sie
blau tra gen. In der Stadt, oh, da geht man ein -
fach in einen Laden nach dem ande ren, und in
jedem legen sie einem hun dert Stoffe vor, und
dann wählt man. Nun ja, das ist ein fach und
wenn man sich eine ganz merk wür dige Farbe
aus ge dacht hat, bekommt man sie auch; warum
denn nicht!
Die Mut ter fuhr auch manch mal zur Stadt,
aber sie nahm Chane nie mit und sie brachte
nichts ande res heim als Tee und Talgker zen zum
Licht men schen.1 Für diese Dinge hatte sie dort
eine bil li gere Quelle ent deckt als Zif fre Men del.
Zif fre Men del nahm das übel und gestat tete sich
hier und da sar ka sti sche Bemer kun gen über die
Brenn dauer die ser Schab be sker zen, aber ihre
Worte blie ben erfolg los, ebenso wie die Gri mas -
sen, mit denen sie den Tee hin un ter schlürfte,
den die Mut ter ihr vor setzte. Chane dage gen
hatte kei ner lei Inter esse für Tee und Schab bes -
lich ter; sie nahm daher auch die Pakete, wenn
die Mut ter sie ihr vor sich tig vom Wagen her un -
ter reichte, stets mit gros ser Gleich gil tig keit in
Emp fang. Eines Tages aber brachte die Mut ter
mehr als Pakete mit. Neben ihr auf dem Stroh -
sack, der als Sitz diente, sass ein leben di ges
Wesen, das sich als ein schmäch ti ger jun ger
Mann mit ein ge fal le nen Backen und einer grün -
lich schim mern den, etwas zer ris se nen Peke sche
ent puppte, als er unge schickt hin ter der Mut ter
vom Wagen hin un ter klet terte.
Chane, die gerade auf dem Vor bau her um lun -
gerte, betrach tete ihn neu gie rig. Die Mut ter aber
ging an ihr vor über und führte ihn direkt zum
Vater, der in der Stube sass und lernte. Chane
schlich hin ter drein und machte sich drin nen zu
schaf fen, so dass sie alles hörte, was sie ver han -
del ten. Die Mut ter hatte den Bocher2 bei Ver -
wand ten gefun den. Er war ein fei ner Kopf und
ein armer Teu fel oben drein. Ange hö rige hatte er
nicht. Er schlief im Bet haus und ass nur zu Mit -
tag, wenn mit lei dige Leute ihn zu Tische rie fen.
Dabei wusste er unge heuer viel, den gan zen Tal -
mud hatte er gele sen und wich tige Abschnitte
kannte er aus wen dig. Da hatte die Mut ter
gedacht, dass er wohl ein Jahr bei ihnen blei ben
könne, um mit den Jun gen zu ler nen. Das
bischen Essen kostete nicht viel und für Klei der
wollte sie auch sor gen, alte Sachen waren genug
vom Vater da.
Der Bocher blieb.
Anfangs war er schüch tern und schweig sam,
aber das änderte sich all mäh lich, und die Mut ter
brauchte ihn beim Essen nicht mehr zu nöti gen.
Er entwic kelte sogar einen Appe tit, der ihr zu
den ken gab, wäh rend ihre sach li chen Bemer -
kun gen über die schäd li chen Fol gen eines über -
lad nen Magens wenig Ein druck mach ten. Die
Mut ter wurde immer küh ler gegen ihn, aber
Chane gefiel er immer bes ser. Er wusste von der
Stadt zu erzäh len, er schalt sie nicht immer wie
die ande ren, und dazu wurde er immer hüb -
scher, seit er nicht mehr so hohl wan gig und
duck mäusig umher schlich. Und auch Chane
wurde immer schö ner mit ihren fünf zehn Jah -
ren. Seit der Bocher da war, lang weilte sie sich
nicht mehr, und da sah man erst, was sie für
schöne blit zende Augen hatte. Sie blitzte auch
den Bocher mit ihnen an, und er fand lang sam
Gefal len an ihnen, genau so wie an ihrer Mut ter
Klös sen. Aber nie mand warnte ihn zu viel
hinein zug uc ken, wie die Mut ter vor dem vie len
Essen warnte. Immer häu fi ger lach ten sie sich
an, drin nen wenn die ande ren draus sen waren,
und auf dem Vor bau, wenn die ande ren in der
Stube sas sen. Immer wär mer wurde ihnen dabei
und immer stär ker schoss das Blut in Cha nes
törich ten jun gen Kopf. Er lag nachts in der Kam -
mer mit sei nen drei Zög lin gen, die schlie fen so
fest wie junge Hunde. Wenn Chane vor sich tig
zu ihm hin über schlich, denn die trä gen Glie der
waren jetzt flink und hur tig ge wor den, merk ten
die Jun gen nichts und auch die Eltern, die in der
Stube hin ter dem Vor hang schlie fen, hör ten
nichts.
Als die Mut ter end lich dahin ter kam, gab es
tüch tige Prü gel. Der Vater ver haute den Bocher,
Chane bekam ihre Ohr fei gen von der Mut ter.
Dann musste der Bocher sein Bün del schnü ren.
Nicht ein mal Abschied durf ten sie neh men.
Chane sah ihm ver stoh len durch das Kam mer -
fen ster nach. Die Mut ter hatte ihm die Klei der
wie der abge nom men, er trug die alte abge ris -
sene Peke sche, in der er gekom men war, und
schlich mit gesenk tem Kopf und gebeug tem
Rücken über den Markt platz, so demü tig wie
damals, als er zum ersten Male ins Haus kam.
Chane ballte die Fäu ste, sie hätte sich nicht
fort ja gen las sen, wie ein räu di ger Bett ler, nein,
sie nicht, Aber er war eben doch ein Che der jin -
gel3 und hatte nur Mut solange es ihm gut ging.
Fast wider wär tig wurde er ihr in die sem Augen -
blick. Nein, um ihn wollte sie nicht wei nen. Das
nützte ihr frei lich wenig, es kamen so böse Zei -
ten für die junge Chane, dass sie kaum mehr
wusste, um was ihre Trä nen flös sen. Sie flos sen
immerzu, bei jedem Schlag, den die Mut ter
[523]ihr gab, und bei jedem bösen Wort, das von
der Mut ter kam. Anfangs war die Mat ter nur
böse und schlug und schimpfte, aber spä ter, als
sie das Schlimm ste entdeck te!
Das waren ein paar arge Monate für die kleine
Chane. Die Mut ter sperrte sie in die Kam mer
und liess sie nicht vor die Tür. Ihre Toch ter sei
krank, erzählte sie den Nach barn, und müsse
das Bett hüten. Aber die Leute wuss ten plötz lich
alles. Die einen hat ten sie mit dem Bocher
lachen gesehn, ein zwei ter tuschelte, wie der
kluge Bocher so Knall und Fall aus dem Haus
gewor fen war, und gestoh len hatte er doch wohl
nichts, Zif fre Men del aber lief umher und sagte
allen Leu ten, die es hören woll ten, sie habe nie
Ver trauen zu der Fami lie gehabt. Dann kam sie
zur Mut ter zu Besuch und wollte wis sen, was
Chane fehle.
Chane dachte damals, sie müsse ver ge hen vor
Schande und Schmerz. Der junge Leib wehrte
sich gegen die schwere Bürde, er keuchte und
bäumte sich, und der törichte Kopf war ganz
ange füllt mit schwe ren Gedan ken. Warum die
Men schen so schlecht seien, und warum der
Vater nicht mit ihr reden wolle, und warum die
Mut ter nicht lie ber den Bocher aus der Stadt
hole und ihr die Chuppe4 mit ihm stelle, dass sie
sich nicht mehr verstec ken müsse vor aller Welt.
Sie mochte ihn gar nicht mehr, aber es war
immer noch bes ser als das alles allein tra gen.
Aber die Mut ter wollte nichts von dem Schuft
hören, sie hatte andere Pläne. Ganz heim lich in
der Stille wurde das Kind gebo ren. Dann nah -
men sie es ihr fort und schick ten es in eine
andere Gemeinde. Ein jüdi sches Kind war es
und sollte in einem jüdi schen Hause leben, aber
die junge Mut ter sollte nichts von ihm wis sen,
und die Leute auch nicht. Die wuss ten es doch
und tuschel ten und zischel ten, dass Chane nicht
wagte, den Kopf zu heben.
Als sie wie der gesund war, brachte die Mut ter
sie zu den Ver wand ten in die Stadt. Chane war
so müde und unglück lich, dass sie sich nicht
recht dar über freuen konnte. Am lieb sten wäre
sie gestor ben. Die Leute wuss ten auch hier alles.
Hatte Zif fre Men del geschwatzt oder hatte sich
der Bocher ver ra ten, sie rede te ten und höhn ten
hin ter ihr her, immerzu, immerzu. Sie wollte gar
nicht aus der Stube, die Stras sen und Kauf lä den
lock ten sie nicht mehr.
Und dann kam Srul Bär heim. Srul Bär, der
Spass vo gel, der sich unten in der Tür kei her um -
ge trie ben hatte und von dem man behaup tete,
er habe dort sogar sei nen Tal les5 an einen Musel -
mann ver kauft, Srul Bär, des sen Geschäfte dun -
kel waren und von des sen Cha rak ter man auch
nicht das Beste wusste. Für den war sie gerade
die rich tige Frau. Kein guter jüdi scher Mann
hätte ihm seine Toch ter gege ben, sowie er
Chane sei nen Sohn ver wei gert hätte. Das gefal -
lene Mäd chen und der Aben teu rer, die pass ten
zusam men. Er nahm sie, er nahm auch die Mit -
gift, die die Eltern gaben.
Wie der rede ten die Leute. Aber als Srul Bär
einen regel rech ten Han del begann, wie die ande -
ren, da wur den sie still. Und auch Chane wurde
ruhig. Anfangs hatte sie sich vor dem schreck -
lichen Men schen mit den ste chen den Augen
gefürch tet, dann gewöhnte sie sich an ihn. Ihm
machte das hüb sche kleine Ding Spass; er
erzählte ihr viel und lehrte sie sogar das deut -
sche ABC. Bis er eines Tages fort fuhr und nicht
wie der kam. Wie der sass Chane mit einem klei -
nen Kinde da und wollte sich die Augen aus wei -
nen. Und die Leute zischel ten auch wie der:
natür lich, der Lump, sie hat ten es gleich
gewusst. Aber dies mal nahm ihr nie mand das
Kleine weg. Die Ver wand ten rich te ten ihr einen
klei nen Mehl han del ein, davon lebte sie bis die
Toch ter her an wuchs und weit weg hei ra tete. Als
Chane alt und gebrech lich war und das Mehl ge -
schäft zurück ging, nah men die Ver wand ten sie
ganz ins Haus.
Der Mann kam nie wie der. Aber von den alten
Geschich ten sprach auch kein Mensch mehr.
Nie mand spot tete über sie, man wusste nur
noch, dass sie aus einer sehr ange se he nen Fami -
lie war. Sie hatte es schlecht in der Ehe getrof fen
und war nicht mit Glücks gü tern geseg net. Mein
Gott, das kommt vor und ist nichts beson de res.
Und all mäh lich ver gass Chane sel ber, was sie
erlebt hatte. Sie wurde ein altes Weib lein, das
ganz zufrie den vor sich hin lebte und nicht ster -
ben wollte, weil es gar nichts an die ser schö nen
Welt aus zu set zen fand.
Endnoten
1 Das Gebet der ver hei ra te ten Frauen am Frei tag Abend.
2 jun ger Mann.
3 einer, der immer im Bet haus hockt.
4 Der Trau him mel, unter dem die Trau ung voll zo gen wird.
5 Bet man tel.