Marig Münsel Mahamudra Das Dunkel mangelnden Gewahrseins ... · Mahamudra-Unterweisungen Neunter...
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Mahamudra-Unterweisungen
Neunter Karmapa
Marig Münsel
– Mahamudra –
Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen
Teil Fünf
Unterweisungen von
Lama Tilmann (Lhündrup)
Möhra 2016
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Teil V Lama Tilmann, Möhra 2016
INHALT
Meditation ................................................................................................................................... 4
Einführung ....................................................................................................................................... 4
Wiederholung .................................................................................................................................. 6
Die Vorbereitenden Übungen ..................................................................................................... 6
Geistesruhe und Einsicht ............................................................................................................ 7
Einsichtsmeditation ..................................................................................................................... 7
Mahāmudrā-Meditation .............................................................................................................. 9
Fragen der Teilnehmer ............................................................................................................. 10
Meditation ................................................................................................................................. 12
2. Hindernisse beseitigen und frei von Hoffnung und Furcht verweilen .................................... 12
Meditation: Entspannen im Vertrauen in die Natur des Geistes ............................................... 15
Meditation: Drei Arten von Geschick ....................................................................................... 19
3. Missverständnisse beseitigen und Geistesbewegungen sich selbst überlassen ....................... 20
Leerheit ist kein Gegenstand des Wissens ..................................................................................... 21
Vom Dharma der Worte zum Dharma der Verwirklichung ...................................................... 25
Leerheit ist kein Gegenmittel ........................................................................................................ 27
Nicht an Leerheit als höchstem Weg festhalten ............................................................................ 29
Erzeugen und Lassen ................................................................................................................ 32
Leerheit nicht als Stempel aufdrücken .......................................................................................... 33
Pfingstsonntag .......................................................................................................................... 35
4. Fünf Gefahren vermeiden und frei von Hoffnung und Furcht praktizieren .......................... 36
Gedanken nicht als Feinde betrachten ........................................................................................... 36
Emotionen nicht als Feinde betrachten ......................................................................................... 38
Meditation: Konsequentes Zulassen ......................................................................................... 40
Feedback ................................................................................................................................... 40
Meditieren mit Gefühlstönen .................................................................................................... 42
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Teil V Lama Tilmann, Möhra 2016
Leerheit nicht zum Feind werden lassen ....................................................................................... 43
Erscheinungen nicht zum Feind werden lassen ............................................................................. 47
Meditation: Offener Geist ......................................................................................................... 51
Mitgefühl nicht zum Feind werden lassen .................................................................................... 51
Meditation: Die Vier Unermesslichen ...................................................................................... 53
Ursache und Wirkung nicht zum Feind werden lassen ................................................................. 54
5. Drei Hindernisse überwinden ..................................................................................................... 56
Die vier Triebflüsse .................................................................................................................. 59
6. Wie durch Praxis die Qualitäten des Weges entstehen ............................................................. 62
Die Qualitäten der vorbereitenden Übungen ................................................................................. 62
Die Qualitäten der Hauptpraxis von Geistesruhe und Einsicht ..................................................... 63
Meditation ................................................................................................................................. 66
Die Qualitäten, die auf den vier Mahāmudrā-Stufen entstehen .................................................... 67
Einsgerichtetheit ....................................................................................................................... 67
Einfachheit ................................................................................................................................ 70
Meditation ................................................................................................................................. 77
Eingeschmack ........................................................................................................................... 80
Nichtmeditation ........................................................................................................................ 92
7. Ausdauernd Mahamudra praktizieren ...................................................................................... 98
Basis, Pfad und Frucht, sowie Sicht, Meditation und Aktivität .................................................... 98
Die wichtigsten Punkte der Praxis .............................................................................................. 102
Erfahrungen und Erkenntnis unterscheiden ................................................................................ 106
Die zugleich entstehende Einheit des Mahāmudrā...................................................................... 108
Die Mahāmudrā-Übertragungslinien der Kagyü-Schulen ........................................................... 111
Anmerkung der Lektorin: Teil V der Unterweisungen befasst sich im Kommentar mit Teil Drei ab Punkt 2.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Meditation
Mit den letzten Worten des Zufluchtsgebetes lassen wir die Zuflucht in uns verschmelzen, so als würde der
Buddha durch seinen Segen uns ganz durchströmen. … Und dann lassen wir den Buddha in uns meditieren,
… voller Vertrauen, ohne irgendetwas erreichen zu wollen. – Dabei sind alle Sinne ganz offen … alles entsteht und vergeht von selbst … ganz wach und frei. – Was immer an Gedankenformen, an Geistesbewegungen entsteht, wir lassen sie einfach, es gibt nichts zu
tun. – Wir sehen ihr wahres Wesen aus sich heraus, offen, sich selbst befreiend. – Falls wir ein wenig Anspannung in uns verspüren, gehen wir genau da hinein mit unserem Gewahrsein und erinnern uns daran, dass es gar nichts zu tun gibt, nur den Buddha meditieren lassen. –
* * *
Einführung
Willkommen wieder einmal zu einem Mahāmudrā-Kurs, einer Gelegenheit, die Weisheit früherer Generatio-nen neu zu erwecken, miteinander zu teilen. Ich freue mich sehr darauf.
Habt Ihr in der Meditation jetzt die wichtigen Elemente der letzten Jahre erkannt? So einfach, wie es nur
geht. Alles, was wir zu tun brauchen, ist, diesem einfachen Sein die Möglichkeit zu geben, sich zu entfalten.
Je mehr wir uns entspannen, desto klarer wird der Geist. Je klarer der Geist ist, desto mehr nehmen wir wahr.
Wir werden dort gewahr, wo wir vorher nicht bewusst waren und nicht wahrgenommen haben. Wo Ge-
wahrsein ist, entsteht Einsicht, entsteht Verständnis. Und durch das Verständnis entsteht ein immer tieferes
Loslassen, ein immer tieferes Vertrautsein mit dem Sein. Das Vertrauen in das Sein nimmt zu, so wie es ist;
Vertrauen, dass wir nichts zu tun brauchen, um glücklich zu sein, um frei zu sein. Diese Anstrengung fällt
von uns ab. Damit die Meditation nicht anstrengend wird, habe ich relativ schnell die Klangschale ertönen
lassen. – Nicht, dass sich die Buddhas in uns doch noch anstrengen.
Bleibt so entspannt wie jetzt, wir machen gleich noch eine Runde; ganz entspannt, ganz vertrauensvoll. Falls
Ihr mit der Idee gekommen seid „Jetzt will ich’s aber wissen!“, lasst es gleich sein. Lasst es gleich fallen.
Einfach nur sein; bewusst, präsent. So offen, wie es halt möglich ist, wenn wir alles Tun lassen, wenn wir
nichts erzeugen, nichts blockieren. Da laufen erst einmal noch so einige Bewegungen ab, manchmal merken
wir: „Oh, da war ich gerade in einem Film.“ Und kaum merken wir’s, lassen wir es auch schon. Dazu kann
uns ein kleiner Ausatem helfen – schon ist der Film vorbei.
Meditieren hat nichts damit zu tun, zu kämpfen, gar nichts. Und wenn wir merken, dass wir gegen Müdigkeit
kämpfen, so können wir das tun, aber Müdigkeit ist eigentlich kein Problem. Einige von uns sind weit gereist
und sind ganz normal müde. Was wir machen können, ist, uns für die Müdigkeit zu interessieren. Wie ist sie
eigentlich? Wir können mit dem Bewusstsein in diese Erfahrung hineingehen – oder was auch immer sonst
da ist. Wenn wir jetzt aufgewühlt sind: hineingehen in die Erfahrung, nicht weggehen, nicht was anderes su-
chen. Es geht um die Erfahrung, so wie ich jetzt bin; da ist die Meditation, nicht woanders. Das Erwachen ist da, in dem, was wir jetzt erleben.
Das Wichtigste ist, nicht zu kämpfen, denn Kampf ist der Ausdruck von Saṃsāra; davon, nicht akzeptieren
zu können, was ist. Und jetzt gerade ist wirklich nichts Schwieriges. Wir sind einfach, wie wir sind. Und
wenn wir mit uns selbst im Kampf sind, bloß weil der Geist gerade nicht so ist, wie wir meinen, dass er sein
sollte, dann setzen wir Saṃsāra auf dem Meditationskissen fort. Das brauchen wir nicht. Diese Anstrengung
können wir uns sparen. Kampf ist Ausdruck von Ablehnung und auch Ausdruck davon, dass wir es anders
haben wollen, also von Begehren, von Verlangen. Das sind zwei grundlegende Geistesgifte, und das dritte ist
auch nicht weit: das mangelnde Gewahrsein, die Unwissenheit; nicht zu sehen, dass das, was wir gerade er-leben, keinerlei Substanz hat. Das ist Unwissenheit, mangelndes Gewahrsein.
Das können wir ändern. Wir können hineinschauen in das, was ist, hineinfühlen, ganz aufgehen in dem, wie
es ist und merken: offen, dynamisch, sich ständig neu gestaltend. Auch in der Müdigkeit, im Aufgewühltsein,
ob traurig oder freudig – immer dasselbe. Dafür brauchen wir Interesse für den gegenwärtigen Geisteszu-
stand. Wenn ich ‚Interesse‘ sage, dann meine ich damit eine wache Offenheit, genau das voll und ganz zu
erleben, was jetzt ist und nach nichts anderem zu suchen. Das meine ich mit ‚Interesse‘, nicht so ein Interes-
se, das dann kommentiert und vergleicht und so weiter, sondern eine wache Bereitschaft zu erleben; so wie
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
es zum Sehen ausreicht, wenn ich bloß interessiert bin zu sehen. Ich brauche nicht nach etwas zu greifen im
Sehen, es reicht, wenn der Sehsinn aktiviert ist. Und so braucht es auch ein grundlegendes Interesse, eine grundlegende Aktivierung unserer Bewusstheit, um voll und ganz zu erleben. Das ist alles, was es braucht.
Dieses Interesse ist nicht aus Verlangen geboren, nicht aus Angst, nicht aus Hoffnung, sondern aus der
grundlegenden Bereitschaft zu erleben. Das ist damit gemeint. Das hält uns wach. Egal, welche inneren Geis-teszustände da auftauchen.
Ich möchte Euch einladen, das noch einmal zu versuchen. [Stille]
Ihr merkt schon, es ist völlig hoffnungslos. Egal, wie ich mich hinsetze, was ich auch versuche, überall ist
Wollen dabei, also kann ich es auch grad lassen. Wie bin ich jetzt gerade am entspanntesten hier? Das dürfte die beste Meditationshaltung sein.
Ich weiß nicht, ob Ihr das auch merkt, aber da ich so vor Euch sitze, erlebe ich es wie körperlich und habe
jetzt ganz stark gemerkt, wie deutlich weniger Kampf und Anstrengung da waren. Da geht’s lang! Das ist es
jetzt, wo wir auch im Kurs immer wieder hingehen und Vertrauen darin entwickeln. Genau da, wo wir aufhö-
ren zu kämpfen und etwas zu wollen, genau da finden wir zu uns, unser eigentliches Sein; so wie wir einfach
sind. Das fließt, das gestaltet sich; und wenn wir so schauen, wie es ist zu sein, dann ist es immer wieder an-
ders. Das Gemeinsame ist, dass wir es nicht richtig beschreiben können. Wenn wir einen einfachen Moment
des Seins beschreiben wollten, selbst wenn uns Stunden zur Verfügung stehen würden, wir könnten es nicht
mit Worten einfangen.
Dieses nicht Beschreibbare, nicht Fassbare – weil es sich auch grad schon beim Beschreiben wieder weiter
verändert – ist ein Schlüssel zum Ganz-da-Sein. Es geht nur darum, es zu bemerken und dann aufzugeben, es
beschreiben zu wollen; den Kommentar fallen zu lassen; alles Beschreibenwollen, Sich-selbst-Erzählen fal-
len lassen, einfach nur noch sein; alles Überflüssige weglassen. Eigentlich ist Erwachen – wenn man es ganz einfach ausdrückt –, alles Überflüssige wegzulassen. Darum geht es.
Das tibetische Wort für diese Stufe des Eintritts ins Erwachen heißt trödräl – frei von all diesen zusätzlichen,
unnötigen Vorstellungen, allen Kommentaren. Diese Stufe nennt man auch ‚Einfachheit‘ und eigentlich könnte man sagen: frei von allem Überflüssigen, von allem, was es gar nicht braucht um zu sein.
Und dann, wenn wir aus dieser Einfachheit in die Aktivität gehen, so wie jetzt – jetzt spreche ich ja – auch da
machen wir genauso weiter. Immer nur das, was es braucht. Frei von allem Überflüssigen, keine zusätzlichen
Spiralen und Loopings im Kopf, keine zusätzlichen Kommentare, keine Kapriolen – gar nichts. Einfach nur
sprechen – und aufhören zu sprechen – und dann ist Sendepause. Also geht es aus der Meditation in die Ak-
tivität. Das ist ganz wichtig, wir werden hier viel meditieren, aber der Sinn unseres Kurses ist, diese Medita-
tion fruchtbar zu machen für unsere Aktivität, für das Leben in der Welt. Das ist ohnehin der Sinn von aller
buddhistischen Meditation, sie bereitet die Aktivität vor.
Im Mahāmudrā – kleine Erinnerung für die, die schon da waren – gibt es drei Aspekte der Praxis: Sicht, Me-
ditation und Aktivität. Die Meditation besteht darin, ganz in der Schau des Seins, im Gewahrsein aufzu-gehen. Und Aktivität ist das Fortsetzen der Meditation im Handeln. Darum geht es eigentlich.
Mahāmudrā ist eine Form des Meditierens, wo wir lernen, natürlich zu sein, ohne Komplikationen, ohne al-
les Überflüssige. Und genau diese Erfahrung, so frei zu sein, nehmen wir mit in die Aktivität. Darum wird es in diesem Retreat auch gehen.
Der eigentliche Unterricht beginnt morgen früh. Das war jetzt nur die Essenz, daran könnt ihr Euch erinnern,
wenn es schwierig wird – „Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich meditieren soll! – Genau, genau! Ich
brauche ja gar nichts zu meditieren, genau! Ich brauche mich nicht daran zu erinnern, was ich zu tun habe,
sondern vor allem daran, was ich alles lassen kann.“ – Alles Überflüssige weglassen. Da müssen wir uns erst
mal noch richtig kennenlernen, was denn da alles so überflüssig ist. Das merken wir natürlich selbst, wir
merken: „Oh, das war mal wieder ein Ausflug, da war eine Anspannung und da ist jenes.“ Und indem wir
uns bewusst werden, können wir zulassen, dass es so ist, wie es ist, nämlich vergänglich. Wir werden es nicht
aufhalten können, seinen Weg zu gehen. Alles löst sich von selber auf. Das ist ein weiterer Schlüssel für die
Meditation, dass wir es zulassen, dass sich alles von selbst auflöst und selbst befreit. Die Selbstbefreiung
aller Erfahrung.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Wiederholung
In den vergangenen vier Jahren haben wir die ersten beiden Teile des Textes „Das Dunkel mangelnden Ge-
wahrseins auflösen“ des 9. Karmapa durchgearbeitet. Wir haben alle Lücken in den Abschnitten ‚Vorberei-
tende Übungen‘ und ‚Hauptpraxis‘ geschlossen. Dieses Jahr brauchen wir uns nur noch um die zusätzlichen, ergänzenden Bemerkungen kümmern, die während der ganzen Praxis zu berücksichtigen sind.
Ich rufe Euch zunächst in Erinnerung, worum es ging:
Die Vorbereitenden Übungen
Wir haben zuerst die Grundlage gelegt mit den ‚Vorbereitenden Übungen‘: Gewahrsein dessen, wie kostbar
dieses Leben ist – ein Leben, in dem wir die Möglichkeiten haben, den Dharma zu praktizieren – und Ent-wickeln von Dankbarkeit dafür.
Wir haben uns damit befasst, wie unwägbar der Todeszeitpunkt ist: Keiner von uns weiß, wie lange er tat-
sächlich leben wird. Es kann jederzeit sein, dass dieses Leben ein abruptes Ende findet, jederzeit können
Krankheiten kommen, und deswegen richten wir uns auf das eigentlich Wichtige aus. Das ist die Kontemp-
lation von Tod und Vergänglichkeit.
Wir haben uns damit befasst, was eigentlich wichtig ist und wo wir unsere Energie hineinstecken möchten,
also welche Ursachen wir setzen wollen, um die entsprechenden Auswirkungen in unserer Praxis auch tat-
sächlich zu erleben. Man nennt das die Kontemplation über Karma – Ursache und Wirkung.
Und wir haben geschaut, wo eigentlich wirkliches Glück zu finden ist. Gibt es das in den dualistischen
Mustern, die wir auch Saṃsāra nennen, in den Mustern des Greifens? Gibt es irgendwo im Daseinskreislauf
einen Ort wirklichen, bleibenden Glücks? Diese Untersuchung muss jeder für sich selbst ausführen: „Finde
ich in den Bedingungen dieses Lebens dauerhaftes Glück? Finde ich in den dualistischen Samadhis, in den
Versenkungen, die noch von Dualität geprägt sind, wirkliches Glück? Was macht eigentlich frei und glück-
lich? Wo finde ich das, was mir das wirkliche Anliegen ist?“ Darauf richten wir uns aus.
Diese Ausrichtung ist dann die Zuflucht, die Ausrichtung auf die Qualitäten des Erwachens, dort wo meiner
besten Einschätzung nach wirkliche Freiheit, wirkliches Glück, wirkliche Freude zu finden sind. Das müssen
zwangsläufig Geisteszustände sein, die frei von Enge sind, frei von Greifen, frei von dieser Ichbezogenheit,
die zur Ausgrenzung von anderen führt.
Dann haben wir uns die damit verbundenen vorbereitenden Übungen angeschaut, die darin bestehen, diese
Ausrichtung, die wir auch Zuflucht nennen, zu verstärken durch Niederwerfungen bei gleichzeitigem Entwi-
ckeln von Bodhicitta, dem Geist des Erwachens. Also eine Ausrichtung, die immer weiter wird, wo wir nicht
nur den Nutzen von uns selbst im Auge haben, sondern den Nutzen von allen Lebewesen, die alle – wie wir
auch – glücklich sein möchten. Aus dem Ich gehen wir ins Du, aus dem Du ins Wir, und im Wir, im Dienen
dieser Situation gehen wir auch noch auf und verlassen selbst den Standpunkt des Wir und kommen in ein
ganz natürliches, spontanes Sein, ein spontanes Handeln zum Wohle aller, ohne in ‚Ich‘ und ‚Du‘ und ‚Wir‘
zu denken. Das ist eigentlich Bodhicitta.
Um das zu verstärken, reinigen wir unseren Geist von den Mechanismen des dualistischen Greifens in der
Vajrasattva-Praxis mit den Hundert Silben. Im Grunde genommen ist das eine weitere Praxis, in der wir
uns dem Segensstrom öffnen, dem Bodhicitta-Strom, der in uns eintritt, und in der wir die alten Identifikati-
onen, die immer wieder zu ichbezogenen Hoffnungen und Befürchtungen führen, loslassen. Das ist in der
Visualisation von Vajrasattva das Loslassen der Negativität, und wir öffnen uns dem Bodhicitta-Gewahrsein
und werden ganz zu Bodhicitta. Das ist der Punkt in der Praxis, wo wir uns selbst als ganz rein und klar visu-
alisieren, selber Vajrasattva werden und uns darin verankern: Schluss mit all den Selbstzweifeln, den Schuld-
gefühlen, Schamgefühlen, dem Hängen an Vergangenem, das uns heute noch einengt. Wir räumen ganz auf
mit dem Gefangensein im Vergangenen, in negativen Mustern.
Dann kommt als logischer nächster Schritt die Praxis von unbegrenzter Freigebigkeit, die durch das Dar-
bringen von Mandalas symbolisiert wird. Wir opfern unser ganzes Universum – alles was uns angeht, was
uns wichtig ist, die Bezüge, in denen wir stehen, alles wird in den Dienst des Erwachens gestellt; alles ohne
Ausnahme, und dann wird es auch noch vervielfältigt, sodass es die Grenzen unserer normalen Vorstellung sprengt. Das ist die dritte vorbereitende Übung.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Sie führt hinüber in den Guru-Yoga, wo es darum geht, ganz und gar in den Segensstrom einzutreten und
den vermeintlichen Unterschied zwischen uns selbst und den Meisterinnen und Meistern aufzulösen. Wir
entdecken dabei, dass die Gurus gar nicht außerhalb von uns sondern in uns sind. Das ist der Guru-Yoga. Yo-
ga bedeutet, dass zwei zu einem werden; dass die Zuflucht, die vermeintlich außen ist, in uns freigelegt wird,
dass wir sie in uns entdecken. Jeder Guru-Yoga schließt damit, dass wir das vermeintlich Äußere, die Quelle
des Segens, die vermeintlich außen ist, in uns verschmilzt und wir dann in diesem Gewahrsein, selber im
Erwachen zu sein, meditieren – welche Quelle der Hingabe wir auch für unsere Praxis des Guru-Yoga nut-
zen, sei es Milarepa, Karmapa, Dorje Chang oder Buddha Shakyamuni. Deswegen habe ich gestern die Me-
ditation auch sehr bald damit begonnen, Euch daran zu erinnern: „Lasst den Buddha in Euch meditieren.“
Das ist eigentlich der Punkt, an dem die Hauptpraxis anfängt: Wenn wir in der Lage sind, frei von den nor-
malen Vorstellungen zu praktizieren, wir könnten das nicht oder wir müssten etwas Besonderes machen.
Die vorbereitenden Übungen dienen dazu, uns dafür freizumachen, dass wir endlich einfach sein können, in unserem ganzen erwachten Potenzial.
Geistesruhe und Einsicht
Das Besondere an der Mahāmudrā-Praxis von Geistesruhe und Einsicht ist, dass wir nichts erreichen oder
leisten müssen. Es geht nicht um Geisteskontrolle, um Gedanken einzuschränken. Wir machen einen Schritt
in ein Gewahrsein von uns selbst, wo wir nicht in Beschränkungen funktionieren und aus einem weiten Ge-
wahrsein heraus Geistesruhe zu praktizieren. Das geht leicht und schnell. Wir erleben, wie sich alles von
selbst befreit und es wird leicht sich zu entspannen, weil wir Gedanken nicht wegschieben müssen: Wir brauchen sie nur zu lassen wie sie sind – sie befreien sich von selbst. Wir lassen sie!
Wir lassen es wie es ist; zunächst einmal schauen wir noch zu bei dem, wie sich die Dinge – unsere Filme –
aufbauen und von selber wieder auflösen. Zu Anfang ist da noch diese beobachtende Distanz. Das nennt man
die Praxis von Geistesruhe. Das ist der dualistische Aspekt unserer Meditationspraxis. Da merken wir, wie
mit der Zeit unser aufgewühlter Geist, der einem Wasserfall gleicht, ruhiger wird, wie die Erfahrungen be-
ginnen, in ruhigeren Bahnen zu strömen wie ein Fluss. Manchmal erfahren wir dann auch schon Geisteszu-
stände, wo wir das Gefühl haben, wie einen ruhigen Ozean zu erleben, völlig unaufgewühlt, ohne irgendei-
nen Wind, ohne Wellen, strahlend klar und ruhig wie das Meer bei völliger Windstille zur Mittagszeit, wenn die Sonne scheint; so strahlend und klar.
Das alles sind noch Erfahrungen im dualen Bereich mit diesen immer wieder beobachtenden, bemerkenden,
kommentierenden Gedanken. Das haben wir gestern in der kurzen Erklärung ‚Komplikationen‘ genannt. In
der Geistesruhe gibt es immer noch die unnötige Komplikation, dass sich etwas in uns vom Erleben abtrennt,
dass wir eine gewisse Distanz zum Erleben haben, obwohl sich das schon wunderbar beruhigt und klärt. Da
geht es dann darum, diese unnötige beobachtende Distanz, die eigentlich aus Angst geboren ist, auch noch
loszulassen. Das heißt, es geht um mehr Vertrauen, um das Loslassen von Kontrolle; darum, dass wir uns
selbst – d.h. diese beobachtende Distanz – vergessen können.
Einsichtsmeditation
Welches Eintrittstor ins Sich-selbst-Vergessen wir auch benutzen – sei es Mitgefühl, Hingabe oder direktes
Vertrauen in den Geist, oder ob ein Überraschungsmoment dazu führt – echte Einsicht beginnt damit, dass
wir für einen Moment aus dem dualistischen Greifen, dem Beobachten, der Distanz herauskommen. Da ent-steht eine unmittelbare, direkte Erfahrung des Seins.
Die Lhaktong-Übungen – die Übungen der Einsichtsmeditation – sind noch Übungen innerhalb der Geistes-
ruhe. Wir stellen uns dabei selber Fragen, zum Beispiel die Frage: „Wie ist es zu sein?“ Wenn wir solch eine
Frage – eine Lhaktong-Sonde – richtig aufnehmen, führt sie dazu, dass wir uns dem öffnen wie es ist, ohne
eine kommentierende Antwort zu geben. Es geht bei den Lhaktong-Fragen gar nicht um die Antworten, es geht darum hinzuspüren, hinzufühlen und uns darin zu entspannen.
Vier Schritte im Verstehen
Die Praxis der Einsichtsmeditation führt – wie in den vergangenen Jahren besprochen – zu vier grundlegen-den Schritten im Verstehen:
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
1) Alles ist Geist. Zunächst verstehen wir, dass tatsächlich alles Geist ist, dass unser Erleben von scheinbar
Äußerem natürlich im Geist stattfindet. Wir wissen nichts vom Licht und den Mauern und den Bäumen und
anderen Menschen, es sei denn durch unsere geistige Erfahrung. Wir beginnen in diesem ersten Schritt zu
erleben und auch ganz sicher darin zu werden, dass die gesamte Welt – alles was wir in der Zeitung lesen und
von anderen hören –, dass alles, was wir für die Welt halten, unsere eigene Welt ist; dass jeder seine eigene
Welt erlebt, mit den eigenen Filtern und eigenen Mustern. Damit wird diese Welt, die wir erleben, für uns
bearbeitbar. Wir können sie beeinflussen. Wir wissen, dass unser eigener Geist dieses Erleben erzeugt – im
Rahmen der Muster, die aktiv sind. Wir beginnen Muster zu identifizieren, die dazu führen, dass wir immer
in Problemen landen, uns immer wieder verstricken.
Ein anderes Wort für Saṃsāra ist ‚Verstrickung‘. Immer da, wo wir verstrickt, wo wir nicht frei sind, da ist
Saṃsāra. Wir bemerken, dass in der Tiefe ein ganz starkes Muster aktiv ist, das uns unsere persönlichen
Wahrnehmungen für wirklich halten lässt. Das ist das Muster des Für-wirklich-Haltens, dass wir unseren in-
neren Filmen glauben. – Das nervt und ich ärgere mich. Ich glaube dem, was mich da zu nerven scheint.
Dass ich es genauso gut auch lassen könnte, ist mir gar nicht bewusst. Ich halte es für so wirklich, dass ich
reagieren muss. „Ich will das!“ – Verlangen. Es ist so wirklich, dass ich es haben muss. Etwas, vor dem ich
Angst habe, ist so wirklich, dass ich mich fürchten muss. Ich fühle mich wie ausgeliefert. Wir bemerken,
dass das Gefühl, unseren Emotionen gegenüber ausgeliefert zu sein, vor allem mit diesem Für-wirklich-Halten zu tun hat.
Und dann schauen wir uns das noch genauer an. Wir schauen in diese inneren Filme, in die auftauchenden
Emotionen, in die Sinneswahrnehmungen – in die Wahrnehmungen der fünf äußeren Sinne und die Gedan-
ken und Gefühle im sechsten Sinn, dem geistigen Sinn. Wir entdecken, dass sie keine Substanz haben. Wenn
wir versuchen, diese Geistesbewegungen, die sich zu diesen emotionalen Filmen verdichten, zu erfassen –
wo sie sind, wie sie sind, ob sie auch nur für einen Moment gleich bleiben –, finden wir nichts Fassbares.
Man nennt das das Entdecken der Leerheit; leer sein von einem Wesenskern. Da ist kein Kern, den wir fassen
können. Dieses Entdecken der nicht-fassbaren Natur unseres geistigen Erlebens ist der zweite Schritt in der
Einsichtsmeditation.
2) Geist ist leer, hat keinen Wesenskern, keine Substanz. Geistiges Erleben, alles ist leer, ist nicht fassbar,
hat keinen Wesenskern, geistiges Erleben hat keine Substanz. Das ist ein unglaublicher Schritt in die Befrei-
ung, denn immer wenn es uns gelingt, so zu schauen und zu bemerken, dass ein Film nur ein Film ist und
keine konkret existierende, unabhängige Wirklichkeit hat, sondern aufgrund unseres Anhaftens und Ableh-
nens bedingt entsteht und von äußeren Bedingungen beeinflusst ist, dann sind wir schon frei. Schon da brau-
chen wir nicht mehr zu reagieren. Das ist vergleichbar damit, morgens nach einem Traum aufzuwachen und
zu merken: „Es war nur ein Traum.“ In dem Moment habe ich die Möglichkeit zu lassen oder weiter festzu-
halten. Je nachdem, wie mir der Traum gefällt oder was für eine Wichtigkeit oder Wirklichkeit ich ihm gebe, werde ich ihn weiter festhalten oder ihn einfach lassen.
Wenn wir damit vertraut sind, merken wir aber, dass das Erleben, das wir gerade als nicht wirklich entdecken
– man könnte auch sagen als vollkommen leer, ohne irgendeine tatsächliche Wirklichkeit –, sich ständig neu
gestaltet. Das ist nicht einfach leer und nichts, ein Gar-Nichts, sondern ein ständiges dynamisches Schau-
spiel. Eins durchschaut, ein Erleben als nicht fassbar erkannt, kommt schon das nächste Erleben. Es hört
überhaupt nicht auf, es ist ein unaufhörliches Strömen von Erfahrungen.
3) Spontanes Vorhandensein. Diese Vielfalt unseres Erlebens nennt man ‚spontane Manifestation‘ – Tib.
lhündrup. Das bedeutet: aus sich heraus manifest, spontan; spontanes Vorhandensein von immer neuen Er-
fahrungen. Auch damit müssen wir in diesem dritten Schritt erst einmal vertraut werden: „Hey, alles hat kei-ne Substanz und zeigt sich trotzdem in unaufhörlichem Strom.“
Damit umzugehen, ist eine riesige Herausforderung. Im normalen Fixieren greifen wir unbewusst nach al-
lem, was sich manifestiert. – Außer wir sind überfordert, dann können wir nicht nach allem greifen, aber wir
greifen nach so viel, wie wir können. Dann merken wir, dass es nicht fassbar ist und entdecken, dass es keine
Substanz hat, und müssen dann damit zurechtkommen, dass jedes Mal, wenn wir nicht greifen, sich dennoch
direkt das Nächste manifestiert. Das Leben hört nicht auf. Das heißt, unsere Praxis des Nicht-Greifens, des
Nicht-Festhaltens muss unglaublich wachsen. Wir fallen dann in den Irrtum, wir müssten jedes Mal das
Heilmittel der Leerheit anwenden auf das, was sich im Geist so zeigt; wir müssten jedes Mal, wenn etwas
auftaucht, die Leerheit aktivieren, um das wie so zum Schmelzen zu bringen – Irrtum! Das führt zum nächs-ten Schritt:
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
4) Alles befreit sich von selbst. Wir entdecken, dass wir gar nichts tun brauchen. Wir brauchen gar nichts zu
tun. Die Vielfalt befreit sich von selbst. Das spontan Vorhandene befreit sich von selbst. Selbstbefreiung ist
der vierte Schritt. Damit kommen wir in echter Entspannung an. Wir merken, dass es nur noch darum geht, gewahr zu sein.
Dieses Gewahrsein ist wie ein heißer Stein. Wir brauchen die Leerheit nicht extra zu aktivieren, sie ist ohne-
hin schon die Natur aller Erscheinungen. Sie ist ohnehin schon die Natur all dessen, was sich da in aller Viel-
falt zeigt, und wir entdecken dann in diesem vierten Schritt, dass sich die Vielfalt unseres Erlebens nur des-
halb zeigt, weil das Erleben leer ist. Wenn das Erleben Substanz hätte, dann wäre es so behäbig und schwer
zu rangieren wie Eisenbahnwaggons, die wir hin und her schieben müssten, um Platz für das nächste Erleben
zu machen; die wir verstauen müssten, wir müssten irgendwie Lager für das Erleben haben. Wir brauchen nie
ein Lager, wir brauchen nie etwas aufzulösen. Es löst sich von selbst auf, weil es keine Substanz hat. Und
auch nur deshalb kann das Nächste sofort entstehen – weil es auch keine Substanz hat. Es entsteht wie ein
Regenbogen, wie Feuerwerk, wie Lichter im Geist; im Grunde genommen tatsächlich wie die Bilder auf ei-
ner Leinwand. Man nannte das in Tibet: wie die Bilder in einem Spiegel. Dort hatten sie keine Leinwände
und Filme, aber sie hatten Spiegel. So wie die Bilder in einem Spiegel die nächsten Bilder in keiner Weise
behindern, weil sie keine Substanz haben, so behindert auch das Erleben in unserem eigenen Geist in keiner
Weise das nächste Erleben. Immer bereit für das nächste Erleben, das ist die Natur unseres Geistes. Und alles ohne Substanz; alles befreit sich von selbst: einfach lassen.
Mahāmudrā-Meditation
Wenn sich diese vier Schritte klar in unserem Geist eingestellt haben, wenn in uns gewiss geworden sind,
was diese vier Merkmale angeht, dann beginnt die eigentliche Mahāmudrā-Meditation. Dann beginnt die
Praxis des natürlichen Seins. Und das ist die eigentliche Einsichtsmeditation, wir verweilen in der Einsicht.
Wir verweilen im Erleben dessen was ist, ohne getrennt zu sein davon. Das ist eine non-duale Praxis.
Mahāmudrā ist immer non-dual, ohne Subjekt, ohne Objekt – ohne einen Meditierenden, ohne eine Meditati-
on, ohne etwas, auf das meditiert wird. Dieses natürliche Verweilen, das ist Mahāmudrā.
In dieser Mahāmudrā-Praxis ist nicht einfach alles so easy, wie man so denkt. Man denkt, es müsste alles von
selber gehen. – Das tut es auch, bloß müssen wir leider eingestehen, dass in uns noch eine Menge emotiona-
ler Muster aktiv ist. Emotionale Muster nennen wir auch emotionale Schleier. Diese emotionalen Schleier
und die Schleier, die das Gewahrsein verhindern oder einengen – Gewahrseinsschleier – sind die beiden gro-ßen Arten von Schleiern.
Herausforderungen
Je mehr wir entspannen, kommen auch die tieferen Muster zum Vorschein. Das stellt in der Meditation im-
mer wieder eine Herausforderung dar. Und da entstehen typische Herausforderungen, die bei eigentlich allen
Meditierenden zu ganz klassischen Missverständnissen führen. Da kann man sich in Sackgassen verlaufen;
da kultiviert man dann doch bestimmte Annahmen über die Wirklichkeit; da bleibt man in Mustern hängen, die man zunächst gar nicht bemerkt und auf die man aufmerksam gemacht werden muss.
Und darum geht es in diesen abschließenden Unterweisungen, die wir uns dieses Jahr vornehmen werden. Es
geht darum, in was für Sackgassen wir tappen können. Es ist beabsichtigt, das von Anfang an schon zu wis-
sen, was da so für Fallstricke sein können, denn eventuell ist es schon jetzt so, dass wir in so einer Sackgasse
stecken, ohne es gemerkt zu haben. Und es ist gut, es für später zu wissen, denn irgendwann taucht das auf.
Es schon einmal gehört zu haben, ist sehr hilfreich.
Es ist auch nicht so, dass man da nur einmal hineintappt, das passiert uns immer wieder mal – zum Beispiel
wenn man krank wird. Immer wieder halten wir Krankheit für wirklich. Oder dass man alle Gedanken ganz
gut loslassen kann, bloß bestimmte Gedanken nicht. – Das geht super, aber es gibt gewisse Ausnahmen, die
‚wirklicher‘ sind als andere. Oder dass man ganz gut mit körperlichen Herausforderungen, Krankheiten um-
gehen kann, aber mit geistiger Belastung nicht. Oder es geht super mit geistigen Belastungen und Herausfor-
derungen, aber kaum hat man körperlich etwas, ist das dann wirklich. So haben wir unsere Vorlieben und
Abneigungen, die dann doch noch aktiv sind, und wir haben Grenzen für unsere Fähigkeit des Loslassens in
der Meditation – des gelösten Seins –, die wir berühren, indem wir so praktizieren, dass wir an diese Grenzen
kommen. Dann gibt es Hinweise, wie wir mit diesen Grenzen umgehen können, wie wir sie auflösen und
weiten können. Das sind diese zusätzlichen Hinweise zur Praxis, wo es darum geht, uns damit vertraut zu
machen, wie wir weitermachen können, wenn wir das Gefühl haben festzustecken.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Das war eine kleine Einführung, ein Überblick als Vorbereitung für die Themen der kommenden Tage. Habt
Ihr Fragen dazu, war etwas nicht verständlich?
Fragen der Teilnehmer
Teilnehmer: Das Wort ‚lhündrup‘ – aus sich selbst heraus manifest – impliziert eine unabhängige Existenz-
form.
Henrik übersetzt es als ‚spontanes Vorhandensein‘. Das bedeutet, dass es einfach passiert und nicht, dass es
sein eigener Ursprung wäre, dass es also geschieht. Eigentlich bedeutet das Wort lhündrup, dass das, was
spontan entsteht, in Abhängigkeit von unbeständigen Bedingungen entsteht, wo jede einzelne Bedingung
auch unbeständig ist und dass es in diesem Entstehungsprozess nichts Stabiles gibt. Das Wort ist sehr schwie-rig zu übersetzen.
Teilnehmer: Gedanken nicht loszulassen, weil man sie für wirklich hält: Ist das Karma oder eine Gewohn-
heit?
Das ist eine karmische Gewohnheit, z.B. wenn ich bei bestimmten Gedankenformen oder Gefühlen schon in
der Vergangenheit immer gedacht habe, dass es besonders wichtig sei. Da bin ich besonders sensibel, da hake
ich ein. Das nennt man Karma. In der Vergangenheit habe ich die Gewohnheit entwickelt, diese Art von Din-
gen für wichtig zu nehmen. Wir halten etwas bei dieser Art von Gedanken für besonders wichtig, während es
für unseren Nachbarn unter Umständen irrelevant ist. Das kultivieren wir, das ist Auswirkung von früherem
Denken, Fühlen, Handeln; deswegen Karma.
Teilnehmer: Wenn Meditationsanweisungen gegeben werden wie „Schau auf den Geist oder auf die Natur
des Geistes, oder auf die Gedanken, ...“, dann ist der ‚Beobachter‘ automatisch angesprochen. – Ich be-
obachte etwas. Ist das eine Funktion von sampajañña – scheschin – einfach zu wissen was ist? Kann man
sagen, dass es im Verlauf der Meditation von diesem Beobachten zu einem Hinfühlen, Hineinfühlen wird, aber immer noch der gleiche Geistesfaktor ist?
Dieser Geistesfaktor wird – wie alle Geistesfaktoren – befreit von seiner dualistischen Komponente. Das
Schauen, um das es geht, ist nicht nur ein Nach-außen-Schauen, sondern ein Sich-Wenden nach innen, das
nur möglich ist, wenn man in dieser Hinwendung zu dem, was stattfindet, das Beobachten loslässt. Denn nur
so kann dieses Nicht-Sehen, das man Schauen nennt, stattfinden. Und das gilt für alle Geistesprozesse – man
kann eigentlich sagen für alle fünf Skandhas –, die Trennung zwischen einem Subjekt und einem Objekt wird
aufgelöst. Ein Erwachter oder eine Erwachte ist weiterhin in Formen, Empfindungen, Unterscheidungen und
Geistesfaktoren aktiv, allerdings ohne die Illusion, dass darin ein Selbst aktiv wäre. Im tibetischen Buddhis-mus nennt man das: die Skandhas werden gereinigt.
Wie hängt der Beobachter mit dem scheschin zusammen?
Der Beobachter ist im scheschin das Gefühl mitzubekommen, was ist und wie es ist, und wenn es befreit ist,
ist es ein Wissen darum, wie es ist, ohne dass es eine Extraschlaufe des „Ich weiß das“ gibt. Diese Extrasch-
laufe ist überflüssig und fällt weg. Das kannst Du relativ gut nachvollziehen, wenn Du die Prozesse des Se-hens und Hörens nimmst: Um zu sehen und zu hören, braucht es eigentlich kein Ich. Das findet statt.
Aber ich definiere mein Ich über das, was ich sehe und höre.
Genau. Obwohl es einfach so stattfindet, definiert man sich über diese Extraschlaufen als Ich. „Ich höre, ich
sehe.“ Dabei braucht es für das Sehen und Hören genau so wenig ein Ich wie für andere Funktionen. Und so
ist es auch mit dem Wissen. Für das Wissen braucht es kein Ich, das weiß. Für das Gewahr-Sein, für das Er-
kennen etc. braucht es kein Ich, damit das passiert. Das ist erstaunlich, es geht sogar sehr viel besser ohne
Ich. Es gibt das Ich als solches nicht, aber diese Ich-Gefühle, Ich-Gedanken, sind zusätzliche Bewegungen
im Geist, die das Erkennen und Verstehen noch träger, schwerer machen und so etwas wie einen Filter dar-
stellen, dass man bestimmte Dinge gar nicht verstehen kann. Diese Ich-Schlaufen sind nicht wirklich tra-gisch, aber sie sind völlig überflüssig, und sie machen manche Formen des Verstehens unmöglich.
Teilnehmer: Ich habe also einen kostbaren menschlichen Körper, aber der ist eigentlich gar nicht da, oder?
Du hast einen kostbaren menschlichen Körper und der ist ziemlich gut da; ich sehe Dich! Wie ist das mit die-
sem kostbaren menschlichen Körper? – Er ist da, Du fühlst da eine ganze Menge und nichts von dem, was
Du fühlst, von dem, was ich sehe, ist beständig. Nichts von dem hat eine bleibende, vom Rest der Welt ge-
trennte Wirklichkeit. Nichts besteht aus sich heraus, sondern alles ist von Bedingungen beeinflusst. Und dass
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
dieser Körper – meiner genauso wie Deiner – ständig Bedingungen unterliegt und dass es nichts im Körper
gibt, das für immer bleiben würde, nennt man die ‚Leerheit‘ des Körpers. Er ist leer von einem Wesenskern,
von etwas Bleibendem. Irgendwann wird von diesem typischen Tilmann-Körper gar nichts mehr übrig sein.
Es wird aber alles in Bedingungen irgendwo weitergegangen sein.
Du staunst? – Was ist von Deinen Ur-Urgroßeltern übrig geblieben? Vom Körper wahrscheinlich gar nichts
mehr. Wenn man die Gräber öffnen würde, kann man vielleicht noch Knochen finden, wenn die Bedingun-
gen so waren, dass sie intakt bleiben konnten. Aber selbst Knochen zersetzen sich und irgendwann – wie
man so schön sagt – ist dieser Körper wieder zu Erde geworden. Das ist so, weil er aus Bedingungen geformt
ist. Er ist aus den Elementen dieser Erde entstanden und löst sich auch darin wieder auf. Es ist ein vorüber-
gehendes Zusammenkommen, was diese jetzige Existenz ermöglicht. Es ist gut, sich das klar zu machen:
„Egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich kann das nicht zusammenhalten. Da gibt es nichts, was da zusam-
menbleiben wird!“
Teilnehmer: Ist es nicht auch so, dass sich innerhalb von sieben Jahren jede Zelle erneuert hat und daher nach sieben Jahren gar nichts mehr sein wird von dem, was jetzt da ist?
Du hast Recht, selbst die härtesten Knochenzellen haben sich nach sieben Jahren vollständig erneuert. Aber
Du brauchst dieses Wissen gar nicht zu bemühen, denn selbst während sie als Zellen existieren, sind sie le-
bendige Zellen, wo jeder Teil der Zelle voll aktiv ist – vom Zellkern über die Mitochondrien bis zur Zell-
wand, alles ist ständiger energetischer Prozess. Sie können im Nu absterben und sich im Nu wieder aufbau-
en. Für die Nekrose eines Knochens braucht es nur sechs Wochen.
Es ist gut, sich das klarzumachen. Körper – wunderbar, aber aufgrund von Bedingungen entstehend, genau wie alles andere auch.
Teilnehmer: Aber Gene usw. von den Großeltern sind ja noch da...
Was passiert mit den Genen? Die verändern sich auch ständig, und wenn so ein Körper stirbt, dann gehen die
Gene genauso in die Natur über, die bleiben auch nicht weiter bestehen. Es ist nicht so, dass sich die Gene
auf den nächsten Ahorn vermitteln würden, der auf unserem Körper wächst. Da wird nicht plötzlich eine
zweite Anne oder ein Tilmann oder so. Auch die Gene haben keinen Bestand. Es sei denn, sie wirken in ei-
nem dynamischen Prozess in folgenden Generationen weiter. Aber es sind nicht dieselben Gene, da ist eine
ständige Transkription mit allen Fehlern, die dabei möglich sind. Die Gene werden ständig erneuert, deswe-
gen gibt es Krebs, weil sie manchmal falsch erneuert werden. Aber es gibt Kräfte, die da wirken. Da sind
Kräfte, Informationen, und die beeinflussen den nächsten Prozess, so wie das Wetter von heute das morgige
beeinflusst. Es sind ständig Kräfte am Wirken und sie beeinflussen ständig das Nächste. Deswegen ist der
Tilmann, der heute aus dem Bett gestiegen ist, sehr ähnlich dem Tilmann, der gestern ins Bett gegangen ist.
Die Kräfte haben so weiter gewirkt, dass eine deutlich erkennbare Ähnlichkeit da ist. Er ist also nicht dersel-be und es gibt nichts, was wirklich authentisch geblieben wäre in dieser Nacht.
Teilnehmer: Was machen Kräfte, wo kommen sie her?
Kräfte wirken, die gibt es ja auch nicht als etwas, das du fassen kannst. Kräfte sind Wirkprozesse. Kräfte ent-
stehen aus Kräften entstehen aus Kräften. Alles wirkt immer in etwas anderes hinein. Wir sind in einem rie-
sigen prozesshaften Geschehen, wo unglaublich viele Kräfte miteinander in Wirkungsbeziehungen treten.
Das ist unsere Freiheit und unser Gefangensein. Je nachdem, wie man es betrachtet, sind wir gefangen in den
Kräften, die in uns und um uns wirken – das ist die Opferhaltung – oder wir sind gestaltend unterwegs und
gestalten die Prozesse – da erleben wir uns als tätig, als wirksam; wir können beeinflussen. Tatsächlich ist
eine realistische Einschätzung der Wirklichkeit, dass wir genauso gestaltet werden wie wir gestalten. Wir
sind Teil des Prozesses. Das, was wir Ich nennen, ist ebenfalls dieser Prozess des Denkens, Fühlens, Erle-
bens, Interpretierens, Einwirkens, Agierens und Reagierens. Das ist dieser Prozess des Individuums – Gestal-ter und Gestaltetes.
Das nannte der Buddha Karma. Einerseits sind wir gefangen von Karma, gestaltet von den Kräften, die wir
früher erzeugt haben und die um uns herum erzeugt werden, und wir sind Gestaltende innerhalb dieses Pro-
zesses. Dazu sagte der Buddha: „Karma ist unsere Zuflucht“. Wenn er über Karma sprach, sagte er: „Nimm
dein Karma in deine Hände! Gestalte dein Karma. Das ist deine Zuflucht, da kannst du was bewirken und
den Hebel ansetzen. Wie du denkst, wie du reagierst, wie du sprichst, wie du physisch handelst: da gestaltest
du dein Leben. Aber du kannst nicht ignorieren, dass schon so viele gestaltende Kräfte wirksam sind; deswe-
gen ist karmisches Gestalten ein Gestalten im Rahmen der bereits wirkenden Kräfte.“ Da können wir nicht
aussteigen. Ich kann nicht aus diesem Körper aussteigen, die Kräfte haben ihn so gestaltet, wie er jetzt ist,
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
und in diesem Rahmen, auf den ich keinen Einfluss habe, gibt es Bereiche, in denen ich Einfluss habe. Die
kann ich nutzen. Da kann ich meinem Leben jederzeit eine neue Wendung geben. Das ist die Freiheit, die wir haben – wenn wir sie nutzen wollen.
Meditation
Wir lassen den angeregten Geist zur Ruhe kommen, indem wir die auftauchenden Gedanken gar nicht mehr
bedienen. – Das, was sich in unserem Geist zeigt, das gegenwärtige Erleben, entsteht aus vielfältigen Bedingungen her-
aus. Es erscheint uns wie spontan, da wir die Bedingungen gar nicht alle kennen. Aber wir wissen, dass es
sich von selbst auflöst, wenn wir es zulassen. – Und manchmal, wenn uns danach ist, können wir Körperempfindungen – z.B. die Atem-Empfindungen – ins
Bewusstsein holen; einfach deshalb, weil das so ein ganz einfaches Erleben ist, so unkompliziert. Das tut gut. Die Körperempfindungen verankern unser Bewusstsein im einfachen Sosein. –
* * *
[Anmerkung der Lektorin: Lama Tilmann setzt ab hier mit den Unterweisungen fort: Dritter Teil: Ergänzende Hinweise zum Vertiefen der Übung. 1. Von ganzem Herzen auf diese Weise weiter praktizieren wurde letztes Jahr behandelt]
2. Hindernisse beseitigen und frei von Hoffnung und Furcht verweilen
Was nun das Auflösen von Hindernissen angeht, machen wir uns frei von fünf falschen Vorstellungen:
über die Dinge, die Zeit, die Natur, das Wesen und Erkenntnis.
Wir machen uns frei vom Haften an heilsamen und [dem Ablehnen von] nicht-heilsamen Dingen
und dergleichen.
Wohlgemerkt: das heißt nicht, dass wir nicht mehr heilsam handeln und Nicht-Heilsames lassen, sondern es
geht um die emotionalen Reaktionen darauf. Heilsames Handeln, an dem wir haften, ist viel weniger heil-
sam, als wenn wir nicht daran haften. Und nicht-heilsames Handeln, das wir ablehnen, auf das wir ärgerlich
reagieren, wird noch stärker aufgebauscht und vervielfältigt noch seine nicht-heilsame Auswirkung.
Eine andere Bedeutung hiervon ist auch, dass Dinge – Phänomene – nicht per se heilsam oder nicht-heilsam
sind, sondern immer im Hinblick auf ihre Auswirkungen. Z.B. wohnt dem Verschenken von Geld – Freige-
bigkeit – nicht per se etwas Heilsames inne, sondern es kommt darauf an, wem es wann wofür geschenkt
wird. Erst an den Auswirkungen kann man sehen, ob es heilsam ist. Es ist wichtig, sich das klar zu machen.
Beispiele aus dem Dharma-Bereich: das Studieren von Dharma ist nicht per se heilsam. Wenn wir mit dem
Bedürfnis studieren, groß mit unserem Dharma-Wissen herauszukommen, dann ist das ein Ego-Projekt und
nicht heilsam. Das Rezitieren von Ritualen ist nicht per se heilsam. Es kommt darauf an, mit welcher Moti-
vation und Geisteshaltung wir das machen. Auch das ist damit gemeint.
Wir geben den Gedanken auf „Zu jener Zeit werde ich das Erwachen erlangen“ – denn die drei
Zeiten existieren nicht wirklich und es ist gewiss, dass Erwachen ein momentanes Geschehen ist.
Wir geben die Vorstellung auf, dass das Erwachen in der Zukunft stattfinden wird. Es kann immer nur im
Jetzt stattfinden, im nicht-fassbaren Jetzt. Das Jetzt von gerade ist schon vorbei. Immer nur in diesem nicht-
fassbaren Jetzt kann es stattfinden. Vergangenheit ist ein begriffliches Konstrukt, Gegenwart auch, Zukunft
ebenso. Als Erfahrung gibt es nur das Jetzt, das Nicht-Fassbare, dieses Strömende, das fließende Erleben, das
immer gerade jetzt.
Teilnehmer: Was ist der Unterschied zwischen der Gegenwart und Jetzt?
Das sind eigentlich nur Worte, die braucht man nicht auseinanderzuhalten. Während wir z.B. sagen: „In der
heutigen Zeit, in der Gegenwart sind die Dinge so und so...“ ist die Gegenwart schon dabei sich zu verän-
dern. Gegenwart ist auch nur eine Idee; egal ob wir dafür das Wort ‚jetzt‘ oder ‚Gegenwart‘ verwenden: bei-
des ist eine Illusion. Das Jetzt verlagert sich immer mit dem gegenwärtigen Erleben, es ist ein dynamisches Jetzt.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Teilnehmer: Ich habe einmal gelesen, dass es über die Vergangenheit nichts nachzudenken gibt. Aber man
muss ja auch aus der Vergangenheit lernen, also muss sie ja auch gegenwärtig sein.
Genau, das musst Du jetzt auf die Reihe kriegen. Zum einen lernen wir aus der Vergangenheit, das ist auch
ganz wichtig. Und zum anderen gibt es während der Mahāmudrā-Meditation nichts über die Vergangenheit
nachzudenken. Das ist anders, als wenn wir kontemplieren und aus unseren Erfahrungen lernen. Das ist eine
andere Aktivität, und es ist gut, die beiden auseinanderzuhalten. Es ist auch wichtig, die Zukunft zu planen,
und weise zu sein in dem Sinne, dass man weiß, dass es vielleicht anders kommt, als man denkt.
Hier geht es ja um das Erwachen, und es ist ein Hindernis für unseren Weg, das Erwachen auf die Zukunft zu
verschieben. Warum nicht jetzt? Immer offen sein, immer jetzt. Sich zu sagen „In sieben Leben werde ich
erwachen, wenn ich so weiter mache“, ist reine Vorstellung, oder „Dieses Leben werde ich sicher nicht erwa-
chen, weil so beschränkt wie ich bin ...“ – Das macht keinen Sinn, oder? Wir spekulieren über Zeiten und irgendwann wird es einfach passieren, und das wird dann im Jetzt sein.
Statt den eigenen Geist für gewöhnlich zu halten, verstehen wir, dass seine Natur von Anfang an
das zeitlose Gewahrsein mit seinen fünf Aspekten ist.
Das bezieht sich auf die Haltung zur Natur des eigenen Geistes. Bei einem schwachen Selbstbewusstsein
können wir es kaum glauben, wenn uns die LehrerInnen sagen: „Du kannst genauso erwachen wie alle ande-
ren vor dir. Dein Geist ist der Geist eines potenziellen Buddhas.“ Wir denken, das sei wieder so ein spirituel-
les Zeug: „Ich? Ich mit meinen beschränkten Fähigkeiten, mit meinem gewöhnlichen Geist? Wie soll denn
das möglich sein?“ Genau diese Haltung – es nicht zu glauben, es nicht für möglich zu halten und nicht wirk-
lich zu sehen, wie es ist –, beschränkt unseren inneren Prozess. Es ist, als ob wir uns Zäune ziehen würden,
über die wir es dann nicht wagen hinauszugehen. Es geht hier darum, jetzt einmal hinzuschauen, und statt
sich selbst für einen gewöhnlichen, unverständigen Menschen zu halten, zu sehen, dass der eigene Geist in
seiner wahren Natur das zeitlose Gewahrsein mit seinen fünf Aspekten ist.
Die fünf Aspekte des zeitlosen Gewahrseins
1) Das Dharmadhātu-Gewahrsein wird traditionell als erster Aspekt genannt, das Gewahrsein so weit ist
wie der Raum der Phänomene. Der springende Punkt dabei ist: weit und unbegrenzt. Unser Geist ist eigent-
lich weit und unbegrenzt, und alles kann sich darin zeigen. Das gilt für jeden von uns.
2) Das spiegelgleiche zeitlose Gewahrsein. Damit ist gemeint, dass sich in unserem Geist alles zeigen kann,
unbehindert wie in einem Spiegel, dass kein Erleben das nächste behindert. Wenn ich zuerst hierhin und dann
dorthin schaue, dann ist die Seherfahrung von vorher kein Hindernis für die nächste Seherfahrung. Das eine
Gefühl ist kein Hindernis für das nächste, die eine Körpererfahrung kein Hindernis für die nächste. Wie in
einem Spiegel, der unbehindert alles zeigen kann, so ist unser Geist auch in seiner Grundnatur unbehindert.
Bei jedem von uns ist das der Fall.
3) Das zeitlose Gewahrsein der Gleichheit. Das bedeutet, was auch immer erscheint – egal ob angenehm
oder unangenehm – alle Erfahrungen sind einander gleich in der Tatsache, dass sie sich auflösen, dass sie
nicht fassbar sind. Alle Erfahrungen sind sich gleich in ihrer Leerheit, in ihrer nicht-fassbaren Natur. Das ist
auch bei allen von uns der Fall, keiner ist eine Ausnahme. Bei jedem von uns ist es so, dass das Erleben sub-
stanzlos ist, egal ob es sich um ein schwieriges oder ein angenehmes Erleben handelt: ohne Wesenskern,
gleich in der Leerheit.
4) Das all-unterscheidende zeitlose Gewahrsein. Das weist darauf hin, dass wir die verschiedenen Erfah-
rungen ganz präzise unterscheiden können: verschiedene Farben, verschiedene Klänge, verschiedene Sin-
neserfahrungen im Körper, Gedanken, Gefühle, Gerüche, Geschmäcker. Alles kann ganz fein unterschieden
werden, da ist eine ganz enorme Präzision des Wahrnehmens. Man kann uns nicht blau für rot verkaufen, wir
können unterscheiden. Jeder von uns hat diese Fähigkeit, fein zu unterscheiden. Die Erfahrungen sind sich
gleich in ihrer Natur, nicht-fassbar, vergänglich, dynamisch zu sein, und sie unterscheiden sich in unzähligen Details, und wir sind fähig, das gleichzeitig wahrzunehmen.
5) Das all-vollendende zeitlose Gewahrsein. All-vollendend bedeutet, dass dieses Gewahrsein wahrnimmt,
dass das jetzige Erleben in sich vollkommen ist. Man braucht ihm nichts hinzuzufügen und nichts wegzu-
nehmen. Wenn wir ganz frisch präsent sind, voll und ganz da, dann taucht bei jedem von uns die Erfahrung
auf, dass dieses Erleben ein volles, ein perfektes Erleben ist. Die Perfektion der einen Sinneserfahrung und
der nächsten, die Vollendung des Erlebens. Je offener, je frischer unser Geist ist, desto vollkommener erleben
wir die Erfahrungen, auch wenn sie in sich schwierig sein mögen, neutral, oder was auch immer. Es ist die
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Vollendung des Erlebens als die vollendete Dimension des Erwachens. Das Potenzial zu vollem Erleben, in
dem nichts mangelt, ist bei jedem von uns vorhanden.
Diese fünf Aspekte unseres Geistes beschreiben den Geist eines Buddhas und sind die Natur unseres eigenen
Geistes: offen und weit, unbehindert, gleich in der nicht-fassbaren Qualität des Erlebens, alles fein unter-
scheidend und all-vollendend in der Fähigkeit voll zu erleben. Das ist die Natur unseres Geistes. Es ist alles
da, was es braucht. Schon es über den Intellekt zu hören, ist öffnend und befreiend, aber wenn wir da drin
ganz und gar aufgehen, werden wir merken, dass diese fünf Aspekte eine Einheit bilden und gleichzeitig auf-
tauchen. Sie sind nicht unterschiedliche Geisteszustände sondern gleichzeitig vorhanden, so wie die ver-schiedenen Facetten eines Juwels gleichzeitig funkeln.
Wir halten die eigenen Aggregate, Elemente und Sinnesfelder nicht für unrein, da es sicher ist,
dass sie von Anbeginn an [in ihrem wahren Wesen] männliche und weibliche Weisheitsboten und
Sogegangene sind.
Die fünf Aggregate – Skandhas – sind:
– Formwahrnehmungen in den verschiedenen Sinneswahrnehmungen – Empfindungen von angenehm, unangenehm und neutral – Unterscheidungen mit den vielen Begriffen und feinen Unterscheidungen – gestaltende Geistesbewegungen – sei es von emotionaler oder nicht-emotionaler Natur – Bewusstseinszustände.
In der buddhistischen Lehre heißt es, dass das dualistische Haften, die Ichbezogenheit, sich diese fünf Aspek-
te aneignet und sagt: „Meine Wahrnehmung, meine Empfindung, meine Unterscheidung – was ich für dieses
und jenes halte –, meine Emotion, meine Geisteszustände…“ Im samsarischen Normalbetrieb sind diese fünf
Aspekte unseres Seins durchdrungen von Ichbezogenheit und Identifikation. Aber Wahrnehmen von Sinnes-
formen – Hören, Schmecken, Riechen, Sehen, etc. – ist nicht von Natur aus unrein, d.h. dualistisch. Es ist
nicht von Natur aus ein Problem. Angenehmes, Unangenehmes, Neutrales zu empfinden, ist nicht von Natur
aus – in seinem Wesen – bereits ein Problem. Unterscheidungen zu treffen, ist nicht aus sich heraus ein Prob-
lem. Zu gestalten, geistige Faktoren, die in uns aktiv werden, sind nicht aus sich heraus dualistisch. Bewusst-
seinszustände sind nicht per se dualistisch. All diese Aspekte unseres Seins können frei werden von dieser
Ichbezogenheit. In dem Moment sind Erfahrungen wie Boten und Botinnen des zeitlosen Gewahrseins. Das
ist mit den männlichen und weiblichen Gottheiten und Sogegangenen/ Buddhas gemeint.
Als Beispiel einer Sinneserfahrung: Ich sehe eine wunderschöne Blume. In der dualistischen Erfahrung sehe
ich eine Blume und glaube, dass die Blume von mir getrennt ist. Dieses Sehen ist Formwahrnehmung mit
angenehmer Empfindung plus Unterscheidung – z.B. Tulpe – plus Geistesfaktor/ gestaltender Faktor Anhaf-
tung, ein Bewusstseinszustand haftenden Erlebens einer Tulpe. Dieses Erleben der Tulpe kann ein erwachtes
Erleben werden. Es kann ein mittelpunktsloses Erleben dieses Farbenspiels sein, das wir Tulpe nennen, ohne
dass es zu einer Aufspaltung kommt – ich hier und die Tulpe getrennt –, im vollen Erleben der ganzen Quali-
tät dieser Sinneserfahrung ohne Anhaften. Das ist damit gemeint, wenn man sagt, eine Erfahrung wandelt
sich oder zeigt sich als die Präsenz der Tathāgatas – der Sogegangenen – oder der Dakas und Ḍākinīs. Jede
Erfahrung kann uns öffnen für die wahre Dimension des Seins. Jeder Geisteszustand kann uns öffnen und hineinführen in wahre Natur des Seins.
Das ist gemeint mit dem Aufgeben des Irrtums, dass in der Natur unserer Erfahrungen irgendetwas falsch
wäre. Ihr Wesen ist erwachtes Erleben. Mit unserem Erleben an sich ist nichts verkehrt. Genauso wenig wie
mit unserem Geist. Es ist wirklich nur die Frage, ob da ein Fixieren stattfindet und eine Identifikation, ob all
diese ichbezogenen Extraschlaufen kommen oder ob sie wegfallen und wir im Erleben sind; Teil des Ganzen.
Das ist mit diesem vierten Punkt gemeint: dass Erfahrungen eigentlich von Anbeginn an in ihrem wahren
Wesen männliche und weibliche Weisheitsboten sind. Ihr habt das sicher in Momenten erlebt, wenn Ihr Euch
Musik auflegt, die Euch besonders gut gefällt. Dann hat die Musik etwas, das den Geist öffnet. Es kann sein,
dass sie uns hineinführt in ein ganz offenes, nicht-greifendes Sein. Zu Anfang haben wir vielleicht gegriffen,
aber wenn wir sie zum fünfzigsten Mal hören, gehen wir einfach nur in der Erfahrung der Klänge auf und
vergessen uns dabei. Das kann Euch eine kleine Brücke des Verstehens geben, wie es sein kann, dass Sin-
neserfahrungen den Geist öffnen. Das kann über Klänge gehen, das kann über das Visuelle gehen, das kann
über Berührung gehen. Auch über Gedanken kann es gehen, über innere Bilder. Das alles sind Brücken des Erlebens, die den Geist öffnen können. Das ist mit diesem Satz hier gemeint.
Dann gibt es noch eine irrige Anschauung über Erkenntnis:
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Wir geben die Anschauung auf, [die aus] Studieren und Kontemplieren [gewonnenen Erkennt-
nisse] würden für die Befreiung reichen, denn es ist gewiss, dass uns die Kraft des Meditierens
und der Segen der Meister befreien.
Studieren und Kontemplieren sind beides noch Prozesse, wo wir im begrifflichen Denken sind. Befreiende
Einsicht kommt aus dem nicht-begrifflichen Sein, und das ist mit ‚Meditieren‘ gemeint. Meditieren ist nicht-
begriffliches Sein, daraus entsteht intuitive Erkenntnis. Die aus dem Studium und der Kontemplation gewon-
nene Erkenntnis reicht nicht. Es braucht das Erkennen, das von innen her kommt, ohne dass es über Begriffe
läuft. Diese intuitive Erkenntnis wird als Segen erlebt. Es muss nicht der Segen der Meister sein – auch wenn das hier so steht.
In den Erklärungen des 9. Karmapa ist von den vier Arten von Lama – Guru, Meister – die Rede:
– Lama der Linie – Lama der Texte – Lama der Situationen – alles Erleben kann unser Guru sein – Lama der Natur des eigenen Geistes
Das sind die vier Arten von Lamas, und das ist hier gemeint. Was es braucht, ist Segen. Es braucht etwas, das
uns aus dem ichbezogenen Meditieren löst in das, was durch ichbezogene Anstrengung nicht erreicht werden kann. Segen ist das, was dem Geistesstrom quasi über die Schwelle der Ichbezogenheit hinüberhilft.
Teilnehmer: Das ist dann ‚meine‘ Erfahrung und nicht eine, die von außen kommt?
Ja, das ist Deine eigene Erfahrung und nicht eine, die von außen herübergebeamt wird.
Teilnehmer: Kannst Du nochmal den Zusammenhang zwischen der Kraft der Meditation und dem Segen er-
klären: Braucht es den Segen unbedingt, oder kann man das auch alleine machen?
Die Erfahrung von Mahāmudrā geht automatisch mit Segen einher, aber das ist kein Segen, der unbedingt
durch Gebete kommen muss. Es ist der Segen, sich selbst vergessen zu können; der Segen, in die Natur des
Geistes einzutreten. Und das ist kraft des nicht-begrifflichen Verweilens, in dem man sich selbst aus aller
Anstrengung löst und sich vergisst und einfach nur im Sein ankommt. So hängen Meditieren und Segen mit-
einander zusammen. In allen Traditionen wird berichtet, dass Menschen, die diese non-duale Erfahrung ma-
chen, dies mangels anderer Worte als ‚Segen‘ oder ‚Gnade‘ beschreiben: eben etwas, das nicht aus dem Ich heraus geboren ist.
Teilnehmer: Man kennt das ja auch von Künstlern, dass sie sich bei der Ausübung der jeweiligen Kunst
selbst vergessen können. Das hab ich auch selber schon als sehr schönes Erlebnis erfahren.
Jede Form von Selbstvergessenheit ist eigentlich ein schönes Erlebnis, total entspannend. Und dann entde-
cken wir, dass es noch Nuancen gibt, dass man sich noch weiter öffnen kann, wenn z.B. der Künstlerin der
Pinsel aus der Hand fällt und sie sogar die Absicht, ein Bild zu malen, aufgibt. Bei der Kunst des Bogen-
schießens im Zen gibt es das Beispiel, dass der Pfeil des Meisters schon fünf Meter weiter zu Boden fällt, es
geht ihm überhaupt nicht um das Ziel, aber alle drum herum fallen ins Samādhi. Das ist tatsächlich gemeint
mit Selbstvergessenheit: Der Meister tut so, als wolle er ins Ziel schießen, geht aber völlig auf in der Natur des Seins, und alle anderen mit.
Teilnehmer: Wie ist das mit der Übertragung des Geistes vom Lehrer zum Schüler, mit den Pointing-Out In-structions? Wie passt das hier in den Kontext mit den vier Lamas?
Ich glaube, das passiert gerade die ganze Zeit. Immer wenn Lehrer, Meister über die Natur des Geistes spre-
chen, findet so ein Pointing-Out statt, egal ob es angekündigt ist oder nicht. Das passt da gut rein. Manchmal werden Bilder benutzt, manchmal Symbole, oft sind es Worte. Manchmal ohne alles. –
Meditation: Entspannen im Vertrauen in die Natur des Geistes Jetzt ruhen wir wieder ein bisschen aus in der Natur des Geistes. Wir können ihr ja sowieso nicht entkom-
men, da können wir sie auch gleich zulassen. –
Ihr könnt gerne auch im Liegen weiter meditieren. Wir werden jetzt noch eine Viertelstunde meditieren, oder
was wir so nennen. – Jetzt, in dieser Viertelstunde Meditation, üben wir uns darin, nicht zu meditieren. Das ist nicht nur ein Wort-
spiel, sondern wir überlassen den Geist sich selbst. Wir brauchen ihn nicht zusammenzuhalten, nicht auszu-
richten. Wir entspannen auch den Körper, so wie viele von Euch, die sich schon angelehnt oder hingelegt
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
haben. – Vielleicht fragt Ihr Euch, was wir denn praktizieren: Wir praktizieren Vertrauen, Vertrauen in die Selbstbe-
freiung aller geistigen Bewegungen; Vertrauen darin, dass wir nichts zu tun brauchen; dass der Geist sich von
selbst befreit, wenn wir ihn entspannen. – Weit und offen, … unbehindert, … nicht fassbar, … ganz feines, nuanciertes Erleben, … in sich ganz rund
und vollendet. … Und noch ein paar Atemzüge, ganz tief entspannt. –
* * *
Die Mahāmudrā-Praxis besteht in einem radikalen Entspannen von allem, wo sich Stress in uns aufbaut –
Stress ist ein Synonym für dukkha, für Leid –, radikales Entspannen im Vertrauen in die Natur des Geistes,
die ohnehin schon unsere Natur ist. Was dabei passiert, ist, dass wir natürlich an die Grenze des Einschlafens
kommen. Manchmal schlafen wir sogar ein, weil wir richtiges Entspannen eigentlich vor allem aus der Phase
unmittelbar vor dem Einschlafen kennen. Außerdem sind wir noch ziemlich erschöpft von unserem Alltag,
und da zeigt sich noch viel Ermüdung. Wenn wir weitermachen, weiter entspannen, dann löst sich diese
Müdigkeit. Und wenn wir noch weiter entspannen, dann werden wir so erbarmungslos wach und klar und sind entspannt. Da merken wir, wie der Geist eigentlich ist, wenn er durchentspannt ist.
Dazu brauchen wir Mut und Vertrauen, und ein bisschen Geduld weiter zu entspannen, weiter … weiter …
weiter. Immer wieder kommen Impulse, etwas tun und machen zu wollen. Das können wir auch, wenn es
denn sein muss, aber dann entspannen wir wieder. Und beim Tun entspannen wir auch – durch und durch
und durch. Und der Geist wird erstaunlicherweise immer frischer, immer wacher, immer weniger schlafbe-
dürftig. Es stellen sich neue Erfahrungen ein von einem wachen, frischen, fließenden Gewahrsein, das immer
anstrengungsloser präsent ist. Es geschieht! Das haben wir nicht gemacht. Das zeigt sich, weil es die Natur des Geistes ist, so zu sein. Er ist eigentlich frisch, gewahr, geschmeidig.
In den Mahāmudrā-Lehren heißt es, dass wir jedes Mal, wenn wir im Moment des Einschlafens ganz loslas-
sen, einen Moment non-dualer Offenheit erleben, und dann kommt der Tiefschlaf. Das kriegen wir norma-
lerweise nicht mit, weil dieses Loslassen in der Müdigkeit geschieht. Wenn wir aber dranbleiben und ent-
spannen, entspannen, entspannen – loslassen, loslassen, dann kommt diese Frische, und dann beginnt sich
diese Offenheit, dieses einfache So-Sein einzustellen bei vollem Gewahrsein. Das nennt man Erwachen, die Kombination von totalem Loslassen, Entspannen mit vollem Gewahrsein.
Aber das ist kein Gewahrsein, das erzeugt ist, das wir machen. Das wäre wieder Anstrengung, da ist wieder
dukkha drin, da ist wieder Wollen drin, Stress. Den Meditationsstress ersparen wir uns. Da ermutige ich
Euch, den Rest des Tages, diesen wunderschönen langen Abend, der noch vor Euch liegt, weiter zu nutzen
um durchzuentspannen. Legt Euch ins Bett, geht raus, aber entspannt Euch damit; macht weiter damit, ent-spannt alles, was überflüssig ist. Das ist das Einzige, was wir zu tun haben, der Geist besorgt den Rest.
Wir haben gestern Abend doch mit der Instruktion begonnen: „Lass den Buddha meditieren.“ Nehmt Euch
ganz kurz noch einmal diese fünf falschen Vorstellungen vor. Stellt Euch vor, Ihr sitzt wie ein Buddha unter
dem Bodhibaum, oder irgendeinem Baum: klar, frei von Haften an Angenehmem und frei von Ablehnen von
Unangenehmem, frei von Haften an Heilsamem und frei von Ablehnen von Nicht-Heilsamem. Frei von Haf-
ten und Ablehnen – klar, so ist ein Buddha. Da ist auch kein Gedanke: „Zu jener Zeit werde ich das Erwa-
chen erlangen.“ – Das Erwachen ist ja schon da, es ist die Natur des Seins. Vorstellungen von Zeit beschäfti-
gen einen beim So-Sein nicht. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind jetzt gerade irrelevant. – Den eigenen
Geist für gewöhnlich halten und begrenzen? Nein! Der Geist ist offen-weit, spiegelgleich, da ist das Ge-
wahrsein der dynamischen, nicht-fassbaren Natur des Seins, feinstes Wahrnehmen, Unterscheiden, und es ist
perfekt, so wie es ist. Ob es regnet oder die Sonne scheint, ob hungrig oder satt: es ist in Ordnung so. Es ist
in sich ein vollendetes Erleben. Und die Skandhas, all die Wahrnehmungsprozesse – das Wahrnehmen der
Sinne, das Empfinden, das Unterscheiden, das Gestalten, das Bewusstsein – all das ist in seiner ganzen Rein-
heit präsent. Es ist da, es vollzieht sich, wir brauchen nichts zu tun. Es gibt niemanden, der sich identifiziert.
Und klar, dieses Erkennen aus dem Meditieren, das aus dem So-Sein kommt, dieses Gewahrsein ist kein be-
griffliches Verstehen. Das Verstehen eines Buddhas läuft nicht über Begriffe und logische Entschlüsselungen,
über Analyse, sondern ist ein intuitives, direktes Wissen. Und darin sitzen wir. All dies ist gemeint, wenn es
heißt: „Lass den Buddha in dir meditieren.“ All das schwingt da mit in diesem einfachen Bild.
Also: Lasst die Buddhas meditieren!
* * *
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Im zweiten Abschnitt geht es darum, unsere Meditationssitzung möglichst gut aufzubauen und durchzufüh-
ren.
Zudem nehmen wir die wesentlichen Punkte der Körperhaltung korrekt ein und üben uns in den drei
Arten von Geschick:
Wenn Ihr könnt, sitzt in der Sieben-Punkte-Haltung oder in einer anderen Körperhaltung, die Euch ermög-
licht, dass der Geist sich löst und offen wird, dass die Energien im Körper gut zirkulieren. Meist ist das eine
aufrechte Körperhaltung mit geradem Oberkörper und beweglichem Becken, sodass wir entspannt bleiben
können und die Energien gut fließen. Die drei Arten von Geschick werden jetzt erklärt:
Ruht der Geist, betrachten wir das Wesen des ruhigen Seins. Ist er bewegt, betrachten wir das
Wesen des bewegten Seins. Indem wir den Geist ausgeglichen lassen [wie er ist], beginnen wir so
als Erstes auf geschickte Weise die Meditation.
So wie der Geist gerade ist, genau das betrachten wir. Mit betrachten ist das Hineinschauen gemeint. Es ist
nicht gemeint, dass wir es wie von außen betrachten wie einen wunderschönen Strauß Tulpen. Wenn wir
Tulpen erleben oder ruhigen Geist erleben, dann schauen wir in das Wesen dieser ruhigen oder bewegten Er-
fahrung. Wie ist es, ruhig zu sein? Wie ist es, innerlich aktiv zu sein? Wir üben also eine Art Lhaktong-Blick.
Wir beginnen also geschickt damit, so wie der Geist gerade ist, sein Wesen anzuschauen und uns da hinein zu
öffnen.
Ausgeglichen bedeutet hier ‚frei von Anhaften und Ablehnen‘, ein ausgeglichenes Verweilen. Und das hängt
nicht davon ab, ob viel oder wenig im Geist los ist, sondern ob wir ins Reagieren verfallen auf unsere eigene
Geistesverfassung. Wenn wir die Natur sehen, das nicht-fassbare Wesen, wenn wir sehen, dass nichts wirk-
lich Substanz hat, dann ist es egal, ob der Geist ruhig oder aktiv ist. Das ist der Einstieg ins Meditieren. Jetzt
kommt die Hauptphase der Meditation mit dem Rat:
Statt ausschließlich in tiefer Sammlung und in der korrekten Meditationshaltung zu verweilen,
ist es gut abzuwechseln und so Ermüdung zu vermeiden. So unterbrechen wir zwischendurch
auf geschickte Weise [die Meditation].
Spannend, nicht wahr? Hier am Ende des Buches gibt Karmapa die Unterweisung, wie wir Hindernisse in
der Meditation verhindern können. Es ist ganz wichtig, rechtzeitig Pause zu machen, frühzeitig die Meditati-
on zu unterbrechen. Ihr wundert Euch wohl manchmal, warum wir Lehrer so früh schon mit der Meditation
aufhören, obwohl doch gerade alles so gut läuft. Genau das ist der Punkt: Es läuft – wir beginnen das zu be-
merken –, und schon entsteht ein gewisses Anhaften daran. Und genau das ist der Punkt, wo Hindernisse ent-
stehen. Entspannen und eventuell da schon eine Pause einlegen. Das ist geschickt. Ein geschickter Yogi
weiß, dass er seine Meditationssitzung so gestalten sollte, dass er immer dann aufhört, wenn der Geist noch
frisch ist und man sofort Lust hat, wieder zu meditieren. Dann fällt es einem nicht schwer, nach einer kurzen
Pause wieder anzufangen, weil es gerade eben noch ganz offen und frisch war, alles noch sehr präsent ist und
man nicht in die Ermüdung hineingekommen ist. Deswegen ist es dann ganz leicht, den Faden wieder aufzu-
nehmen. Wenn wir schon in der Ermüdung waren, baut sich natürlicherweise ein gewisser Widerstand auf,
gleich wieder weiter zu meditieren, weil der Ausklang der Erfahrung schon etwas belastet war, es war schon
etwas schwer geworden in der Meditation. Dann fällt uns der Neubeginn nicht so leicht. Also nicht forcieren,
rechtzeitig unterbrechen.
Teilnehmer: Wenn es gut läuft, merke ich das manchmal erst, wenn es anfängt nicht mehr so gut zu laufen,
und dann gibt es zwei Möglichkeiten. Manchmal denke ich, es sei gut nicht zu sagen: „Es läuft gut, jetzt
muss ich sofort aufhören“, und manchmal merke ich, dass jetzt eine Pause gut wäre, damit es ein gutes Ge-
fühl ist, wenn ich wieder anfange.
Du kannst das lösen, indem Du Dich fragst: „Bin ich noch in der Lage, diese innere Ausgeglichenheit auf-
rechtzuerhalten?“ Oder beginnt das Haften schon in einem Maße, wo Du merkst: „Ah, jetzt würde es mir gut
tun, bewusst aufzuhören mit irgendeiner Anstrengung im Meditieren.“ Die Pausen brauchen auch nicht so zu
sein, dass man aufsteht. Man kann sich einfach zurücklehnen und den Geist sein lassen wie er ist, um sich
nach einer Weile dann wieder in die Meditationshaltung zu setzen und weiterzumachen. Die Frage ist: „Bin
ich noch in der Lage, jetzt mit dieser Situation umzugehen?“ Manchmal kommt ein kleines Haften, deswe-
gen braucht man nicht aufzuhören, und schon gar nicht hört man auf, bloß weil es gut läuft. Sondern die Fra-
ge ist: „In diesem offenen Sein, ist es okay? Ist es möglich, das weiter zuzulassen?“ Oder merke ich, dass
bereits Muster anspringen, die ich jetzt gerade nicht in der Tiefe entspannen kann. Alles, was ich in der Tiefe
entspannen kann, braucht mich nicht zu beunruhigen, weil sich das nie zum Hindernis auswachsen wird. Es
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
ist also eine Frage der Selbsteinschätzung.
Teilnehmer: Aber das ist immer noch in der Phase der Geistesruhe?
Das ist noch in der Phase der Geistesruhe. Wenn Du im echten Lhaktong bist, tauchen diese Fragen gar nicht
auf.
Teilnehmer: Für Anfänger werden aber gewisse Zeiten vorgegeben!?
Nicht in der Mahāmudrā-Tradition. Da werden keine Zeiten vorgegeben, da sollte man es eigentlich lassen,
sich an Zeiten zu orientieren, es sei denn, die Zeiten werden extra so kurz gewählt, dass sie total im grünen
Bereich liegen. Dieses Zeiten-Vorgeben ist genau das, was zu dieser Art von Meditation führt, wo man die
letzten fünf oder zehn Minuten ein bisschen im Kämpfen ist und nicht mehr die volle Lust hat, wieder anzu-
fangen. Tatsächlich sind all diese Unterweisungen nicht unbedingt für uns im Alltag, wo Menschen vornehm-
lich morgens und abends ihre halbe Stunde sitzen. Sie sind für Menschen geschrieben, die den ganzen Tag
Zeit haben zu meditieren, und da schaut man auf die Qualität der Praxis. Wenn die Frische verloren geht,
dann ist es höchste Zeit aufzuhören. Das Beste ist – und das gilt für alle, auch für Anfänger –, dann aufzuhö-
ren, wenn der Geist noch frisch ist. Wenn die Frische, die noch da ist, bereits ein bisschen bröckelt, es nicht
mehr ganz das offene, gelöste Sein ist und man beginnt, sich ein wenig um die Praxis zu bemühen und die
ersten Anstrengungen deutlich werden, dann ist es Zeit aufzuhören.
Und der dritte Rat:
Indem wir nicht an guten Erfahrungen haften, welche auch immer erscheinen, halten wir
schließlich die Erfahrungen auf geschickte Weise aufrecht.
Mit guten Erfahrungen sind die drei Erfahrungs-Familien von Freude, Klarheit und Nichtdenken gemeint.
Der springende Punkt dabei ist, sie zuzulassen, sie zu erleben. Es ist wunderbar und wichtig, sie im vollen
Ausmaß zu erleben, aber eben geschickt darin zu sein, sie nicht kultivieren zu wollen. Wir lassen sie nur zu.
Sie sind der natürliche Ausdruck von einem harmonischen Zirkulieren der inneren Energien und zeigen sich
ganz von selbst. Wir brauchen sie nur zuzulassen, wir kultivieren sie nicht. Indem wir sie so – ohne anzuhaf-
ten – zulassen, werden sie sich ausweiten und dann auch vertiefen, und es tauchen neue Aspekte in diesen
Erfahrungen auf. Das ist das Mittel, um diese Erfahrungen nicht zu Hindernissen werden zu lassen.
Dann eine kleine Erklärung:
Die Eigenschaft des Geistes, auf vielfältige Weise zu erscheinen, ist der Ausstrahlungsköper
(Nirmāṇakāya). Gewahr zu sein ist der Freudenkörper (Saṃbhogakāya). Leer (nicht fassbar) zu sein ist
der Essenzkörper (Svabhāvikakāya) und ihre Untrennbarkeit ist der Wahrheitskörper (Dharmakāya).
Das ist eine etwas andere Darstellung der vier Körper, ist aber genauso zutreffend. Es ist einfach eine Frage,
wie man diese Kāyas mit Sinn füllt, wie man sie definiert. Ausstrahlung bedeutet, dass etwas erscheint und
sich etwas zeigt. Was sich im Geist zeigt, ist die Vielfalt; Vielfalt der verschiedenen Wahrnehmungen. Das
nennt man den Ausstrahlungskörper.
Gewahrsein – hier ein nicht-haftendes, dynamisches Gewahrsein – wird als Freudenkörper bezeichnet. Da-
mit wird auf die Dynamik des Gewahrseins hingewiesen und auf die Qualität, dass Gewahrsein freudvoll ist.
Gewahrsein ist ein echter Genuss, wenn es frei von Anhaften ist. Die eigentliche Freude, die Freude von der
man spricht, wenn es um das Erwachen geht, kommt aus dem Gewahrsein selbst, sie hat keine andere Ursa-
che. Entspanntes Gewahrsein ist frei von Leid, frei von Anspannung, frei von Stress, und das ist es, was man
Freude nennt. Das ist dieses gelöste, heitere Sein.
Leer zu sein, also nicht fassbarer, offener Raum, als nichts was auch immer fassbar zu sein, wird hier als der
Essenzkörper beschrieben, der normalerweise für die Untrennbarkeit der anderen drei steht.
Diesmal nimmt der Dharmakāya, der Wahrheitskörper, diese Funktion ein und steht für die Untrennbarkeit
der drei. Das hat auch einen Sinn, weil Svabhāva – rang schin auf Tibetisch – ‚das wahre Wesen‘ heißt. Man
kann natürlich sagen: das wahre Wesen von Buddhaschaft ist die Untrennbarkeit der drei Körper, oder: das
wahre Wesen ist, dass alles in seiner Natur leer, nicht fassbar ist. Das ist eine Definitionsfrage. Die Essenz
aller Erfahrung, das wahre Wesen aller Erfahrung, ist ihre nicht-fassbare, leere Natur, und wahr ist – Dharma
–, dass all das untrennbar ist, und daher kann man das dem Wahrheitskörper zuordnen. Keiner dieser Aspekte
wird für sich erfahren, sondern immer alle gemeinsam.
Wenn du dir völlig gewiss bist, dass die gesamte Welt der Erscheinungen – Saṃsāra und Nirvāṇa – von
dieser Natur ist, und dir endgültig klar ist, dass alle Phänomene frei von allen begrenzenden Vorstel-
lungen sind und weder beginnen, noch aufhören oder verweilen, dann ruhe ausgeglichen frei von allem
Annehmen und Aufgeben, Hoffen und Befürchten. Das ist der zweite Punkt.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Das wollen wir jetzt praktizieren. Ich lade Euch ein, gemeinsam diese Unterweisung umzusetzen. Ich werde
in der Meditation ein paar Sätze sagen, die Euch helfen, die Essenz dieser Instruktionen direkt anzuwenden.
Meditation: Drei Arten von Geschick
Wir beginnen die Meditation mit der Körperhaltung. Die Haltung, die Euch jetzt hilft, den Geist öffnen und
klären zu lassen, ist die richtige Körperhaltung. – Dann spüren wir hinein: Wie ist der Geist jetzt? Wie ist es, jetzt gerade zu sein? Eher ruhig? Eher aufge-
wühlt? – Und wir schauen unmittelbar in dieses Erleben: Wie ist das Wesen, die wahre Natur dieses Erlebens? – Da entsteht zumeist eine deutliche Ahnung von der nicht-fassbaren Natur des jetzigen Erlebens, und genau
das bewirkt, dass wir nicht daran festhalten oder dieses Erleben ablehnen. – Damit öffnen wir uns dem strömenden Erleben, den immer wieder neuen Erfahrungen. – Offen, gewahr, flexibel. – Es kann sein, dass wir schon nach wenigen Atemzügen merken, dass wir uns unnötig anstrengen, und sofort
legen wir innerlich eine Pause ein. – Immer wieder nehmen wir den Geist gerade so, wie er jetzt ist, ohne irgendein Erleben einem anderen vorzu-
ziehen. – Wenn die Augen zufallen, fallen sie zu; wenn sie aufgehen, gehen sie auf. Auch da praktizieren wir frei von Vorlieben. –
Pause. – Achtet in so einer Minipause darauf, was sich innerlich tut. Das ist der Spiegel dafür, wie viel An-
spannung wir aufgebaut haben. Wenn sich gar nichts tut, obwohl die Pause eingeläutet wird, dann waren wir
offenbar wirklich in meditativer Ausgeglichenheit. Wenn dank des Pausenzeichens der Geist sofort in eine
andere, tiefere Form der Entspannung geht, dann wissen wir: „Oh, ich habe ja gar nicht gemerkt, dass ich da
Spannung aufgebaut habe“, und lernen daraus.
Und es geht weiter …
Wie ist der Geist jetzt? … Wie ist es, genau das zu erleben? – Die Vielfalt der Erfahrungen, frei von Haften, ist der Nirmāṇakāya, der Ausstrahlungskörper. – Ununterbrochene Dynamik, gewahr zu sein, ist der Freudenkörper. – Die nicht-fassbare, leere Natur allen Erlebens ist der Svabhāvikakāya, der Essenzkörper. – Und bereits jetzt, in der Praxis von Geistesruhe, bekommen wir eine Ahnung davon, dass die drei untrennbar
sind: Erleben, dynamisches Gewahrsein, von Natur aus nicht fassbar – eine untrennbare Einheit. – Da gibt es nichts zu tun, alles befreit sich von selbst. –
Achtet darauf, wie Ihr Spannung aufgebaut habt, was sich jetzt entspannen möchte. Speziell im Körper merkt
man das gut: Wenn eine Pause eingeläutet wird, zeigt uns der Körper Anspannung, indem er sich bewegen
möchte. Wir haben ihn irgendwie ein bisschen eingesperrt. Vermutlich bemerkt Ihr, dass sich so etwas wie
eine Pausenmeditation einstellt. Wenn wir in der Pause nichts tun, dann geht das Meditieren irgendwie wei-
ter, obwohl wir eigentlich denken, nicht zu meditieren. Aber da ist ein entspanntes Sein, das sich fortsetzt.
Das ist ganz kostbar insofern, als dass es uns auf eine andere Art noch spüren lässt, wie es ist, ganz entspannt
zu sein, ohne Vorsatz zu meditieren.
Jetzt lassen wir die Pausenmeditation übergangslos hinüberwechseln in ein ganz entspanntes, meditatives
Sein, im Grunde ohne irgendetwas zu verändern. – Kein Kämpfen mehr, kein Wollen. – Ganz aufmachen für das, was ist. – Schaut mal noch hin: Ist der Geist noch geschmeidig? Ist der Körper noch geschmeidig? –
* * *
Wenn wir jetzt im Retreat wären ohne Unterweisungen, dann wäre die einzige Frage, die wir uns jetzt zu
stellen bräuchten: „Na, wie viel Entspannung halte ich aus? In wieweit kann ich Kontrolle loslassen? Wann
wird es unerträglich, so entspannt zu sein und so fast gar nichts zu kontrollieren?“ Das ist, was ein Retreat
ausmacht. Jetzt tut das ja erst einmal ganz gut, weil wir vorhin noch angestrengt waren. Aber wie weit geht
das noch? Wann kommen die Impulse, tun und machen zu wollen? – Wenigstens ein bisschen Greifen, ein
bisschen Ablehnen, ein bisschen was tun, ein bisschen mich als Meister meines Lebens zu fühlen. – Das Ich
braucht ein bisschen Nahrung, die Ichbezogenheit. Das sind die ichbezogenen Muster, die man zwar kurz
mal so ganz gut entspannt bekommt, die aber bei längerem Verweilen deutlich wieder anspringen, und dann
beginnt die eigentliche Arbeit. Ich möchte nicht abwerten, was wir bis jetzt gemacht haben – das war auch
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
ein Arbeiten mit diesen Mustern –, aber das hat den Vorteil, dass wir aus einer Aktivität kommen und es sehr
genießen, uns so zu entspannen. Während wir in der Entspannung sind, tauchen die Impulse zu machen auf.
3. Missverständnisse beseitigen und Geistesbewegungen sich selbst überlassen
In diesem Titel kommt schon zum Ausdruck, dass die hauptsächliche Methode, Missverständnisse aufzulö-
sen, darin besteht, die jeweiligen Geistesbewegungen sich ihrer Selbstbefreiung zu überlassen. Schauen wir
uns das im Detail an. Zunächst kommt ein allgemeiner einführender Satz:
Haften wir an Freude, Klarheit oder Nichtdenken, so irren wir [weiter] in den drei Daseinsbereichen.
Nimm Erfahrungen deshalb nicht wichtig, egal ob gute oder schlechte auftauchen.
Wichtig nehmen in Bezug auf ein Ich, in Bezug auf uns selbst. Natürlich sind Erfahrungen auf eine Art
wichtig, aber nicht mit dieser Komplikation, immer mit sich selbst beschäftigt zu sein in allem was erlebt
wird. Die Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtdenken sind die drei Gruppen von Meditationserfah-
rungen. Es gibt eine ganze Gruppe von Meditationserfahrungen, wo in Körper oder Geist ein Wohlgefühl
erlebt wird, bis hin zu stärkster Glückseligkeit; Erfahrungen von Freude, von gelöstem Sein, von harmoni-
schem Zirkulieren im Körper. Und was machen die Meditierer? „Wow, super! Das möchte ich wieder erle-
ben.“ Das nennt man Haften an Freude, an Wohlgefühl.
Das Gleiche passiert, wenn unser Geist so wunderbar klar wird; alles ist so luzide und da ist solch eine Präzi-
sion der Wahrnehmung. – Z.B. ein sich im Wind bewegendes Blatt: Noch nie habe ich es mit dieser Klarheit
gesehen, als ob ich es zum ersten Mal sehen würde. Der Tau auf den Grasspitzen oder der Sonnenstrahl oder
Körpergefühle – da ist eine Präzision und Klarheit, eine Schärfe des Denkens und Wahrnehmens ohneglei-
chen: „Wow! Super!“ – volles Anhaften!
Das passiert jedem, und wenn es noch so subtil ist. – Ich muss übertreiben, um es deutlich zu machen, aber
wie gerne hätten wir das doch! Gerade eben beim Meditieren: War das Verlangen, ein bisschen klarer zu sein,
vielleicht schon da? Noch mehr Wohlgefühl zu wollen? Und vor allem das Nichtdenken, nicht in diesen dis-
kursiven Prozessen gefangen zu sein – welch eine Erleichterung!
Nichtdenken ist nicht die völlige Abwesenheit von Gedanken, sondern bedeutet, dass – was auch immer auf-
taucht – sich keine weiteren Gedanken dranhängen. Es kann also schon so sein, dass da ein Gedanke auf-
taucht, aber die Erfahrung des Nichtdenkens ist dann stabil, wenn auftauchen kann was will, und es hängt
sich nichts dran. Das ist auf das begriffliche oder imaginative Denken bezogen. Es geht hier also tatsächlich
darum, nicht in Denkprozessen gefangen zu sein.
Ein Teil dieser Erfahrungen des Nichtdenkens sind die tong-nyams, die Leerheitserfahrungen. Das ist, wo wir
unser Erleben als substanzlos erfahren. Und auch das wird vergegenständlicht, da ist ein großes Greifen da-
nach, als wäre das etwas Besonderes. Im Grunde genommen findet das Greifen immer statt, weil wir denken,
da wäre etwas Besonderes und das müssten wir haben. Nach diesen Erfahrungen zu greifen, führt im Da-
seinskreislauf zu Wiedergeburt in Samādhi-Bereichen; in Bereichen, wo man ständig in dualer meditativer
Versenkung ist – dual, weil dieses subtile Greifen noch da ist. Das ist keine Befreiung und diese Erfahrung
wird sich wieder auflösen, sobald diese Kräfte erschöpft sind. Dann kommen andere Erfahrungen im Da-
seinskreislauf.
Wir können uns das auch so übersetzen: Solange Haften an diesen schönen meditative Erfahrungen vorhan-
den ist, sind wir verstrickt. Wir können es einfach so direkt ausdrücken: Wo Haften ist, ist Verstrickung. Wer
sich mit seinen Meditationserfahrungen verstrickt – sich damit identifiziert, danach strebt und anderes nicht
will –, der ist noch in Saṃsāra unterwegs. Dann denken wir, unser aufgewühlter Geist wäre ein schlechterer
Geist als der ruhige Geist von Klarheit, Freude und Nichtdenken; solche Irrtümer entstehen dann. Dabei ist
der aktive Geist von derselben Natur wie der ruhige Geist. Wir brauchen nicht extra einen ruhigen Geist. Wir
können auch die gesamte Aktivität des Geistes in ihrer nicht-fassbaren, substanzlosen Natur durchschauen.
Immer wo Haften ist, entstehen Vorlieben, Präferenzen. Dann mögen wir das eine mehr als das andere und
damit stricken wir uns direkt das nächste Gefängnis. Das wäre jetzt das Gefängnis des Meditierenden, der
sich einrichten möchte in Erfahrungen von Klarheit, Freude und Nichtdenken. Und auch daraus müssen wir
aussteigen.
Die folgenden Abschnitte behandeln Missverständnisse über dieses Etwas da, das wir Leerheit nennen. Leer-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
heit – Śūnyatā – scheint ja das Non-plus-Ultra zu sein, und da entstehen viele Missverständnisse. Die fünf
wichtigsten listet Karmapa hier auf. Das erste ist, dass Leerheit als Gegenstand des Wissens missverstanden
werden könnte, tatsächlich aber gar kein Gegenstand des Wissens ist:
Leerheit ist kein Gegenstand des Wissens
Wer durch Logik versteht, dass eins und viele nicht existieren und dass von daher alle Phänomene leer
von eigenständiger Natur sind, oder wer mit dem Verstand zu diesem Schluss kommt und so ihre Exis-
tenz widerlegt, der gelangt zu einer bloßen Nichtexistenz und denkt: „Alles ist Leerheit.“ Mit dieser
Annahme zu praktizieren bedeutet, Leerheit misszuverstehen. Da du hierdurch beim Berücksichtigen
der Folgen deiner Handlungen nachlässig wirst, gib das Festhalten an Nichtexistenz und an einer mit
dem Verstand fabrizierten Leerheit auf, betrachte das Wesen des Haftens an Nichtexistenz, und handle
ungekünstelt.
Logik und den Verstand einzusetzen, um Leerheit zu verstehen, ist sehr ratsam und total hilfreich, daran ist
nichts Verkehrtes. Wie vorhin erklärt, kann man dadurch verstehen, dass es nicht ein Ding gibt, das wirklich
existiert.
Wenn wir einen soliden Gegenstand nehmen, können wir uns durch Logik klarmachen, durch wie viele Be-
dingungen er geformt wurde und dass seine Existenz jetzt noch von vielen Bedingungen abhängig ist. Wenn
sich die Umgebungstemperatur dieses Gegenstandes bis zu einem kritischen Punkt erhöht, wird er brennen.
Wenn sich der Druck auf diesen Gegenstand erhöht, wird er nachgeben, bei noch mehr Druck wird er platt,
oder es bleiben vielleicht nur Späne übrig, und auch die werden pulverisiert, und und und... Wenn man daran
kratzt, kriegt er Rillen und ist nicht mehr derselbe Gegenstand. Der Gegenstand bleibt stabil, solange sich die
Bedingungen nicht krass verändern. Aber selbst ohne krasse Veränderung ist dieser Gegenstand vergänglich
und wird irgendwann zu Staub, allein aufgrund der Molekularbewegung. Er bleibt nicht ewig so.
Man kann sich klarmachen, dass einzelne Objekte nicht aus sich heraus, ganz unabhängig, existieren. Wenn
es nicht einzelne Objekte gibt, dann gibt es auch nicht viele Objekte, aus denen die Welt gemacht wäre – eine
Welt, die aus den vielen einzelnen, für sich existierenden Bausteinen zusammengesetzt wäre. Dieses Viele
gibt es genauso wenig wie das Einzelne, wenn das Einzelne schon gar nicht aus sich heraus existieren kann.
Man kann sich klarmachen, dass alle Phänomene – alles Erlebbare, alles was wir wahrnehmen benennen
können, also alles, wie das deutsche Wort ‚Ding‘ in seinem weitesten Sinn – leer sind von eigenständiger
Natur. Wir können mit dem Verstand zu diesem Schluss kommen, und das ist hilfreich.
Wer sich das klarmacht, der widerlegt damit auf der Basis von Verstand und logischem Denken die unabhän-
gige Existenz von Phänomenen – Objekten, Dingen. Das Wort ‚existent‘ bedeutet in der indischen und tibeti-
sche Philosophie etwas, das aus sich heraus existent ist, unabhängig von Bedingungen. Etwas, das sich stän-
dig verändert, kann zwar erlebt werden, aber nur in seiner prozesshaften Natur, es ist nicht ein stabiles Ding,
das existiert. – Es ist wichtig, dieses Wort begrifflich klarzukriegen. Die Frage vorhin nach dem Körper zielte
darauf ab: „Wenn dieser Körper Prozess ist, gibt es ihn dann gar nicht?“ Zu diesem Schluss kann man kom-
men, und das wird im nächsten Satz bloße Nichtexistenz genannt.
Wenn man diese Existenzvorstellung widerlegt hat, dann neigt unser Geist dazu zu sagen: „Also gibt es gar
nichts“. Das erlebt Ihr, wenn Ihr mit Menschen diskutiert, die eine verkehrte Vorstellung von Māyā haben,
die kurz in einem indischen Ashram waren und mit dem hinduistischen Konzept von Illusion in Kontakt ge-
kommen sind. Oder eben mit dem buddhistischen Konzept von Leerheit und in der Sackgasse landen: „Es
gibt gar nichts, alles Einbildung.“ Das stimmt und stimmt doch nicht. Alles gestaltet sich, alles Erleben sind
innere Bilder. ‚Alles ist Einbildung‘ stimmt, die inneren Welten gestalten sich die ganze Zeit – die Vorstel-
lung von unserem Körper, das Erleben von unserem Körper und der Umgebung –, das ist schon richtig.
Trotzdem ist da was, und in manchen buddhistischen Texten heißt es, dass man solche Leerheitsgläubigen,
die denken, dass nichts existiert, einfach mal kneifen sollte. Dann könnte man sie vielleicht davon überzeu-
gen: „Hey, das war jetzt doch leer, das gibt es doch eigentlich gar nicht. Wieso reagierst du?“
Die Annahme einer bloßen Nichtexistenz negiert, dass da tatsächlich etwas wirkt und dass da tatsächlich et-
was erfahrbar ist. Wir erleben die Situation, das können wir doch nicht abstreiten. Und wir haben doch die-
sen Körper, den gibt es ja. Aber es gibt ihn eben nicht als etwas unabhängig Existierendes. Wer also aufgrund
von einem limitierten Verständnis von Leerheit in die Sackgasse tappt, eine Nichtexistenz anzunehmen – das
man abstreiten könne, die Dinge, den Körper, das Erleben gäbe es –, haftet an Nichtexistenz. Diese glatte
Behauptung „Das ist doch alles nur Illusion. Das gibt es doch gar nicht“ ist Ausdruck von Haften an Nicht-
existenz.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Was dann passiert ist, dass es zu einer Nachlässigkeit im Handeln kommt, denn wenn das alles nur Illusion
ist, dann brauche ich mich doch nicht darum zu kümmern, wie ich meine Partnerin oder meinen Partner be-
handle, oder wie ich mich um mein Kind kümmere, oder was in der Politik passiert, oder ob ich klaue oder
nicht. Selbst töten kann so gerechtfertigt werden – weil ja alles nur Einbildung ist. – „Es ist doch die Schuld
der anderen, wenn sie meinen, das sei wirklich.“ – So weit kann das gehen.
Das hat gravierende Konsequenzen. Man kann überhaupt nicht mehr zusammenleben auf diesem Planeten.
Mit einem Menschen, der grundlegend alles als Illusion abstreitet, ist es unmöglich, Vereinbarungen zu tref-
fen, zusammenzuleben, Rücksicht für andere zu erwarten – es ist ja alles nur Illusion. Das ganz Krasse dabei
ist, dass die Menschen sogar selber so dran leiden, dass alles Illusion ist, dass sie sich am liebsten umbringen
würden. So weit kann das gehen.
Es hat gravierende Folgen, ich bin tatsächlich schon solchen Menschen begegnet, und man muss dieses Ver-
ständnis klären. Es ist ein nur intellektuelles Verständnis von Leerheit, ein partielles Verständnis, in dem et-
was fehlt. Man sieht, dass alles Einbildung ist, aber man sieht nicht die andere Seite. Man sieht nicht, dass
das, was sich da als inneres Bild gestaltet, unglaublich wirksam ist; dass da Kräfte wirken in uns und in ande-
ren, die durchaus real erlebt werden. Realität ist dynamisches Erleben, und das haben wir noch nicht klarge-
kriegt. Wir denken, wenn die Dinge nicht real existieren, dann gibt es keine Existenz. Dass Existenz dynami-
sches Erleben sein könnte, das muss man erst noch verstehen. Das ist der Teil, der noch nicht verstanden
wurde.
Das bezieht sich auf alle Kräfte: auf die physikalischen Kräfte, wie thermische Kräfte, Schwerkraft, elektro-
magnetische Kräfte usw. im Außen; auf heilsame und nicht heilsame Kräfte, wie Liebeskräfte, Angstkräfte,
Begierdekräfte, Ablehnungskräfte; auf alle Impulse und Wirkungen, z.B. die Kraft eines Begriffes wie
„Wau“. Was kommt an? Das ist eine Klangkraft, die durch eine assoziative Kraft von Gewohnheitsmustern
etwas auslöst. War ich jetzt dabei, das englische „Wow“ für Erstaunen, oder das „Wau“ für Wauwau zu sa-
gen? Man weiß es nicht, also interpretiert man. Das sind Kräfte, die wirken; ebenso wie Mimik und Gestik
und wie wir uns verhalten. Alles wirkt.
Diese beiden muss man zusammenbringen: Nichts hat Substanz und alles wirkt.
In der buddhistischen Terminologie nennt man das ‚abhängiges Entstehen‘: Nichts existiert aus sich heraus
und alles wirkt.
Teilnehmer: Wirken diese Kräfte unabhängig davon, ob man sie für real hält oder nicht?
Sie wirken anders, wenn man sie für real nimmt. Die Auswirkungen in Deinem Geist sind natürlich andere.
Wenn Du sie für nicht real nimmst, dann wirken sie, aber Du bist durchlässig und greifst nicht danach. Wenn
Du sie für real nimmst, dann entstehen die starken emotionalen Reaktionen auf das, was da wirkt. Da besteht
ein großer Unterschied aufgrund unserer inneren Haltung, die bewirkt, ob wir im impulsiven Reagieren sind
oder im Agieren, in einem freieren Hineinwirken in die Situation. Für die wirkende Kraft selber – zum Bei-
spiel jemand schickt Dir ein starkes Wort rüber –, ist es, wie es ist: Schallwellen. Dann hängt es davon ab,
wie stark man das vergegenständlicht. Es wirkt bei jedem anders und die Intensität der Reaktion ist auch kul-
turell bedingt. Als ich in Griechenland ein Ehepaar diskutieren hörte, dachte ich, dass sie sich streiten. Sie
haben sich aber einfach nur unterhalten…
Teilnehmer: Es kann also auch sein, dass eine negative Reaktion kommt, obwohl meine Absicht positiv war.
Absolut, das kann jederzeit passieren.
Teilnehmer: Welches Phänomen hätte dann eine unabhängige Existenz?
Das möchte ich auch mal wissen… Kannst Du ein Beispiel nennen?
Teilnehmer: Die Buddhanatur.
Gibt es die?
Davon gehen wir ja aus…
Nein, ich nicht!
Für mich ist das, was wir Buddhanatur nennen, auch nur die Summe von Wirkkräften. Es ist nur ein Oberbe-
griff für wirkende Qualitäten und genauso wenig fassbar wie die Teufelsnatur. Es ist gut, da hinzuschauen.
Im Laufe der Unterweisungen kommen wir zur Thematik, dass auch das Erwachen nicht als etwas außerhalb
von Bedingungen existiert. Man könnte auch denken, dass Gott existiere. – Ich nehme an, Christen denken,
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
dass das so ist. Untersucht das einmal: Gibt es etwas, das aus sich heraus existiert und nicht dynamisch ist?
Wenn etwas lebendig, dynamisch, prozesshaft ist, dann ist es nicht etwas, das bleibend so ist, dass es bleibt.
Wenn die Seele z.B. etwas Dynamisches ist – das wäre ja etwas Ähnliches wie die Buddhanatur –, dann be-
deutet das, dass da ständig Bewegung ist, dass da Kräfte wirken. Darauf müssen wir achten.
Wir könnten uns die Frage stellen, ob das, was wir untersuchen, von dynamischer Natur ist. Ist da Leben, ist
da Bewegung festzustellen? Leben ist Prozess. Gibt es etwas im Leben, das sich vom Prozess abkapselt und
nicht Teil des Prozesses ist? Das wäre so etwas wie eine Seele; alles andere verändert sich, aber etwas in mir
ist immer gleich. Das ist der ewige Tilmann. … [Lachen] … Das ist sehr bedrohlich, das verstehe ich, aber
das wäre ja so etwas, das von einem Leben ins nächste hinüberwechselt. Das könnte ja dann – so wie die
Jinas behaupten – irgendwo im Himmel verweilen und auf seine Befreiung warten. … Oder es wäre eine
ewige Seele, die dann irgendwann beim lieben Gott ankommt. … Das müssen wir einmal untersuchen, aber
jeder für sich. Wir müssen da wirklich schauen: Gibt es eine unwandelbare Buddhanatur?
Teilnehmer: Das einzige Unveränderliche ist der Veränderlichkeit.
Ja, und das ist auch nur ein Konzept. Wenn wir von Veränderlichkeit sprechen, sprechen wir ja nicht über ein
konkretes Phänomen, sondern es ist eine Qualität, die wir immer wieder finden. Und das wäre auch die Ant-
wort auf die Frage nach der Buddhanatur. Wir entdecken gleichbleibende Qualitäten des Seins, aber nicht ein
Sein, das fix und immer gleich ist. Der dynamische Ausdruck des Seins, das was wir Erleben nennen, hat
Qualitäten, die wir immer wieder entdecken; überall, wo auch immer wir hinschauen.
Die Behauptung „Alles ist Leerheit“ klingt erst einmal gut und ist auf den ersten Blick auch einleuchtend.
Dann merken wir aber, dass darin eine starke Affirmation enthalten ist – im Tibetischen heißt es tong-pa-nyi:
Leerheit. Schon allein in der Ausdrucksweise mangelt es an Verständnis für die dynamische Natur des Seins,
als ob es die Leerheit wirklich geben würde. Wenn wir mit dieser Annahme meditieren und handeln usw.,
dann sind wir in einem Missverständnis von Leerheit. Wir reden uns immer wieder ein: „Alles ist leer“. Das
ist es, was tatsächlich passiert. Statt hinzuschauen und hinzufühlen, „Wie ist denn das mit dem, was ich gera-
de erlebe?“, sagt immer wieder etwas in uns: „Das ist doch alles leer“. Das wird ein vermeintliches Wissen
aktiviert, um im Grunde genommen unser ganzes Erleben in Bausch und Bogen als Leerheit abzutun.
Wenn wir solchen Menschen begegnen – vielleicht wart Ihr auch schon in dieser Falle –, so wiederholen sie
ständig: „Das ist doch alles Illusion“, „Das ist doch alles Leerheit“. Sie müssen das ständig wiederholen, um
es sich selber und anderen zu bestätigen, damit andere auch wissen, warum sie so und so ticken. Man kann
nicht einfach natürlich sein, man muss immer wieder betonen „Alles ist leer“, „Alles ist Illusion“, und sich
das selbst und anderen einreden.
Die gravierendste Folge ist, dass wir hierdurch beim Berücksichtigen der Folgen unserer Handlungen
nachlässig werden, und das Heilmittel ist, das Festhalten an Nichtexistenz aufzugeben. Es geht also da-
rum, zu sehen, dass auch das Festhalten an Nichtexistenz oder Illusion als etwas tatsächlich Existierendes,
wieder ein Irrtum ist und der dynamischen Natur des Erlebens nicht gerecht wird.
Fabriziere die Leerheit nicht mit dem Verstand. Wir denken vielleicht, wir wären frei davon, Leerheit mit
dem Verstand zu fabrizieren. Tatsächlich sollten wir ganz achtsam sein, sobald auch nur der Gedanke im
Geist auftaucht, etwas sei leer. Wenn wir denken „Das ist doch leer“, sind wir vermutlich dabei, die Leerheit
mit dem Verstand zu fabrizieren.
In dem direkten Erleben von dem, was wir die nicht-fassbare, leere Natur des Seins nennen, taucht kein sol-
cher Kommentar auf. Wenn dieser Kommentar in uns auftaucht, dann bedeutet das, dass wir ein früheres
Verständnis aktivieren und jetzt einsetzen, um unsere Erfahrung zu beschreiben, um eine gewisse Distanz
herzustellen. Vorsicht! Das bedeutet, dass wir nicht wirklich erfahren, wie das Erleben ist, sondern wir akti-
vieren eine frühere Erfahrung und sind eigentlich in einer fabrizierten Leerheit. Wenn ich das in meinem ei-
genen Geist merke – denn natürlich geht es mir auch so, dass es mal kommt –, dann sofort: „Stopp! Nein!
Wie ist das Erleben? Wie ist es jetzt gerade?“ Nichts dem Erleben überstülpen, sondern das Erleben ganz
kommen lassen, ganz eins werden mit der Erfahrung, bis sie sich zeigt als das, was sie ist und wie sie ist.
Teilnehmer: Kann man nicht statt ‚alles ist leer‘ übersetzen ‚alles ist wandelbar und abhängiges Wirken‘?
Das kannst Du gerne so machen. Ich muss jetzt darüber sprechen, weil es im Text kommt. Und Ihr habt
schon gemerkt, dass ich das meistens als nicht-fassbar übersetze. Das ist meine Lieblingsformel, um dieses
Wort zu umgehen.
Teilnehmer: Mir in einer bestimmten Situation vorzusagen „alles ist leer“ finde ich selten aber doch hilf-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
reich, um Unangenehmes loszulassen. Das ist so ein „Stopp!“, wo es mir bewusst wird.
Ja, wenn es Dir bewusst wird, dann habe ich nichts dagegen einzuwenden, wenn es wirklich bewusst wird.
Aber wenn Du es Dir sagst, dann ist es einfach eine Distanzierungsübung. Du sagst „alles ist leer“, um Ab-
stand zu gewinnen. Tatsächlich ist das Erkennen der Leerheit der umgekehrte Prozess: eins zu werden mit
dem Erleben und ganz aufzugehen ohne diese Trennung. Wenn es ein Bewusstwerden ist, dann ist es im me-
ditativen Prozess etwas, das nach der Erfahrung kommt. Zuerst kommt das Erfahren der nicht-fassbaren Na-
tur und wenn wir dann wieder im leicht dualistischen Zustand sind, kann sein, dass ein Kommentar kommt –
„Aja, das war ja wieder leer.“ Wenn der Kommentar aber kommt, bevor da eine Erfahrung ist, dann ist es
nicht ein Bewusstmachen, sondern ein Reaktivieren einer schon gemachten Erfahrung von früher.
Ich meinte vorhin nicht eine Meditationserfahrung, sondern eine Erfahrung aus dem direkten Leben.
Das ist eine einfache Distanzierungsübung. In der Psychotherapie sagt man sich z.B.: „Da ist Ärger.“ Das ist
ganz nützlich, hat aber nichts mit Leerheit zu tun.
Das ist im ersten Schritt nützlich, und im zweiten kann ich aber, wenn ich aufmache, die Leerheit wahrneh-
men.
Es könnte hilfreich sein, aber wer dann denkt, irgendetwas von der Leerheit wahrgenommen zu haben, weil
die Distanzierung hilfreich ist, der täuscht sich. Das war nur ein Satz, der es mir durch sein Benennen ermög-
licht, mich weniger zu identifizieren. Aber es hat kein Erleben der nicht-fassbaren Natur der Phänomene
stattgefunden.
Genau da entsteht die Verwechslung: Wenn man diese Brücke nutzt – die Methode, das als leer zu titulieren –
, denkt man womöglich, man habe das tatsächlich als leer erfahren. Das kann man fast nicht auseinanderhal-
ten. Deswegen ist es besser, mit dem berühmten Spruch zu arbeiten: „Auch das ändert sich.“ Sich an die
wandelbare Natur zu erinnern, ist weniger gefährlich; es wird dasselbe beschrieben, man macht sich aber
weniger Illusionen dabei. Es geht um die unmittelbare Erfahrung, und der Verstand ist nicht die ideale Hilfe
dabei.
Teilnehmer: Aber ist es nicht auch ein Prozess in der Meditation, auf der einen Seite die Identifikation, auf
der anderen Seite zu wissen, das ist abhängiges Entstehen? In der Meditation immer weiter weg zu kommen
von der Identifikation bis ich einmal den Punkt erreiche, wo ichwahrnehme, dass es abhängiges Entstehen
ist?
Du versucht jetzt, Dir das etwas schematisch darzustellen. In der Identifikation tauchen manchmal Erinne-
rungen auf: „Das ist doch eigentlich abhängiges Entstehen, es ist nicht-fassbar...“ Im Greifen kommen
manchmal Weisheitskräfte zum Zug, und das ist weniger ein Prozess von hier nach da sondern das Greifen
lässt nach, wenn wir gewahr werden, dass es da nichts zu greifen gibt. Es ist nicht so, dass wir uns woanders
hinbewegen, aber im Erleben – z.B. bei Kopfschmerzen – greifen wir zunächst stark, und dann rufen wir uns
mit Verstand zur Raison und sagen: „Hey, da sind Bedingungen, die wirken gerade so! Mach nicht noch ei-
nen Extra-Film daraus. Lasse es, wie es ist; komm zu einer Dharma-Vernunft!“ Dadurch lässt das Greifen
nach.
Der Prozess, um den es hier geht, um sich nicht einfach über die Vernunft in eine Distanzierung zu bringen,
ist, das Erleben dessen, was wir Kopfschmerz nennen, direkt zu erfahren in seiner nicht-fassbaren Natur. Es
ist also nicht ein allmählicher Prozess, dass wir verstandesmäßig woanders hinkommen, sondern ein Prozess
des unmittelbaren Erfahrens. Es ist wichtig, dass wir uns das klar machen, denn der Verstand ist wirklich
nicht die ideale Hilfe, um das zu erfahren.
Betrachte das Wesen des Haftens an Nichtexistenz. Das ist ein wichtiger Hinweis. Man sagt sich z.B. „Du
meine Güte! Jetzt habe ich mich so mit Leerheit befasst, ich habe zehn Jahre lang Leerheit studiert“ und
merkt vielleicht, dass man daran haftet, dass alles Illusion ist. Und dann kann man auch einfach genau das
betrachten, genau dieses Erleben des Sich-überzeugen-Wollens von Leerheit und Illusion. Genau das ist ja
auch wieder ein Erleben im Geist, es macht überhaupt keine Ausnahme. Das wahre Wesen von Haften – egal
an was wir haften – ist die Natur des Geistes.
Dieser Rat wird jetzt jedes Mal kommen: Wir haben ein Problem und sagen „Igittigitt, schon wieder dieses
Haften!“ – dieses Leerheits-Haften, dieses Ich-Anhaften. Das Haften selbst hat die Qualität des Erwachens,
ist von der Natur des Geistes. Wir brauchen nicht woanders zu suchen oder zu meinen, wir müssten irgend-
wohin, um den Ausstieg woanders zu finden. Das jetzige Erleben, in dem jetzt das Greifen stattfindet, die
innere Diskussion existent – nicht-existent, genau die geistige Bewegung, die jetzt stattfindet: genau das
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
können wir in seiner Natur, in seinem wahren Wesen wahrnehmen. Nie woanders suchen!
Suche nie woanders nach der Lösung: Die Lösung findet sich im jetzigen Erleben.
Was immer wir erleben – egal wie verkrampft unser Geist ist –, ist von dynamischer, nicht-fassbarer Natur.
Es ist schon gelöst, in Bewegung. Das jetzige Erleben – auch wenn es Angst und Panik ist – ist von dynami-
scher Natur. Genau da, in diesem Erleben, können wir die Natur des Seins erfahren. Wir brauchen nicht wo-
anders zu suchen. Ins gelöste Sein hineinfinden ist nicht etwas Zusätzliches, sondern das, was wir ‚Sein‘ oder
‚Erleben‘ nennen, ist bereits ein Strom, ein strömendes Erleben. Es ist bereits so, und es reicht, eins zu wer-
den damit.
Teilnehmer: Manchmal habe ich intuitiv Bilder, die einfach auftauchen und dann sehr heilsam sind. Dann
klebe ich daran, „Wow, tolles Bild!“, und will es wieder haben.
Das nennt man ‚Haften an Klarheit‘.
Wenn ich stattdessen in die Energie gehe, die dieses Bild beinhaltet, dann bin ich doch eigentlich davon
weg?
Genau! Wenn Du das dann merkst, dann gehst Du in die Nachwirkungen, in das jetzige Erleben, in die Aus-
wirkungen des Erlebens von diesen Bildern, das gerade war, und damit bist Du wieder im Fließen.
Teilnehmer: Wenn ich meinen Geist oder meine Gedanken betrachte, dann hört das Denken auf, sobald der
Betrachter da ist. Da ist kein Fluss im eigentlichen Sinne. Da ist der Beobachter, der sieht, wie es so dahin-
plätschert und dem auffällt: Da ist vielleicht eine Meditation auf den Atem, oder was immer gerade ist. Und
dann kommen Gedanken, und man merkt: „Ah, da sind Gedanken“. Und dann guckt man wieder und dann
ist man wieder weg – es ist ein Wechsel. Das fällt für mich nicht unter den Begriff ‚jetziges Erleben‘.
Doch! Das möchte ich Dir gerade erleichtern. Was Du beschreibst, ist genau die Sackgasse der normalen
Sprache. Der Beobachter? Den gibt es gar nicht. Es findet Beobachten statt, es findet Greifen statt – das ist
Dein jetziges Erleben. Dass der Beobachter etwas tut? Nee! Da ist Beobachten. Wenn Du da rein gehst, dann
bist Du sofort wieder drin. Wenn Du beobachtest, ist Beobachten das jetzige Erleben, und das hat die Natur
des Geistes. Mach aus den Substantiven, die der Geist Dir vorgaukelt – dem Beobachter, dem Ich, dem ande-
ren Erleben – Verben, und Du bist sofort im Erleben. Das ist eine ganz wichtige Brücke. Es ist unglaublich,
was dieses Denken, da wäre ein Beobachter, mit uns macht. Dabei ist da einfach Beobachten. Das ist ja gar
nicht einer, das sind eben auch beobachtende Qualitäten, die sich da zeigen, und das ist nicht getrennt vom
Erwachen. Das Beobachten ist kein Fluch sondern auch nur eine Form des Erlebens. Wir brauchen nicht wo-
anders zu suchen.
Vom Dharma der Worte zum Dharma der Verwirklichung
Einigen von Euch scheint es gar nicht gut damit zu gehen, dass Euch die Buddhanatur geklaut wurde – eine
ewige, unveränderliche Buddhanatur. Da geht es genau um diese feine Linie, wie beim Glauben an einen
ewigen, unveränderlichen Gott. Wenn wir die Buddhanatur vergegenständlichen und denken „die gibt es“,
dann sind wir auf dem Holzweg.
Teilnehmer: Der Buddha hat im Mahāparinirvāṇa -Sutra gelehrt, dass der Tathāgata ewig ist, und das einzig
Beständige sind alle Eigenschaften, die aufgezählt werden. Das hat mir sehr geholfen und mit Vertrauen ge-füllt.
Das Mahāparinirvāṇa-Sutra Buddhanatur ist eines der wichtigsten Sutren aus dem dritten Drehen des Dhar-
ma-Rades. Es entstand aus der Ausgleichsbewegung zu Missverständnissen über Śūnyatā in den
Prajñapāramitā-Sutren. Dort wurde die Leerheit so betont, dass viele in dem Irrtum landeten, dass Leerheit
eine Art Nichtexistenz sei. Als Ausgleich und als Korrektiv dazu wurde dann betont, dass da durchaus ein
Gewahrsein bleibt: das Gewahrsein eines Buddhas ist eine Fülle von Qualitäten. Dieses Gewahrsein mit der
Fülle an Qualitäten nennt man Buddhanatur. Gewahrsein hat immer, wenn es von allen Schleiern befreit ist,
diese Qualitäten. Aber das Gewahrsein, die Buddhanatur kann man nicht finden.
Deswegen gibt es andere Sutren und Upadeśas – das von Vimalakīrti ist sehr bekannt geworden –, in denen
deutlich zum Ausdruck gebracht wird, dass es weder einen Buddha gibt, noch das Erwachen, noch die Bud-
dhanatur usw., weil all diese Vergegenständlichungen wieder denselben Fehler des Existenzglaubens ma-
chen. Die Buddhanatur, Tathāgatagarbha, die unveränderlich ist, sind die Qualitäten des Gewahrens, des
Prozesses des Bewusstseins, des Gewahrseins. Wenn dieser Prozess frei von Schleiern abläuft, hat er immer
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
die gleichen Qualitäten. Obwohl es Prozess ist, obwohl es nicht fassbar ist, obwohl man es nicht festlegen
kann, hat dieses prozesshafte Gewahren frei von allen Schleiern immer die Qualitäten von mitfühlender Re-
sonanz, von spontanem Eingehen auf Situationen, von durchdringendem, erkennendem Gewahren, usw., die
vielen Qualitäten der Buddhanatur.
Deswegen gibt es zwar keine Buddhanatur als etwas – schon gar nicht meine Buddhanatur – es gibt ein Ge-
wahren frei von Schleiern, das immer die Qualitäten eines offenen Gewahrens beinhaltet. Und das ist die
Fülle des Erlebens eines Erwachten. Das ist damit gemeint.
Teilnehmer: Ist nicht der offene Raum unwandelbar?
Es gibt ihn nicht. Raum ist nur ein Wort im Unterschied zu Objekt. Der offene Raum, z.B. Dharmadhātu, ist
kein Raum. Der Raum aller Phänomene, Dharmadhātu, ist dieses gesamte Sein, in dem sich ständig alle
Phänomene manifestieren. Er ist nicht ein Raum, den man durch Grenzen oder einen Mittelpunkt definieren
könnte, sondern eine Dimension des völlig offenen Seins, in dem sich alles ständig manifestiert.
Auch hier ist es das Problem des Benennens: Wenn wir etwas benennen – auch wenn es nur Qualitäten oder
Prozesse sind –, denken wir, das gäbe es dann. Ein gutes, in der Literatur oft verwendetes Beispiel hierfür ist
die Flamme. Wir nennen den Prozess von Licht, Wärme und Verbrennung ‚Feuer‘ oder ‚Flamme‘, und dann
denken wir, es gäbe die Flamme. Dabei gibt es nur den Prozess des Brennens, Leuchtens, Wärmens, all die
Qualitäten, die damit einhergehen. Die Flamme ist nie auch nur für den Bruchteil einer Sekunde dieselbe wie
vorher. Wir müssen klarkriegen, dass alles, was wir mit Worten beschreiben, eine Stabilität bekommt, weil
Worte ja verständlich sein müssen. Wenn ich heute ‚Flamme‘ sage, muss morgen auch noch verstanden wer-
den, was mit ‚Flamme‘ gesagt wird. Worte, Kommunikation brauchen Konstanz. Da die Worte nur Begriffe
sind, die vom menschlichen Geist erzeugt werden, haben sie eine hohe Konstanz. Aber das, was sie be-
schreiben, hat deswegen kein Stück an Beständigkeit gewonnen. ‚Mein Auto‘ ist in meiner Vorstellung mein
Auto, und das kann ich bis ans Ende seines Lebens sagen, aber leider verwandelt es sich die ganze Zeit, bis es nicht mehr mein Auto sein kann, weil es sich die ganze Zeit über verwandelt hat.
Wenn wir den Dharma richtig verstehen wollen, müssen wir den Schritt machen vom Dharma der Worte zum
Dharma der Verwirklichung. Der Dharma der Worte ist trügerisch und keine verlässliche Zuflucht, weil es
nur Worte sind. Der Dharma der Verwirklichung ist die eigentliche Zuflucht. Wir müssen verwirklichen, was
mit den Worten gemeint ist, dann können wir die Worte verwenden, wie wir wollen, und sie so benutzen, wie
die Situation es braucht; es sind ja nur Worte. Worte sind nur Methode, um etwas zu kommunizieren, sie sind
keine Wahrheit an sich. Das Erleben, aus dem heraus diese Worte gesprochen werden, nennt man auch
Dharmadhātu oder Dharmakāya. Aus diesem Erleben bei vollem Gewahrsein – diesem dynamischen, völlig
nicht-fixierten Sein; diesem offenen, fließenden, gewahren Sein bei voller Resonanz – drückt sich der Dhar-ma aus. An den Worten zu haften, ohne das Sein zu kennen, ist natürlich eine Sackgasse.
Der Dharma der Worte ist wie ein Floß, das wir benutzen, um zu praktizieren. Und diese Praxis, dank dieser
Instruktionen, führt uns ans andere Ufer. Wenn wir am anderen Ufer angekommen sind, nehmen wir das Floß
aber nicht auf den Rücken, sondern gehen frei weiter. Dann drückt sich der Dharma spontan aus. Dieses alte
Beispiel aus dem Pāli-Kanon weist darauf hin, dass Worte nie die Erfahrung sind. Worte sind in sich eine
Erfahrung, aber das, was sie beschreiben, wird dadurch nie wirklich beschrieben. Das, was wir beschreiben, ist immer Prozess, ist immer dynamisch. Es gibt nichts Statisches.
Gerade was Dharmadhātu und Dharmakāya angeht – ‚Raum der Phänomene‘ und ‚Wahrheitskörper‘ –, da
schleichen sich statische Vorstellungen ein. Deswegen spricht man von der ‚Untrennbarkeit der drei kāyas‘.
Kein Dharmakāya ohne Saṃbhogakāya und Nirmāṇakāya, immer sind Dynamik und Manifestation dabei.
Das gestaltete Erleben ist immer mit dabei.
Teilnehmer: Also gibt es gar nichts?
Mach mich nicht unglücklich! Es gibt alles und nichts hat Substanz. Das ist kein Leugnen von Existenz als solcher, sondern von Existenz aus sich heraus. Alles wirkt – wenn es wirkt, dann ist es auf eine Art.
Die Tendenz, einseitige Statements für sich zu nehmen und sich daran als das neue Wissen, das neue Ver-
ständnis festzuhalten, greift sehr schnell bei jedem von uns. Der Weg der Mitte, um den es dem Buddha und
allen Meistern geht, ist nicht ein Weg zwischen Extremen, sondern der Weg jenseits der Worte, jenseits der
extremen Vorstellungen von existiert – existiert nicht, usw. Es geht darum, ins unmittelbare Erleben zu
kommen. Darin löst sich das scheinbar Paradoxe auf. Wir können mit dem scheinbar Paradoxen in völligem
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Frieden sein. Nichts ist mehr ein Rätsel. – Das ist der Weg der Mitte, wo die Paradoxe total klar und offen-
kundig werden.
Teilnehmer: Das scheint mir so ungewiss zu sein. Bei ‚existiert‘ und ‚existiert nicht‘ habe ich etwas Festes, aber in der Mitte ist alles schwammig und macht mir Angst.
Damit hast Du den Finger darauf gelegt: Diese Unterweisungen machen Angst. Da lösen sich die vorher si-
cheren Bezugspunkte auf, und das erschreckt. – Falls es Dir zu viel wird, komm morgen nicht wieder. Man
muss sich auch ein bisschen schützen. Aber das ist genau das Thema, und tatsächlich sollte man nicht über
Leerheit, über das Sein ohne Bezugspunkte zu Menschen sprechen, die das überfordert. Es löst Panik aus,
wenn man auch noch gesagt bekommt, dass selbst das Erwachen nicht aus sich heraus existiert. Aber es
wirkt. Es ist wirksam, es ist effektiv als Prozess, als dynamisches, freies Sein. Das löst Panik aus und das
eigentliche Hindernis in der Meditation, der Grund warum wir noch nicht erwacht sind, ist, dass wir in Angst geraten, wenn sich uns die Natur des Seins beginnt zu zeigen; dann schrecken wir zurück.
Leerheit ist kein Gegenmittel
Wenn im eigenen Geist viele emotionale Trübungen, negative Gedanken und dergleichen erscheinen
und du nicht verstehst, dass das Aufzugebende [das emotionale Haften] wie auch das Heilmittel [das
Verständnis der Leerheit] leer sind, dann betrachtest du Emotionen als Feind und denkst: „Die rauben
mir die Befreiung! Ich muss sie mit der Leerheit besiegen!“ Auf diese Weise [d.h. mit ausgeprägtem
Fürwirklichhalten] Emotionen für das Aufzugebende und Leerheit für ihr Gegenmittel zu halten be-
deutet, Leerheit als Gegenmittel misszuverstehen. Erkenne die wahre Natur der emotionalen Trübung
oder des Denkens, welches das Aufzugebende und sein Heilmittel für verschieden hält, und verweile in
der Erfahrung [ihrer wahren Natur], ohne etwas zu blockieren oder zu erzeugen.
Gehen wir davon aus, dass wir schon freiere Geisteszustände erlebt haben. Wenn dann im eigenen Geist
emotional wieder viel los ist, wenn die emotionalen Trübungen – die Kleśas – wieder aktiv sind, wenn wir
plötzlich negative, schwierige Gedanken haben und dergleichen, dann kommen wir in Bedrängnis, wenn wir
nicht über eine durchdringende Einsicht verfügen. Die helfende Einsicht wäre, dass das Aufzugebende wie
auch das Heilmittel leer sind. Das Aufzugebende – pang dja auf Tibetisch – ist ein technischer Ausdruck
und bedeutet ‚das, was den Weg verstellt‘, ‚das, was wir hinter uns lassen‘. Damit ist hier die emotionale
Verstrickung gemeint. Die Emotionen, aus denen wir uns befreien möchten – die Kleśas – genauso wie die
Heilmittel, die wir für die Kleśas anwenden, sind beide von nicht-fassbarer, leerer Natur. Wenn man das wüsste, würde es einen überhaupt nicht bedrängen, dass emotional viel los ist im Geist.
Konzentrieren wir uns einmal auf das Verständnis, dass das Aufzugebende, das, was den Herzensgeist gerade
eng macht und verwirrt und verstrickt, leer ist. Das würde bedeuten, dass wir bei der jetzt vorhandenen Emo-
tion – Ärger, Begehren, Angst, usw. – erkennen, dass sie keine Substanz hat, auch wenn wir deutlich die
Auswirkung spüren. Ich merke, wie ich gerade ärgerlich, angespannt bin und in Wallung gerate: das sind
Wirkungen, aber ohne Substanz, nicht aus sich heraus existent. Wenn das mein Erleben ist, meine tiefe Ver-
wirklichung, dann kann sich der Ärger – oder jede andere Emotion auch – auflösen und seinen Weg gehen.
Es löst sich auf und ich brauche nichts zu tun.
Der Irrtum, Leerheit als Gegenmittel anzuwenden, würde bedeuten zu denken: „Okay, ich bin jetzt ärgerlich
– da ist Ärger – und ich brauche jetzt die Leerheit, um die Substanzlosigkeit der Emotion zu erkennen.“ Ich
bringe also die Leerheit ins Spiel – die Leerheit ist in dem Fall das Heilmittel für das, was aufzugeben ist. Ich
halte die Leerheit für das Wirkliche und bringe etwas wirklich Existierendes ins Spiel, um die Täuschung
aufzulösen. Dann vergegenständliche ich Leerheit und denke, die würde ich jetzt reinbringen: „Ich mache
das jetzt leer“.
Dabei ist die Emotion, der Ärger von seiner Natur her schon dynamisch und nicht-fassbar. Es geht nur da-
rum, das zu erkennen. Die Leerheit ist ja schon da, das ist ja die nicht-fassbare, dynamische Natur des Seins.
Wir brauchen sie nicht von irgendwoher zu importieren. Gegenmittel und Aufzugebendes sind nie getrennt:
im Erleben ist bereits der Schlüssel. Die Lösung findet sich im jetzigen Erleben! Wir brauchen kein Gegen-
mittel zu importieren. Wenn wir Leerheit in unser Erleben importieren – was Euch sicherlich schon passiert
ist –, sind wir ungefähr so unterwegs wie Don Quixote. Wir meinen, gegen etwas ankämpfen zu müssen, was
aus sich heraus schon auf dem besten Wege ist, sich zu befreien und aufzulösen – wenn wir nur endlich nicht
mehr fixieren.
Wenn wir nicht verstehen, dass Aufzugebendes wie auch Heilmittel leer sind, dann betrachten wir Emotionen
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
als Feind, so wie die Windmühlenflügel, und denken: „Die rauben mir die Befreiung. … Das sind Gegner der
Befreiung. … Diese Emotion darf nicht sein. Solange ich diese Emotion habe, kann ich nicht frei sein. Ich
muss sie mit der Leerheit besiegen. Ich nehme die Leerheit, und jetzt kriegt die Emotion einen auf den De-
ckel! Der werde ich es schon zeigen, der Emotion!“
Das ist ein völlig dualistisches Vorgehen. Es ist kein Erkennen der nicht-substanzhaften Natur der Emotion;
Emotion wird als Hindernis, als konkret existent betrachtet, und ich meine, ich müsse etwas tun mit der
Leerheit als meiner Verbündeten. Das passiert uns allen. Ich habe das auch so praktiziert. Es landet eigentlich
jeder in dieser Art zu praktizieren. Irgendwie versucht man's halt. Man versucht es mit seinem Verständnis,
dem Unliebsamen, das man gerade erlebt, den Garaus zu machen. Man nimmt quasi die Lanze der Leerheit
und galoppiert auf die Windmühlenflügel zu, als ob sie Feinde wären. – Und da sie sich so schnell drehen,
sticht man immer wieder ins Leere oder kriegt eine gewischt. Das mit dem Don Quixote ist nicht so ohne.
Wir meinen, wir würden die Lanze der Leerheit einsetzen, oder das Schwert der Weisheit. Solche Vorstellun-
gen haben wir, und bringen eigentlich etwas Externes mit hinein, statt zu sehen: „Entspann dich. Lass es wie
es ist, es löst sich von selbst auf. Das ist seine Natur, ich brauche nichts dafür zu tun.“ In dem Moment, wo
kein Greifen mehr da ist, im selben Moment ist die Emotion vorbei; nicht später – im selben Moment!
Teilnehmer: Ich glaube, dass in dem Moment, wo das Greifen weg ist, die Reibung weg ist. Aber die Emotion ist doch nicht weg?!
Es kann keine Reibung da sein, weil es die Emotion nicht gibt.
Solange ein Zustand dauert, solange dauert er.
Die Emotion braucht unser Haften, um da zu sein. Wenn diese Bedingung wegfällt, gibt es die Emotion nicht
mehr. Sie kann sich nur aufbauen und dauert nur solange, wie unser Für-wichtig-Nehmen, unser Haften, un-
sere Identifikation aktiv sind. Wenn das vorbei ist, gibt es sie nicht mehr. Es ist wie eine Flamme, die kein Öl mehr hat; sie ist weg. Die Bedingungen für das abhängige Entstehen der Emotion sind nicht mehr vorhanden.
Aus Eurer Praxis kennt Ihr ein Decrescendo, weil die meisten von Euch in der Phase der Shine-Praxis sind,
der Geistesruhe. Da nimmt das Haften an der Emotion langsam ab, und in demselben Maße merkt man, wie
die Nachwirkungen der Emotionen langsam abnehmen. Das ist Eure gegenwärtige Erfahrung. Wenn es aber
zu einem direkten, unmittelbaren völligen Loslassen kommt, ist im selben Moment von der Emotion nichts
mehr vorhanden. Das wünsche ich Euch sehr, und Ihr habt es vielleicht auch schon einmal erfahren, dass Ihr
mitten im Ärger plötzlich in Lachen ausgebrochen seid, weil eine wichtige Bedingung für den Ärger nicht
mehr da war. Vielleicht merktet Ihr in dem Moment, dass Ihr Euch völlig getäuscht habt. Da war etwas, das
den Ärger ausgelöst hat und plötzlich ist es weg. Dann brecht Ihr in Lachen aus, und es ist nichts mehr übrig
davon. Das ist nicht einmal das Sehen der Natur der Emotion, es ist einfach, dass sie in dem Moment keiner-lei Nahrung mehr erfährt.
Teilnehmer: Manchmal ist da eine bestimmte Befindlichkeit, da kann ich Gegenmittel anwenden so viel wie
ich will, und nichts ändert sich. Und dann ist auf einmal diese Befindlichkeit weg, obwohl ich nichts gemacht
habe.
Weil Du endlich aufgehört hast, etwas zu machen! Das ist ja der Grund. Es kann sich auflösen, weil Du nicht
mehr dagegen ankämpfst. Innerlich hat etwas aufgehört, was diese Emotion für wichtig nahm, für so wichtig,
dass Du sie beseitigen – oder nähren – wolltest. Sie ist aber endlich nicht mehr beachtet worden. Eine Emo-
tion, die nicht mehr genährt wird, fällt in sich zusammen und ist weg, weil die Bedingungen für ihr Entstehen
nicht mehr gegeben sind. Eine Emotion muss ja wachgehalten werden. Und solange wir gegen sie ankämp-
fen, halten wir sie wach.
Wenn man seinen Geist anderem zuwendest und untergründig auch nicht mehr daran festhält, ist man
manchmal überrascht: „Was war jetzt das wieder?“ Das geht mir ja auch so. Das ist, weil die Emotion nicht
mehr genährt wurde und keine Bedingung für ein weiteres Entstehen hat – abhängiges Entstehen. Wesentli-
che Bedingungen für ihr Entstehen sind weggefallen, also entsteht sie nicht mehr. Eine der wesentlichen Be-
dingungen, dass Emotionen weitergehen, sich immer wieder fortsetzen, ist, dass wir sie für wichtig halten.
Sie für einen Feind zu halten, ist ebenso eine Form, sie für wichtig zu halten, wie sie festzuhalten und haben zu wollen.
Teilnehmer: Das gilt ja genauso gut für positive Emotionen, die wir festhalten.
Ja, das geht in beide Richtungen. Hier sprechen wir über belastende Emotionen, Kleśas; andere Emotionen,
die Qualitäten des Seins sind, sind nicht damit gemeint. Die kommen umso mehr zum Vorschein, je mehr
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
man sich entspannt und loslässt. Also zum Beispiel nicht diese exuberante Freude, sondern ein heiter-
gelassener Seinszustand, der sich immer mehr zeigt.
Teilnehmer: Bei Negativität habe ich Hemmungen, sie durchlaufen zu lassen, einfach die Energien zu spüren,
weil ich denke, dass ich das mit Vajrasattva reinigen muss und nicht einfach so stehen lassen kann. Wann
macht man eine Reinigungspraxis? Es verlangt schon Mut, denn das erzeugt ja auch Karma.
Die Vajrasattva-Praxis ist als Praxis gedacht, uns mit dem Verständnis der Leerheit vertraut zu machen und
es uns zu ermöglichen, negative Gedanken, Gefühle, alles was uns eng macht, zu lassen; sich auflösen zu
lassen und zu merken, welcher Seinszustand eigentlich da ist, wenn wir uns nicht mehr identifizieren. Wenn
Du das im Alltag so machen kannst, wenn es so stattfinden kann in Dir, dann brauchst Du auch kein Mantra
rezitieren und keine Vorstellung zu bemühen. Diese Vorstellungen und das Mantra sind Brücken, um diesen
Prozess zu bewirken.
So stehen lassen, ohne Dich drum zu kümmern, ist aber etwas anderes. Eine Emotion, die Du einfach so ste-
hen lässt, die stark war, ohne dass Du in den Erkenntnisprozess hineingekommen bist, wirkt untergründig
weiter. Deshalb ist es gut, sich abends noch einmal hinzusetzen, sich noch einmal daran zu erinnern und sie in diesen Prozess des tiefen Erkennens hereinzuholen.
Auf diese Weise Emotionen für das Aufzugebende und Leerheit für ihr Gegenmittel zu halten, bedeutet, Leerheit als Gegenmittel misszuverstehen.
Erkenne die wahre Natur der emotionalen Trübung – d.h. die wahre Natur, die dynamische, sich selbst be-
freiende, nicht-fassbare Natur der emotionalen Verschattung – oder des Denkens, welches das Aufzugeben-
de und sein Heilmittel für verschieden hält. Das ist derselbe Hinweis wie vorhin, als es hieß: „Betrachte das
Wesen des Haftens an Nichtexistenz.“ Hier heißt es: „Betrachte die Natur des Gedankens, der meint, da wäre
ein Feind und eine Leerheit, die man bemühen müsste.“ Auch das, auch diese Impulse sind Erleben. Betrach-
te die Natur deines Don-Quixote-Seins. Wie fühlt es sich an, wie ist dieses Erleben, zu meinen man hätte da
einen Feind? Und genau das ist wieder der Eintritt in das befreite Erleben, genau dort kann es sich wieder
lösen. Auch das Denken, Emotionen seien Feinde und man müsse die Leerheit wie ein Schwert einsetzen,
sind bloß Geistesbewegungen. Sie sind keine Feinde, sie sind nicht etwas, wogegen man ankämpfen müsste. Man lässt auch das einfach, wie es ist, und erkennt auch die wahre Natur der Verwirrung.
Das wird jetzt immer wieder kommen, dass das Erkennen der wahren Natur der Verwirrung bereits die Praxis des Erwachens ist. Wir brauchen die Lösung nicht woanders zu suchen, sie findet sich im jetzigen Erleben.
Und dann, wenn das so ist, verweile in der Erfahrung – im jetzigen Erleben –, ohne etwas zu blockieren
oder zu erzeugen. Genauso wie der letzte Satz beim vorhergehenden Absatz: „Handle ungekünstelt.“ Bleibe
völlig ungekünstelt, ohne etwas mit Absicht zu tun, ohne irgendwelche Geistesbewegungen zu blockieren
und ohne irgendwelche Geistesbewegungen zu erzeugen. So einfach. Das was kommt, ist recht, und das was kommt, wird erlebt, wie es ist, und befreit sich von selbst. So einfach.
Das wird auch für uns immer einfacher. Diese erste Runde über Leerheit ist die intensivste. Jetzt klärt sich das Verständnis bereits, und es wird jetzt immer einfacher.
Nicht an Leerheit als höchstem Weg festhalten
Das ist eine Variante von dem, was im Abhidharma ‚Sicht‘ und das ‚Festhalten an Anschauungen/ Sichtwei-
sen‘ genannt wird.
Falls du denkst: „Leerheit ist der höchste Weg, Buddhaschaft zu erlangen. Sie zu verstehen ist der bes-
te aller Wege! Alle anderen Wege sind unterlegen!“ und verstehst dabei nicht, dass alle drei – Basis,
Pfad und Frucht – leer sind, dann lässt du den Methode-Aspekt außer Acht und missverstehst Leerheit
als Weg. Betrachte dann die wahre Natur des Gedankens, der an Leerheit als höchstem Weg festhält.
So wirst du sehen, dass alles Leerheit ist und dass es im Erkennen der Leerheit kein Besser und
Schlechter bei Aufzugebendem und Heilmitteln gibt.
In diesem Absatz sind viele technische Ausdrücke.
Leerheit zu erkennen ist der beste Weg. Prajñapāramitā, höchste Weisheit, das ist die Praxis, die uns die
Augen öffnet. Wo diese Weisheit nicht ist, ist es kein schneller Weg des Erwachens. Wenn wir dabei verste-
hen, dass Basis, Pfad und Frucht leer sind, nicht-fassbar, dann ist alles in Ordnung.
Was ist damit gemeint? Basis-Mahāmudrā, Weg-Mahāmudrā und Frucht-Mahāmudrā.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Basis-Mahāmudrā ist die sogenannte Buddhanatur, die Natur des Seins, so wie das Sein ist, wenn es unver-
schleiert ist. Man kann es auch den Dharmakāya nennen, das nonduale Ālaya, das nonduale Grundge-
wahrsein. Das, was in uns allen schlummert, was schon vorhanden aber noch nicht freigelegt ist. Der Weg ist das Freilegen dieser Grundnatur, das Freilegen der Buddhanatur in uns. Dieses dynamische,
freie, offene Sein mit all seinen Qualitäten wird allmählich von Schleiern, von Fixierungen befreit. Das ist
der Weg, Weg-Mahāmudrā. Und die Frucht des Weges, Frucht-Mahāmudrā, ist, wenn das gesamte Potenzial freigelegt ist.
Alle Etappen des Weges, alle Aspekte, die ich gerade genannt habe, sind Erleben. Wir erleben Schleier, wir
erleben das Freisein von Schleiern, wir erleben, wie sich die innewohnenden Qualitäten des Seins dynamisch
manifestieren und zeigen. Nichts von all dem ist und bleibt so. Nichts ist ein Ding, alles ist Prozess: Basis,
Weg, Frucht sind dynamisches Erleben; nichts ist dinglich. Das nennt man die Leerheit. Die Basis – die Bud-
dhanatur – ist leer, der Weg – die Praxis – hat keine Substanz und ist nicht ein Weg, und die Frucht – Bud-
dhaschaft, wo sich die Buddhanatur als Buddhaschaft manifestiert – ist auch dynamisches Erleben. Ein Bud-
dha hört nicht auf zu erleben, bloß weil er Buddhaschaft erlangt. Dieses Erleben, das wir Buddhaschaft nen-
nen, ist ein dynamisches Sein – bei Shakyamuni hat das noch 45 Jahre in diesem Körper, in diesem Leben
gedauert. Dynamisches freies Sein, das wir von außen ‚Buddhaschaft‘ nennen. Aber das ist nur ein fixer Be-
griff für ein dynamisches Erleben. Ganz wichtig!
Wo ist da der Weg? Wenn die Basis – Buddhanatur – und die Frucht gleich sind, dann ist der Weg das Erwa-
chen zu dem, wie es ohnehin schon ist. Und das ist kein Weg: Es ist kein Gehen von A nach B, es ist eine andere Form des Erlebens desselben Seins, ein Erleben frei von Schleiern.
Das heißt, wenn wir Leerheit als den höchsten Weg bezeichnen, dann widersprechen wir uns quasi selber.
Die Leerheit als solche gibt es nicht, aber ein Verstehen, dass das Erleben nicht fassbar ist und trotzdem
wirkt, das gibt es. Wenn ein Moment des Erkennens von Śūnyatā, Leerheit, da ist, dann ist das das Erwachen
– es muss nicht das vollständige Erwachen sein, aber das ist Erwachen. Erwachen findet immer nur im jetzi-
gen Erleben statt, nie als Weg. Wenn Śūnyatā da ist, dann wird das Erleben erlebt wie es ist: als nicht-fassbar,
nicht substantiell, dynamisch, mit all seinen Qualitäten. Das ist ein Sein, eine Form des Erlebens. Es gibt
nicht ein bisschen Śūnyatā, und dann ein bisschen mehr, und dann noch ein bisschen mehr. Es kann kein Weg
sein. In dem Moment, in dem sich Śūnyatā zeigt, ist es ein Moment von Dharmakāya, ist es ein Erwachen.
Und es heißt in allen Beschreibungen, dass sich diese Momente des Erwachens bis hin zur Buddhaschaft
nicht voneinander unterscheiden. Das Erleben ist immer gleich; es gibt nicht einen Weg, wo das Erwachen
noch besser wird. Śūnyatā ist kein Weg. Śūnyatā zu erkennen, ist erwachtes Erleben. Das heißt, zu sagen:
„Leerheit ist der höchste Weg, der beste aller Wege“ ist ein Missverständnis, wo wir Leerheit für einen Weg halten.
Dabei lässt du den Methode-Aspekt außer Acht. Der Methode-Aspekt ist das Gestaltende. ‚Methode‘ bedeu-
tet hier das, was wirkt: die Wirkkräfte, das Gestaltende. Wenn es erwachtes Gestalten ist, dann nennt man das ‚Gestalten aus Mitgefühl‘, den Mitgefühls-Aspekt.
Der Methode-Aspekt ist immer auch mit der relativen Wirklichkeit verbunden: Kräfte wirken und haben
Auswirkungen. Wenn du den Methode-Aspekt außer Acht lässt, dann ist dir nicht bewusst, dass leeres Sein
ein dynamisch gestaltendes Sein ist. Du meinst es sei leer, dabei ist es tatsächlich, wenn der Geist frei ist, ein mitfühlendes Gestalten, ein Gestalten frei von Ichbezogenheit.
In einer anderen Bedeutung lassen wir den Methode-Aspekt außer Acht, wenn wir andere buddhistische We-
ge auch noch abwerten und aus mangelndem Mitgefühl nicht verstehen, dass alle ihren Sinn haben. Dass es
hinführende Unterweisungen sind, die Praktizierenden als Methode ermöglichen, allmählich in dieses Ver-
ständnis hineinzuwachsen. Beispiele für diesen mitfühlenden Methode-Aspekt der Dharma-Unterweisungen
sind, dass eine dreifache Zuflucht gelehrt wird, obwohl es doch eigentlich das Erwachen selbst als Zuflucht
gibt; dass Mitgefühl gelehrt wird, obwohl es eigentlich doch nur um Śūnyatā geht, dass Hingabe und andere
Wege gelehrt werden…
Teilnehmer: Also gibt es Basis, Weg und Frucht eigentlich gar nicht? Denn eigentlich ist es ja gleich. Dann braucht man keine Dreiteilung.
Eigentlich ist es gleich; für die, die es verstehen, braucht es keine Dreiteilung. Dann kommt aber die Frage:
Wenn es nicht verschieden ist, warum bin ich dann noch nicht erwacht?
Weil ich es glaube.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Ja, ja, und dann fängt man wieder an: Weil Du jetzt gerade glaubst – und das ist ein Schleier –, dass Du es
nicht bist; weil Du Dinge für wirklich hältst; … Und dann kommt die Erklärung dazu. … Dann denkst Du:
„Ja, und wie komme ich jetzt in das Erwachen?“ … Dann wird der Weg erklärt. So entsteht das, so logisch.
Obwohl schon alles da ist und das Potenzial voll da ist und wir nichts hinzuzufügen brauchen, ist es doch so, dass es noch nicht aktualisiert ist. Es ist noch nicht ganz da. Deswegen gibt es die Methode-Unterweisungen.
Teilnehmer: Wirkt das auch unbewusst? Wenn ich das gar nicht weiß, darüber höre und nicht verstehe, dann
geht es ja doch weiter.
Vieles, das wir jetzt nicht verstehen, wirkt unbewusst weiter und wird allmählich ins Bewusstsein kommen. Wenn wir ein bisschen Raum schaffen, dann kommt das Nächste ins Bewusstsein.
Betrachte dann die wahre Natur des Gedankens, der an Leerheit als höchstem Weg festhält. Der Glaube,
dass Leerheit das Wichtigste ist und das Höchste und Wunderbarste, ist auch wieder nur eine Geistesbewe-
gung, eine Form des Erlebens und hat ebenfalls die Natur des Erwachens, ist ebenfalls ohne Substanz. Wir brauchen auch diesen Gedanken nicht fortzujagen, sondern nur zu durchschauen.
So wirst du sehen, dass alles Leerheit ist und dass es im Erkennen der Leerheit kein Besser und Schlech-
ter bei Aufzugebendem und Heilmitteln gibt. Es gibt kein Besser und Schlechter bei dem, was aufzugeben
ist, was Philosophien und Emotionen angeht, gibt es im Hinblick auf ihre Leerheit kein Besser und Schlech-
ter. Ob wir Ärger oder Begierde in ihrer Natur durchschauen, ist völlig egal, was ihre wahre Natur angeht,
gibt es kein Besser und Schlechter. Ob wir sehen wie leer die Freude ist oder wie leer die Trauer ist; was das
angeht gibt es keinen Unterschied. Die Auswirkungen dieser Geistesbewegungen sind unterschiedlich, aber
nicht ihre wahre Natur.
Das ist Heilmittel – es gibt bei den Heilmitteln auch kein Besser und Schlechter. Alle Heilmittel, alle Dhar-
ma-Methoden, alles was uns gut tut, hat zwar unterschiedliche Auswirkungen – deshalb sind sie auch unter-schiedliche Methoden –, aber in der Essenz sind sie gleich: gleich, unfassbar, dynamisch, usw.
Teilnehmer: Könnte es sein, dass es so kompliziert ist, weil ich nicht freundlich genug mit mir bin?
Ja, das könnte sein. Du hast da gerade einen interessanten Weg genommen. Ich nehme das nun auf und emp-
fehle Euch allen, ganz freundlich mit Euch zu sein. Vieles, was Euch jetzt so kompliziert erscheint, löst sich,
wenn Ihr Euch selber wohlwollend sagt: „Irgendwo in mir gibt es sicher etwas, das das jetzt schon versteht,
das jetzt schon erahnt, was hier gemeint ist! Ich mache mir jetzt keinen Stress, das alles Wort für Wort ver-
stehen zu wollen. Ich versuche, das Gefühl mitzukriegen von dem, was da gemeint ist.“ Es geht ja immer
wieder um dasselbe, und dieses Wohlwollen sich selbst gegenüber könnte bei solchen herausfordernden Un-
terweisungen sehr hilfreich sein.
Ich habe nicht genau zugehört, was Du gesagt hast, aber gleichzeitig ist mir gekommen, dass sich manchmal
die Sachen nicht auflösen, weil ich zu wenig freundlich bin – nicht den Gedanken gegenüber sondern mir
gegenüber.
Fast, als würde man sich nicht erlauben, glücklich zu sein. Man darf es noch nicht verstehen, und dann noch der Vorwurf: „Warum verstehe ich das noch nicht?“
Lasst uns noch ein paar Atemzüge verweilen! Öffnet eure Rauch-Abzugshaube ganz weit.
Meditation – Mit Sinneseindrücken und Geistesbewegungen verweilen
Lasst uns zunächst ein wenig verweilen … gewahr, wie in allen Sinnesfeldern – sei es im Hören, im Sehen,
Riechen, Schmecken, Körper-Spüren oder im mentalen Sinn, im Wahrnehmen der inneren Bewegungen –
unaufhörliches Erleben stattfindet. – Dabei können wir bemerken, wie die Aufmerksamkeit mal mehr in dem einen Sinnesbereich ist und dann
wieder in einem anderen. Mal ist da Hören, mal Sehen, mal Fühlen, … und so gestaltet sich unser Erleben,
indem mal das eine wichtiger ist, mal das andere. – Manchmal kommen Kommentare, … verschiedene Geistesbewegungen, die ineinander fließen. – Manchmal kommt es uns so vor, als ob immer Neues entstehen würde; … und manchmal mag es vorkom-
men, als würde ständig alles vergehen. – Eigentlich ist es einfach kontinuierliches Erleben, ein kontinuierliches Strömen. – Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf eine dieser vielen Bewegungen lenken – z.B. auf die Atemerfahrungen
–, und ganz bewusst beim Einatmen mit den Erfahrungen des Einatmens sind und dann mit den Erfahrungen
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
des Ausatmens, dann werden die ganz deutlich und präsent im Geist und alles andere tritt zurück. … Wenn
wir diese Aufmerksamkeit dann wieder lockern, uns wieder fürs Hören, Sehen usw. öffnen, dann gleitet die-
ses Erleben wieder zurück in den allgemeinen Strom der vielen verschiedenen Sinneserfahrungen. – So können wir jederzeit unsere Aufmerksamkeit, unser Interesse auf einen x-beliebigen Bereich unseres Er-
lebens richten, und der wird dann ganz zentral. Er nimmt viel mehr Raum ein als alles andere. – Wenn wir z.B. ins Hören gehen und uns vornehmen, auch die feinsten Geräusche zu hören … dann kommt es
uns so vor, als würden wir nur noch hören. – Mit dem emotionalen Erleben ist es ganz genauso. Etwas zieht unser emotionales Interesse an und wird ganz
groß, ganz deutlich. … Es ist keineswegs statisch. Wenn wir zum Beispiel an einen geliebten Menschen den-
ken, so ist das auch ein dynamisches Erleben, und wir merken, wie wir unser Interesse daran wach halten. – Es kann sehr deutlich werden, sehr groß, sehr präzise … und dann können wir unsere Aufmerksamkeit wie-
der anderem zuwenden. … Und es wird offenkundig, dass dieses emotionale Erleben nicht aus sich heraus
bleiben kann. Es braucht unser Interesse, unsere Aufmerksamkeit. – Wenn wir unsere Aufmerksamkeit dann nicht auf die Inhalte unseres Erlebens richten sondern auf die Quali-
täten, die Eigenschaften unseres Erlebens – z.B. auf die fließende Natur unseres Erlebens –, dann ist es ei-
gentlich ganz egal, was wir erleben, wir sind mit dem Wie verbunden, wie sich das Erleben vollzieht. … Eine
unglaubliche Dynamik in allen Sinnesfeldern. – Wie ist es, voll und ganz in diesem Erleben zu sein? – Gibt es da irgendwo etwas Konstantes? – Wenn jetzt ein Ärger auftauchen würde: Könntet Ihr sehen, dass es sich um eine momentane Fixierung han-
delt? – Ihr könnt es ja mal versuchen, indem Ihr einfach mal an etwas Ärgerliches denkt. … Wie stark könnt Ihr den
Ärger machen und immer noch loslassen? – Die Fähigkeit zu lassen muss der Intensität des Ärgers gewachsen sein. – Und dann lassen wir es ganz los. Vorher waren wir nicht ärgerlich, wir brauchen es auch jetzt nicht zu sein. –
* * *
Erzeugen und Lassen
Wenn wir das so in der Meditation erforschen, ist es wie eine Miniaturausgabe unseres normalen Erlebens.
Es kann aber – wenn wir stabil damit verweilen können –, recht intensiv werden. Was auch immer wir ins
Zentrum unseres Interesses nehmen kann sehr groß, sehr intensiv werden. Dann kann es sein, dass uns eine
Erinnerung an etwas Angenehmes oder Unangenehmes erwischt, der wir voll auf den Leim gehen und es
dann gar nicht mehr schaffen loszulassen.
Man übt das in Abwägung der eigenen Fähigkeiten: ankurbeln des emotionalen Fixierens und lassen, wieder
fließen lassen, um diese Fähigkeit zu stärken. Das ist es, was es braucht, auch jetzt: Ich muss mich auf etwas
konzentrieren. Aber es braucht die Fähigkeit, sofort wieder loslassen zu können. Das müssen wir üben. Es
geht darum, die Aufmerksamkeit ausrichten zu können, ohne darin gefangen zu werden, ohne dass es uns
einfängt und uns total wirklich vorkommt – quasi beim inneren Film den Fokus ganz scharf stellen, sodass
wir die Details wahrnehmen. Dann entstehen emotionale Reaktionen, und hier geht es um die Fähigkeit, auch
tatsächlich sagen zu können: „Jetzt wieder auf weit stellen.“ – Alles andere auch wahrnehmen und das Ganze
perspektivisch zurechtrücken lassen.
Um loslassen zu können, hilft es, den Blick darauf zu richten, wie das Erleben ist, und nicht nur darauf, was
da im Fokus ist. – Wie ein Film, wie ein Traum, dynamisch, wandelbar, Ausdruck unseres Interesses, unserer Ausrichtung.
Das würde bedeuten, ein wenig die Leerheit zu verstehen, dieses sich Wandelnde, Dynamische ohne etwas
Fixes, Solides. Man nennt das auch ‚ohne ein Selbst‘ ohne etwas Bleibendes, was dieses Erleben im Kern
ausmachen würde. Man sagt auch ‚ohne Wesenskern‘. Den Blick darauf zu richten, ob da etwas zu finden ist
oder nicht, macht uns allmählich mit der Natur des Seins vertraut. Es ist ein Forschungsprozess, in dem wir
dann immer mehr Vertrauen entwickeln: „Da hinein kann ich ja loslassen, ich brauche nichts zu kontrollie-
ren, das vollzieht sich ja tatsächlich von selbst. Ich brauche ja gar nichts aufzulösen.“ – Was sich löst, ist nur
der Fokus. Ich brauche gar nichts aufzulösen, alles entwickelt sich von selber weiter, und es hängt einfach
davon ab, wie stark ich die Dinge im Fokus halte. Während ich etwas im Fokus halte, nähre ich genau das ja
weiter und je nachdem, wie stark der Fokus ist, wie stark die Bedeutung ist, mit der ich es fülle, komme ich
damit ins emotionale Schwingen. Das kann man lernen, damit kriegt man eine große Fähigkeit der Selbst-steuerung: selbst zu steuern, wie stark oder wie wenig man in bestimmte Prozesse hineingeht.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
All diese Prozesse sind von derselben Natur, es gibt da kein Besser oder Schlechter. Starker Ärger, kleiner
Ärger, große Freude, kleine Freude. – Das ist so, als ob wir durch eine Bildergalerie gehen würden oder ver-
schiedene Filme in unseren DVD-Spieler einlegen. Der eine gefällt uns, der andere nicht. Das eine Bild ge-
fällt uns, das andere nicht, das eine ist dunkel, das andere hell. – Das ist nicht so erheblich.
Daraus ist unsere Welt gemacht, das ist, was wir unser Leben nennen; unser Leben mit unseren Sorgen, über
die wir uns manchmal beklagen, unser Leben mit unseren Freuden, an denen wir manchmal hängen und dann
traurig sind, wenn sie vorbei sind. Das sind unsere Filme, und es ist eine Frage von Fokus, für wie wichtig
wir sie nehmen, wie stark wir bestimmte Haltungen und Reaktionen nähren. Keine dieser Haltungen, Reakti-onen, Emotionen hat Substanz, alles hat dieselbe dynamische Natur.
Eigentlich geht es bei dieser ganzen Lehre der Leerheit darum; nichts Fixes, nichts Solides, kein Wesenskern.
Wenn wir das mehr und mehr erfahren, könnten wir in den nächsten Fehler verfallen, der hier beschrieben
ist: den Erfahrungen die Leerheit als Stempel aufdrücken. Ihr kennt vielleicht Leerheits-Mantren, wie „Om
Sobhawa shuddha sarwa dharma ...“, in denen dieses Gewahrsein speziell kultiviert wird.
Leerheit nicht als Stempel aufdrücken
Wer einfach allen Phänomenen mit einem Mantra oder mit einer intellektuell fabrizierten Leerheit,
die er nicht erfährt, den Stempel der Leerheit aufdrückt, indem er denkt „Alles ist Leerheit“, oder
„Wenn doch alles leer ist und nichts was auch immer existiert, was sollen da bedingte heilsame Hand-
lungen?“, der missachtet Ursache und Wirkung von Handlung und missversteht Leerheit als Abstem-
pelung. Schaue in diesem Fall direkt auf den Gedanken „Das ist leer“, erkenne seine wahre Natur und
lasse ihn gerade so, ohne an seine wahre Natur zu denken.
Das ist ein wenig so, wie Leerheit als Gegenmittel zu missbrauchen. Wir haben vielleicht gehört, dass
‚Mahāmudrā‘ das großes Siegel bedeutet – Mahā bedeutet groß, und eine Bedeutung von mudrā ist Siegel:
das Große Siegel der Leerheit. Dann denken wir: „Ja, das Siegel der Leerheit! Das bringe ich jetzt an! Alle
Phänomene, die in meinem Geist auftauchen, kriegen den Stempel der Leerheit“. Das ähnelt der Praxis des
Benennens, einfach immer nur zu sagen: „leer“, „leer“, „leer“. Das ist aber nur ein Abstempeln: erledigt, er-
ledigt, erledigt, erledigt … und wir haben die Leerheit in dem Moment nicht erlebt. Es taucht etwas auf, das
wollen wir erledigen, uns nicht weiter damit befassen und stempeln es ab als leer. Aber haben wir es tatsäch-lich als leer erlebt?
Es als leer zu erleben würde bedeuten, seine dynamische Natur erlebt zu haben – dann braucht es keinen
Stempel mehr. Die dynamische, substanzlose Natur des Erlebens ist so offenkundig, dass es nicht noch je-
manden braucht, der ein Mantra spricht oder der sich sagt: „Das ist leer“. Das ist völlig überflüssig und
macht keinen Sinn mehr, denn das Erkennen der substanzlosen Natur des Erlebens hat schon stattgefunden.
Wenn wir in uns merken, dass wir diese intellektuell fabrizierte Leerheit mit einem Mantra belegen – und sei
es nur „OM MANI PEME HUNG“ –, so ist das auch nur wieder der Versuch, sich zu distanzieren, während
man das Erleben noch für wirklich hält. OM MANI PEME HUNG ist zwar kein spezielles Leerheitsmantra,
wird in diesem Fall aber eingesetzt, um sich von etwas zu entledigen. Das ist eine Art, wie man ein Mantra
missbrauchen kann. Es ist verständlich, nicht tragisch – auch das ist leer und hat keine Substanz –, aber es ist
nicht das Erkennen dessen, wie es ist.
„Wenn doch alles leer ist und nichts was auch immer existiert, was sollen da bedingte heilsame Handlun-
gen?“ Heilsames Handeln bedeutet, sich und anderen Gutes zu tun: heilsam kommunizieren, freigebig sein,
usw. Das nennt man bedingt, weil es noch mit einem dualistischen Geist ausgeführt wird. Freigebiges Han-
deln ist selten frei von dem Gefühl, dass ich etwas tue. Wenn das heilsame Handeln nicht mehr bedingt ist
durch die Subjekt-Objekt-Beziehung, dann ist es wirklich erwachtes heilsames Handeln, dann ist es Handeln
ohne das Gefühl von Mittelpunkt.
Wenn ich mich jetzt so intensiv der Leerheit zuwende, dann ist das das Bedürfnis, in diesen Bereich des
Nicht-mehr-Bedingten, des Nicht-durch-Umstände-Bedingten hineinzufinden, in den non-dualen Raum.
Damit geht oft ein Abwerten des bedingten Seins einher, des Seins in den Beziehungen der wechselseitigen
Abhängigkeit, wo es sehr wichtig ist, freigebig, liebevoll, mitfühlend zu handeln. Wo es wichtig ist, respekt-
voll zu sein, offen zu sein, zu kommunizieren, sich die Mühe zu machen, kleine Dinge zu tun – zu kochen,
zu putzen, arbeiten zu gehen, sich um Kinder und Eltern zu kümmern … Wer fabriziert über die Leerheit
meditiert, der neigt dazu, das alles abzuwerten: „Oh, das Leben ist so anstrengend, so nervig. Das bringt es
doch gar nicht. Das ist doch alles nur im Bedingten. Ich möchte das Nicht-Bedingte, das Transzendente, das
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Eigentliche verwirklichen“.
Das zeigt, dass man die Natur des Seins nicht einmal ein bisschen verwirklicht hat. Je mehr wir die Natur des
Seins verstehen, desto leichter fallen uns die bedingten Handlungen, weil sie ja keine Substanz haben. Wer
pflegt da wen, wenn wir die Eltern oder Kranke pflegen? Wer ist da freigebig? Es geht alles so leicht von der
Hand, weil man sich selbst für nicht so wichtig nimmt. In diesem Bedürfnis, alles ins Spirituelle, ins Trans-
zendente zu holen, ist eine unglaubliche Ichbezogenheit. In diesem Abstempeln der Phänomene als leer, sie
leer machen zu wollen, ist eine unglaubliche persönliche, ichbezogene Anstrengung. – Sie leermachen wol-len statt zu sehen, dass sie das schon ohne unser Zutun sind.
Wenn man diese Belehrungen hier vom Standpunkt der Ichbezogenheit aus sieht, dann ist es für die Ichbezo-
genheit ziemlich frustrierend: Es gibt nichts zu tun! Wir sind arbeitslos auf dem Weg des Erwachens. Wir
wollen doch immer etwas tun, aber das befreit sich alles von selbst. Wir sollten vielleicht einmal aufhören, es
zu verhindern. Die Botschaft ist: Lass es doch mal! Schau einfach, wie es ohnehin schon ist. Tu nicht immer
noch etwas extra. Einfach hinfühlen, hinschauen. Und es geht ganz leicht.
Wenn wir erfahren, wie leicht es ist, dass alles tatsächlich von selber strömt, dann können wir uns entspan-
nen. Es sind nur kleine Wechsel im Fokus, die bewirken, dass das eine mehr in den Vordergrund kommt und
das andere mehr zurücktritt. Es hängt einfach davon ab, was man für wichtig hält und was nicht, was man für
real hält und was nicht, ob Emotionen entstehen oder nicht. Wenn wir das erkennen, können wir entspannen.
Wir merken, wenn wir gerade angespannt sind und uns verstrickt haben, und können es auch wieder sein las-
sen. Das ist unsere einzige Aufgabe: Es zu merken, und das, was überflüssig ist, sein zu lassen.
Das ist ungefähr so, als würden wir dafür bezahlt, der Natur zuzuschauen. Das reicht uns irgendwie nicht.
Wir wollen tun, wir wollen machen, wir wollen zum Erwachen, wir wollen uns anstrengen. Aber es reicht,
mitzubekommen, wie es ist, und eigentlich ist das ‚Zuschauen‘ ein schlechtes Beispiel, weil es noch diese
Distanz aufbaut. Stellt Euch also vor, wir würden dafür bezahlt, einfach zu sein, gelöst zu sein. „Wie lang-
weilig!“, würden die meisten von uns sagen. Deswegen kommt die Botschaft so schlecht an, und ich muss
ein bisschen übertreiben, damit sie ein bisschen mehr ankommt. Das Schwierige ist, dass es so wenig zu tun
gibt. Es geht nur darum, wach zu sein, wach zu sein für das Erleben, im Erleben. Alles andere vollzieht sich dann, die Erkenntnisprozesse finden dann von selber statt.
Wenn wir also bemerken, dass wir Leerheit als Abstempelung missbrauchen: Schaue in diesem Fall direkt
auf den Gedanken „Das ist leer“…
Wenn es passiert, dass wir sagen: „Ah ja, das ist ja auch leer“, dann kommt als nächste geistige Bewegung:
„Ah ja, … ah ja“, schon vorbei. Ich brauche nicht einmal gegen diese Fehlhaltung vorzugehen, auch sie löst
sich gerade auf. Ich brauche nichts zu tun. Da ist momentan so ein Benennen gewesen, egal wie hilfreich oder nicht hilfreich es war; es ist überflüssig jetzt damit weiterzumachen. Es geht noch einfacher.
… erkenne seine wahre Natur – die wahre Natur des Gedankens – und lasse ihn gerade so, ohne an seine
wahre Natur zu denken. Dieser Nachsatz von Karmapa ist auch interessant: Wenn wir dann erfahren, wie
einfach es ist, dann denken wir nicht mehr darüber nach, wie einfach es ist, in der wahren Natur zu sein.
Auch das ist völlig überflüssig. Auch das entspannen wir. Also wir kultivieren nicht einmal das begriffliche
Nachempfinden der Erkenntnis. Wir lassen es einfach wie es ist. Nicht einmal im Nachhinein wird begriff-
lich noch eine wahre Natur unterstrichen: „Jetzt habe ich es aber gesehen, es war wirklich leer!“ Auch das lassen wir. Es ist noch weniger kompliziert als das.
Wir können es also noch einfacher machen: Nichts ist eigentlich verkehrt an all dem, aber wir können es
immer noch einfacher lassen.
Solche Formen intellektuell fabrizierter Leerheit sind aber nicht unter allen Umständen unangemes-
sen.
Es gibt also tatsächlich Umstände, in denen intellektuell verstandene oder fabrizierte Leerheit etwas Hilfrei-
ches sein kann.
Wenn Anfänger, die sich noch nicht mit dem Verstand [an die Leerheit] gewöhnt haben, bereits zu Be-
ginn die Leerheit [mittels solch direkter Unterweisungen] gelehrt bekommen, so können sie diese nicht
verstehen. Wenn sie jedoch bereits [intellektuell] damit vertraut sind, werden sie die Leerheit schließ-
lich auch von innen heraus verstehen. So hat auch die vom Intellekt konstruierte Leerheit ihre Berech-
tigung. Doch letztendlich sind intellektuelle Vorstellungen ein Missverständnis von Mahāmudrā und
müssen daher vermieden werden.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Das würde denen entsprechen, die hier im Raum sind und denken: „Es wäre gut, wenn der Tilmann aufhören
würde, über Leerheit zu sprechen“. Das kann ich total nachempfinden, mir geht es genauso. Es ist Pflicht-
programm, keine Kür: Ich muss das mit Euch durchsprechen. Es ist für diejenigen, die mit Hilfe der Worte
etwas besser verstehen können. Es ist der Intellekt, der versteht, und den setzen wir ein. Wenn Worte benutzt
werden, wird immer zuerst der Intellekt angesprochen; dann schaltet es in tieferes Erleben und wir beginnen,
hinter den Worten mit ‚etwas‘ Kontakt aufzunehmen. Diese intellektuelle Beschäftigung mit der Leerheit ist
hilfreich, um zu ermöglichen, in ein nicht-begriffliches Erleben zu kommen. Und darum geht es eigentlich. Wir dürfen also nicht beim Begrifflichen stehen bleiben.
Tatsächlich ist es so, dass das fast niemand erkennen würde, wenn keine Worte benutzt werden würden.
Wenn es keine Worte gäbe, die uns darauf hinweisen, dass der Schlüssel zum Erwachen in der dynamischen
Natur des Seins liegt, dann würden wir es kaum selber finden. Wenn die Worte aber ihren Zweck erfüllt ha-
ben, dann lassen wir sie. Wir lassen die Begrifflichkeit und nutzen sie nur immer wieder mal wieder, um uns zu erinnern oder zu inspirieren.
Die erwähnten vier Missverständnisse sind Hindernisse. Achte also darauf, was zu lassen und was zu
kultivieren ist, und lasse in diesem Zustand den Geist ohne Analyse ungekünstelt auf allem ruhen, was
auftaucht.
In jedem Abschnitt gibt es etwas zu lassen und etwas zu kultivieren. Das Vorangehende lassen wir und den Rat am Ende jedes Abschnittes beherzigen wir und setzen ihn um, zum Beispiel:
Handle ungekünstelt. Verweile in der Erfahrung, ohne etwas zu blockieren oder zu erzeugen. Sieh, dass es im Erkennen der Leerheit kein Besser oder Schlechter bei Aufzugebendem und
Heilmitteln gibt. Erkenne seine wahre Natur und lasse ihn gerade so, ohne an seine wahre Natur zu denken.
Unsere unterscheidende Weisheit ist also soweit geschult, dass wir merken: „Ah, dies ist nicht so hilfreich,
und das ist hilfreich“. Diese vier Abschnitte waren ja so geschrieben, dass erst die Fehlhaltung beschrieben
wird und dann die hilfreiche Haltung. Das müssen wir innerlich klarkriegen, dann sind wir selber gute Lamas für uns selbst.
Also, wir achten darauf, was zu lassen und was zu kultivieren ist, und lassen in diesem Zustand den Geist
ohne Analyse ungekünstelt in allem ruhen, was auftaucht. Die Aufmerksamkeit ruht und verweilt in dem
Erleben.
Bewege dich nicht aus dieser Frische heraus, nimm keine angespannte Körperhaltung ein, kontrolliere
nicht den Atem, sondern bleibe gelöst, ohne irgendwelche Geistesbewegungen zu blockieren oder zu
erzeugen, zu vermeiden oder zu kultivieren – egal ob es heilsame, nicht-heilsame oder neutrale sind.
An nichts festzuhalten, was auch immer erscheint, und alles einfach sich selbst zu überlassen, das ist
der dritte Punkt.
Mit Frische hier ist nicht körperliche Frische gemeint, sondern die Frische, bereit zu sein für das Neue, im-
mer im frischen Erleben zu sein, ohne an dem zu hängen, was schon war. Immer ganz frisch und offen für
das, was jetzt gerade ist. Das wandelt sich ja. Das nennt man ‚Frische‘. Sie ist ein Ausdruck für Nicht-
Greifen. Wenn wir greifen, hängen wir an etwas fest, das gerade war und geben dem noch verstärkte Auf-
merksamkeit, und währenddessen vollzieht sich unser Leben, ohne dass wir viel davon mitbekommen. Unser
Erleben wird umso intensiver und frischer, je weniger wir greifen und je präsenter wir sind. Auch wenn wir
in die Zukunft gehen, verlieren wir unsere Frische.
Ohne irgendwelche Geistesbewegungen zu blockieren oder zu erzeugen bedeutet, alles darf sein. Das ist das unterschiedslose Zulassen aller Geistesbewegungen, egal ob sie heilsam sind oder nicht.
… und alles einfach sich selbst zu überlassen, das ist der dritte Punkt. Der dritte Punkt innerhalb des drit-
ten Teils. Deshalb oben im Titel: die Geistesbewegungen sich selbst überlassen.
* * *
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Pfingstsonntag
Der Heilige Geist; das hat doch mit den 3 bzw. 4 kāyas zu tun. Wenn sich der Heilige Geist zeigt, dann ist
das eigentlich eine Erfahrung der Trinität – im Christlichen. Gott Vater, Gott Sohn und der Heilige Geist.
Der Heilige Geist ist der kommunikative Aspekt. Das entspricht bei uns dem Saṃbhogakāya. Kommunikati-
on frei von Ichanhaften ist der Saṃbhogakāya, der Freudenkörper. Das hat was mit dem freien Fließen der
Energien zu tun, die sich über das Kehl-Chakra dann als Sprache ausdrücken. Wenn die Energien und damit
auch der Geist ganz frei, offen fließen, dann ist es möglich, aus der direkten Erfahrung der Wirklichkeit her-
aus zu kommunizieren, zu sprechen. Das ist echt Saṃbhogakāya.
Sambhogakāyas manifestieren sich auf dieser feinstofflichen Ebene. Wenn sich Buddhas als Sambhogakāyas manifestieren, dann ist es auf dieser feinstofflichen Ebene. Auf dieser Ebene finden auch die Visionen statt.
Die Dimension des ganz offenen, reinen Geistes ist der Dharmakāya. Christen würden sagen, das ist non-
duale Gotteserfahrung. Und die Manifestation in Fleisch und Blut ist der Ausstrahlungskörper, der
Nirmāṇakāya. Die Untrennbarkeit dieser Trinität ist der Svabhāvikakāya oder in dieser Erklärung hier der Dharmakāya.
Das kam mir jetzt gerade so, weil heute Pfingsten ist. Das muss damals eine überwältigende Erfahrung ge-
wesen sein; die Erfahrung dessen, was man im Nachhinein den ‚Heiligen Geist’ genannt hat, ein Sprechen
mit Zungen, ein Sprechen aus der Erfahrung; nehmen wir an aus der Erfahrung der Natur des Seins heraus,
das wäre der Saṃbhogakāya, der Freudenkörper. Wenn der Geist ganz offen ist, fließen auch die körperli-
chen Energien ganz frei und es ist möglich, dann Dinge auszudrücken, die man im normalen Sein nie sagen
könnte. Da spricht es durch einen hindurch. Das ist ein Phänomen, das in allen Kulturen bekannt ist. Es ist
nicht immer so, dass man dann wirklich im nondualen Gewahrsein ist, aber es ist ein Phänomen, das mit dem Freudenkörper verbunden ist.
Die Dimension, aus der man da schöpft, ist das, was wir Dharmakāya nennen. Wenn wir das übertragen wol-
len auf ein wirklich erwachtes mystisches Christentum, dann wäre das der Aspekt, den wir Gott nennen. Der
Heilige Geist wäre der Saṃbhogakāya. Was wir Gottes Kindschaft nennen, die Söhne und Töchter, die sich
in diesem Bewusstsein auf der Erde manifestieren, das würden wir Nirmāṇakāya nennen – Ausstrahlungs-
körper, die Manifestation in der Welt. Und die untrennbare Einheit, genauso wie das Dogma in der katholi-
schen Kirche, würden wir Svabhāvikakāya nennen. All dem ist immer vorausgesetzt: frei von Anhaften, frei
von dualistischer Identifikation. Da ist niemand, der sich als Subjekt fühlt und anderen mit Absicht eine Bot-
schaft überbringen würde, sondern das ist ein spontanes Erleben, ein spontanes Fließen der Kommunikation aus der Erfahrung des Seins heraus.
Wir haben keine Ahnung, was damals passiert ist an dem Tag, der heute mit Pfingsten gefeiert wird. Aber
wenn wir mal unterstellen, es könnte so etwas gewesen sein, dann war das schon etwas ganz Besonderes.
Dass man daraus etwas Einmaliges macht, ist eine andere Geschichte; das hängt mit Religionsgeschichte zusammen.
Aus buddhistischer Sicht sagen wir, das kann jederzeit passieren. Jederzeit kann unser Geist sich öffnen,
kann den Dharma ausdrücken, frei von Anhaften, und jederzeit können sich Erwachte in dieser Welt manifes-
tieren, die aus diesem Sein heraus leben. Das ist nicht gebunden an Religionen, Kulturen, Kontinente. Das
kann jederzeit überall passieren; speziell dort, wo es Bedingungen gibt, die für die Manifestation eines Er-
wachten, einer Erwachten in dieser Welt fruchtbar erscheinen. Dann entsteht ein Sog, ein Feld, das bereit ist, so etwas aufzunehmen.
4. Fünf Gefahren vermeiden und frei von Hoffnung und Furcht praktizieren
Gedanken nicht als Feinde betrachten
Wenn beim Meditieren mit Gedanken und Emotionen zunächst völlige Freude erfahren wird und
dann gelegentlich viele grobe Gedanken auftauchen, die nicht mit Meditation zu kontrollieren sind
und einen heftig aufwühlen, dann erscheinen einem die Gedanken als Feinde.
Karmapa spricht hier nicht zu Anfängern, denen erscheinen Gedanken sowieso als Feinde. Anfänger wollen
immer ohne Gedanken sein, deswegen kommen sie zu Meditationskursen. Sie kommen nicht, um zu erwa-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
chen sondern um etwas freier zu sein; vor allem würden sie gerne frei von all den bedrängenden Gedanken
sein, das ist ganz normal. Man lernt dann, die Gedanken nicht mehr als Feinde zu betrachten und sie zu
durchschauen. Allmählich ist einem dann tatsächlich ganz wohl mit der geistigen Aktivität, sie stellt norma-
lerweise kein Problem mehr da. Das ist hier gemeint: zunächst wird völlige Freude erfahren. Uns ist eigent-
lich ganz wohl mit den Gedanken und Emotionen, da ist kein Widerstand mehr, wir können sie durchrau-
schen lassen ohne abzulehnen oder anzuhaften. Aber dann tauchen bei einer Gelegenheit viele starke Ge-
danken mit den entsprechenden emotionalen Bewegungen auf. – Das Wort ‚stark‘ passt hier besser. Im Tibe-
tischen werden zwar die Wörter ‚grob‘ und ‚fein‘ für die Gedanken verwendet, aber in unserem Sprachge-
brauch passt ‚stark‘ besser. Es sind starke Gedankenformen mit den entsprechenden emotionalen Bewegun-gen dabei.
Das geschieht immer dann, wenn wir gut getriggert wurden, wenn wir emotional an einer verletzlichen Stelle
erwischt wurden, wo etwas in unserem Leben schiefläuft, in das wir diese Entspannung noch nicht hineinge-
bracht haben. Da sind wir noch nicht at ease, uns ist noch nicht wohl dabei, wir sind meistens verletzt, be-
sorgt – vielleicht ein großer Verlust, vielleicht eine Beleidigung, vielleicht bedroht uns etwas. Dann springt
das an und wir versuchen zu meditieren. Wir setzen unsere ganze Werkzeugkiste ein, jeden Trick, den wir in
den vielen Jahren Meditation gelernt haben: nichts will wirken, nichts hilft, und wir bleiben heftig aufge-
wühlt. In so einem Moment entsteht ganz von selbst das Gefühl „Ich will die Gedanken loswerden“, zum
Beispiel sorgenvolle Gedanken, wie den an eine plötzliche Betriebsprüfung, Steuerprüfung. Man will abends
einschlafen, kann aber nicht. Man will die Gedanken irgendwie loswerden und nicht mehr damit beschäftigt
sein. Das nennt man Gedanken als Feinde wahrnehmen. Die müssen weg, Feinde müssen weg. Der Rat Karmapas:
In solch einem Fall erkenne die wahre Natur der [ablehnenden] Gedanken wie auch der Gedanken
selbst und betrachte sie nicht als Fehler sondern als Segen. Mache sie zum Zentrum deiner Praxis und
ihre wahre Natur wird sich als Wahrheitskörper frei von Vorstellungen zeigen. Wahre so deine Praxis.
Der Rat ist, die wahre Natur der Gedanken zu betrachten, die die Gedanken ablehnen und als Feinde be-
trachten, wie auch der Gedanken selbst, die der Auslöser der Ablehnung sind. Beide Formen von Gedanken
– der Ärger über das heftige, aufwühlende Denken, wie auch das aufwühlende Denken – werden in ihrer Na-
tur betrachtet, und nicht etwa als ein Fehler sondern als ein Segen. Wow! Radikale Änderung der Einstel-
lung! Als Segen betrachtet fühlt sich so an: „Okay, ich akzeptiere es als wunderbare Gelegenheit zu prakti-
zieren“. Es geht gar nicht mehr darum, sie wegzumachen, sondern: „Das ist ein Geschenk, dass ich offenbar
an die Grenzen meiner Praxis gebracht worden bin, das passiert nicht so häufig und ist super. Jetzt kann ich
etwas lernen, das ich vorher nicht gelernt habe.“
Denn da braucht es entsprechend starke Herausforderungen; es ist ein Segen, dass ich an die Grenzen meiner
Praxis gebracht werde. Alles andere habe ich ja schon eingesetzt, die ganze Trickkiste, jetzt bleibt nur noch
übrig, die Natur des Denkens zu betrachten. Das ist das Einzige, das dann hilft. Keine Tricks mehr, sondern
das Gewahrsein so ausrichten und schärfen, dass ich die Natur des Erlebens wahrnehme, und dass ich genau
da wahrnehme, dass diese aufwühlenden Gedanken allesamt keine Substanz haben. Darum geht es; immer
wieder hineinschauen: in den Ärger schauen, in das was auftaucht, was da die Auslöser sind. Im Beispiel mit
der Steuerprüfung würde ich sogar so weit gehen, immer wieder den Geist auf die Betriebsprüfung zu lenken
und auf die möglichen Konsequenzen, weil ich vielleicht nicht sauber abgerechnet habe. Immer wieder ent-
stehen lassen, was damit an Gedanken verbunden ist, an Sorgen, Befürchtungen usw., bis sich das alles auf-
löst. Bis es soweit ist, dass ich ganz in Frieden bin damit.
Teilnehmer: Das heißt, wir gehen konzeptuell damit um?
Wir gehen erst einmal konzeptuell damit um und sagen uns: „Okay, klein beigeben, Haltungsänderung: nicht
mehr wegmachen wollen sondern kommen lassen“, und dann hilft uns diese begriffliche Neuorientierung, in
die nicht-begriffliche Schau hineinzufinden. Das ist also schon eine Arbeit, bei der wir uns erst einmal sagen:
„So geht es nicht, dieses ganze Ankämpfen dagegen ist fruchtlos. Jetzt geht es darum, eine andere Einstel-lung zu pflegen“ – und die auch konsequent umzusetzen.
Das machen wir dann wirklich konsequent, und jeder Moment des Schauens ist ein Schauen, das nicht mehr
begrifflich ist. Wir denken uns nicht die Leerheit herbei sondern müssen sie erfahren, das ist dann nicht be-
grifflich. Das ist der neue Bereich, der sich öffnet. Es ist nicht-begrifflich und auch ein non-duales Schauen.
Das heißt, wir erfahren wieder, wie sich alles von selbst auflöst, ohne unser Zutun, und geben die Distanz auf
mit dem Geschehen. Wir lassen uns ganz auf dieses sich selbst befreiende Erleben ein.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Teilnehmer: Manchmal stelle ich fest, dass ich die Praxis wie einen Schutzwall um mich herum aufgebaut
habe, in einer Abwehrhaltung.
Da warst Du noch in der Vorstufe, die wir gestern beschrieben haben. Wenn Du das merkst, geht es darum,
auch noch diesen Schutzwall aufzulösen und das Erleben ganz an Dich herankommen zu lassen, ganz einzu-
treten und in diese Selbstbefreiung einzutreten. Das ist ein weiterer Schritt. So eine Praxis als Schutzwall
macht uns eng. Das kommt davon, wenn wir im Begrifflichen bleiben, wenn wir die Dinge als leer sehen
wollen oder betiteln, wenn wir quasi Tontauben-Schießen machen – jeder auftauchende Gedanke bekommt
eine Leerheitskugel verpasst. Das ist dann so ein Schutzwall, hinter dem wir als Schütze auf der Lauer liegen
und die Gedanken abknallen. Aber das ist völlig unbefriedigend, da befreit sich nichts. Das ist nur ein kon-
zeptuelles Wegdrücken von dem, was auftaucht.
Also kein Tontauben-Schießen sondern kommen lassen, eintreten in die Erfahrung, sehen dass sie überhaupt
keine Substanz hat, sie wirklich sich im Erleben befreien lassen. Das ist gemeint mit: Mache sie zum Zent-
rum deiner Praxis und ihre wahre Natur wird sich als Wahrheitskörper frei von Vorstellungen zeigen. Das ist ein nicht-begriffliches Erleben der wahren Natur der Gedanken. Wahre so deine Praxis.
Jetzt geht es genauso weiter mit den Emotionen:
Emotionen nicht als Feinde betrachten
Wenn zuvor die auftauchenden emotionalen Trübungen durch [Erkennen ihrer] Leerheit rein wurden
und es dann bei einer Gelegenheit zu belastenden Emotionen kommt, zum Beispiel Begierde, ohne dass
es zu verhindern ist, dann erscheinen einem Emotionen als Feinde. In diesem Fall erkenne die wahre
Natur der vorhandenen Emotionen und verweile, ohne etwas zu blockieren oder zu erzeugen. So reini-
gen sie sich von selbst, ohne dass du sie zurückweisen musst. Sie werden sich in völliger Klarheit zei-
gen und so wie bei den Erklärungen, dualistische Geistesbewegungen auf der Basis von Freude, Klar-
heit und Nichtdenken als Weg zu nehmen, werden sie sich von selbst in ihrer eigenen Natur reinigen
(befreien). Wahre so deine Praxis.
Wir haben hier dieselbe Grundsituation: Mit den meisten emotionalen Trübungen haben wir kein Problem,
wir können sie sehr schnell entspannen, durchrauschen lassen; eventuell haben wir auch Erfahrungen ge-
macht, wo wir ihre Leerheit gesehen haben, ihre nicht-fassbare Natur. Aber dann tauchen Lebenssituationen
auf, die starke Emotionen hervorrufen, wo wir nicht verhindern können, dass uns diese Emotionen packen.
Auch hier sind es stark getriggerte Emotionen – Begehren, Ärger, verletzter Stolz, Eifersucht, Angst, was
auch immer … ein Verlust, der eine tief sitzende Trauer freisetzt, und man weiß gar nicht, woher die Trauer jetzt kommt.
Aus eigener Erfahrung und aus der Betreuung von Praktizierenden kann ich sagen, dass erfahrene Praktizie-
rende das nicht mehr so im Bereich der normalen Lebenserfahrung erleben. Wenn aber irgendetwas getrig-
gert wird, das mit frühkindlichen Erfahrungen zusammenhängt, dann geht die Post ab. Das ist der begriffli-
chen Kontrolle und der normalen Praxis kaum zugänglich. Das lässt sich immer wieder entspannen, aber
kaum wird es wieder ausgelöst, ist es schon wieder da, und es scheint sich gar nichts getan zu haben. In so
einem Fall ist es gut, zusätzlich zu dem, was hier beschrieben wird, auch therapeutische Arbeit zu machen
und sich diesen frühkindlichen Belastungen zuzuwenden.
Wenn die Emotionen einen so überwältigen, obwohl man sonst gut mit ihnen zurechtkommt, erscheinen sie
einem wieder als etwas, das man loswerden möchte. Das wird hier ‚Feind‘ genannt. Praktizierende sind ganz
überrascht, dass sie in diesen Momenten fast keinen Zugang mehr haben zu ihrer sonstigen Praxis. Es ist wie
alles futsch. Dann ist es wichtig, gar nicht auf der Ebene anzusetzen, auf der wir sonst vielleicht praktizieren
– mit Tonglen oder mit Kontemplationen –, das greift dann nicht. Der Hinweis hier ist, auf die tiefste Ebene
der Praxis zu gehen, auf die kraftvollste, nämlich auf die Ebene des Erkennens der Natur der Emotionen. Da,
wo man dann frei von Ichbezogenheit wird, wo die Natur der Emotion als bloße Geistesbewegung erkannt
wird – genau wie das lateinische Wort ‚Emotion‘ ja ‚etwas, das in Bewegung ist oder bringt‘ bedeutet.
Es geht darum, das als solches zu erkennen und damit verweilen zu können: Erkenne die wahre Natur der
vorhandenen Emotionen und verweile weiterhin, ohne etwas zu blockieren oder zu erzeugen. Es braucht
diese Nacharbeit noch. Es ist auch da nicht so, dass das einfache, einmalige Hineinschauen in die Emotionen
ausreicht, sondern es braucht danach ein weiteres offenes Sein und eine weiteres Zulassen von dem, was
dann kommt. Ihr werdet überrascht sein; da kommen dann noch andere Emotionen. Indem sich die ersten
lösen, tauchen noch mehr auf. Und da geht es darum, weiter zuzulassen, auflösen zu lassen, weiter zu schau-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
en; die Natur der Emotionen als nicht-fassbar erfahren, nicht identifizieren, wirklich all das, was kommen
will, kommen lassen, durchrauschen lassen, die wahre Natur erkennen – und offen bleiben. Das ist es, wo-rum es geht.
Und da das alleine oft schwierig ist, gehen so manche dann auch noch in therapeutische Arbeit. Man kann
diese starken Emotionen mithilfe eines anderen besser zulassen, man fühlt sich dabei alleine unsicher. Die
Erkenntnis der Natur des Geistes ist noch nicht so gefestigt und klar, dass man Sorge hat, ganz fortge-
schwemmt zu werden, weil doch noch ein Greifen da ist. Deswegen ist es unter Umständen ratsam, sich da
Hilfe zu suchen. Wer das alleine machen kann: Super! Es braucht aber diese konsequent offene Haltung, al-
les im Gewahrsein aufsteigen zu lassen und nichts zu vergegenständlichen. Diese konsequente Haltung
braucht es, um mit der nötigen Präsenz tatsächlich die wahre Natur dieses Erlebens zu erfahren.
Wenn wir das tun, wenn wir so alles zulassen, für alles offen sind, dann werden sich die Emotionen in völli-
ger Klarheit zeigen […] und sie werden sich von selbst in ihrer eigenen Natur befreien. Genauso wie wir
das früher im Text bei anderen dualistischen Geistesbewegungen schon gehört haben, können wir jede Er-fahrung auf der Basis von Freude, Klarheit und Nichtdenken als Weg nehmen.
Dieser Hinweis ist wirklich spannend und entspricht der tatsächlichen Erfahrung, wie das ist. Wenn wir uns
so der Emotion öffnen, dann entsteht etwas Erstaunliches: Erst einmal ist sie vollkommen klar erfahrbar,
kristallklar, da ist kein Nebel. Es ist ein völlig präzises Erleben emotionaler Verwirrung. Diese emotionale
Verwirrung wird aber nicht mehr vergegenständlicht, sondern wird als eine Dynamik erlebt, als eine unglaub-
liche Intensität, die aber nicht mehr beunruhigend ist, keine Angst mehr auslöst und auch keinen Widerstand.
Diese Intensität wird dann nicht mehr kommentiert – das ist der Aspekt des Nichtdenkens. Diese Geistesbe-
wegungen, diese emotionalen Bewegungen, die da zugelassen werden, werden nicht vom Intellekt kommen-
tiert oder verarbeitet. Sie werden als solches erfahren in ihrer nicht-fassbaren Natur, und das setzt Freude
frei. Freude, Klarheit und Nichtdenken begleiten diesen Prozess und sind Anzeichen dafür, dass wir auf dem
richtigen Weg sind. Emotion ist nicht mehr unangenehm, sondern nur noch intensiv. Man kann nicht sagen
angenehm oder unangenehm. Je offener wir damit werden, desto mehr schätzen wir diese Intensität des Erle-
bens. Dieses Wertschätzen ist der Beginn der Freude. Wenn man sich ganz dafür öffnet, dann wird echte
Freude erfahren. Diese sich befreiende Energie setzt tatsächlich große Freude frei. Das ist im Grunde ge-
nommen die Freude der Selbstbefreiung. Es ist nicht die Freude es loszuwerden, sondern diesen unglaublich
lebendigen Prozess ganz erleben zu können.
Also: So wie bei den Erklärungen, dualistische Geistesbewegungen auf der Basis von Freude, Klarheit
und Nichtdenken als Weg zu nehmen, genau so werden sich die Emotionen in völliger Klarheit zeigen und
sich in ihrer eigenen Natur reinigen (befreien). Das Wort ‚reinigen‘ hier bedeutet, dass sich die dualistische
Spannung auflöst, die in der emotionalen Anspannung, kleśa, vorhanden ist. Wenn in den Texten ‚rein‘ steht,
dann bedeutet es nondual, ohne diese dualistische Spannung; wenn von ‚unrein‘ die Rede ist, ist damit die
Spannung Subjekt – Objekt gemeint. Ein innerer Kommentar ist deutliches Anzeichen dieser Spannung, kommt aber später.
Teilnehmer: Die Spannung besteht darin, dass ich kommentiere, dass ich beurteile?
Nein, das geschieht nur nachträglich. Der Kommentar ist ein deutliches Anzeichen dieser Spannung und die
emotionale Anspannung Subjekt – Objekt besteht aber auch ohne Kommentar und schon lange vor dem
Kommentar. Dualität ist nicht an Begriffe gebunden. Wir denken manchmal, das begriffliche Denken wäre
der Bereich, in dem sich die Dualität zeigt, und dass wir in der Nondualität wären, wenn keine Begriffe da
sind. Das ist aber ein großer Fehler. Wir können nicht-begrifflich dual unterwegs sein. Es gibt den schwei-genden Beobachter, das schweigende Subjekt oder Ichgefühl.
Wenn wir solche Unterweisungen durchgehen, kann es durchaus sein, dass manche denken, das ginge über
ihre Praxis hinaus. Das ist klar: zum einen sind wir am Ende des Buches, und zum anderen gibt es ständig
Unterweisungen, die wir nicht direkt umsetzen können. Das ist in der tibetischen Tradition gang und gäbe.
Solche Situationen wie hier werden genutzt, um Samen des Verständnisses für später zu setzen. Dieses Un-
terrichten von Mahāmudrā-Unterweisungen beinhaltet einen ganzen Teil des Setzens von Samen für ein Ver-
ständnis, das uns erst später aufgehen wird. Dadurch, dass wir das einmal gehört haben und innerlich ein
bisschen erahnt und nachvollzogen haben, wird es uns in der Situation, wo wir es dann brauchen, quasi in
Erinnerung kommen. Wenn mir das passiert, denke ich zuerst, dass ich jetzt etwas verstehe, dass mir etwas in
den Sinn kommt, und später merke ich, dass das mein Lehrer schon vor langer Zeit gesagt hat. Es kommt
einem als das eigene Erkennen vor – das ist es auch –, aber es ist ein Wissen, das vorbereitet wurde. Im
Grunde genommen gehen in der Situation dann die Samen auf. Es ist ganz erstaunlich, wie das funktioniert.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Einmal vorbereitet, Jahre später kommt die Situation und man schlägt sich mit ihr herum, bis der Geist die
Lösung findet. Und dann merkt man, dass diese Lösung schon einmal angedacht und empfohlen wurde, und
sie stellt sich leichter ein, weil diese Vorbereitung stattgefunden hat. Es heißt auch, dass das über dieses Le-
ben hinausgeht, aber darüber kann ich natürlich nichts sagen.
Meditation: Konsequentes Zulassen
Wir können jetzt diese konsequent offene Haltung üben, dass alles kommen kann, was möchte. – Wir können die Antennen einmal bewusst ausfahren in Richtung feinere Stimmungen. Jetzt gerade, in mei-
nem Erleben: welche Stimmungen schwingen da alle mit? Hinter der vordergründigen Stimmung, die wir
leicht wahrnehmen, schwingen vielleicht noch eine Menge anderer Gefühlstöne mit, Stimmungen. Fühlt mal
hin, was Ihr da für eine Vielfalt entdecken könnt. – All das darf bewusst werden, ohne vergegenständlicht zu werden. – Ganz feine, zarte Gefühle, die oft nicht ins Bewusstsein kommen. – Wenn uns Gedanken kommen, dann können wir auch einmal hinfühlen, welche emotionale Schwingung die
Gedanken begleitet, welche Gefühle da mitschwingen. … Um Euch ein Beispiel zu geben: Es mag sein, dass
Ihr ans Mittagessen denkt, aber mit welchem Gefühl denkt Ihr daran? Es mag sein, dass Ihr an euren Nach-
barn, an eure Nachbarin denkt, aber welche Gefühle begleiten diesen Gedanken? Und so fort. – Spüren … und lassen. – Welches Gefühl? –
* * *
Was habt Ihr bemerkt?
Feedback
Teilnehmer: Ich bin an Gefühle gekommen, die schon so alt und klebrig sind und mich sofort in einen ganzen
Roman hineinziehen. Selbst wenn ich in diesem Roman nicht drin bin, merke ich, wie sofort eine ganze Ge-schichte erzählt wird.
Ja, das ist irre, nicht? Da ist nur ein ganz kleines Zipfelchen, zu Anfang zeigt sich nur ganz wenig und un-
glaublich viel kommt nach. Das ist eine starke Ladung. Wenn es so einen Roman gibt, dann bedeutet das viel Stoff.
Teilnehmer: Es gibt so einen verletzten Anteil in mir, und bisher war das so, dass ich ihn an Tara abgegeben
habe und sie hat sich darum gekümmert oder es war so ein mütterlicher Anteil, der diesen Anteil hält. Aber
jetzt habe ich bemerkt, dass es dann, wenn ich in diesem Gefühl bleibe und ganz dieses Gefühl werde, so ist, als ob ich dieser verletzte Anteil bin und gleichzeitig wie auf Taras Schoß sitze sozusagen.
In einem sicheren Feld.
Ja, aber das Unangenehme ist nicht aufgehoben, es muss bloß nichts damit gemacht werden.
Ja, Du brauchst nichts damit zu tun. Das ist eine ganz wichtige Entdeckung. Du brauchst es nicht einmal ab-
zugeben.
Teilnehmer: Bei mir ist es so, dass ich sehe: „Da sind Gefahren und da sind Gefahren, und da und da...“ und
„Was mach ich jetzt da?“ Eigentlich ist es eine Art Resignation, zu sehen, dass ich selbst gar nichts machen kann.
Das ist das Gefühl: Resignation.
Dann versuche ich, das wieder loszulassen und dann ist irgendwie gar nichts mehr da; eher so ein Gefühl
von dumpf.
Teilnehmer: Bei mir ist so eine Zufriedenheit wie eine Decke oben drüber und ich komme gar nicht an ir-
gendwelche Gefühle ran. Dann scheint da etwas zu sein, aber sobald ich versuche, das zu fassen oder zu
identifizieren, ist es schon wieder weg und ich klebe nur noch an diesem Begriff. Aber da ist gar nichts da-hinter.
Das ist spannend. Ich würde annehmen, dass das für einige von uns gilt. Wir haben so eine Decke von Zu-
friedenheit, weil wir uns eigentlich wohl fühlen, hier im Kurs zu sein, aber darunter ist eine Menge Unbe-
wusstes los. Die kleinen Dinge sind gleich weg, wenn sie ins Bewusstsein auftauchen. Dann braucht man die
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Fähigkeit, wie durch die Decke der Zufriedenheit immer wieder zu entspannen und es da, wo sich zunächst
gar nichts klar anfühlt, kommen zu lassen. Das bräuchte auch ein bisschen mehr Zeit.
Teilnehmer: Bei mir war zunächst nichts an Emotionen da, dann hab ich mir gedacht: „Naja, jetzt denkst du
einfach mal was und schaust, was passiert.“ Dann dachte ich an jemanden und es kamen mit dem Denken
einige Emotionen.
Du hast also, kaum dass Du an jemanden denkst, eine Begleitemotion gehabt.
Ja, das Denken hat die Emotionen sozusagen angefeuert.
Das kann über begriffliches Denken passieren, über Denken in Bildern; das kann über Klänge sein. Wie ist es denn mit den anderen Sinneserfahrungen? Habt Ihr das auch erlebt?
Teilnehmer: Ja, wenn z.B. Geräusche im Raum sind, merke ich sofort, wie eine emotionale Einfärbung pas-
siert und dann z.B. Ärger hochkommt, ganz minimal. Und dann nichts zu tun, dabei zu bleiben und zu spüren,
wie das nachlässt, vergeht, dann kommt plötzlich Freude auf. Da ist so viel Stoff, einfach durch das Dabei-bleiben bei dem, was im Raum ist.… oder es tut was weh usw. Und alles hat so eine emotionale Färbung.
Ja, alles was so erfahren wird, hat eine emotionale Färbung.
Teilnehmer: Bei mir ist eine Enttäuschung hochgekommen; eine Situation mit meinem Zwillingsbruder. Ich
bin da rein gegangen und auf einmal hat sich das verändert.
Abgesehen von der konkreten Erfahrung ist das auch wie ein Prinzip, was Du beschreibst. Wenn wir mit dem
Gewahrsein bei einem emotionalen Erleben bleiben, verändert es sich. Es kann sich verändern, weil es mit
Gewahrsein erlebt wird und das ist ein Grundprinzip, wie sich Emotionen dann auch lösen können. Dabei
bleiben, nichts machen; man braucht sich auch gar keinen Stress zu machen, irgendwie das wahre Wesen der
Emotion zu erkennen, sondern einfach nur dabei bleiben in dem Bewusstsein, dass es sich verändern kann.
Es wird sich verändern. Es ist ganz frappierend, wenn man Menschen, die in ganz schweren Depressionen
stecken, hilft, mit diesen zunächst vagen Gefühlen in Kontakt zu kommen, die wie so eine dicke Dunkelheit
wirken. Und dann merken sie – jeder merkt das dann –, dass unglaublich viel Bewegung in dieser depressi-ven Stimmung ist, in der Trauer, usw. in der Bewegung setzt sich das fort, anderes kommt zum Vorschein.
Teilnehmer: Es war ein sehr großer Unterschied, wie die Emotion sehr stark begann und sehr klar war –
eine große Traurigkeit, und als sie sich dann sozusagen vergegenständlicht hat, die Verbindung zum Anlass,
dann wurde sie grau. Dann war sie nicht mehr so klar, so durchsichtig, so stark. Sie hat sich abgemildert,
aber auf so eine graue Art und Weise. Als ich das wahrgenommen habe und diesen Anlass wieder losgelassen
habe, wurde es wieder klar …
Was Du erlebt hast, ist dieser Schwenk erstmal vom Wie zum Was und dann wieder zurück vom Was zum
Wie. Wenn wir mit den Inhalten beschäftigt sind, dann ist die Qualität des emotionalen Erlebens nicht mehr
so deutlich im Bewusstsein; wir sind mit den Inhalten beschäftigt. Wenn wir den inhaltlichen Auslöser wie-
der loslassen, zu unserem emotionalen Erleben zurückkommen und dabeibleiben, wie es sich anfühlt, da
kann die Bewegung stattfinden und es kann sein, dass sie sich auflöst. Während der Fokus auf das Objekt der
Emotion, auf den Auslöser, die Geschichte verhindert, dass es sich weiter bewegen kann.
Teilnehmer: Ich hab Stimmungen aufkommen lassen und habe mehrere beobachtet. Der grundlegende Tenor
war Sorge. Ich bin in dieses Gefühl reingegangen und dann kam vor mir dieses Wort ‚lassen‘. Das konnte ich
auch entspannen, aber während des Entspannens kam mir, dass es schon ein harter Brocken ist, eine Ver-
dinglichung, ein Festhalten daran und dass es genau dadurch ist.
Du bist da in einer Grenzsituation, wo das Lassen noch knapp geht, aber es ist ein harter Brocken, weil sich
etwas in Dir – wie in uns allen – mit der Sorge identifiziert. Wir können kaum ohne die Sorge sein, weil das,
um das sich die Sorge dreht, so wichtig ist. Es hat eine hohe Wichtigkeit und mit dem, was für uns wichtig
ist, entspannt umzugehen, ist eine ganz besondere Herausforderung. Immer wenn uns etwas besonders wich-
tig ist, dann ist das ein Bereich, wo sich das sehr verdichtet und es schwer fällt, entspannt damit umzugehen.
Es ist das glatte Gegenteil von dem, was die Situation von uns verlangt. Wenn etwas ganz wichtig wird – das
ist ganz blöd –, dann machen wir das Gegenteil von dem, was hilfreich ist. Wir spannen uns mehr an, weil es
uns so wichtig ist. Wir könnten besser mit der Situation umgehen, wenn wir entspannt bleiben würden. Wa-
rum nerven uns Partner und Partnerinnen so, während wir mit allen anderen gelassen bleiben können? Weil
wir ein ganzes Leben mit ihnen zusammenleben und das wichtig ist. Da kommen dann diese Muster rein.
Das geht auch in Bereichen des Berufes so.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Teilnehmer: Ich hatte keine Lust etwas zu erzeugen, denn ich hab den Eindruck, dass für mich das, was
kommt, langt. Ich hab bemerkt, dass kleine Spannungen – das kann ein Geräusch sein – wichtig sind, um
mich zu orientieren; als würden mich kleine Spannungen wach halten. Und dann ist wieder was, ein Gedanke
oder so, aber ich verliere mich nicht. Meine Frage ist, ob das okay ist.
Was Du beschreibst, ist auch eine Erfahrung, die fast alle Menschen machen; emotionale Spannung bringt
eine gewisse Wachheit mit sich. Eine der Befürchtungen, wenn man Emotionen lässt – loslässt, sich auflösen
lässt –, ist, dass man seine Wachheit und Vitalität verliert. Tatsächlich findet über die Jahre beim Meditieren
ein Prozess statt, herauszufinden, welche Art von Spannung es eigentlich braucht, um wach und lebendig zu
sein. Man dann merkt, dass man durch gewisse Formen der Entspannung wacher und lebendiger wird bzw.
dass andere einschläfernd wirken, so dass man schläfrig und dumpf wird, weil kein Interesse mehr da ist.
Wo Emotionen sind, ist ja auch ein hoher Grad an Interesse. Wenn ich die Emotionen entspanne, ist oft auch
gleichzeitig das Interesse an den Dingen entspannt. Das lernt man zu unterscheiden. Man kann wach und
interessiert am Leben sein, ohne auf alles so emotional zu reagieren. Das ist ein feiner Lernprozess.
Teilnehmer: Zu meiner Überraschung gab es nicht nur negative sondern auch positive Emotionen.
Na! Gute Überraschung! Bist Du anders damit umgegangen?
Anders, ich habe mich drüber gefreut.
Auch das ist dann wieder ein Geschenk.
Ich möchte Euch zum Abschluss an die Lehren des Buddhas über die fünf Skandhas erinnern. Davon habt Ihr bereits gehört.
Meditieren mit Gefühlstönen
Sinneswahrnehmungen finden statt – man nennt das ‚Wahrnehmen von Formen‘. Nicht nur visuelle Formen,
auch Klänge werden Formen genannt, auch Körperempfindungen, … all das ist Formwahrnehmung. Daran
schließen sich Empfindungen an – angenehm, unangenehm oder gerade nicht so wichtig. Diese Empfindun-
gen, die sich an die Wahrnehmung anschließen, sind der Beginn von den Gefühlen. In der Vipassana-Szene
werden die Vedanās oft mit Gefühlstönung übersetzt. Es ist einem normalen Menschen kaum möglich, ir-
gendeine Sinneserfahrung zu machen, ohne dass sich direkt eine Gefühlstönung anschließt. Zum Beispiel
allein den Blick woanders hinzuwenden und da dann diese weite Lichte zu sehen, reicht schon aus, dass eine
andere Gefühlstönung entsteht. Auch jedes Gesicht löst andere Gefühlsschwingungen aus. Dann schaue ich
auf etwas scheinbar Neutrales – mein Blick fällt auf die Tulpen – und die sind auch nicht neutral. Es ist un-glaublich, wie fast jeder Sinneseindruck sofort eine andere Schwingung im gefühlsmäßigen Erleben auslöst.
Echte Meditationspraxis geht in diese Gefühlsschwingung hinein. Meditation hat fast nichts damit zu tun,
was alles passiert – was ich visuell sehe, was für Geräusche ich höre, was für Gedanken auftauchen. Das ist
eigentlich irrelevant. Es geht darum, wie ich darauf reagiere, wie sich meine innere emotionale Welt gestaltet
und wie ich da hinein Entspannung bringen kann. In diesem Für-angenehm-Halten und Für-nicht-angenehm-
Halten ist bereits der Beginn der emotionalen Spannung, und das weitet sich dann aus. Ich denke an jeman-
den – vielleicht nur den Namen – und schon kommt die emotionale Kette, weil da eine Gefühlstönung ist, emotionale Betroffenheit. Und das ist das Interessante.
Die Befreiung findet nicht in dem statt, was wir wahrnehmen, sondern wie wir wahrnehmen; mit wieviel An-
spannung wir wahrnehmen. Darin findet die Befreiung statt. Und darin haben wir jetzt eine kleine Grund-
übung gemacht. Wir haben nicht mit starken belastenden oder freudvollen Emotionen gearbeitet. Die meisten
von uns haben mit nicht so starken Gefühlstönungen und nicht so starken, belastenden oder freudvollen
Emotionen gearbeitet, eben mit dem, was gerade da war. Wir brauchten nichts zu erzeugen, die Aufgabe war nicht, irgendetwas zu machen, sondern nur das zu nehmen, was man wahrnimmt.
Wenn man da hineingeht und die Aufmerksamkeit mit Interesse in diese Bereiche lenkt, dann kommt man
sich manchmal so vor, als ginge man als totales Sensibelchen durch die Welt. Wir sind tatsächlich so, wir
reagieren auf alles sehr sensibel, und zwar mit Gefühlstönung. Ganz fein, wir brauchen nur kurz jemanden
mit dem Blick zu streifen, nur kurz Farben zu sehen – manche Farben ziehen uns an, manche wollen wir lie-
ber nicht –, hell und dunkel, und und und… Klänge sind uns manchmal zu laut, dann wieder zu leise, wir
unterscheiden Geräusche … Es gibt auch fast keinen Geruch, den wir neutral erleben können, auf fast jeden
Geruch reagieren wir. Anziehung – Ablehnung.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Teilnehmer: Das habe ich gerade gemacht. Ich wollte sehen, wie ich reagiere. Es gibt einen Punkt, wo es
nicht nur unbelastetes Sehen gibt, sondern wo ich einsteige. Man kann an einen Punkt kommen, wo Sehen als solches stattfindet.
Das ist die Möglichkeit, einfach nur wahrzunehmen mit den Sinnen und die Gefühlstönungen nicht entstehen
zu lassen, weil man entspannt, offen, nicht bewertend im Wahrnehmen ist. Manche Meditationsschulen ver-
suchen diese Art primärer Wahrnehmung – ohne die nachgeschalteten emotionalen Reaktionen – zu kultivie-
ren. Das ist nicht das Ziel im Mahāmudrā. Es ist gut, das zu können, es ist hilfreich. Im Mahāmudrā geht es
zwar darum, das auch zu können, aber auch zu durchschauen, dass die nachgeschalteten Empfindungen, die
nachgeschalteten Unterscheidungen, die emotionalen Bewegungen, die Gestaltungen, all die Bewusstseins-
zustände, die dadurch entstehen, keinerlei Substanz haben und keine Gefahr sind. Man muss nicht in einem
primären Erleben ankommen und alles Denken und Fühlen und alle Emotionen vermeiden, weil das verstri-
ckend ist. Auch all die nachgeschalteten Prozesse, die ja einem großen Teil unseres Menschseins ausmachen,
sind ebenfalls selbst-befreiend. Wir brauchen sie nicht zu vermeiden, sondern sie nur sich selbst befreien zu lassen.
Es ist mir wichtig, das herauszuarbeiten, weil es sehr viele Menschen gibt, die versuchen, solch eine Acht-
samkeit auf die primäre Sinneserfahrung zu entwickeln; fast wie eine Verherrlichung des unmittelbaren Sin-
neserlebens. Aber da findet keine Kommunikation statt, damit sind keine Gefühle verbunden, das ganze
Denken muss vermieden werden: Erstmal kann man es sowieso nicht halten, es ist ein unnötiges Bemühen,
in etwas zu kommen, in eine primäre Sinneserfahrung, die uns eigentlich nur den Stoff liefert für all die vie-
len menschlichen Prozesse, die unser Zusammenleben ausmachen. Die können sich alle befreien, die sind
nicht notwendigerweise Verstrickung. Der wichtige Punkt in der Mahāmudrā-Praxis ist, dass der Fokus im-
mer auf die Natur des Erlebens gelegt wird, dass – was immer auftaucht – keinerlei Substanz hat, und dass
wir vor nichts Angst zu haben brauchen; vor gar nichts.
Teilnehmer: Was ist dann der Unterschied zwischen diesen primären Sinneswahrnehmungen und unserem unmittelbaren Erleben?
Das Mahāmudrā-Erleben bezieht alles ein und bleibt nicht nur bei der Formwahrnehmung, nicht nur bei den fünf äußeren Sinnen.
Aber in dem Moment des unmittelbaren Erlebens kann ich doch auch nicht kommunizieren.
Doch, natürlich. Sonst könnte ein Buddha ja nicht kommunizieren.
Im direkten Erleben selber?
Ja. Auch Kommunikation ist direktes Erleben. Es ist möglich, mittelpunktslos zu denken, zu kommunizieren,
usw.
Also verwendest Du den Begriff [direktes/ Mahāmudrā-Erleben] einfach nur für mittelpunktslos, ohne Ichbe-zogenheit.
Genau, im Sinne von zeitlosem Gewahrsein. Unmittelbares Erleben bedeutet für mich ohne Subjekt und Ob-
jekt.
Im nächsten Abschnitt geht es darum, ein vorläufiges Verständnis von Leerheit nicht zum Feind werden zu lassen:
Leerheit nicht zum Feind werden lassen
Wenn du den Geist analysierst und nach ihm suchst, findest du ihn nicht und siehst, dass sämtliche
Phänomene ohne Existenz sind. Du meinst nun, die Unterscheidungen zwischen Zurückzuweisendem
und Heilmittel, Schädlichem und Heilsamem nicht mehr beachten zu müssen, und machst vor allem
Leerheitserfahrungen. Wenn du selbst und alle anderen als leer erfahren werden, hältst du an der
Leerheit fest, ohne zu wissen, wie du irgendetwas tun kannst: Dann ist [dein begrenztes Verständnis
von] Leerheit zum Feind geworden oder es kommt zu destruktivem Geschwätz. Du behebst dies, in-
dem du die wahre Natur genau dieses Haftens an Leerheit erkennst und verweilst, ohne etwas zu ver-
hindern oder zu erzeugen. Daher verweile auf diese Weise.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Das hatten wir größtenteils schon. Wenn wir nach dem Geist suchen, dann sehen wir, dass alles Geist ist, der
Geist aber nicht zu finden ist – keine Farbe, keine Form, kein Ort, an dem er verweilt. Alles ist geistiges Er-
leben und Geist als solcher ist kein abgrenzbares Phänomen, das wir finden könnten. Das ist intellektuell re-
lativ leicht zu verstehen und auch in der Meditation lässt sich das gut überprüfen und nachvollziehen.
Wenn sich nicht einmal der Geist finden lässt, wie ist es dann mit den einzelnen Elementen unseres Erlebens,
mit dem, was man Phänomene nennt? Wenn alle Phänomene – alles Erleben – Geist sind und wir den Geist
nicht finden können – der Geist also keine wirkliche, fassbare Existenz hat – dann gilt das in derselben Weise
auch für alle Aspekte des Geistes, wie das jetzt stattfindende Erleben. Das ist ja auch Geist, ein Aspekt geis-
tigen Erlebens. So weit so gut, stimmt. Wenn der Geist nicht auffindbar ist, keine fassbare, wirkliche Exis-
tenz hat, dann haben auch unsere Erfahrungen keine wirkliche, fassbare Existenz. Wenn wir sehen, dass al-
les, was es zu geben scheint, keinerlei fassbare Existenz hat, dann meinen wir, wie in einer logischen
Schlussfolgerung: „Wenn es sowieso keine Existenz hat, warum dann nicht wirklich existierende Emotionen
oder nicht wirklich existierende schädliche Handlungen zurückweisen? Und warum nicht wirklich existie-
rende Heilmittel anwenden oder heilsames Verhalten ausführen?“ Aus der Perspektive, dass alles Illusion zu
sein scheint, nicht wirklich existiert, scheint das logisch zu sein. Das hatten wir gestern schon, das sind für
Euch bereits vertraute Gedankengänge. Wir meinen in diesem Teilverständnis von Leerheit, dass es irrele-
vant ist, wie wir handeln, welche Geisteszustände entstehen, welche Emotionen da sind, ob wir sie ausleben oder nicht, weil sowieso alles keine Substanz hat.
Der Irrtum dahinter ist, dass wir meinen, nur etwas, das Substanz hat und wirklich definierbar existiert, habe
Auswirkungen. Das ist der Irrtum. Wir verbinden die Vorstellung von wirklicher Existenz mit Wirksamkeit.
In dem deutschen Wort ‚Wirklichkeit‘ ist das mit drin: etwas ist wirklich, wenn es wirkt. Tatsächlich kann
etwas wirklich sein – wir nennen das die relative Wirklichkeit –, weil es im Bereich von Ursache und Wir-
kung Wirkungen erzeugt, Bedingungen mitgestaltet. Unsere Gedanken, Gefühle sind wirkungsvoll, sie lösen
etwas aus und sie haben durchaus unterschiedliche Wirkungen. Ob ich jemandem mit Liebe oder Ärger be-
gegne, hat durchaus unterschiedliche Wirkungen, obwohl weder das eine noch das andere konkret als ein
definierbares Phänomen existiert.
Diese Idee von Leerheit, der nicht-fassbaren Natur aller Phänomene, widerlegt die konkrete, fassbare Exis-
tenz, aber nicht die Wirksamkeit. Nichts existiert aus sich heraus, aber alles wirkt. Das ist es, was wir
klarkriegen müssen. Da gehen so manche, die die Leerheit verabsolutieren, einen logisch vollkommen fal-
schen Schluss ein, indem sie denken, etwas, dessen tatsächliche, unabhängige, konkrete Existenz man nicht
nachweisen kann, habe keine Wirkungen. Das ist für viele Phänomene auf der Welt auch so, ob es jetzt Elekt-
rizität oder Schwerkraft oder sonst etwas ist: Man findet keinen Ort, wo man diese Kräfte lokalisieren könn-
te, trotzdem wirken sie, und zwar erheblich. Dass Kräfte, die in Prozessen wirken, Auswirkungen haben, ist
uns eigentlich sehr vertraut. Wir denken manchmal, der Strom stecke in der Steckdose. Aber tatsächlich ist er
dort nicht zu finden. Aber er kann dort wie angezapft werden, die Kräfte können da durchwirken. Und so ist
auch kein Ort zu finden, wo die Emotion steckt, aber ich kann heilsame und beengende Geisteszustände ein-setzen und sie wirken. Das ist das Missverständnis, das dahinter ist.
Jemand, der sich so auf eine tiefe Kontemplation der nicht-fassbaren, leeren Natur der Phänomene einlässt,
macht vor allem Leerheitserfahrungen, tong-nyams. Tong – leer, nyam – Meditationserfahrung. Das ist auch
eine Phase in unserer Praxis der Geistesruhe, dass wir sehr viele Erfahrungen machen, wo uns alles so un-
wirklich erscheint, so illusorisch, so täuschend, so traumähnlich – ‚leer‘ ist das Wort, das sich dann auf-
drängt. In dieser Phase sind wir geneigt, der Leerheit, diesem Leeren, eine nihilistische Konnotation beizu-
geben. Das kommt aus dem Kontrast mit dem, was vorher war. Vorher war alles so wirklich, so konkret, so
zwingend und solide. Jetzt merkt man, wie es doch nicht so solide ist. Aus dem Kontrasterleben heraus denkt
man, „Ist doch alles leer“, und geht wieder einen Schritt zu weit. Es ist nicht fassbar, es ist leer von einem
Wesenskern, aber – und das ist es, was nicht gesehen wird – es ist trotzdem eine Fülle von Erleben. Diese
sogenannte Leerheit ist eine Fülle, ein kontinuierlicher Strom nicht-fassbaren Erlebens, und da sind starke Wirkkräfte aktiv. Genauso wie vorher. Aber nichts von dem ist konkret und solide. Das ist der Unterschied.
Wenn man das merkt und dabei denkt: „Boah, ich habe mir immer solche Filme gemacht, aber ich brauche
bloß in die Emotion hineinzuschauen, und schon löst sich alles auf. Das sind doch nur Filme!“, dann nimmt
man seine eigenen Filme nicht mehr ernst und ist auch geneigt, die Filme der anderen nicht mehr ernst zu
nehmen und zu sagen: „Hey, mach dir doch nicht so einen Film, ist doch alles leer, und die Sorgen kannst du
dir auch schenken. Ist doch alles nur Einbildung, alles nur Traum und Illusion und so.“ Man merkt gar nicht,
dass man dabei ist, etwas in dem Erleben, in diesen Erfahrungen zu negieren, was ganz stark wirkt, was
Konsequenzen hat. Zum Beispiel, dass man – wenn man sich nicht um sein Geld kümmert –, irgendwann
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
nichts mehr zu essen hat; dass, wenn man jemandem sagt „Mach dir keinen Film“, sich derjenige nicht ge-
hört fühlt und dass sowohl mein Film als auch dessen Film durchaus Auswirkungen aufeinander haben wer-den. Freundschaften können darüber kaputtgehen.
Man merkt also etwas nicht. Da ist eine Erfahrung, und die Erfahrung ist stark. Die Erfahrung, dass alles il-
lusorisch und wie durchscheinend ist, kann sogar mit optischen Erfahrungen in der Meditation einhergehen,
dass die Dinge visuell wie durchscheinend wahrgenommen werden und kaum Substanz zu haben scheinen.
Das verleitet einen dazu, diesen illusorischen Aspekt zu übertreiben, ihn so stark im Bewusstsein zu halten,
dass man das tatsächliche Wirken und Wechselwirkungen all dieser Erscheinungen abwertet und nicht mehr
für relevant hält. Das sind ganz normale Prozesse in der Meditation. Es ist kein schlimmer Fehler, sondern
etwas, das ganz natürlicherweise passiert. Deshalb gibt es seit Jahrhunderten diese Unterweisungen. Wenn
jemand Leerheitserfahrungen macht – sich selbst als leer erfährt, alle anderen als leer erfährt –, besteht die
Gefahr, an der Leerheit festzuhalten und zu denken: „Jetzt hab ich‘s! Das ist es, das ist die Lösung.“
Das sind nihilistische spirituelle Strömungen zum Teil, die einfach nur bis hierhin gehen. In unserer heutigen
Zeit gibt es Lehrer, die in ihrer Entwicklung da stehengeblieben sind, aber sehr überzeugend darlegen kön-
nen, dass alles nur Film ist, nur Illusion. Aber die Lehre bleibt da stehen und hat zur Folge, dass man mit ei-
ner nihilistischen Einstellung in der Welt unterwegs ist und überhaupt keinen Sinn darin sieht, weiterzuleben, irgendetwas zu tun, sich für etwas einzusetzen, usw. Das hat ganz viele starke Folgen.
Du hältst an der Leerheit fest, ohne zu wissen, wie du irgendetwas tun kannst… Das habe ich gerade be-
schrieben. Die Leerheitserfahrung ist so stark und prägend auf deinen Geist, dass du erst einmal keinen Sinn
darin siehst, etwas zu tun. Wie sich engagieren, und wo? Wieso in einem Traum noch irgendetwas anstellen?
Den lässt man doch einfach. – Das ist eine Sackgasse, und du weißt nicht, wie du aus der Sackgasse heraus-
kommst, noch dazu, wenn du sie zunächst einmal gar nicht erkennst. Du willst sie nicht wahrhaben, weil die-se Erfahrung so prägend und überzeugend ist.
In dem Moment ist Leerheit zu deinem Feind geworden. Nicht die Leerheit, die nicht-fassbare Natur des
Seins ist zu deinem Feind geworden, sondern dein begrenztes Verständnis von Leerheit. Manche sind wenig
aktiv in dieser Phase, sie behalten das für sich. Aber ihr Leben wird irgendwie grau, die Lebensfreude geht
weg. Das ist ziemlich schlimm; auch wenn man von außen miterlebt, wie Menschen darin feststecken und
durch eine noch nicht ausgereifte Dharmapraxis darin gelandet sind. Sie verlieren die Lebensfreude, werden
eng und meinen, andere von der Leerheit überzeugen zu müssen. Sie führen immer die Leerheit im Mund,
aber man merkt, dass die Herzenswärme und das Engagement weg sind. Ganz viel ist flöten gegangen. Man-
che bleiben damit bei sich selbst, manche sind sehr stark dabei, diese Sicht der Dinge auch anderen auf-
schwätzen zu wollen. Das ist mit destruktivem Geschwätz gemeint: „Karma spielt doch keine Rolle. Heilsa-
mes Handeln spielt keine Rolle. Es spielt doch keine Rolle, was du jetzt sagst, machst, usw., wie die Bezie-
hungen sind – das ist doch alles nur Traum. … Warum praktizierst du überhaupt, warum meditierst du über-
haupt? Das bringt doch nichts. Lass es doch sein, es ist doch ohnehin alles leer und Illusion.“ Also eine kras-
se Abwertung all dessen, von dem wir wissen, dass es eigentlich nötig ist, um weiterzugehen. Von der Warte
aus, in der man da gefangen ist, macht es keinen Sinn mehr. „Wozu denn? Es geht doch nur darum zu wissen, dass alles Illusion ist.“
Dies lässt sich beheben, und zwar indem wir zu einem lebendigen Verständnis von Leerheit finden. Es ist
nicht so, dass wir die Sackgasse nicht auflösen könnten, sondern dieses tote Verständnis von Leerheit muss
zu einem lebendigen werden: Indem du die wahre Natur genau dieses Haftens an Leerheit erkennst …
Wir merken, wie konkret und real unser jetziges Haften an Leerheit geworden ist und wir merken auch, dass
diese Meinungen und Anschauungen überhaupt keine Substanz haben. … Eigentlich bedeutet leer sein,
nicht-fassbar sein, dass alles in einem ständigen Strom ist, in einer ständigen Dynamik, und dass es nieman-
den gibt, der irgendjemanden von irgendetwas überzeugen muss, der an Leerheit festhalten muss. Leerheit ist
doch auch nur ein Konzept, auch nur eine Geistesbewegung. … Und damit kommt die Praxis wieder in
Fluss, man findet über ein sich vertiefendes Verständnis von Leerheit wieder in den Strom des Lebens hinein
und wird dann als nächstes entdecken, dass aufgrund der nicht-fassbaren Natur das Leben eine unglaubliche Fülle, eine Vielfalt sich ständig wandelnder Erscheinungen ist.
Aber das muss man machen, man muss bereit sein dazu, man muss sich wieder ein wenig einsetzen und den
Blick etwas anders ausrichten. Zum Beispiel den Blick richten auf den, der sich arrogant in seiner Vorstel-
lung von Leerheit über andere erhebt: „Wer denkt da so? Was ist die Natur dieses Erlebens, dieses Haftens?
Wie ist das, so zu sein?“ Damit können wir wieder ins direkte Fühlen kommen, denn das ist verloren gegan-
gen. Das direkte Erleben der nicht-fassbaren Natur der Dinge ist verloren gegangen, es haben sich verschlei-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
ernde Konzepte von Leerheit darübergelegt. Und der Weg ist, wieder ins unmittelbare Erleben der nicht-
fassbaren Natur zu kommen, denn damit ist nichts verkehrt.
… und verweilst, ohne etwas zu verhindern oder zu erzeugen. Also dann eben nicht mehr mit Konzepten
über Leerheit kommen – nichts erzeugen und dergleichen –, sondern zu sein, alles zuzulassen, nichts zu ver-
hindern mit Vorstellungen über traumgleiche, illusorische Natur usw. Sein im Erleben der nicht-fassbaren Natur. Damit sind wir wieder aus der Sackgasse heraus.
Teilnehmer: Gibt es einen Zustand, in dem ich in der Leerheit verweilen kann, ohne an der Leerheit zu haf-
ten?
Es ist möglich, allerdings ist es nicht das Ich, das einfach darin verweilt. Einfach sein.
Dann braucht es keine formale Praxis mehr, oder?
Wenn das wirklich klar geworden ist, gibt es eine lange Phase, wo formale Praxis eigentlich hinderlich ist.
Aber das ist etwas später auf dem Weg. Wenn die Gewissheit über die Natur des Seins sich eingestellt hat,
dann ist das Anwenden von Methoden – das nennen wir ja formale Praxis – für eine Weile hinderlich. Später
nützen wir die Methoden als Ausdruck von einer mitfühlenden Aktivität in der Welt. In dieser Übergangs-
phase geht es vor allen Dingen darum, immer in diesem Fluss zu sein. Was formale Praxis ist, ist dann immer
nur Anstrengung und Wollen und das passt irgendwie nicht. In dieser Übergangsphase geht es nicht um Wol-
len, es gibt keine Ziele mehr, das hat sich alles aufgelöst. Es geht nur noch um ein erkennendes Sein, ein ge-wahres Sein.
Wer aus diesem ‚Leerheitsfanatismus‘ herausfindet, der wird in dem Moment verstehen, dass die Methoden
einen ganz großen Sinn haben. Die Methoden, wie Visualisationen, Übungen in Mitgefühl, heilsame Geistes-
zustände zulassen, haben einen ganz großen Sinn, weil sie uns mit der Fülle des Seins vertraut machen. Das
ist die Entstehungsphase – kyerim – in der tantrischen Praxis, wo wir visualisieren. Sie zeigt uns, wie dyna-
misch dieses leere Sein ist. Jedes Mal, wenn wir visualisieren, durchschauen wir die Natur dessen, was wir
visualisieren. Wir merken aber auch, wie das wirkt, wie stark Vorstellungen sind, wie wirksam Bilder, Klän-
ge, die Methoden, heilsame Geisteszustände sind, während wir immer bewusst sind, dass sie keine Substanz haben.
Eigentlich geht es darum, den Wert der Methoden zu erkennen; zu erkennen, dass man mit genau denen zu
dieser lebendigen Erfahrung des nicht-fassbaren aber sehr wirkungsvollen Seins kommt. Deswegen auch
immer die Auflösungsphase zum Schluss, um alles, mit dem wir als Methode gearbeitet haben, wieder in sich
auflösen zu lassen und in dem Einfach-nur-Sein dann verweilen. Eigentlich sagt man jemandem, der in die-
ser Leerheitssackgasse gelandet ist: „Tu wieder was, arbeite wieder mit deinem Geist und sei dir gleichzeitig bewusst, dass nichts solide ist.“
Typischerweise haben Menschen, die in der Leerheitssackgasse landen, einen noch unaufgelösten Trieb nach
Nichtexistenz, man könnte fast sagen nach Tod. Raus aus dem Leben, weg vom Leben. Wenn man das bio-
graphisch verfolgt, dann tauchen da oft Prägungen von ganz früh im Leben auf: nicht willkommen zu sein,
von der Mutter oder den Eltern schon. Das wirkt noch nach und zeigt sich in einer Neigung, Leerheitserfah-
rungen in genau dieser Weise zu benutzen, um sich vom Sein, vom Leben zu entfernen. Diese Zusammen-
hänge sind hochspannend, und indem wir uns dem Leben, dem Sein wieder zuwenden, findet ein Heilungs-
prozess dieser ganz frühen Muster statt, und das wird als zutiefst befreiend erlebt. Man ist danach ein anderer Mensch.
Teilnehmer: So wie ich das kenne, können Erfahrungen unglaublich trübe werden, weil die Gefühle, die die
Wahrnehmungen bei mir auslösen, alle schon bekannt sind. Was immer ich berühre, ist irgendwie alt und
vertraut und grau. Aus dem heraus wieder in die Frische zu finden, braucht viel Geduld.
Ich könnte Dir da noch einen zusätzlichen Tipp geben: Was Du beschreibst, ist der Grauschleier des ‚Schon-
Kennens‘ – „Das kenn ich schon!“. Das ist ein Aspekt der Unwissenheit, mangelnden Gewahrseins. Du
kannst ein direktes Antidot benutzen, und zwar Dich in der Meditation und im Alltag darin üben, Dir immer
wieder zu sagen: „Kenn ich ja noch gar nicht! Ist ja einzigartig!“ Man meint nur, zu kennen, weil es so ähn-
lich ist. Dieses Gefühl ist so ähnlich wie etwas, das man schon erlebt hat, und aufgrund der Ähnlichkeit sieht
man nicht, dass es sich doch fein und manchmal durchaus entscheidend unterscheidet von dem, was man schon kennt.
Dieses „Kenn ich ja schon“ ist eine emotionale Routine, die diesen Grauschleier darüber legt und bewirkt,
dass Menschen Lebensfreude und Lebenslust verlieren, weil sie ja alles schon kennen. Das ist aber eine Ver-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
wechslung, sie kennen es noch nicht, nur ist das, was sie schon erlebt haben, so ähnlich gewesen wie das,
was jetzt ist. Um da herauszufinden, muss man sich wirklich sagen: „Spür doch mal hin! Inwiefern ist dieser
Atemzug, den ich jetzt mache, einzigartig und verschieden von allen anderen Atemzügen, die ich früher
schon gemacht habe?“, „Inwiefern ist dieser Sonnenaufgang einzigartig und anders als alle Sonnenaufgänge,
die ich je gesehen habe?“, „Inwiefern ist dieser Blickkontakt jetzt einzigartig und anders als alle ähnlichen
Blickkontakte, die ich schon hatte?“
Man macht wirklich eine bewusste Gegenbewegung und richtet sich darauf aus. Jeden Morgen z.B.: „Da ist
wieder mein Partner und den kenne ich noch gar nicht!“ Das war eine der Praktiken damals mit meiner Frau
Irene. Wir haben auch bemerkt, dass sich dieser Grauschleier einschleichen könnte, und vereinbart, dass wir
uns jeden Tag so begegnen, als würden wir uns noch nicht kennen. – Da ist ganz viel Vertrautes, aber es geht
darum, den Menschen jetzt zu entdecken, wie dieser Mensch jetzt gerade ist und nicht darum, zu vergleichen,
wie er am Tag vorher war.
Das erlebe ich auch jetzt mit Schülerinnen und Schülern als total bereichernd, dass ich die Grundhaltung
entwickelt habe, sie eigentlich gar nicht zu kennen. Auch wenn wir uns schon begegnet sind, ist mir doch
jedes Mal ein neuer Mensch gegenüber. Das macht die Begegnungen sehr frisch, sehr nährend auch. Dadurch
kommt mehr Interesse in die Begegnung. So kann man einiges tun, um diesem Schleier mangelnden Ge-
wahrseins gegenzusteuern. Das ist ein Mittel, um glücklich alt zu werden. Menschen, die das beherzigen und
immer das Neue, Frische im Leben entdecken, bleiben bis ins hohe Alter geistig jung.
Erscheinungen nicht zum Feind werden lassen
Wenn du die Leerheit für wirklich hältst, so wirst du dadurch eng, selbst wenn du verstehst, dass Er-
scheinungen abhängig entstehen. Oder du haftest aus Furcht [vor der Leerheit] an den mannigfaltigen
Erscheinungen, die du erlebst, und fühlst dich mit ihnen unwohl. Dann heißt es, dass Erscheinungen
zum Feind geworden sind. Du behebst dies, indem du die Erscheinungen wie auch das Fürwirklichhal-
ten in ihrer wahren Natur erkennst und verweilst, ohne etwas zu verhindern oder zu erzeugen.
Erscheinungen – nangwa auf Tibetisch – sind die Sinneserfahrungen. Dies ist nicht die einfache Schwierig-
keit, dass wir am liebsten auf Knopfdruck einen Geist ohne Erscheinungen hätten, ohne dass uns irgendetwas
herausfordert. Das ist nicht gemeint. Es ist ein Hinweis für Praktizierende, die bereits etwas über Leerheit
gehört haben, wie zum Beispiel wir nach unserem ersten Tag. Als wir so zusammensaßen und ich viel über
Leerheit gesprochen habe, kamen einige Fragen, bei denen man merkte, dass Leerheit für wirklich gehalten
wird, wie für etwas Bedrohliches. Das kann passieren. Wenn man über Leerheit hört und das, was damit ver-
bunden ist – diese Unterweisung über die Abwesenheit von allem Materiellen, Fassbaren –, so kann einem
das einen Schrecken einjagen und die Reaktion hervorrufen: „Dann gibt es ja nichts!“ Das kann einen eng
machen, das kann die Angst vor dem Loslassen noch verstärken, die Angst, der Leerheit zu begegnen, sie zu
erfahren.
Dies kann auch passieren, wenn wir verstehen, dass Erscheinungen abhängig entstehen. Das abhängige
Entstehen von Erscheinungen bedeutet, dass alles aus Bedingungen entsteht. Auch Gedanken entstehen nicht
von ungefähr. Ihr habt nicht die Gedanken Eurer Nachbarin, ich habe nicht Eure Gedanken. Auch Gedanken
und Gefühle, was immer entsteht, entstehen aus dem Zusammentreffen von Bedingungen. Dazu gehören die
Prägungen, die früheren Erfahrungen, die jetzigen Eindrücke. – Das erscheint manchmal ganz zufällig und
wir sehen nicht, welche Bedingungen dazu beitragen, dass genau das jetzt entsteht. Aber wenn wir ein wenig weiter hinspüren, ist es nicht so ganz zufällig.
Das kennen wir auch aus der Psychotherapie. Das freie Assoziieren – diese Prozesse, wo wir zulassen und
nicht kontrollieren – bringt nicht irgendwelches Material von anderen Leuten zum Vorschein, sondern alles
was entsteht, ist ein Spiegel für unsere eigenen Prägungen, und wir können damit arbeiten. Es spiegelt ganz
oft etwas, das zunächst noch gar nicht im Bewusstsein war.
Selbst wenn wir verstehen, dass sich natürlich die Erscheinungen verändern, wenn Bedingungen sich verän-dern, kann es uns trotzdem noch Angst machen, von der Leerheit zu erfahren, von der nicht-fassbaren Natur.
Oder du haftest aus Furcht [vor der Leerheit] an den Erscheinungen, die du erlebst… Das ist eine ganz
normale Reaktion. Wir halten am Erleben fest aus Furcht vor Kontrollverlust, weil wir Bezugspunkte brau-
chen. Das ist ganz normal. Wenn Ihr Euch selber zuschaut, dann merkt Ihr: „Okay, entspannen tut gut, aber
so einen kleinen Bezug – sei es zum Atem, sei es zu den Gedanken, sei es zu irgendeinem Rahmen –, den
brauche ich. Der ist wie unantastbar.“ Die Kehrseite davon ist, dass diese beobachtende Funktion auch nicht
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
entspannt wird. Denn einen Bezugspunkt gibt es nur, wenn es diese beobachtenden Geistesbewegungen gibt.
Die braucht es, die geben uns die Sicherheit, weiter zu existieren. Wenn wir die loslassen, wenn wir die auch
noch entspannen, dann begegnen wir psychologisch beschrieben wie einem Abgrund, einem offenen Raum,
wo wir nicht mehr wissen, wer wir sind. Manche kriegen bei dieser Begegnung das Gefühl, wie in ebenso
einen Abgrund zu fallen. Es können Träume auftauchen, z.B. dass man in einen Abgrund stürzt, nicht weiß,
was man tun soll, und greift. Dieses Greifen nach Bezugspunkten, nach Rettungsankern, findet beim Medi-
tieren genauso statt. Eigentlich ist das die Angst vor dem Nicht-Fassbaren; manchmal wird es auch die Angst vor dem Ungeborenen genannt: das Erleben ohne Substanz, ohne Mittelpunkt, ohne klare Bezüge.
Ein Aspekt des Meditierens besteht darin, mit immer weniger Bezugspunkten auszukommen, mit immer we-
niger Kontrolle, mehr und mehr sich diesem Strom des Erlebens anzuvertrauen, in dem nichts fassbar ist.
Und das braucht viel Übung. Aber jedes bisschen Übung führt zu mehr Vertrauen und erleichtert es, dann
weiter loszulassen. Wenn in diesen Prozess hinein die Belehrungen über Leerheit kommen und nicht wirklich
verstanden werden, dann können die erstmal zu einer Reaktion führen, noch ein bisschen mehr festzuhalten, um nicht in dieses Bedrohliche hinein abzugleiten.
Wenn die Unterweisungen gut verstanden werden, dann erleichtern sie das Loslassen. Dann ist bereits klar,
dass es nicht eine leere Leere ist; eine Leere, in der wir verloren gehen, sondern in der sich die ungebremste Fülle des Lebens ungefiltert zeigt.
… und fühlst dich mit ihnen unwohl. Dieses Unwohlsein mit den Erscheinungen ist nicht, dass sie uns als
solche bedrängen, sondern wir fühlen uns mit ihrer nicht-fassbaren Natur unwohl. Sie kommen uns wie nasse
Seife vor, sie sind nicht zu fassen. Wir bemerken diese nicht-fassbare Natur, und es macht uns große Unsi-
cherheit, dass wir die Erscheinungen nicht in den Griff bekommen. Und dann suchen wir mehr oder weniger
verzweifelt nach sicherem Boden und vergegenständlichen, wo wir können. Wir halten fest, wo wir können, und das verlangsamt unseren Prozess.
Teilnehmer: Aber ich kann ja nicht einfach über meine Ängste hinweghüpfen.
Ich kann Dir eine Hilfe anbieten: Das ist ohnehin so! Egal, ob Du davor Angst hast oder nicht, es ist schon
immer so und wird nie anders sein. Das heißt, es wird sich für Dich gar nichts ändern. Das mit der Leerheit
ist nicht, dass etwas neu in unser Leben hinzukommt. Ich glaube, da ist das Missverständnis. Über Leerheit
zu hören und mit dem Verständnis von Leerheit zu praktizieren, bedeutet nicht, dass irgendetwas Zusätzli-
ches in unser Leben hineinkommt. Die Erfahrungen bleiben weiterhin, wie sie sind, sie sind schon jetzt nicht
fassbar. Das heißt, für Praktizierende ist es nicht so, dass sie einem ganz neuen Sein begegnen, sondern ent-
spannter in dem Sein sind, das ohnehin ständig geschieht. Es kann Dir nichts passieren.
Es kann uns als Praktizierende nichts passieren, außer dass wir merken, dass wir vor etwas Angst hatten, vor
dem wir gar keine Angst zu haben brauchen. Das ist so, wie wenn man sich beim Meditieren immer wieder
so fühlt, als würde man gezwungen, in einen völlig dunklen Keller zu gehen. Wenn wir herausfinden, wie es
eigentlich mit den Erscheinungen ist, dann es ist so, als ob im Keller endlich Licht wäre. Wir merken dann,
dass es ja überhaupt nicht gefährlich ist. Man hatte ständig Angst, in diese unbekannte Zone vorzudringen,
aber jetzt, wo das Gewahrsein da ist, merkt man, dass es immer schon so war und dass es überhaupt keinen
Grund gibt, Angst zu haben. Da kann einem wirklich gar nichts passieren, denn alles bleibt so wie es ist, nur ist jetzt endlich dieses bedrohliche Dunkel weg.
Um das zu lernen, bleiben wir an der Schwelle; da, wo es unangenehm wird beim Meditieren. Wir können
uns anlehnen oder in einem Stuhl sitzen, den Körper brauchen wir nicht zu halten, wir entspannen uns bis wir
in den Bereich kommen, wo uns unwohl wird. Da verweilen wir, ohne etwas zu forcieren. Einfach gerade da,
wo der unsichere Bereich beginnt, und wir bleiben gewahr. So, als ob wir an der Kellertreppe verweilen
würden – da, wo es beginnt dunkel zu werden –, bis sich die Augen ans Dunkel gewöhnt haben, bis Licht ins
Dunkel kommt. In dem Bereich, wo wir verweilen, werden wir allmählich sehend. Das Bild mit dem Keller
müssen wir jetzt verlassen, denn beim Meditieren wird es wirklich hell, einfach weil wir verweilen und ver-
traut werden mit diesem Bereich des Erfahrens. Dort, wo wir vertraut werden, können wir mehr entspannen.
Und da entsteht wieder das Gefühl von einer Zone, in der uns unwohl wird – weil es in tiefere Bereiche der
Entspannung geht –, und auch da verweilen wir wieder bis wir sehend werden, bis das Gewahrsein diesen
Bereich ausgelotet hat. Und da wir jetzt damit vertraut geworden sind, können wir die nächsten Male schnel-
ler in diesen Bereich hinein entspannen und wieder ein wenig weiter loslassen. Und wieder zeigt sich, dass wir keine Angst zu haben brauchen, und wir können wieder ein bisschen entspannen.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Ich spreche hier aus der Erfahrung. Dieser Prozess hat sich bei mir in einigen Jahren vollzogen, von der Zu-
flucht an waren das die ersten sechs, sieben Jahre der Praxis bis zum zweiten, dritten Retreatjahr. Das war die
Zeit, in der ich deutlich merkte, wie diese Zone, wo ich nicht loslassen konnte und immer noch kontrollieren
wollte, ein bisschen nachgab und sich tiefere Entspannung zeigte. Dazu lade ich Euch alle ein, das ebenso
behutsam zu machen und nicht zu forcieren, sodass Ihr nicht zurückzuschrecken braucht. Bleibt an der
Schwelle des Unbekannten und lernt es kennen und merkt, dass da nichts Gefährliches ist.
Viele sitzen dem Missverständnis auf zu meinen, dass etwas Neues in unser Leben hineinkäme, dass die Er-
scheinungen dann anders wären. Das sind sie aber nicht, sie waren immer schon so. Der Dharma ist nur eine
Beschreibung von dem, wie es ohnehin ist; eine Beschreibung davon, dass wir unnötig Angst haben, unnötig
Kontrolle ausüben; dort, wo es nicht nötig ist zu kontrollieren. Wir können also eigentlich das Leben viel einfacher haben.
Ein kleiner psychotherapeutischer Ausflug: Natürlich haben uns die Erfahrungen des Lebens gezeigt, dass
das Leben schon auch gefährlich ist. Wir sind vielleicht verletzt worden und haben einen Grund, unruhig zu
sein, Angst zu haben. Wenn das ganz früh in unserem Leben passiert ist, dann können wir nicht einfach mehr
so loslassen, wie es in den Mahāmudrā-Belehrungen beschrieben wird mit dem Beispiel des Babys mit dem
satten Bauch oder dem voll entspannten Hund, der auf dem Rücken liegt – volle Entspannung und keine
Angst. Wenn wir in einer frühen Lebensphase schon so verunsichert wurden, dass wir uns Kontrolle ange-
wöhnt haben, dann haben wir es auch beim Meditieren schwieriger. Das ist ganz normal, heißt aber nicht,
dass wir das nicht nachträglich noch lernen könnten. Das sind tiefe Prägungen, Erfahrungen, wo wir im Be-
zug zu anderen nicht geschützt waren. Das bedeutet aber nicht, dass wir in der Meditation mit uns selber – in
einem geschützten Raum, wo uns nichts passieren kann – nicht loslassen könnten. Das können wir lernen.
Dann gilt es noch zu lernen, auch in der Beziehung zu anderen herauszufinden, wo die reale Gefahr ist und
wo man Erfahrungen von früher reproduziert, z.B. eine Ahnung von Bedrohung, wo keine ist. Das ist nicht
so leicht herauszufinden. Der erste Schritt wäre, diese Erfahrung, dass man tiefer loslassen und entspannen
kann, erst einmal für sich in einem geschützten Rahmen zu machen und dann auszuweiten in die Erfahrung
von Kontakt, in die Begegnung mit anderen. Da braucht man das Gefühl, kontrollieren zu können. Ein As-
pekt des Entwickelns von Geistesruhe ist auch, zu lernen den eigenen Geist zu lenken; dass ich auch weiß,
wie ich meinen Geist schützen kann, wie ich jederzeit – zum Beispiel durch die Meditation auf den Atem
oder durch Verankern in heilsamen Vorstellungen – meinen Geist schützen kann, wenn es sein sollte. Denn
die Fähigkeit der Einsicht, alles sich selbst befreien zu lassen, ist ja in der zwischenmenschlichen Begegnung erst viel später präsent.
Bis dahin brauche ich also die Fähigkeit, mich mehr und weniger zu öffnen, oder mich zu verankern, wenn
ich das brauche. Diese Fähigkeit gilt es zu schulen. Es geht nicht darum, mich direkt hundert Prozent zu öff-
nen, einfach so, und einen Blankoscheck des Vertrauens an die Welt auszustellen. Das ist nicht der Wirklich-
keit angemessen, in dieser Welt geschieht viel Schlimmes, Schwieriges – und ist uns auch schon passiert. So
ist das nicht gemeint. Vertrauen bezieht sich auf den eigenen Geist: zu wissen, dass – was auch immer an
Schlimmem passiert – sich auch das auflösen wird. Alles löst sich von selbst auf. Da haben wir auf einer tie-
fen Ebene eine Möglichkeit, durchlässig für alles zu werden und eben nicht in dieses Reagieren zu kommen, wo dann all die emotionalen und auch traumatischen Reaktionen entstehen.
Jetzt noch die Erklärung des letzten Satzes:
Du behebst dies [das Unwohlsein gegenüber den Erscheinungen], indem du die Erscheinungen wie auch
das Fürwirklichhalten in ihrer wahren Natur erkennst und verweilst, ohne etwas zu verhindern oder zu
erzeugen. Man schaut also in das Gefühl, dass da etwas Zusätzliches hineinkommt, dass die Leerheit etwas
Bedrohliches ist oder dass die Erscheinungen irgendwie anders sein müssten, und erkennt jeweils ihre wahre
Natur. Das ist also der gleiche Rat wie für das Auflösen von Hindernissen. Es geht immer darum, einfach zu
schauen, wie es wirklich ist. Das meinte ich mit dem Beispiel an der Kellertreppe, dass wir in dem Bereich,
wo wir dem Unbequemen begegnen, verweilen und schauen, wie es wirklich ist.
Ein weiteres Beispiel aus meinen Erfahrungen als Dharmalehrer hat mit dem Umgang mit Dauergefühlen zu
tun – körperliche Schmerzen oder psychischer Schmerz, wie Trauer. Körperlicher Schmerz und Trauer-
schmerz sind Formen des Erlebens, bei denen viele Menschen sich nicht trauen, sich ihnen zuzuwenden aus
der Befürchtung heraus, dass der Schmerz durch das Zuwenden noch stärker wird und sie überwältigt und
zerreißt. Das ist eine häufige Einstellung bei starken körperlichen oder psychischen Schmerzen. Das stimmt
insofern, dass unser Geist von einem starken Greifen geprägt ist, wenn wir uns den Schmerzen zuwenden,
nachdem wir vorher die Taktik verfolgt haben, uns lieber abzulenken und nicht daran zu denken. Wenn wir
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
uns mit diesen greifenden Mustern den Schmerzen zuwenden, dann werden wir sie auch ergreifen und
dadurch aufblähen. Sie werden dadurch stärker werden. Wenn man aber direkt in den Schmerz hineinschauen kann, ist da kein Problem.
Aber wer das nicht kann, der muss sich auch da an den Bereich herantasten. Ich z.B. habe Schmerzen in der
Hüfte. Wenn es mir zu riskant vorkommt, direkt ins Zentrum des Schmerzes zu gehen und herauszufinden,
wie der wirklich ist, dann würde ich in die umgebende Zone gehen, wo der körperliche Schmerz anfängt.
Dort würde ich anfangen zu entspannen. Dort, wo ich noch nicht im Schmerz bin, aber wo er beginnt und ich
noch entspannen kann, dort würde ich verweilen und dann merken: „Das geht ja. Da kann ich bleiben und
noch entspannen.“ Nach einer Weile kann ich etwas näher rangehen und werde merken: „Auch mit dieser
Dosis von intensiver Erfahrung kann ich noch entspannen.“ So kann man um den Schmerz herumgehen, von
verschiedenen Richtungen kommen, und um den Schmerz legt sich quasi eine Zone der Entspannung herum,
und innen drin wird der Bereich kleiner, den ich noch nicht aushalten kann.
Mit psychischen Schmerzen geht das auch. Wir können in den Bereich hineingehen, wo wir beginnen unsere
Trauer zu spüren, aber es nicht stärker machen. Wir bleiben dort, wir gehen nicht in das auslösende Ereignis
hinein, wir gehen auf keinen Fall in das traumatisierende Erleben hinein, um das zu aktivieren; keineswegs.
Wir bleiben in der Randzone mit ausreichend Kontakt, damit es ein wenig präsent bleibt, und dort lernen wir
zu entspannen. Ich erinnere mich z.B. an den Verlust einer geliebten Person, aber ich gehe mit meiner Erin-
nerung nicht in die Trennungssituation, sondern ich bleibe in der Randzone. Zum Beispiel rufe ich mir ein-
fach den Namen der Person in Erinnerung, bleibe dabei und lerne, damit zu entspannen. Dann kann ich dies ein bisschen intensivieren, mir die Person etwas mehr ins Bewusstsein rufen, und wieder entspannen damit.
Das können wir mit all den chronischen, belastenden Emotionen machen, die länger bleiben. Wir brauchen
nicht direkt ins Zentrum zu gehen, das können viele Menschen nicht. Das wäre das Beste, da könnten wir
direkt die Erfahrung machen, dass es keine Substanz hat, aber wir können auch in die Randzonen gehen und
dort schon einmal die Erfahrung machen, dass es möglich ist, damit zu sein; dass das nicht nur auszuhalten
ist, sondern dass man damit ganz lebendig und entspannt sein kann. Dann kann man ein bisschen mehr ins Bewusstsein hereinholen und wieder damit entspannen.
Und das geht immer weiter. Wenn man dranbleibt, kann man in Kürze bis ins Zentrum z.B. eines Kopf-
schmerzes, Zahnschmerzes, etc. gehen und merken, dass es da drin ja total lebendig ist. Die Bezeichnung
‚Schmerz‘ fällt dann weg. Es bleibt hoch intensives Erleben, aber das Erstaunliche ist, dass es erstens über-
haupt nicht zunimmt, sondern die Schmerzempfindung abnimmt, und dass zweitens kein Zentrum zu finden
ist. Genau wie in der Trauer: die Trauer überwältigt uns gar nicht und wird nicht immer stärker, sondern sie
hat kein Zentrum und ist total lebendige Erfahrung mit verschiedenen Gedanken, Bildern, Erinnerungen. Sie
beginnt sich zu entwickeln und geht ihren eigenen Weg. Vielleicht kommt noch anderes vor – Wut, Angst,
andere Gefühle, die damit zusammenhängen und vorher gar nicht spürbar waren –, all das kommt in Bewe-
gung. Wir merken, dass das, was man vorher wie eine solide schwarze Trauer erlebt hat, ein sehr lebendiges Fühlen von vielen verschiedenen Gefühlen ist, die sich allmählich lösen, während man so dabei ist.
Das gilt nicht nur für körperliche und geistige Gefühle, sondern ebenso für das Ichgefühl, für dieses Gefühl
jemand zu sein. Auch das brauchen wir nicht frontal anzugehen – obwohl es sicherlich die schnellste Lösung
ist, wenn man da direkt hineingehen kann –, wir können uns auch mit diesem Ichgefühl anfreunden und in
der Randzone, dort wo wir es schon spüren, entspannen und schauen: „Wie ist es eigentlich?“ Wir bemerken,
dass es manchmal stärker ist, manchmal weniger stark, manchmal scheint es gar nicht da zu sein, und lernen
auch das allmählich kennen. Jeder Bereich unseres Erlebens kann auch auf diese Art angegangen werden.
Wir müssen nicht jedes Mal direkt ins Zentrum gehen, sondern wir können uns in der Zone drum herum, in
der Nähe aufhalten und dieses Licht des Gewahrseins allmählich sich ausweiten lassen. Vertraut werden mit uns selbst, das ist es eigentlich.
Das ist eine ganz einfache Unterweisung: in die Bereiche, die uns interessieren, die uns Angst machen, die
schwierig sind, soweit hineingehen, wie es gut auszuhalten ist, und vertraut werden damit. Das ist die Praxis
von Geistesruhe, die zu Einsichten führt und allmählich auch zu der intuitiven Einsicht, dass nichts Substanz
hat; dass alles leer ist, nicht fassbar.
Darum beschließt Karmapa mit dem Satz:
Du behebst dies, indem du die Erscheinungen wie auch das Fürwirklichhalten in ihrer wahren Natur
erkennst und verweilst, ohne etwas zu verhindern oder zu erzeugen.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Wieder dieses offene Gewahrsein, in dem alles sein darf. – Ich habe das mit den körperlichen Schmerzen
ganz intensiv praktiziert, als ich mit Vierzig einen Bandscheibenvorfall hatte. Bei einem Bandscheibenvorfall
verspannt sich normalerweise alles um die Wirbelsäule herum. Alles verspannt sich. Wenn man aber dort
hineingeht, wo es beginnt angespannt zu werden, weil da eine Verletzung ist – von oben, von unten und seit-
wärts – , bleibt zum Schluss nur eine kleine Zone übrig. Dort ist die eigentliche Wunde – die rausgerutschte
Bandscheibe – und darum herum ist es möglich, alles zu entspannen. Als die Leute, die mich damals behan-
delt haben, gefühlt haben, dass um den Schmerzherd herum alles entspannt ist, wurde mir klar, dass andere
wahrnehmen können, wie man muskulär alles um einen Schmerzherd herum entspannen kann. Das ist eine
praktische Anwendung von Meditation.
Meditation: Offener Geist
Wenn es Euch möglich ist, dann erlaubt dem Geist, so weit zu werden wie der Himmel, so als ob wir keine
Decke über dem Kopf hätten, sondern einfach nur offenen Raum – innerlich wie äußerlich. – Schaut mal, wie offen der Geist werden kann. – Ganz weiter und offener Geist, und Ihr dosiert selber, wie offen. – Der Geist ist offen und das Erleben geht weiter. … Alles darf sein und alles löst sich auch von selber auf. – Die Sinneserfahrungen – auch Erscheinungen genannt – werden in den Mahāmudrā-Texten manchmal mit
Zeichnungen im Wasser verglichen … oder sogar mit Zeichnungen im Himmel. – Manchmal werden sie mit Schneeflocken verglichen, die auf einen heißen Stein fallen. –
* * *
Mitgefühl nicht zum Feind werden lassen
Wenn du so meditierst, zeigen sich zwar mehr Vertrauen und Mitgefühl als bei anderen, doch sie sind
noch nicht im Mahāmudrā rein [d.h. nondual] geworden und sie verlieren sich in Gewöhnlichkeit. Du
empfindest Mitgefühl mit anderen, die diese Qualitäten [die du in der Praxis entwickelt hast] nicht besit-
zen, und denkst „Es wäre von großem Nutzen, wenn ich mich nun stattdessen [statt weiter so intensiv zu
praktizieren] um das Wohl anderer kümmern würde!"
Gewöhnlichkeit bedeutet, dass es immer noch ein emotionales Mitgefühl ist, ein Ich-und-Du-Mitgefühl.
Denkt immer daran, dass diese Texte in Tibet geschrieben wurden für Yogis, die jahrelang praktizierten. Das
bezieht sich jetzt auf eine Situation, wo jemand in seinem mehrjährigen Retreat echte Qualitäten entwickelt
hat – aber noch nicht wirklich erwacht ist – und sagt: „Jetzt verlasse ich das Retreat und kümmere mich um andere.“
Wenn du aber, ohne selber das Ziel [Erwachen oder zumindest eine stabile Erkenntnis der Natur des Geis-
tes] verwirklicht zu haben, deine Qualitäten für andere Dinge [als die Gewahrseinspraxis] einsetzt und
dich mit dem Wohl anderer befasst [statt die Einsicht zu vertiefen], wird Mitgefühl zum Feind.
Zum Feind insofern, als wir noch nicht reif sind, den Weg selber noch nicht kennen, anderen aber helfen wol-
len. Wenn jemand, der selber noch nicht sehend geworden ist, anderen den Weg zeigen möchte, dann ist das
nicht besonders hilfreich, so gut die Motivation auch sein mag. Anderen helfen wollen bedeutet hier nicht,
Kranke zu pflegen oder so. Es bedeutet Dharma-Aktivitäten auszuführen, anderen zeigen zu wollen, wie man
meditiert, den Dharma übertragen zu wollen, usw. Wenn man selber noch nicht den springenden Punkt ver-
wirklicht hat, dann ist das nicht wirklich hilfreich. Es kann ein bisschen helfen, aber eigentlich verlangsamt
oder unterbricht man seinen eigenen Weg, man geht nicht weiter in die Tiefe, in die Verwirklichung hinein,
und anderen ist man keine so große Hilfe.
Man muss auch berücksichtigen, dass das in einem Land geschrieben wurde, wo es viele kompetente Dhar-
malehrer gab. Es war nicht nötig, dass all die Yogis selber Dharmalehrer oder -lehrerinnen wurden. Gendün
Rinpoche hat viele von uns gebeten zu unterrichten – eigentlich zu früh. Aber wo es wenig Dharmalehrer
gibt, ist die Einschätzung der Situation anders, da muss man eventuell ein wenig früher unterrichten, aber
man muss gleichzeitig darauf achten, dass sich die eigene Praxis weiter vertiefen kann. Falls du aber aus die-sem Grund mit deiner meditativen Praxis aufhörst:
Sollte das der Fall sein, dann erkenne die wahre Natur dieses Geisteszustandes fürsorglichen Mitge-
fühls und lasse ihn, ohne etwas zu verhindern oder zu erzeugen.
Also auch hier dasselbe Heilmittel: Erkenne, dass dieser Impuls, jetzt das Retreat zu verlassen und etwas
zum Wohl der Wesen zu tun, auch nur ein Impuls ist, eine Geistesbewegung ohne jegliche Substanz. Du
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
brauchst nicht das zu tun, was dir gerade durch den Kopf geht, du brauchst dem nicht zu folgen. Lass es
durchlaufen, erkenne seine wahre Natur und verweile wieder ganz offen ohne etwas zu ergreifen.
Aus meiner Erfahrung als Retreat-Leiter weiß ich, dass es häufiger passiert als wir vielleicht denken, dass
jemand ganz gut und auch recht tief in der Praxis ist und dann mit irgendeinem Projekt ankommt, was er für
andere tun möchte – etwas schreiben, etwas übersetzen, aus dem Retreat hinaus gehen. Man merkt, dass da
zwar Mitgefühl drin ist, aber es ist einfach ein Impuls, sich davor zu schützen, dass die Praxis noch tiefer
gehen kann. Es ist eine geschickte Ablenkung, wo die ganze Welt applaudiert, weil es so wunderbar ist, was
dieser Mensch da macht. Und nur man selber kann erkennen – oder ein Lehrer, wenn er viel Erfahrung hat –
dass man gerade dabei ist, vor sich selbst davonzulaufen, vor der weiteren Auflösung der Ich-Identifikation.
Das mitfühlende Projekt ist eine Möglichkeit, sich wieder neu mit etwas zu identifizieren.
Während sich dann das leuchtende Mitgefühl in seiner eigenen Natur, in Mahāmudrā, klärt, praktizie-
re ausführlich Wunschgebete.
Das ist der Hinweis, wie wir das Mitgefühl nicht untergraben, sondern das echte Mitgefühl in Wunschgebete
hinein lenken. Alle Wunschgebete beinhalten, dass man sich innerlich darauf vorbereitet, als Bodhisattva all
seine Kraft und Energie den Lebewesen zur Verfügung zu stellen, wenn man dann einmal so weit ist – nicht
zu früh, erst wenn man selber raus aus Saṃsāra ist. Dann kann man anderen die Hand reichen und den Weg
zeigen. Indem man diese mitfühlende Kraft in Wunschgebete lenkt, wird sie durch den Entschluss, doch
noch im Retreat zu bleiben, stärker statt schwächer. Im Retreat zu bleiben, ohne sich draußen zu engagieren,
und gleichzeitig das Mitgefühl zu vertiefen, ist sehr kraftvoll. Sehr kraftvolle Methoden sind z.B. die Praxis des Samantabhadra-Wunschgebetes oder des Mahāmudrā-Wunschgebetes.
Lama Tönsang hat in Montchardon eine Sammlung von Wunschgebeten herausgegeben. Wenn man in der
Art betet oder informell Wünsche ausdrückt, die diese Bodhisattva-Motivation verankern, dann kann auch im
Retreat das Mitgefühl weiter wachsen. Das sind Samen, innere Ausrichtungen, die bewirken, dass – wenn die
entsprechende Situation kommt und wir soweit sind –, all unsere Energien auf das aktive Umsetzen des
Wohls anderer ausgerichtet sind.
So löst sich das Problem auf, dass Mitgefühl zum Feind [der Praxis] geworden ist – und für günstige
Bedingungen zum Nutzen anderer ist damit auch gesorgt.
Das heißt, die Wunschgebete sorgen dafür, dass diese Bedingungen entstehen. Bodhisattvas wie Gendün
Rinpoche machen sogar Wunschgebete, die gar nichts mit ihnen selbst zu tun haben – Wunschgebete für
Möhra, für Kündröl Ling in der Auvergne, Le Bost, Laussedat, Dhagpo; oder Wunschgebete für alle, die mit
dem Mahāmudrā verbunden sind, dass sie die Bedingungen für die Praxis finden. Die positive Kraft solcher
Wunschgebete ist so stark, dass günstige Bedingungen zusammenkommen, selbst wenn sie als Person gar
nicht mehr beteiligt sind. Sie ermöglichen, dass Schüler und künftige Generationen diese Kraft weitertragen.
Von Milarepa, Gampopa und den Karmapas sind Wunschgebete bekannt, die sie wiederholt für die Zukunft
der Übertragungslinie gemacht haben. Gendün Rinpoches hat oft Mandala-Opferungen gemacht, nicht als
persönliche Praxis sondern für die Zukunft des Klosters und der Übertragungslinie, und widmete die positive
Energie den zukünftigen Generationen.
Das ist mit Wunschgebeten gemeint: Praxis, der man sich richtig widmet und die man tun kann, obwohl man
jetzt gerade fast die Hände gebunden hat und noch gar nicht viel für andere tun kann. Aber man bereitet den
eigenen Geistesstrom darauf vor, und man bereitet auch sozusagen das Feld dafür vor, dass sich so etwas
Heilsames nicht für uns selbst sondern auch für andere vollziehen kann.
Teilnehmer: Ist das auch eine Praxis, wenn ich im Alltag merke, dass ich etwas Gutes tun will, aber dass gleichzeitig etwas da ist, das Bestätigung will, Ich-Bestätigung? Kann ich dann auch Wunschgebete machen?
Selbstverständlich ist das eine Möglichkeit. Du kannst auch einfach OM MANI PEME HUNG oder derglei-
chen praktizieren. OM MANI PEME HUNG ist auch ein Wunschgebet an sich.
Aber wie gesagt, das sind Unterweisungen für Retreatler, und wir sollten nicht über-kritisch mit uns selber
sein und bloß, weil wir noch in Ichbezogenheit sind, es unterlassen anderen zu helfen. Auf keinen Fall sollte
das so verstanden werden. Wir helfen wo wir können, aber wenn wir die Bedingungen für die Praxis haben,
die uns die Möglichkeit gibt, zu erwachen – also ganz tief zu gehen –, dann hat die Praxis Vorrang.
Du kannst also in Deiner täglichen Praxis Wunschgebete einbauen, Tonglen praktizieren, Mantras oder die
Vier Unermesslichen rezitieren, etc. Das sind Momente, wo wie so ein Lichtstrahl vom Herzen ausgeht und
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
in alle Richtungen strahlt, und es reicht eigentlich schon, das jedes Mal so zu verankern und mit Intensität zu
praktizieren.
Meditation: Die Vier Unermesslichen
Wir stellen uns vor, wir sind im Retreat, in einer wunderbaren Höhle im Himalaya, ganz schnuckelig
warm… und wir haben den dringenden Impuls, den Lebewesen zu helfen. … Wir denken an Milarepa, Gam-
popa und all die anderen Vorbilder, die weise gewartet und weiter praktiziert haben, bis die Zeit wirklich reif
geworden ist, anderen zu helfen. – Und dann sagen wir uns: „Ich will es auch so halten.“ Also lasse ich diesen Impuls durchrauschen, öffne den
eigenen Geist wieder und bekräftige aber den Impuls des Mitgefühls mit den vier unermesslichen Geisteshal-
tungen: Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. – Beginnen wir mit der Liebe: Allen fühlenden Wesen, ich selbst mit eingeschlossen, wünsche ich, dass sie
wirkliches Glück finden … das Glück des Erwachens, des völlig freien Geistes, … und dass sie die Ursachen
des Glücks in ihrem Geistesstrom erzeugen: heilsames Verhalten, Auflösen von Ichbezogenheit. … Nehmt
Euch eine Weile Zeit, diesen Gedanken in Euch zu vertiefen, sodass er ganz von Herzen kommt. So als wür-
de das Herz wie eine Sonne beginnen zu leuchten. „Mögen alle glücklich sein!“ – Lasst die Liebe in alle Richtungen ausstrahlen. – Wir können uns vorstellen, dass wir allen Lebewesen, die uns in den Sinn kommen, eine Liebe entgegen-
bringen wie eine Mutter ihrem Kind; vielleicht wie eine Mutter ihrem erwachsenen Kind … eine Liebe, die
alle in ihrem erwachten Potenzial unterstützt. – Und dann gesellt sich zur Liebe das Mitgefühl. Ganz selbstverständlich begleitet die Liebe der Wunsch, dass
alle frei sein mögen von Leid und auch keine weiteren Ursachen für Leid erzeugen. … So wie wir einem
Menschen, der uns ganz nahe ist – vielleicht unserer Mutter, unserer Großmutter, unserem Vater, unserem
Großvater – wünschen, nicht zu leiden … und frei zu sein. … So strahlt das Mitgefühl in alle Richtungen,
vor uns, hinter uns, rechts und links, oben und unten. Und im Zentrum ist nur Mitgefühl, Liebe; kein Ich zu
entdecken. – Und dann gesellt sich auch die Freude hinzu. … Freude, Mitfreude. Freude aus dem eigenen Herzen, die ge-
teilt werden möchte und sich mitfreut an allem Heilsamen in der Welt; der Wunsch, dass alle wirkliche Freu-
de erleben mögen, völlig unbeschattet, völlig frei von Anhaften, von Leid; pure Freude. … Die Freude strahlt
in alle Richtungen und jeder, der uns in den Sinn kommt, wird von dieser liebevollen, mitfühlenden Freude
erreicht. – Und nun gesellt sich auch der Gleichmut noch dazu, das tiefe Erkennen der wahren Natur aller Phänomene,
die diesen Gleichmut verleiht; dazu der Wunsch, bei allem Angenehmen und Unangenehmen frei zu bleiben,
nicht mit Anhaften und Ablehnen zu reagieren. Liebe, Mitgefühl und Freude werden von Gleichmut durch-
drungen. Ein ganz offener Geist, frei von allen Vorlieben. – Vielleicht ist es Euch möglich, die vier Herzensqualitäten als Einheit zu spüren. Wir nennen sie manchmal
Bodhicitta. – Zum Abschluss dieser Meditation machen wir den Wunsch, dass es nicht nur bei dieser Geisteshaltung bleibt,
sondern dass dem – wenn wir dann soweit sind – auch ein Handeln folgt, ein Wirken zum Wohle der Lebe-
wesen, mit genau dieser Geisteshaltung. … Vielleicht wollt Ihr auch die Augen öffnen und all die, die mit uns im Saal sind, ganz konkret in diese Geisteshaltung einbeziehen. –
* * *
Jetzt könnt Ihr Euch aus eigener Erfahrung vorstellen, dass es nicht bedeutet, die mitfühlenden Impulse zu
unterdrücken, sondern dass sie auf wunderbare Weise eine innere Ausrichtung erfahren, und dass es so tat-
sächlich möglich ist, länger im Retreat zu bleiben und dabei das Mitgefühl zu verstärken. Der Buddha hat sehr oft in dieser Art meditiert. Er erwähnt es sehr häufig in seinen Lehrreden.
Teilnehmer: Mich würde interessieren, ob Du Deinen Retreatlern auch so geantwortet hast wie uns.
Manchmal schon. Oft mit Humor, indem ich ihnen das Muster aufgezeigt habe, das da aktiv ist; manchmal
habe ich sie ein wenig machen lassen und nicht einfach ausgebremst. Es kommt auf die Situation an. Oft ha-
ben wir darüber gesprochen und ein bisschen abgewägt: „Was ist denn eigentlich von größerem Nutzen?“
Also Wertschätzung für das Mitgefühl, das sich in diesen Projekten ausdrückt, in diesen Impulsen, aber dann
auch: „Wie steht es denn? Meinst Du, es könnte noch tiefer gehen in Deiner Praxis? Wie wäre der Nutzen
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
davon langfristig gesehen?“ Im Grunde genommen die Weisheit etwas schärfen, das eigene Unterschei-
dungsvermögen etwas unterstützen.
Viele habe ich einige Jahre nach ihrem Retreat wieder getroffen und die meisten waren überrascht, wie
schwierig es ist, mit dem Dharma in der Welt hilfreich zu sein. Das sieht aus der Perspektive des Retreats
viel leichter aus. Das ist gar nicht so einfach, vor allen Dingen, wenn man sich alleine aufmacht. Ein Ort wie
hier ist wunderbar, da kann man sich gegenseitig unterstützen und die Gruppe entwickelt als Ganzes eine
Aktivität. Aber wenn man nicht in einer Gemeinschaft bleibt, ist es für einen Dharmalehrer ganz schwierig, in der Tiefe Heilsames zu bewirken, da muss man schon sehr stabil sein.
Fast alle von denen, deren Lebensläufe ich verfolgt habe, haben ihren Beruf gewechselt und sind in helfende
Berufe gegangen. Bei fast allen ist klar, dass das Mitgefühl so stark geworden ist, dass sie nicht in ihrem al-
ten Beruf weiterarbeiten wollten, dass sie wirklich hilfreich in der Welt sein wollten, aber meistens nicht als Dharmalehrer sondern in anderen helfenden Berufen.
Ursache und Wirkung nicht zum Feind werden lassen
Wenn du glaubst, du müsstest unbedingt Grammatik, Erkenntnistheorie und dergleichen Nebensäch-
liches üben, um die Sicht zu verwirklichen, die [in der Meditation] noch nicht klar geworden ist, und
du lässt dann aufgrund dieses Wunsches das Meditieren fallen, dann sagt man, [verkehrte Annahmen
zu] Ursache und Wirkung sind zum Feind geworden.
Wir verwechseln in dem Moment, was die eigentlichen Ursachen für das Erwachen sind, und welche Aus-
wirkungen Studium und Beschäftigung mit tsema – Erkenntnistheorie – haben. Man denkt, das sei direkt
förderlich, um die Sicht zu vertiefen. Tatsächlich kann die Beschäftigung mit buddhistischer Erkenntnistheo-
rie einen in begriffliches Haften hineinführen, was überhaupt nicht hilfreich für die Praxis ist. Man bewegt
sich im Begrifflichen, während die eigentliche Praxis das Aufgeben des Haftens an Bezugspunkten ist. Die
Beschäftigung mit Worten, Begriffen und philosophischen Ansätzen gibt uns wieder jede Menge Nahrung für
das Haften an Bezugspunkten. Es gilt, genau das aufzugeben und tiefer in die Praxis hineinzugehen.
Das war zum Beispiel die Geisteshaltung von Gampopa, der diese Mahāmudrā-Praxis in unserer Linie be-
sonders stark gemacht hat. Das ist ein besonderer Zug dieser Schule: Mahāmudrā-Meister wie Milarepa,
Gampopa und die Karmapas haben auf grundlegende Erklärungen über die Natur des Geistes gesetzt – Erklä-
rungen, wie sie in Gampopas „Der Kostbare Schmuck der Befreiung“, auch als „Juwelenschmuck“ bekannt,
stehen. Das hielt Gampopa für ausreichend, um die noch recht jungen Schüler ins Retreat zu schicken. Er hat
seine Schüler, die zum Teil noch unter Zwanzig waren, in die Höhlen geschickt und praktizieren lassen in
dem Vertrauen, dass sich mit den mündlichen Schlüsselunterweisungen die Sicht aus der Meditation heraus
klärt. Es geht im Mahāmudrā um eine Sicht, die nicht begrifflich ist, die aus der tiefen Schau des Seins her-
aus kommt. Das war immer wieder ein Streitpunkt zwischen diesem Mahāmudrā-Ansatz – den man auch das
Mahāmudrā der Hingabe oder des Vertrauens nennt – und dem Ansatz der Gelehrten –, bei dem man erst
einmal zehn Jahre Erkenntnistheorie und dergleichen studiert, um dann zu meditieren. Aus der Sicht des neunten Karmapa würde das bedeuten, Ursache und Wirkung zu verwechseln.
Das überwindest du, indem du eifrig die eigentliche [nicht aus dem Intellekt geborene] Sicht und Me-
ditation praktizierst und sie ohne Hoffnung und Furcht aufrechterhältst. Übe dich so.
Die eigentliche Sicht ist die Schau dessen wie es ist, immer gerade am Ball zu bleiben mit der augenblickli-
chen Erfahrung. Die Sicht beginnt damit, dass wir uns auf die Vergänglichkeit, den Wandel, einlassen. Das
ist die beste Einstiegspforte: zu sehen, wie sich alle Phänomene wandeln und ständig verändern. Die Sicht
wird weiter kultiviert durch diese ganze Serie von Lhaktong-Fragen, den Fragen zur intuitiven Einsicht: Fra-
gen zum Geist, Fragen zur Natur des Subjekts, Fragen zur Natur der Objekte. Haben sie Farbe, Form, einen
Ort an dem sie verweilen? Und so weiter. All diese Fragen schärfen unseren Blick auf das, wie es eigentlich
ist. Bis wir durch die Kombination von Schlüsselunterweisungen und persönliche Praxis ein klares Verständ-
nis davon bekommen, dass ein Geist als solcher, als ein definierbares Objekt, nicht zu finden ist; dass ein
Meditierender als ein klar zu definierendes Subjekt nicht zu finden ist; dass die Sinneswahrnehmungen eben-falls keinerlei Substanz haben und irrtümlich für getrennte Objekte gehalten werden.
Das sind die Kernpfeiler der Mahāmudrā-Sicht. Wir brauchen in unserer Praxis Zeit, dieses grundlegende
Verständnis zu klären, und wir machen das mit unserer eigenen Meditationspraxis, geleitet durch diese Fra-
gen, die wir zum Beispiel im „Ozean des Wahren Sinnes“ finden können. Das klärt die Sicht, und wenn die
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
klar ist, meditieren wir in dieser Sicht weiter; in dem, was wir bereits erkannt haben. Dadurch klärt sich das
immer mehr.
Es gab einige Retreatler, die bereits einige Jahre Studium am KIBI hinter sich hatten, als sie ins Retreat ka-
men. Ich habe als junger Retreat-Leiter gedacht, die müssten einen richtigen Vorsprung haben, weil sie sich
schon so viel mit diesen Themen auseinandergesetzt haben. Tatsächlich musste ich aber beobachten, dass es
ihnen in der Meditation gar nicht so viel geholfen hat. Sie kannten sich relativ gut mit den Begriffen aus,
aber was eine verlässliche Sicht im Meditieren angeht, war das ein nicht so großer Vorteil, wie man ihn sich
eigentlich hätte erhoffen sollen. Das trifft nicht auf alle zu. Es gibt einige, die durch dieses Studium mit be-
gleitender Meditationspraxis gute Fortschritte gemacht haben. Aber es ist keineswegs so, dass man sagen
könnte, dass man es per se leichter hat in der Meditation, wenn man sich mit buddhistischer Philosophie und Erkenntnistheorie beschäftigt. Das ist erstaunlich, und da spreche ich wirklich aus Erfahrung.
Teilnehmer: Kann man eine Grenze erkennen, bis zu der ein Studium nützlich ist und ab der es in eine Be-
griffsverfestigung abkippt?
Ja, es gibt Zeichen. Wenn das Studium Inspiration freisetzt für ein interessiertes, offenes, forschendes Medi-
tieren, dann tut es gut und ist hilfreich. Es entsteht Inspiration für die Praxis, für das Hinschauen, das ist ein
gutes Zeichen. Wenn sich durch das Beschäftigen mit Texten eine Haltung von „Ich weiß ja schon“ einstellt,
wenn die Meditation – das Verweilen im natürlichen Sein – immer langweiliger wird, weil man denkt, man
kenne alles schon, und man sich immer mehr zu den Begriffen hingezogen fühlt, dann ist das ein schlechtes
Zeichen. Wenn man beginnt, sich mehr und mehr über Begriffe zu streiten, immer mehr an Definitionen zu
kleben und der Geist unflexibler wird, ist es ein schlechtes Zeichen. Das heißt, dass dann die Beschäftigung
mit der Philosophie gar nichts hilft, denn in der buddhistischen Lehre geht es darum, Meinungen hinter sich
zu lassen. Wenn Meinungen stärker werden und sogar dazu führen, an Begriffen wie an Wirklichkeiten fest-zuhängen, dann ist das Studium kontraproduktiv.
Warum gibt es dann diese Unmenge von Literatur auf dem Markt?
Weil es eine Unmenge an Menschen gibt, die es nicht auf dem Meditationskissen aushalten.
Aber es gibt auch Leute, die als Praxis abwechselnd lesen und meditieren.
Ja, und die machen meist auch sehr gute Fortschritte! Auch ich ziehe viel Inspiration aus Dharmatexten, aber
das ist nicht dieses begriffliche Studium, wo der Geist ständig auf der Ebene des Intellekts angesprochen ist,
sondern das sind ausgewählte Texte, die den Geist öffnen und wo durch die Wirkung der Worte eine Öff-
nung, Inspiration, entsteht, und man wie – durch das Lesen eines Absatzes – im Segen verweilen kann. Das
sind Texte wie die, die ich Euch unterrichte. Diese Texte haben auf mich diese Wirkung gehabt. Gendün Rin-
poche hat ebenfalls so gelesen: Man liest und meditiert, liest und meditiert. Also immer die Schritte Lesen –
Kontemplation – Meditation. Wenn man das so macht, dann kann man aus fast jedem Text Inspiration für die
Praxis ziehen, auch aus ganz trockenen Abhidharma-Texten. Aber es geht eben nicht um Wissen, es geht um
die Inspiration für die Praxis und darum, tiefer zu schauen. Wissen ist nicht schädlich, bloß geht es nicht da-
rum. Es geht um die eigene persönliche Erkenntnis.
Man könnte sagen, dass man Dharma-Texte als Gegenstand des Wissens missverstehen kann. Dharma-Texte
sind kein Gegenstand des Wissens, genauso wie die Leerheit kein Gegenstand des Wissens ist. Dharma-Texte
sind eigentlich Geistöffner, Herzensöffner, Bewusstseinsöffner. Sie richten unsere Aufmerksamkeit in eine
bestimmte Richtung, und da hinein gilt es sich zu öffnen und zu untersuchen. Eigentlich sind Dharma-Texte
gesammeltes Erfahrungswissen, das uns zur Verfügung gestellt wird, um immer wieder Inspiration für die
Praxis zu finden. Wenn man mit dieser Haltung vorgeht, kann man sich fast jeden Text vornehmen. Aber
wenn man meint, man müsste die drei Punkte, vier Punkte, sieben Punkte auswendig lernen usw., so ist das
nur Wissen, das uns nicht weiter bringt.
Wenn also Ursache und Wirkung verwechselt werden:
Das überwindest du, indem du eifrig die eigentliche Sicht und Meditation praktizierst und sie ohne
Hoffnung und Furcht aufrechterhältst. Übe dich so.
Hoffnung bedeutet hier zu meinen, man könne durch zusätzliches Studium, durch zusätzliches Tun noch
mehr herausholen, und mit Furcht ist gemeint zu denken, dass man nicht vorwärts komme, wenn man ‚nur‘
meditiert und die Schlüsselunterweisungen praktiziert.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
5. Drei Hindernisse überwinden
Bei allem was auftaucht – seien es körperliche oder geistige Krankheiten oder die [drei] Hindernisse
der tiefen Meditation wie Vernebelung, Wildheit und Dumpfheit – untersuche jeweils ihre wahre Na-
tur, Farbe und Form und schau, woher sie kommen, wo sie verweilen und wohin sie gehen.
Es ist immer derselbe Hinweis, in die wahre Natur dessen zu schauen, was gerade im Geist aktiv ist. Dabei
entdecken wir – egal welcher Geisteszustand oder welche Geistesbewegung gerade da ist, ob es sich um
Dumpfheit, Vernebelung oder einen aufgewühlten Geist handelt –, dass keine der Geistesbewegungen
Merkmale hat, die ein Objekt definieren würden: eine Form, eine Farbe, einen Ort, von dem sie herkommt
oder an den sie hingeht, vorher und nachher. Geistesbewegungen entstehen im Moment, sind erfahrbar, und
schon wenn wir versuchen, das Zentrum dieser Erfahrung zu finden, ist da wieder nichts Fassbares, nichts Greifbares. Es ist immer dieselbe Erfahrung, wir sprechen nie von etwas anderem.
Vernebelung, Wildheit und Dumpfheit sind drei verschiedene Geisteszustände. Bei Vernebelung ist unser
Geist so, als würden wir einen Raum hineinkommen, in dem alles voller Nebel oder Rauch ist. Es ist zwar
hell, aber wir sehen nichts klar, alles ist diffus. Es ist also ein diffuser Wachzustand. Wildheit, Aufgewühlt-
sein, ist, wie in einen Raum hineinzukommen und völlig klar zu sehen, aber es herrscht totales Chaos. Alles
bewegt sich, aber es ist völlig klar wahrnehmbar. Das kann von leichter Bewegung bis hin wie zu einem
Sturm gehen, wobei man aber alles deutlich wahrnimmt. Mit Dumpfheit, Schläfrigkeit, ist gemeint, dass man
wie in einen Raum hineinkommt, aber man sieht nichts, weil es so dunkel ist. Es ist so schläfrig, der Geist ist
wie dunkel.
Bei jedem dieser sogenannten Meditationshindernisse wird im Mahāmudrā empfohlen, irgendwann damit
aufzuhören, Gegenmittel anzuwenden – also zum Beispiel bei Dumpfheit den Körper aufzurichten, die Au-
gen zu öffnen, stehend zu meditieren etc., damit die Schläfrigkeit weggeht. Aber so ist man ständig dabei,
das Gegenmittel für etwas zu suchen, was eigentlich keine Substanz hat. Deswegen muss man irgendwann
damit aufhören.
Wenn man in der Mahāmudrā-Praxis weitermacht, ist es entscheidend, dass man merkt, dass diese drei soge-
nannten Hindernisse keine Substanz haben, und dass man sich mit ihrer Natur vertraut macht. Ihre wahre
Natur ist so, dass sie sich auflöst, wenn wir uns in die Schläfrigkeit mit Gewahrsein hineinentspannen. Das
Gleiche gilt für Aufgewühltsein und für Vernebelung. Alle drei Zustände lösen sich, wenn wir voller Ge-
wahrsein in ihr vermeintliches Zentrum hineingehen und klären, ob sie einen Wesenskern, ob sie Substanz
haben:
Ohne etwas zu leugnen oder zu bestätigen, kläre, ob sie eine Eigennatur [einen Wesenskern] haben oder
nicht. Praktiziere zudem das Geben und Annehmen (Tonglen).
Tonglen öffnet das Bewusstsein, und dabei nehmen wir den jeweiligen Geisteszustand an und stellen uns
vor, dass wir zusätzlich mit unserer eigenen Vernebelung die Vernebelung aller Lebewesen annehmen. Es ist
also gleichfalls eine Haltung nicht wegzulaufen, sondern den gegenwärtigen Geisteszustand tief anzunehmen und Unterstützung zu schicken.
Ohne Furcht, krank zu werden, und ohne Hoffnung, Gutes zu erleben, übe frei von jeglicher Hoffnung
und Furcht, indem du körperliche und geistige Krankheiten als die vier Buddhakörper auf den Weg
bringst.
Das ist eine Unterweisung aus dem Lodjong (Sieben-Punkte-Geistestraining): „Bringe was immer dir begeg-net als die vier Buddhakörper auf den Weg.“ Oder es heißt dort: „Die Leerheit ist der höchste Schutz.“
Eines der am häufigsten gegebenen Beispiele ist die Depression. Die Praxis von jemandem, der in der Lage
ist, sie anzuwenden, würde bedeuten, die Natur, das Wesen der depressiven Geistesbewegungen und Geistes-
zustände als offen und weit, als unfassbar – als Wahrheitskörper, Dharmakāya – zu erfahren; als dynamisch
bewegtes Erleben – Saṃbhogakāya; als unaufhörliche Vielfalt unterschiedlicher Manifestationen – als Nirmāṇakāya; und als Einheit dieser drei – als Essenzkörper, Svabhāvikakāya.
Das ist durchaus möglich, aber das lernt man nicht während der Depression, man muss es vorher gelernt ha-
ben. In der depressiven Stimmung kann man mit der Hilfe von außen ansatzweise merken, was für ein dy-
namisches Geschehen das ist, und dass es keine Substanz hat. Aber man erkennt die non-duale Natur dieses
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Erlebens nicht wirklich. Wenn aber einem geübten Mahāmudrā-Praktizierenden körperliche Krankheit oder
emotionale Zustände widerfahren, die man fast wie Dämonen beschreiben könnte – als würde plötzlich ein
ganz anderer Geisteszustand einsetzen –, der kann so damit umgehen und das so auflösen. Das tibetische
Wort für das, was ich ‚geistige Krankheit‘ übersetzt habe, ist dön, was auch das Wort für ‚Dämon‘ ist. Es gibt
im Tibetischen kein separates Wort für geistige Krankheit. All das, was die Tibeter mit ‚Dämonen‘ beschrie-
ben haben – also wo man sich selbst fremd wird und wie von etwas anderem besessen ist –, nennen wir im
Westen ‚geistige Krankheit‘. Man ist sich selber fremd, man ist nicht mehr derselbe wie vorher. Das bedeutet
aber nicht, dass die Tibeter an die wirkliche Existenz von Dämonen glaubten. In der Mahāmudrā-Tradition
ist ganz klar, dass Dämonen/ geistige Krankheiten auch nur Projektionen des eigenen Geistes sind, und es gibt viele Hinweise, wie man damit praktiziert.
Bei Vernebelung, Wildheit usw. achte auf dein Verhalten, auf deine geistige Ausrichtung und derglei-
chen. Bei dumpfem Geist wende Methoden an, die ihn anregen; ist er aufgewühlt, übe Methoden, die
ihn beruhigen.
Damit weist Karmapa auf frühere Instruktionen hin. Verhalten bedeutet hier: Wenn du vernebelt und dumpf
bist, iss weniger! Kleide dich leichter! Achte darauf, dass du frische Luft hast! Aktiviere den Körper etwas!
Während du bei wildem, aufgewühltem Geist etwas mehr isst, etwas schwerere Nahrung, für mehr Wärme
sorgst, es vermeidest, dich allzu sehr zu bewegen – um den Körper in Ruhe zu bringen, schwerer zu machen,
die Energien auszugleichen. Es ist also kein ethisches Verhalten gemeint, sondern wie wir uns im Alltag ver-
halten gegenüber Wettereinflüssen, Wärme und Kälte, Nahrung, Schlaf. Bei aufgewühltem Geist gönnt man
sich mehr Schlaf, bei dumpfem Geist macht man eher Anstrengung und verkürzt die Schlafzeiten. All das ist
damit gemeint.
Die geistige Ausrichtung – migpa auf Tibetisch – bedeutet all das, worauf sich unser Geist ausrichtet. Der
Hinweis hier ist: Achte darauf, woran du denkst, mit welchen Vorstellungen du deinen Geist füllst, welche
Visualisationen du ausführst. Kurz, was du als Bezugspunkt nimmst. Denn bei einem wilden Geist nehmen
wir ständig Bezugspunkte, die für unsere Ichbezogenheit wichtig sind und die ständig immer noch unsere
ichbezogenen Turbulenzen ankurbeln. Achte darauf, ob du weiterhin deinen Geist auf den acht weltlichen
Anliegen halten möchtest oder auf den Sorgen den Alltags, usw., oder ob du vielleicht lieber den Geist zum
Beispiel auf die Weite des Himmels, auf den Atem, eine Metta-Meditation oder eine Tschenresi-Praxis aus-
richtest. Das wären hilfreiche Ausrichtungen, um aus dem aufgewühlten Sein herauszukommen. Achte also darauf, was dir gut tut. – Das ist damit gemeint.
Wir können Dumpfheit und Wildheit auch auflösen, indem wir direkt ihre wahre Natur betrachten
und darin verweilen. Es gibt viele Wege, Hindernisse aufzulösen, doch hier will ich mich kurz fassen.
Du kannst alles Weitere direkt von deinem Lama erfahren.
… und auch aus Karmapas anderen Büchern. Die Haltung, in der man hineinschaut, ist eine des ehrlichen
Interesses; nicht um es wegzumachen, sondern ehrliches Interesse, was denn tatsächlich die wahre Natur die-
ser Erfahrung ist. Das gilt für all diese Anweisungen. Die Haltung, es weghaben zu wollen, führt nie dazu,
dass man die wahre Natur erkennt. Man muss die Erfahrung ganz annehmen, ganz eins werden damit, um sie kennenzulernen.
Teilnehmer: Was ist der Unterschied zwischen der ersten und der letzten Methode?
Kein Unterschied! Karmapa wiederholt sich nur.
Teilnehmer: Muss ich denn Müdigkeit auflösen in dem Sinne, dass sie verschwindet?
Beim direkten Sehen der Natur der Müdigkeit verschwindet sie immer, aber nimm das Verschwinden der
Müdigkeit nicht als Ziel. Müdigkeit darf sein, und wir brauchen sie auch nicht immer zu vertreiben. Wenn es
eine Müdigkeit ist, die aus körperlicher und geistiger Erschöpfung entsteht, dann kommt sie schnell wieder,
und dann muss man einfach schlafen gehen.
Wenn man die Praxis fortsetzt, dann wird selbst der Tiefschlaf zu einer Gewahrseinspraxis, und dann löst
sich das, was wir gewöhnlich Müdigkeit nennen, vollständig auf. Meister wie Gendün Rinpoche oder der 16.
Karmapa ruhten zwar nachts, aber sie waren die ganze Zeit im Klaren Licht, in dieser erhellenden Klarheit,
und gar nicht in dem Sinn, wie wir schlafen. Der Körper ruht und der Geist ist in einem feinen, nicht-begrifflichen, non-dualen Gewahrsein.
Ihr wisst vielleicht von Lama Tönsang, der als junger Mann Türwächter des 16. Karmapa war. Er hat beo-
bachtet, dass sich Karmapa jeweils lange nach Mitternacht hinlegte und um ca. vier Uhr morgens wieder auf-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
stand, um das Tageswerk zu beginnen. Gendün Rinpoche berichtete auch, dass Karmapa ihn um vier Uhr
morgens zur Audienz rief, um ihm die Übertragung zu geben. Es war ganz normal, dass er sich nur kurz hin-
legte und in dieses sehr erfrischende Klare Licht eintauchte und dann einfach mit dem Tageswerk weiter-
machte. Gendün Rinpoche hat davon auch häufiger erzählt. – Soweit als kleine Inspiration.
Teilnehmer: Ist das Untersuchen eher Lhaktong und das Auf-die-Natur-Schauen Mahāmudrā?
Ja, nur wird es oft auch schon vorher erwähnt. Bei dem, was Du ‚auf die Natur schauen‘ nennst, mach Dir
keinen Strick draus, dass Du versuchst Lhaktong und Mahāmudrā zu unterscheiden. Es sind tatsächlich
Lhaktong-Fragen, die hier erwähnt werden, und nachher wird es noch einmal wiederholt, dass man die wahre Natur betrachtet und darin verweilt. Man braucht das nicht auseinanderzuhalten.
Weitere Bemerkungen
Solche mit höchsten Fähigkeiten erleben alles als natürliches Sein frei von Komplikationen und sie ha-
ben keine Hindernisse zu entfernen.
Solche mit höchsten Fähigkeiten sind Menschen wie der 17. Karmapa, die den Geist total verstehen. In de-
ren Geist tauchen keine Hindernisse auf, weil sie die Natur von allem was auftaucht erkennen. Da gibt es
nichts zu entfernen und keine Hindernisse aufzulösen. Das ist nicht unser Fall. Wir komplizieren unser Leben durch ichbezogene Extraschlaufen und haben deshalb Hindernisse, die wir auflösen müssen.
Die beschriebenen Herausforderungen tauchen auf der Stufe des Einen Geschmacks auf.
Die Herausforderungen, die in den letzten fünf Kapitelchen beschrieben wurden, sind Hindernisse für fortge-schrittene Praktizierende. Auch die erleben noch Vernebelung, Dumpfheit und aufgewühlten Geist.
Mahāmudrā-Meister erklären sie als Zeichen, dass die Muster emotionaler Trübung und dualistischen
Denkens, die latent im Geistesstrom aktiv sind, nun offenbar werden und dadurch in ihrer Leerheit
bereinigt werden können.
Ganz natürliches, offenes Sein – die Praxis, die typisch für Mahāmudrā ist – bewirkt, dass sich die innewoh-
nenden Muster zeigen. Sie zeigen sich als die verschiedenen Hindernisse und Verstrickungen, die da erlebt
werden. So werden sie bewusst, so zeigen sie sich, und damit können sie bearbeitet werden. Sie können
dadurch in ihrer Leerheit, in ihrer Eigennatur, bereinigt werden.
Es heißt allgemein, wie z.B. in den Unterweisungen zu Pfad und Frucht1, dass diese Muster sich wäh-
rend der Praxis der Vollendungsphase mit Merkmalen aufgrund bestimmter Bedingungen zeigen,
wenn durch die Kraft emotionaler Trübung und dualistischen Denkens sowie verwandter geistiger
Prozesse die subtilen Energiekanäle, -ströme und -tropfen mit Bewusstheit zusammenkommen.
Klassische Beispiele für die Vollendungsphase mit Merkmalen sind die Sechs Yogas von Naropa, z.B. die
Tummo-Praxis. Aber auch in jeder Yidam-Praxis kommt nach dem Visualisieren eine Vollendungsphase, in
der man noch eine letzte Keimsilbe visualisiert, oder den Urton – nada – noch innerlich hört. Das nennt man
Vollendungsphase mit einigen Merkmalen. Die Mahāmudrā-Praxis des natürlichen Seins ist auch eine Vol-
lendungsphase mit Merkmalen, weil in diesem total entspannten, offenen Sein immer noch leichte Bezüge zu
Sinneserfahrungen sind. Und genau das braucht es, damit sich diese inneren Muster zeigen können.
In einer Vollendungsphase ganz ohne Merkmale, d.h. ganz ohne Bezugspunkte, tauchen diese Muster nicht
auf. Da ist der Geist völlig frei von Subjekt-Objekt-Bezug und da können die noch latent vorhandenen, dua-
listischen Muster nicht auftauchen. Wenn ein starkes dualistisches Greifen vorhanden ist, zeigen sich die sub-
tileren Muster auch nicht, weil man sowieso in einem starken Subjekt-Objekt-Bezug ist. Es braucht dieses
entspannte Sein mit einer leichten Bewegung und Beweglichkeit des Geistes, und das ermöglicht, dass diese
subtileren Muster zugänglich werden.
… dass diese Muster sich … aufgrund bestimmter Bedingungen zeigen, bedeutet, dass wir in einem Pro-
zess sind, wo so ein Muster durch etwas in unserer Wahrnehmung stimuliert wird. Es braucht Wahrnehmung,
es braucht Erleben, damit Muster des Anhaftens und Ablehnens, dass Muster der Subjekt-Objekt-
Wahrnehmung überhaupt manifest werden können. Zum Beispiel zeigt sich die Trennung in Sehenden und
Gesehenes nur, wenn Sehwahrnehmung stattfindet. Das ist so eine bestimmte Bedingung. Die Trennung in
1 Pfad und Frucht (Tib. Lamdre) ist der Name der Lehren der Sakya-Schule des tibetischen Buddhismus.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Hörenden und Gehörtes zeigt sich nur, wenn Hören stattfindet. Genauso ist es mit minimaler Stimulation
durch emotionale Interpretation der Wirklichkeit: Es braucht ein Erleben, damit man diese Muster wahr-nimmt und damit sie sich im Geist zeigen können.
Gleichzeitig ist aufgrund bestimmter Bedingungen ein Hinweis auf die Methoden der Vollendungsphase mit
Merkmalen –, dass man zum Beispiel durch die Tummo-Praxis2 alles, was dem Bodhicitta entgegensteht, al-
les, was der völligen Offenheit im nicht-greifenden Geist entgegensteht, stimuliert wird. Das wird richtig
aufgewühlt. Das sind Bedingungen, die in einer Praxis, die eigentlich völlig offenes, freies Sein ist, dazu füh-
ren, dass sich latent vorhandene Muster zeigen, an die man sonst nicht herankommt. Je subtiler die werden,
desto schwieriger ist es, an sie heranzukommen. Um die bewusst und der Bearbeitung zugänglich zu ma-
chen, gibt es spezifische Methoden. So gibt es auch Methoden, um die im Schlaf latent vorhandenen Muster
der Unwissenheit bewusst zu machen und aufzulösen. Es gibt Methoden, um die im Traum vorhandenen
Muster des Greifens zu bemerken und aufzulösen. Überall hat die buddhistische Geistesschulung Methoden
entwickelt, um den Prozess etwas zu erleichtern, um diese feinen Schleier bewusst zu machen und sie dann mit Gewahrsein zu durchdringen.
Und zwar passiert das jeweils, indem die emotionale Trübung – unsere emotionalen Schleier – verbunden
mit dualistischem Denken – Tib. namtog – stimuliert werden mit all den verwandten geistigen Prozessen des
Anhaftens, die dazu gehören, und mit einer Erfahrung des inneren Energiesystems zusammenkommen. Wir
erleben dadurch Verspannungen in unserem Energie-Körper, Hitze, Kälte, Gefühlslosigkeit, intensivste Er-
fahrungen in bestimmten Körperregionen, Klarheit, Dumpfheit, usw. als Auswirkungen der Zirkulation der
subtilen Energien auf unseren Geist. Geist und Körper sind eine Einheit, und immer wenn die subtilen Mus-
ter aktiviert sind, verändert sich unser Energiesystem. Man merkt z.B., dass gerade ein Muster aktiv ist, weil Gefühle von Enge, Hitze, Kälte, usw. entstehen.
All dies sind Hinweise darauf, dass in uns gerade Muster aktiv sind, und dadurch werden unsere Antennen
dafür geschärft, in diese Muster hineinzuschauen; weil wir bemerken, dass sie gerade aktiv sind. Das Ener-
giesystem – also unser Körper auf der subtilen Ebene – ist ein Spiegel für die geistigen Prozesse. Das ist da-
mit gemeint, wenn es heißt, dass die subtilen Energiekanäle, -ströme und -tropfen mit Bewusstheit zusam-
menkommen. Man nennt das die Untrennbarkeit von Prāṇa – subtiler Energie – und Geist. Mit diesen feinen Anzeichen wird gearbeitet, um den subtileren Mustern auf die Spur zu kommen.
Teilnehmer: Sind die Triebflüsse auch Teil der Prāṇa-Ströme?
Die vier Triebflüsse
Die Triebflüsse – Tib. zagpa, Pali: āsava – wirken sich auf die Prāṇa-Ströme aus, sind aber etwas ganz ande-
res. Sie sind ganz subtile Muster, die unser Sein prägen und bestimmen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Der Buddha zählte vier Triebflüsse auf, sie sind in allen Traditionen bekannt, auch in der Pali-Tradition.
1) Der Wunsch zu existieren. Ohne dass wir es merken, sind wir vom Wunsch zu existieren motiviert.
2) Der Wunsch, nicht zu existieren, begleitet den ersten Triebfluss, wenn uns die Existenz allzu unangenehm
wird.
3) Der Wunsch nach Sinneserfahrung. – Zur Abwesenheit von Sinneserfahrung: Stellt Euch vor, Ihr würdet
in einen Bewusstseinsraum eintreten, wo Ihr weder hört, noch seht, noch den Körper fühlt usw. Das würde
zur Folge haben, dass der Geist sofort wie wild wird und sich danach sehnt, seine Existenz durch weitere
Sinneserfahrungen zu bestätigen. – Ohne dass wir es merken, sind wir ständig dabei, uns durch Berührung, durch visuelle Eindrücke, durch Hö-
ren, durch alles, was die Sinne stimuliert, zu bestätigen, dass wir existieren. Das erlöst uns von der Unsicher-
heit, ob es uns gibt oder nicht. Sinneserfahrungen bestätigen also unsere Existenz. – Den Schluss zu ziehen,
dass es mich gibt, bloß weil Hören stattfindet, ist nicht ganz logisch, aber da ich ohnehin denke, dass es mich
gibt, nehme ich das Denken, Hören, Sehen usw. als Bestätigung dafür, dass es mich gibt. „Ich denke, also bin
ich.“ Man nimmt die Sinneserfahrung – in diesem Fall die Erfahrung des sechsten Sinnes – als Bestätigung
für das eigene Sein. Tatsächlich beweist Denken aber nur, dass Denken stattfindet. Es beweist nicht, dass es
ein Ich gibt. Tatsächlich beweist Sehen nur, dass Sehen stattfindet und nicht, dass es ein Ich gibt, das sieht.
Das ist ein logischer Fehlschluss.
2 Praxis Innerer Hitze, eine Form von Bodhicitta-Praxis
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
4) Der Wunsch, nicht alles mitzubekommen. Das ist besonders interessant. Man nennt das den Wunsch nach
Unwissenheit, den Triebfluss nach mangelndem Gewahrsein. Und tatsächlich ist er unbewusst ganz, ganz oft,
fast ständig in uns aktiv. Wir wollen nicht mitkriegen, was in unserem Geist los ist, in unseren Gefühlen, was
die wahre Natur der Sinneserfahrungen ist, was die wahre Natur des Seins ist. Es gibt enorme Barrieren, und
der Wunsch ist, bloß nicht zu viel zu wissen. Das wirkt automatisch. Wenn uns etwas zu viel wird, setzt das
automatisch ein und verhindert, dass wir etwas wahrnehmen, was für andere unter Umständen ganz offen-kundig ist.
Diese vier Triebflüsse haben sich beim Erlangen der Buddhaschaft voll und ganz aufgelöst. Darum geht es in
der Praxis des Erwachens. Im Abhidharma sind die vier Triebflüsse die tiefste Schicht unserer emotionalen
Muster, die tiefste Schicht der Muster, die unsere duale Existenz ausmachen.
Die oberste, am leichtesten wahrnehmbare Schicht sind unsere Kleśas, die leicht wahrnehmbaren belasten-
den Emotionen: Ärger, Stolz, Angst, usw. Das können alle Menschen wahrnehmen, das ist bewusst. In der Zwischenschicht gibt es die Gewohnheitsmuster – Tib. bag-chag – Sie sind manchmal bewusst, aber
meistens unbewusst, bis sie dann bewusst werden. Die Triebflüsse sind zu Anfang immer unbewusst und werden erst mit fortgesetzter Praxis bewusst. Es ist
sehr schwierig, an sie heranzukommen. Emotionen – Gewohnheitsmuster – Triebflüsse; das ist quasi die Struktur unseres Bewusstseins. Die erste
Schicht ist ganz offenkundig, die mittlere Schicht wird mit der Zeit deutlicher und die tiefste Schicht entzieht
sich noch lange unserer direkten Wahrnehmung und wird deshalb für lange Zeit nicht aufgelöst. Die fünf Skandhas sind geprägt von allen dreien. Diese drei wirken in jedes der Skandhas hinein, und wenn
sie aufgelöst sind, sind die Skandhas gereinigt. Dann sind sie nonduales Erleben.
Die Triebflüsse sind nicht die einzigen wirkenden Kräfte, es gibt auch Kräfte, wie die Buddhanatur, die im-
mer wieder durchbrechen. Es gibt ganz natürliche Qualitäten im Geist, die sich immer wieder zeigen, obwohl
wir so borniert sind, in völliger Ichbezogenheit durch die Welt zu gehen. Manchmal bricht doch die Liebe
durch. Manchmal erkennen wir doch etwas. Das ist etwas, das natürlicherweise vorhanden ist, während das
vorher Beschriebene nicht natürlicherweise vorhanden ist. Das ist dann weg, und wir brauchen nichts zu tun,
um das Natürliche, um die Qualitäten des Erwachens zu erzeugen. Die sind von Natur aus da, und das andere sind wie dicke Schleier.
Teilnehmer: Wenn die Vollendungsphase mit Merkmalen mit besonderen Methoden, wie der Arbeit mit Ener-
gien, verbunden ist, ist dann Mahāmudrā die Vollendungsphase ohne Merkmale?
Ja, das ist schon so. Aber da wir nicht im völligen Mahāmudrā sind, findet immer noch ein Haften an Merk-
malen, ein Orientieren an Bezugspunkten statt, und genau das ermöglicht uns, die Muster wahrzunehmen.
Das ist der Zwischenzustand nicht vollendeter Mahāmudrā-Praxis. In der Tummo-Praxis ist es auch so, dass
die Vollendungsphase mit Merkmalen immer der Bereich der Praxis ist, wo wir noch eine minimale Visuali-
sation aufrechterhalten, wo noch ein minimaler Bezugspunkt aufrechterhalten wird. Wenn wir zur Auflö-
sungsphase gehen, dann ist auch die Praxis der Sechs Yogas eine Vollendungsphase ohne Merkmale.
Teilnehmer: Ist dann das Trinken von Alkohol auch dieser Triebfluss, nicht wissen zu wollen?
Ja, das ist dann extrem, sich zu betäuben. Das kennen wir auch alle, z.B. mehr zu essen, wenn es zu viel wird
usw. Wir kennen jeden dieser vier Triebflüsse im Extrem, z.B. Verlangen nach Sinneserfahrungen – eine
ständige Stimulation des Geistes, nur um sich selbst nicht wahrzunehmen. Schaut Euch die Kinder von heute
an! Es muss immer was laufen. Ich hatte in der vorletzten Retreat-Generation, die ich betreut habe, zwei, drei
Schüler, die noch nie ohne ihre Kopfhörer auf die Straße gegangen waren. Sie programmierten jedes Mal,
bevor sie hinausgegangen sind, ihren IPod, und das die ganze Zeit ihrer Jugend bis sie ins Retreat kamen.
Das ist Sinneserfahrung als Bestätigung der eigenen Existenz und ein Verhindern, mit der Unsicherheit des
eigenen Seins in Berührung zu kommen. Der Wunsch zu existieren ist klar, ein Bestätigen-Wollen, und der Wunsch nicht zu existieren ist die Selbstmordneigung, die sofort einsetzt, wenn uns das Leben heftig zusetzt.
Teilnehmer: Existieren tue ich ja sowieso, ist das Problem dann das Verlangen?
Das Problem ist das Verlangen, denn das gibt dem Geist eine Ausrichtung. Wie die Dinge sind, ist kein Prob-
lem. Es ist immer das Problem, die Dinge anders haben zu wollen – existieren, obwohl man keine wirkliche
Existenz hat, nicht zu existieren, obwohl niemand existiert. Das Verlangen ist das Problem.
Teilnehmer: Ist alles, was bisher im Text beschrieben wurde, Vollendungsphase mit Merkmalen? Was ist mit all diesem: „Schau auf die Natur der Hindernisse, der Geistesbewegung, …“?
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
In anderen Worten: Diese Praxis wird möglich, wenn der Geist sich soweit beruhigt, dass er normalerweise
nicht mehr an Merkmalen, d.h. an Bezugspunkten, haftet. Diese Instruktionen sind also für tieferes Shine.
Wenn sich tiefere Geistesruhe einstellt, dann ist nur noch ein schwaches Haften an Merkmalen da, und was
wir sehen, hören, etc. wird irrelevant. Es wird nur noch fein wahrgenommen, aber es wird nicht mehr so fi-
xiert. Dann können wir diese Form der Praxis anwenden. Wir brauchen also nicht die Sechs Yogas zu prakti-
zieren.
Ist das dann Shine oder Mahāmudrā?
Das ist dann Shine. Wenn die Natur der Erfahrung nicht durchschaut wird, dann ist es immer Shine, Geistes-
ruhe. Wenn die Natur der Erfahrung gesehen wird, dann ist es Mahāmudrā. Da wir aber mit einer
Mahāmudrā-Einstellung Shine praktizieren, ist es Mahāmudrā-Shine. – Das stammt nicht von mir, das
stammt von Gendün Rinpoche. Mahāmudrā ohne Merkmale ist das Aufgehen im Dharmakāya, im So-Sein. Das ist Buddhaschaft.
Teilnehmer: Wir nehmen ja alle unterschiedlich wahr…
Das hat damit zu tun, dass wir nicht voll und ganz wahrnehmen wollen. Wir nehmen wahr und darin ist auch
die selektive Wahrnehmung eine Folge davon, nicht alles wahrnehmen zu wollen. Wir wollen z.B. partout die
Welt nicht so sehen wie der, mit dem wir uns gerade streiten. Immer da, wo selektive Wahrnehmung stattfin-
det, ist ein Teil davon Nicht-wahrnehmen-Wollen. Deswegen heißt es, wenn dieser Schleier sich aufgelöst
hat, dann nehmen Erwachte Situationen umfassend wahr, d.h. sie können gleichzeitig die verschiedenen Per-
spektiven verstehen, die unterschiedliche Lebewesen haben, und sie sehen zugleich die wahre Natur von
dem, was in der Situation geschieht. Das nennt man panoramisches Gewahrsein. Deswegen können sie in
Übereinstimmung mit der Situation so handeln, dass im besten Fall die Bedürfnisse von allen beantwortet werden. Das ist spannend.
Meditation Wir entspannen uns wieder in dieses einfache, natürliche Sein hinein, wo es gar nichts zu tun gibt. … So, als
würde jetzt gerade der Buddha in uns meditieren. Es gibt keinen Weg zu durchlaufen, es gibt auch nichts zu verstehen. –
* * *
Karmapa beschließt dieses Kapitel mit den Sätzen:
Es gibt zwar viele Missverständnisse, Gefahren und Hindernisse der tiefen Meditation wie auch kör-
perliche und geistige Krankheiten, doch meist handelt es sich um die hier erwähnten. Um diese Her-
ausforderungen zu meistern, folge dem oben Beschriebenen. – Dies waren die Schritte zum Auflösen
der drei Irrtümer, vier Missverständnisse, fünf Gefahren und drei Hindernisse. Nachdem du so die
Vor- und Nachteile [der jeweiligen Vorgehensweise] verstanden hast, praktiziere eifrig, ohne zu ver-
wechseln, was zu kultivieren und was zu unterlassen ist. Dies war der fünfte Punkt.
Teilnehmer: Du hast gesagt, dass der Wunsch zu existieren usw. unbewusst ist. Aber ich finde, das ist ja alles.
Ich finde, dass es mir nicht jedes Mal sofort klar ist, aber wenn ich darüber nachdenke, dann komme ich da-
hin, mir die Dinge eingestehen zu müssen.
Genau, wenn man es erklärt bekommt, kann man es auch sehen. Das heißt aber nicht, dass man sich gerade
in dem Moment, wenn es aktiv ist, darüber bewusst ist; genau so wenig, wie man die Emotionen, die einen
gerade bewegen, oft gar nicht sieht, umso weniger die Triebflüsse. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob ich den
Dharma unterrichte, um mir in subtiler Weise eine Existenzbestätigung zu geben. Das krieg ich nicht mit, das
sind unbewusste Triebflüsse. Manchmal hat man eine Ahnung: „Ja, Jein, Nein.“ Das ist damit gemeint, dass
es unbewusst ist. Wenn man darüber spricht, kann man das im Prinzip gut verstehen und kennt auch Hinwei-
se dafür, aber es in der Situation mitzubekommen, ist recht schwierig. Man kriegt also eher selten mit, dass
man sich abwendet und Unbewusstheit vorzieht, dass man vor einem weiteren Gewahrsein ausblendet. Man kriegt es selten mit, das geht ruck zuck und fühlt sich ganz normal an.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
6. Wie durch Praxis die Qualitäten des Weges entstehen
Karmapa wird uns jetzt durch alle Stufen des Weges hindurchführen und uns zeigen, was da für Erfahrungen und Qualitäten entstehen.
Die Qualitäten der vorbereitenden Übungen
Jede vorbereitende Übung [Ngöndro] hat direkte nützliche Auswirkungen und bringt entsprechende
Qualitäten hervor. Diese dienen zusätzlich als Grundlage für weitere Qualitäten, die sich später auf
dem Weg entwickeln.
Was wir zunächst entwickeln, z.B. in der Praxis des Zufluchtnehmens, der Ausrichtung, ist die Qualität, ganz
klar zu wissen, wo es für uns im Leben lang geht. Und diese klare Ausrichtung, bringt z.B. die Qualität einer
gewissen Unbeirrbarkeit mit sich; sie bringt eine Qualität von freudiger Ausdauer mit sich; sie bringt Ver-
trauen mit sich. Das sind Qualitäten, die darauf aufbauen. Es gibt das, was primär wahrnehmbar ist, und an-
deres fügt sich ein. Eine andere Qualität bei der Ausrichtung auf die Zuflucht ist, dass wir uns so klar aus-
richten, dass wir dann auch in der Lage sind, die Unterweisungen viel besser aufzunehmen. Man spricht da-
von, dass man durch diese Ausrichtung auf die Zuflucht ein geeignetes Gefäß wird. Das bedeutet, das Ge-
dächtnis wird besser, das Interesse wird höher, das Vertrauen nimmt zu. Aufgrund dieser Qualitäten ist man
in der Lage, viel mehr mit den Unterweisungen anzufangen, weil sie nicht mehr auf einen flottierenden Geist
treffen, der sich mal auf die Erleuchtung ausrichtet und dann wieder nicht, sondern eine klare innere Ausrich-
tung hat, die stabil ist. Und da können die Unterweisungen verstanden werden. Das ist gemeint damit, dass jede vorbereitende Übung ihre Qualitäten hat, aber dass andere darauf aufbauen
und dass es damit weitergeht.
Doch das ist noch nicht alles: Hast du dich damit vertraut gemacht, wie schwer die Freiheiten und Er-
rungenschaften [eines kostbaren Menschendaseins] zu finden sind und dass du jederzeit sterben
kannst und wie unbeständig alles ist, dann wendet sich dein Geist von [der Beschäftigung mit] diesem
Leben ab.
Er richtet sich auf das aus, was über dieses Leben hinaus wichtig ist.
Hast du über Karma, Ursache und Wirkung nachgedacht, so fasst du solches Vertrauen darin, dass du
es sogar bewahrst, wenn es um dein Leben geht.
Du würdest z.B. nicht jemanden umbringen, selbst wenn du selber in Lebensgefahr wärst, weil du die Aus-
wirkungen spüren kannst, was das mit deinem eigenen Geist machen würde.
Hast du über die Nachteile Saṃsāras nachgedacht, empfindest du Überdruss mit den drei Daseinsbe-
reichen…
Das heißt, selbst eine Existenz in einer ganz wunderbaren Umgebung, reich, im Überfluss würde dich nicht
mehr anziehen, wenn es nicht mit einem offenen Geist, mit Erwachen verbunden ist. Die Prioritäten werden klar.
… und kehrst ihnen den Rücken und möchtest nur noch das Erwachen erlangen.
Das ist diese Kraft der Ausrichtung, die durch die vier allgemeinen vorbereitenden Übungen entsteht. In und
möchtest nur noch das Erwachen erlangen versteckt sich die Ausrichtung auf die Zuflucht.
Bist du mit Liebe, Mitgefühl und Bodhicitta vertraut geworden, wirst du frei vom Wunsch nach eige-
nem Glück und denkst nur noch an das Wohl der fühlenden Wesen. Wenn du voller Energie den Yoga
der Hundert Silben übst, erscheinen dir im Wachzustand wie auch im Traum die Zeichen, dass sich
Negativität auflöst und so entstehen Erfahrungen und Erkenntnisse. Durch das Darbringen von Man-
dalas fühlt sich der Körper wohl, der Geist wird klar, du hast nur wenige Bedürfnisse und baust un-
ermesslich viel heilsame Kraft auf. Durch die Praxis des Guru Yoga flammt Hingabe auf, tiefe Medita-
tion entsteht, du empfängst Segen, und Erfahrungen wie auch Erkenntnisse erscheinen mühelos. Hier-
von hängt es ab, ob die Hauptpraxis [Geistesruhe, Einsicht und Mahāmudrā] in dir entsteht oder nicht.
Das sind ja Bereiche, in denen Ihr praktiziert und die Euch – zum Teil zumindest – vertraut sind. Ich könnte
nun die Qualitäten dieser Praxis erklären, finde das aber gar nicht so wichtig. Ich würde jetzt einfach nur Eu-re Fragen dazu beantworten.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Teilnehmer: Hängt es jetzt wirklich von diesen vorbereitenden Übungen ab, ob man ein geeignetes Gefäß
wird? Es gibt auch tibetische Lehrer, die das nicht unbedingt so sehen.
Klar, es hängt davon ab, dass Du diese Qualitäten hast, nicht von den Übungen selbst. Wenn Du Mahāmudrā
ohne Vertrauen praktizierst, wird kein Mahāmudrā entstehen. Wenn es keine Abkehr von weltlichen Belan-
gen gibt, wird keine Geistesruhe usw. entstehen. Das heißt, Du brauchst die Qualitäten. Wie sie entstanden
sind, ist egal, aber Du brauchst diese Qualitäten, nicht die vorbereitenden Übungen, sondern die Qualitäten,
die aus ihnen entstehen. Wenn sie durch andere Bedingungen entstanden sind, ist es auch in Ordnung.
Teilnehmer: Für mich klingt das jetzt sehr mönchisch. Es geht eigentlich nur, wenn man im Retreat ist. Geht es auch, wenn man im normalen Alltag lebt?
Natürlich kann man das. Wo siehst Du irgendetwas, was man nicht im normalen Alltag machen könnte?
„… dann wendet sich Dein Geist von diesem Leben ab.“ als Beispiel.
Deshalb habe ich an dieser Stelle von der Beschäftigung eingefügt. Das heißt, Du setzt im Alltag klare Prio-
ritäten, um Deinen Weg zu gehen. Statt ständig mit allem Möglichen beschäftigt zu sein, was nur temporär
Bedürfnisse erfüllt, kümmerst Du Dich um Deine Praxis. Das ist damit gemeint. Also es geht! Das klingt na-
türlich heftig und hat schon manchen dazu geführt, dass er Mönch oder Nonne geworden ist. Und tatsächlich
habe ich in den letzten vier Jahren, als ich in Beziehung lebte, gemerkt, dass ich mich stärker um Dinge ge-
kümmert habe, die für die Partnerschaft wichtig waren und stärker mit diesem Leben zu tun haben. Ja, das ist
schon spürbar gewesen. Und nachdem diese Priorität nicht mehr so stark in meinem Leben ist, ist es deutlich,
dass ich mich wieder viel klarer auf die langfristige Perspektive ausrichten kann.
Das alltägliche Leben kann ja auch eine gute Übung sein.
Eine wunderbare Übung. Nicht nur kann, es ist es normalerweise. Wenn wir in einer Beziehung leben, müs-sen wir ihr auch einen gebührenden Raum einräumen.
Teilnehmer: Was sind Zeichen, dass Negativität sich auflöst?
Da gibt es ganz, ganz viele. Ein paar davon werden im „Ozean des Wahren Sinnes“ – im entsprechenden Ka-
pitel über die Vajrasattva-Praxis – beschrieben. Erst einmal ist es insgesamt eine positivere Haltung zum Le-
ben. Was durch die Vajrasattva- oder Reinigungspraxis entsteht, ist ein echtes Selbstvertrauen, ein Vertrauen
in die eigene Buddha-Natur. Es entsteht ein freierer Geist dadurch, dass sich Scham- und Schuldgefühle auf-
lösen. Es kommt zu einer viel klareren Wahrnehmung, also emotionale Schleier, die für unser Wahrnehmen
von Situationen wie Filter wirken, werden deutlich weniger. Ichbezogenheit nimmt ab. Und insgesamt neh-
men die Impulse, sich und anderen zu schaden krass ab. Das ist ganz deutlich zu sehen. Und es gibt natürlich auch Traumzeichen dafür – die werden im „Ozean des Wahren Sinnes“ auch erklärt –,
Zeichen, die zeigen, dass das auf subtileren Ebenen ankommt. Das gibt es auch im Schlaf. Es gibt ganz viele
Anzeichen dafür: Zweifel nehmen ab, Vertrauen nimmt zu; Freigebigkeit Liebe, Mitgefühl nehmen zu. Ins-
gesamt ist es so, dass das Bodhicitta dadurch ganz stark anwächst. Würdest Du jetzt noch irgendeinen dieser
Punkte ausführlicher wissen wollen?
Teilnehmer: Also Scham nimmt ab und Scham nimmt zu. Scham, also sich zu schämen. Auf der anderen Seite hab‘ ich das Gefühl, dass …. Verstehst Du den Unterschied?
Ja, die neurotische Scham nimmt ab, aber die natürliche Scham, wenn man jemanden schädigt, nimmt zu. Das moralische, das ethische Empfinden für das Wohlergehen von sich selbst und anderen wird gestärkt.
Die Qualitäten der Hauptpraxis von Geistesruhe und Einsicht
Die Vorzüge der Geistesruhe als Teil der Hauptübung sind folgende: die Erfahrungen von Freude,
Klarheit und Nichtdenken kommen fehlerlos hervor, es verlangt dich kaum nach Nahrung und Klei-
dung, du bekommst eine leuchtende Ausstrahlung, dein Geist wird äußerst flexibel und vortrefflich
einsetzbar, du erlangst die fünf Augen, wie Hellsichtigkeit usw. und du überwindest emotionale Ver-
blendung und dualistisches Denken.
Also die fünf Augen… hellsichtig bin ich nicht geworden durch die Praxis, aber anderen ist das passiert;
gelegentlich, nicht oft. Die fünf Augen sind in der Fußnote 11 angeführt: das physische Auge, das göttliche
Auge (Hellsichtigkeit), das Auge der Weisheit, das Dharma-Auge und das Auge zeitlosen Gewahrseins. Fragt
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
mich nicht nach den genauen Definitionen, die kann ich jetzt gerade nicht abrufen. Aber die letzten drei sind
verschiedene Aspekte der Weisheit, die entstehen: ein Verständnis der relativen Wirklichkeit – Ursache-
Wirkungs-Beziehungen – und der letztendlichen Wirklichkeit – wie die Dinge wirklich sind. Geistesruhe
bringt dieses Verständnis hervor.
Wer in tiefere Geistesruhe eintritt, bemerkt, dass der Appetit nachlässt, dass man nicht so viel zu essen
braucht. Man wird wirklich wie genährt durch den harmonischen Energiestrom. Auf der äußeren Ebene wird
es so irrelevant, welche Kleidung man trägt, und auf einer anderen Ebene ist es so, dass die körperlichen
Energien etwas ausgeglichener werden und man auch etwas resistenter wird, was Kälte und körperliche Schwierigkeiten angeht.
Menschen, die in Geistesruhe eintreten, werden leuchtender, das kann man ihnen ansehen. Flexibel und vor-
trefflich, da habe ich das tibetische Wort shintu djangwa doppelt übersetzt, als flexibel und vortrefflich ein-
setzbar. Es ist eines der wichtigsten Wörter, was die Qualitäten der Praxis angeht. Mit dieser Beschreibung,
dass unser Geist flexibel und vortrefflich einsetzbar wird, sind eigentlich alle Qualitäten dieses Weges be-
schrieben. Diese Flexibilität des Geistes beinhaltet, dass das Haften nachlässt, und das Nachlassen nimmt auf
dem ganzen Weg immer weiter zu. Ein vollkommen Erwachter oder eine vollkommen Erwachte hat den ab-
solut flexibelsten Geist, den man sich überhaupt vorstellen kann, frei von jeglichem Haften. Liebe und Mit-
gefühl sind Ausdruck zunehmender Flexibilität des Geistes, keine Fixierung auf sich selbst mehr, andere und
man selbst sind wie austauschbar, man kann jederzeit jede Sichtweise und Position einnehmen. Die geistige
Flexibilität, die es braucht, um Unterweisungen zu verstehen, nimmt enorm zu; schon durch die Praxis der
Geistesruhe und dann durch alles, was jetzt noch kommt. Die Paramitas – Geduld und die anderen – sind
Ausdruck zunehmender geistiger Flexibilität. Freude Ausdauer: Mann haftet nicht an Hindernissen, der Geist
ist flexibel und fließt wie Wasser an den Hindernissen vorbei, strömt durch sie durch. Der Geist wird durch-
lässig.
Eigentlich ist mit diesem Ausdruck alles gesagt über das Ziel und die Qualitäten buddhistischer Praxis. Der
Geist wird zutiefst flexibel. Man kommt ins Fließen, in das Strömen des natürlichen Seins und nichts blo-
ckiert mehr schlussendlich. Und das beginnt mit der allerersten Praxis im Dharma und setzt sich die ganze
Zeit fort. Wir können jede Qualität des Weges mit dieser Grundqualität des flexiblen Geistes in Beziehung setzen.
Teilnehmer: Und vortrefflich einsetzbar?
Das hab ich noch dazu geschrieben, weil man den Geist, der flexibel geworden ist, für jede Arbeit, für jede
Aufgabe einsetzen kann. Wenn man über etwas nachdenken möchte, bleibt der Geist unabgelenkt bei dem,
was man bedenken möchte. Wenn man ihn bei einer Visualisation halten möchte, bleibt er unabgelenkt dort.
Wenn man etwas erforschen möchte, bleibt der Geist unabgelenkt bei dem, was man erforschen möchte.
Egal, was man mit dem Geist machen möchte – in der Kommunikation, zum Lesen, egal was. Man kann ihn
natürlich auch zum Tennisspielen einsetzen. Er ist vortrefflich einsetzbar und bleibt bei dem, worauf er aus-
gerichtet wird, und zwar ohne von Ablenkungen abgezogen zu werden. Wenn man auf ein äußeres Objekt
meditiert und sagt „Jetzt meditiere ich auf dieses äußere Objekt!“, dann bleibt der Geist einfach dabei und
meditiert darauf. Und das ist natürlich fantastisch, unser Geist wird dadurch ein solch wunderbares Werk-
zeug, und das brauchen wir, um alles Weitere zu erforschen.
Teilnehmer: Das hört sich ein bisschen an wie Arbeit im Dharma-Zentrum: Kannst Du überall hinsetzten, der macht alles.
Tatsächlich, Leute, die viel praktiziert haben, sind fast universal einsetzbar, und weil die unabgelenkte Auf-
merksamkeit da ist, machen sie die Dinge gut. Das bedeutet auch, dass wir uns nicht verspannen, sonst wär‘
ja der Geist nicht vortrefflich einsetzbar. Es ist ein entspannter Geist, der verweilt entspannt mit dem, worauf
er ausgerichtet wird, und da die anderen Dinge – Anhaften an Sinneserfahrungen, an den eigenen Gedanken
und Vorstellungen – sich schon gelöst haben, bleibt er auch dort, ganz entspannt, ohne dass es zum inneren
Kampf kommt. Das ist keine Konzentration, das wird ja oft missverstanden. Als würde es in der Geistesruhe
um Konzentration gehen. Es ist ja nur notwendig, sich zu konzentrieren, also den Geist mit etwas Anstren-
gung zu halten, solange er noch in alle möglichen Richtungen wegtanzen möchte. Dieser flexible Geist ist so
entspannt, dass er eben nicht mehr an allem Möglichen haftet und nicht mehr wegtanzt. Der bleibt einfach dabei und kann jederzeit auf etwas anderes gerichtet werden.
Entspricht es Euren Erfahrungen, was da steht?
Voll und ganz!
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Ich höre da einen gewissen Unterton. Kann es sein, dass ich da etwas gehört habe, wo Du nicht so ganz mit-
schwingst?
Es spricht so weit, dass ich ein Gefühl krieg‘, wo es hingehen könnte.
Ja genau. – Es ist tatsächlich so, wie es da steht. Wenn es nicht so ist, dann müssen wir noch ein bisschen nachschauen, woran es liegt.
Wollt Ihr auch noch hören, was bei Einsicht steht? Das gibt dann eine noch klarere Richtung vor.
Die Vorzüge von Einsicht sind, dass dank ihr Praktizierende mit höchsten Fähigkeiten die Stufen und
Pfade der Verwirklichung auf einmal durchlaufen.
Das bedeutet, die Kraft der Einsicht ist dann so stark, dass sich alle Verwirklichungen des Mahāmudrā auf
einmal einstellen. Das sind wirklich die ganz großen Tulkus, bei denen so etwas offenbar zu beobachten ist. Keine Ahnung, jedenfalls ist das eine große Seltenheit.
Bei jenen mit mittleren Fähigkeiten geht es sprunghaft voran, mal entstehen [die Qualitäten der Ein-
sicht] ganz plötzlich [wie von selbst] und mal schrittweise.
Sie müssen die Anstrengung aufbringen, die auch andere machen müssen.
Jene mit geringeren Fähigkeiten entwickeln die Qualitäten nach und nach und durchlaufen den Weg
vom Anfängerstadium über die zehn Bodhisattva-Stufen Schritt für Schritt.
Diese Stelle gilt für uns. Ich selbst gehöre auch zu den Praktizierenden mit geringeren Fähigkeiten. Ich habe
keine solchen Sprünge erlebt. Ganz allmählich haben sich die Zeichen eingestellt, ganz allmählich und ganz
sicher auch, ganz verlässlich ist es nach und nach zu den Erkenntnissen gekommen. Ja, wir sind alle so. Es
braucht gute Bedingungen, um zu praktizieren, und die hab‘ ich zum Glück gehabt – tolle Bedingungen bei
einem tollen Lehrer und natürlich auch die Motivation, das umzusetzen. Aber dann hat es auch einfach ge-braucht. Es braucht Praxis und es war nicht so, dass alles einfach so gepurzelt ist.
Teilnehmer: Darunter gibt’s da nichts?
Da gibt’s kein weiteres Angebot. Man kann nur die Zeitspanne zwischen den Schritten und Stufen ausweiten.
Dann verweilt man etwas länger in einer Phase und dann zeigt sich das Verständnis der nächsten Phase. Das
hängt von Faktoren ab und es ist auch gar nicht so, dass ein Mensch definitiv immer zu einer Kategorie ge-
hören würde, also immer dieselbe Geschwindigkeit hätte. Es hängt von Bedingungen ab und ganz entschei-
dend z.B. ist, ob unser Geist noch mit allem Möglichen anderen beschäftigt ist oder für eine Weile so ausge-
richtet ist, aber so vollständig ausgerichtet ist, dass da die Praxis richtig stattfinden kann. Sobald es zu einer
Phase vollständiger Ausrichtung kommt – ohne Zweifel, ohne Ablenkung – ist in jemandem, der sich für ei-
nen ganz schwachen Praktizierenden gehalten hat, Unglaubliches möglich. Was da passieren kann, nur weil
der Geist wirklich alles andere losgelassen hat und endlich in der Praxis ankommt! Wir können gar nicht wissen, was in unserem Geist möglich ist, bevor wir nicht einmal diese Ausrichtung erfahren haben.
Teilnehmer: Merkt man das im Prozess, dass man mittlere oder geringe Fähigkeiten hat? Wie merkt man das eigentlich?
Ja, das merkt man schon.
Merkt man es daran, ob man schneller zu Einsichten gelangt?
Natürlich merkst Du, wenn Du zu Einsichten gelangst und wenn Du immer noch in denselben Mustern un-
terwegs bist, merkst Du das auch. Die Vermutung, dass man zu denen mit mittleren Fähigkeiten gehört, lässt
man schnell hinter sich. Also man merkt es. Das Zeichen dafür, dass man nicht so schnell lernt, ist, dass man
immer wieder dieselben Fehler macht.
Teilnehmer: Bleibt das, was man in den intensiven Phasen erkannt und gelernt hat?
Das, was man erkannt hat, bleibt und das, was man an Geistesruhe entwickelt hat, bleibt nicht. Geistesruhe
ist instabil und von Bedingungen abhängig. Echte Einsicht bleibt stabil, ohne dass Du sie überhaupt als Erin-
nerung abspeichern musst. Sie begleitet Dich, weil sich in Dir ein Verstehen geöffnet hat und das kannst Du
gar nicht mehr rückgängig machen. Aber Geistesruhe geht verloren, wenn sie nicht weiter kultiviert wird. Es
gibt eine andere Form von Geistesruhe, die durch die Einsicht entsteht, dass man die Dinge nicht mehr für so
wirklich hält und dadurch der Geist ruhig ist, die bleibt. Wenn es eine wache Einsicht gibt, wenn die Einsicht
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
wirklich wach ist, dann kommt es nur zu geringem Anhaften und dann ist natürlich immer eine gewisse Geis-
tesruhe da. Das bleibt, aber das ist erst bei stabiler Einsicht der Fall.
Der Weg – soweit er bis jetzt beschreiben wurde – ist nicht anstrengend. Er ist nicht schwierig, sondern mit
jedem Schritt auf dem Weg zeigen sich Qualitäten, die den Weg leichter machen. Schwierig ist es, überhaupt
anzufangen und sich die Mühe zu machen so lange und so intensiv zu praktizieren, dass auch echte Qualitä-
ten entstehen. Das ist die schwierige Phase der Praxis. Wenn es zu Qualitäten kommt, dann wirken die be-
schleunigend, sie wirken wie selbstbeschleunigend auf dem Weg. Das ist etwas ganz Wunderbares. Doch
viele schaffen es nicht – in der Physik würde man sagen, die kritische Masse aufzubringen –, die notwendige
Energie aufzubringen, um in den Genuss der sich dann freisetzenden Qualitäten zu kommen, die das Ganze
dann leicht machen. Und ich ermutige Euch wirklich sehr, Euch Zeit zu nehmen in Eurem Leben, dass Ihr diese Energie aufbringt und dann tatsächlich auch in den Genuss der Früchte von solcher Praxis kommt.
Teilnehmer: Das sind dann aber lange Retreats?
Ja, wie lang die sind, kann man schwer sagen. Tatsächlich ist meine Erfahrung, dass manchmal die volle
Ausrichtung einer viertel oder halben Stunde schon genügt, um eine erstaunliche Öffnung des Geistes zu be-
wirken. Bei Gruppenunterweisungen ist es möglich, dass durch eine geleitete Meditation oder eine Unterwei-
sung eine Synergie entsteht und wir an nichts anderes mehr denken, dass wir ganz da sind. Und dann öffnet
sich was in uns und es ist erstaunlich, was da schon passieren kann. Es ist auch ganz erstaunlich, was in einer
Woche Retreat passieren kann, wenn der Geist ganz ausgerichtet ist. Ich hatte vor kurzem einen Schüler, der
war nur zwei Monate im Retreat bei mir – das ist immer noch ein kurzes Retreat – und es ist ganz erstaun-
lich, was bei dem in der Zeit abging. Er hat allerdings vorher schon einige Jahre täglich morgens und abends
praktiziert. Aber es war, als würden die reifen Äpfel vom Baum fallen. Einfach zwei Monate völlig unabge-
lenkte Praxis, abgeschnitten von der Welt durch den Schnee, ohne Internet, ohne alles. Man muss wissen,
dass man die Zeit nicht definieren kann. Es braucht einfach dieses völlig Unabgelenkte und Ausgerichtete,
dann passiert es.
Teilnehmer: Das heißt, wir müssen nicht alle unseren Alltag aufgeben, unser Leben?
Nein, wirklich nicht. Als Irene und ich damals mit Henrik und Walli im Wald von Dhagpo waren, kam ein
polnisch-englischer Praktizierender – er hieß damals Lekshe, ich weiß nicht welchen Namen er jetzt hat – für
neun Monate oder ein Jahr ins Retreat. Das erschien uns relativ kurz – wir waren unbegrenzt im Retreat und
Henrik und Walli waren damals schon fünf, sechs Jahre im Retreat. Dieser Lekshe war Familienvater, arbei-
tete intensiv und hatte sich Geld gespart, um ein knappes Jahr bei Gendün Rinpoche praktizieren zu können.
Er praktizierte Guru-Yoga, keinen Yidam. Er hat in dieser Zeit die Natur des Geistes verwirklicht und von
Gendün Rinpoche bestätigt bekommen. Uns fiel die Klappe runter, denn wir waren schon länger im Retreat und hatten das noch nicht verstanden.
Ja, jemand ist Familienvater, bringt vollen Einsatz, hohe Motivation und offenbar ein gutes Verständnis, wie
man entspannt praktiziert und dann geht die Post ab. Wir waren bei den Interviews dabei. Er kam jeweils
dazu in den Wohnwagen von Henrik und Walli, um mit Gendün Rinpoche zu sprechen. Deswegen haben wir
das direkt mitbekommen. Das ist ermutigend. Er ist dann wieder zurückgegangen und hat weiter in der Fami-
lie gelebt. Wir haben uns vor ein paar Monaten bei der Öffnung des letzten Dreijahres-Retreats in Le Bost
wieder getroffen. Da haben wir uns gesprochen. Seine Praxis ist nicht so toll weitergegangen, weil er im Be-
ruf und im Familienleben wieder voll aufgegangen ist. Dann war es aus mit Geistesruhe, aber die Einsicht
und das grundlegende Vertrauen sind ihm geblieben. Er trauert dem nach, dass er nicht weiter gehen konnte,
aber das zumindest hat er erfahren.
Gendün Rinpoche hat von zwei, drei Menschen erzählt, die die Natur des Geistes während seiner Unterwei-
sungen gesehen haben. Und diese Zeit der völligen Präsenz während der Unterweisung, intuitiv zu verstehen,
worum es geht und sich vertrauensvoll da hinein öffnen zu lassen, das hat ausgereicht, um diese Einsicht hervorzubringen.
Meditation Wenn wir mit dem Meditieren vertraut sind, dann brauchen wir den Geist einfach nur irgendwie loszulassen
und er fällt von selber in Meditation. Schaut mal, ob das geht. Einfach vielleicht mit einem Ausatem in dieses
sorglose Sein hineingehen, wo gerade gar nichts irgendwie wichtig ist; einfach nur sein. – Geistesruhe entsteht dann, wenn wir den Geist in Ruhe lassen. –
* * *
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Jetzt geht es über die Stufen und Pfade, wie die Praxisqualitäten so allmählich entstehen – Qualitäten, die auf
den zwölf Mahāmudrā-Stufen entstehen.
Die Qualitäten, die auf den vier Mahāmudrā-Stufen entstehen
Nun folgen einige Erklärungen dazu, wie sich die [Qualitäten der] zwölf Stufen beim Durchschreiten
des Weges der vier Yogas mit jeweils drei Zwischenstufen zeigen.
Das ist die eigentliche Beschreibung des Mahāmudrā, sie folgt jetzt den Begriffen Einsgerichtetheit, Ein-fachheit, Eingeschmack und Nichtmeditation. Das sind Begriffe, die sich an der Erfahrung orientieren.
Einsgerichtetheit
Einsgerichtetheit ist, wenn du so lange im Zustand von Freude, Klarheit und Nichtdenken bleiben
kannst, wie du möchtest.
Das ist die Definition von Geistesruhe, der Geist ist gesammelt und verweilt dort, worauf man ihn lenkt.
Wenn beim Praktizieren manchmal keine Meditationserfahrungen kommen, obwohl du meditierst,
und dann aber welche auftauchen, obwohl du nicht meditierst – und du also noch keine echte Kontrol-
le über die Sammlung hast, dann handelt es sich um kleine Einsgerichtetheit.
Der Satz ist ja verständlich und die Beschreibung der Erfahrung ist klar. Auf dieser Stufe macht der Geist
noch so ein bisschen was er will, aber es tauchen schon Erfahrungen auf von Freude, Klarheit und Nichtden-
ken. Die können aber auch manchmal so zwischendurch auftauchen und die Praktizierenden auf dieser Stufe
wissen noch nicht ganz genau, wie das so geht mit dem Geist und wie diese Erfahrungen entstehen. Das lernt
man mit der Zeit, und dann ist es ganz selbstverständlich und klar, wie man in diese Erfahrungen hineinfin-
det.
Wenn Ablenkungen deiner Meditation nicht schaden und du stabil und ausgeglichen verweilst mit Er-
fahrungen beim Meditieren – und du somit Kontrolle über deine Sammlung hast, dann handelt es sich
um mittlere Einsgerichtetheit.
Da sind diese Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtdenken schon vertrauter, und wenn du meditierst,
findest du den Weg da hinein. Das ist dir vertraut und Ablenkungen schaden nicht. Also zwischendurch mal
eine Runde zu kochen für eine große Gruppe oder zwischendurch mal einen Einkauf in der Stadt machen zu
müssen, all das schadet nicht. Man kommt zurück, setzt sich hin und kann die Praxis direkt wieder aufneh-
men. Auch wenn Nachrichten kommen – z.B. ein Brief kommt ins Retreat, normalerweise stehen da aufwüh-
lende Inhalte drin –, wenn die Einsgerichtetheit stabiler geworden ist, dann stört das nicht. Man weiß, wie
man den Geist entspannt und kann einfach weiter praktizieren. Das ist schon eine deutlich belastbarere Geis-
tesruhe, als die auf der kleinen Stufe der Einsgerichtetheit.
Wenn dich selbst heftige Umstände nicht ablenken und sich ununterbrochen [Meditationserfahrun-
gen] zeigen, wobei alles Denken in diesem Zustand zur Ruhe kommt und sich die Meditation sogar im
Schlaf zeigt und du bei sämtlichen Tätigkeiten nie von ihr getrennt bist – dann handelt es sich um gro-
ße Einsgerichtetheit.
Wenn man diese Erfahrung macht, dann kann man das gar nicht abstellen, man ist jederzeit sofort wieder in
Meditation. Ob man gerade in der Pause ist, zwischen den Meditationen oder in der Meditation selbst, nichts
lenkt einen mehr ab. Kaum ist die Aktivität, die man gerade macht, beendet, schon ist der Geist wieder in
tiefer Sammlung. Wenn wir da, was wir die dritte Stufe von Shine nennen, ankommen und darin stabil wer-den, dann spricht man von großer Einsgerichtetheit.
Ihr kennt die Beschreibung mit dem Wasserfall als die beginnende Geistesruhe. Der Geist ist noch sehr aktiv,
aber wir sind nicht damit identifiziert. Es ist so, als würden wir unseren Geistesbewegungen zuschauen wie
einem Wasserfall, dem wir zuschauen. Es reißt uns aber nicht mehr fort, es passiert einfach. Das wäre der
Anfang der kleinen Einsgerichtetheit. Wenn wir davon sprechen, dass die Geistesbewegungen sich beruhigen und der Geist erfahren wird wie ein
sanft strömender Fluss, so ist das die zweite Shine-Stufe. Das gehört zur kleinen Einsgerichtetheit und leitet
über in die mittlere Einsgerichtetheit. Da erfahren wir die Geistesbewegungen als deutlich beruhigt und erle-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
ben das wie einen dahinfließenden Strom. Das sind noch nicht die meditativen Versenkungen, und das ist
meistens noch nicht so stabil. Das ist belastbar, aber nicht stark belastbar. Wenn dann die echten meditativen Versenkungen beginnen, dann erleben wir den Geist wie einen ruhigen
Ozean; spiegelglatt, ohne Wellen, ohne Wind und es heißt, wie in der Mittagssonne. Das soll darauf hinwei-
sen, dass der Geist extrem klar ist. Da passiert das, was hier gerade beschrieben wurde, dass alles Denken zur
Ruhe kommt. Das ist ein Sein ohne Denken, ohne dass Gedankenbewegungen auftauchen – immer noch mit
Beobachter, aber auch die beobachtende Funktion wird ganz still. Es ist so ein ganz leises Zuschauen, was man noch beobachten kann in diesem Zustand.
Natürlich kann man auch mal so in die dritte Stufe von Shine oder in tiefe meditative Versenkung fallen, aber
wenn man von großer Einsgerichtetheit spricht, dann kennt man den Weg dorthin, und das findet ständig
statt. Die Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtdenken hören gar nicht auf, selbst beim Kochen, wenn
man mit jemandem spricht, selbst nachts im Schaf, im Traum sind diese Erfahrungen ständig da. Es ist dann
oft so, dass man gar nicht mehr so schläft, wie man das früher konnte. Man ist dann nachts in einem wachen
Geisteszustand, der nicht das Klare Licht ist, von dem ich heute Morgen sprach. Sondern es handelt sich um
ein waches, ruhiges, gelöstes Sein, im dem man, wenn man sich selbst gegenüber ehrlich ist, eine gewisse
Faszination für die erstaunliche Klarheit der Wahrnehmung verspürt. Die Faszination ist kein starkes Greifen,
sondern etwas, was sich noch nicht ganz entspannt und auch dazu beiträgt, dass es einen wach hält, weil die
Qualitäten des Geistes, die man da beginnt wahrzunehmen, so beeindruckend sind, dass man unglaublich gerne in diesem Zustand ist.
Das alles ist Einsgerichtetheit, also Geistesruhe. Da tauchen schon Einsichten auf, man beginnt den Geist gut
zu verstehen. In den klassischen Schriften heißt es, man beginnt die Vier Edlen Wahrheiten gut zu verstehen.
Man versteht wie Leid entsteht, man versteht, wie sich der Geist aus Leid lösen kann, aber es ist noch kein
vollständiges Verständnis. Es ist noch keine klare Erfahrung davon aufgetreten, wie der Geist ist, wenn er ganz entspannt ist, ohne beobachtende, ohne kontrollierende Funktion.
Da diese Erfahrung völlig kontinuierlich ist, hast du vielleicht die Idee, dies wäre schon die große
Nichtmeditation.
Man kann die Idee haben, das wäre das Ende des Weges. Das kommt deswegen, weil der Geist jederzeit in
Nichtdenken verweilen möchte. Man braucht sich gar nicht anzustrengen, man nimmt keine Anstrengung
wahr. Solange man sie nicht über längere Zeit stört und andere Aktivitäten macht, setzt sich diese Erfahrung
mühelos fort. Es ist mühelos, anstrengungslos, klar, wie leuchtend – der Geist wird als leuchtend wahrge-
nommen, und auf dieser Stufe der großen Einsgerichtetheit tauchen einige Erfahrungen auf, die man als mys-
tische Erlebnisse missverstehen könnte, z.B. sich mit allem oder mit der Natur Eins zu fühlen. Der Geist wird
als unendlich wahrgenommen, so weit wie das All, wie der Raum. Es gibt noch subtilere Erfahrungen, es
geht noch weiter, wo man gar nicht mehr in irgendeinem Benennen ist, wo die Wahrnehmung so fein wird,
dass man sich gar nicht mehr sicher ist, ob es sich noch um ein normales Wahrnehmen handelt. Das sind feine Geisteszustände – sie haben auch wieder mit der Zirkulation der Prana-Energien, der subtilen
Energien zu tun –, die klassischer- und typischerweise als Gotteserfahrung oder als Erfahrung der Natur des
Geistes missverstanden werden. Um das unterscheiden zu können, braucht es kompetente Begleitung. Der
Unterschied zwischen diesen Erfahrungen und der Erfahrung der Natur des Geistes ist krass, wenn man es
dann kennt. Aber da man das ja noch nicht kennt und sich so erleichtert fühlt, so frei, und so weit und so gar
nicht getrennt von allem Drumherum, ist man geneigt, das für die große Erfahrung zu halten. Wenn man sol-
che mystischen Erfahrungen macht, dann ist auch typisch – und das ist auch ein Unterscheidungsmerkmal –,
dass dann ein Missionswunsch entsteht. Man will anderen davon erzählen, man hat etwas ganz Besonderes
erfahren und möchte unbedingt andere davon wissen lassen. Genau das ist eines der krassen Zeichen für Ich-
bezogenheit. Man ist total beseelt von der Erfahrung und möchte sie anderen mitteilen, weil die das ja nicht
kennen. Das ist durchaus mitfühlend und gut gemeint, zeigt aber, dass diese Erfahrung die Ichbezogenheit in
der Tiefe noch gar nicht entspannt hat. Sie geht auch wieder verloren. Wenn so jemand dann über längere
Zeit irgendwelchen Arbeiten nachgeht, andere Beschäftigungen ausführen muss, dann ist die weg. Dann
braucht es wieder entsprechend viel und lange Zeit der Praxis, um da hineinzufinden. Das ist die große Eins-
gerichtetheit.
Habt Ihr Fragen zu diesen drei Stufen des Yogas der Einsgerichtetheit?
Teilnehmer: Heißt das, dass man auch von dieser Stufe wieder runterfallen kann?
Ja klar, da ist noch nichts stabil.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Gilt das auch für die anderen Stufen?
Nein, nur von der Einsgerichtetheit. Von der nächsten, wirst Du sehen, gibt es auch noch Rückschritte. Stabil
ist nur der Eingeschmack, aber Einsgerichtetheit ist nicht stabil. Einsgerichtetheit ist eine Vorstufe von Mahāmudrā. Es ist noch nicht Mahāmudrā, es ist Geistesruhe.
Teilnehmer: Was ist denn hilfreich daran? Das klang jetzt eher so wie Meditationserfahrung, das passiert
einfach so im Rahmen der Meditation?
Hilfreich ist, dass Du den Geist kennenlernst und dass es notwendige Durchgangsprozesse sind. Man muss
da durch. Du lernst so den Geist kennen, und diese Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtdenken sind
schon Ausdruck der Natur des Geistes, nur immer noch vermischt mit Ichbezogenheit. Es ist notwendig, da
durchzugehen. Der Vorteil ist, dass der Geist so klar ist, dass Du ihn auf alles lenken kannst und ein ganz
gutes Verständnis des Dharma schon entwickeln kannst. Es ist ein Geist, der viel weniger Täuschungen aus-
gesetzt ist als der Geist von normalen Menschen; viel weniger Täuschungen, aber an der Täuschung, die da ist, kann man trotzdem ganz schön haften.
Teilnehmer: Das klingt alles so klebrig, merkt man das nicht?
Nein, das merkt man nicht. Man merkt nur die zunehmende Befreiung, klebrig wirkt es aus der Sichtweise
von später. Das ist so ein krasser Unterschied, dann wirkt es eben klebrig, aber in den Zuständen selber sind
es große Schritte in immer gelösteres Sein und man entdeckt eine Entspannung, die man noch nie zuvor er-kannt hat.
Wenn ich also merke, dass was klebrig ist, bin ich nicht mehr drin?
Wenn Du merkst, dass es etwas klebrig ist, dann kennst Du schon eine freiere Erfahrung als das, sonst würde
es Dir nicht als klebrig vorkommen. Es muss also etwas in Dir geben, das schon einen freieren Geisteszu-
stand kennt als das, sonst würdest Du es nicht als solches wahrnehmen. In den Texten heißt es ja, dass Bodhisattvas das in diesen Geisteszuständen noch vorhandene Leid so deut-
lich wahrnehmen, wie wenn ihnen ein Haar ins Auge kommt, während für andere das in diesen Zuständen
wahrnehmbare Leid so wenig wahrnehmbar ist, wie ein Haar, das auf der Handfläche liegt. Das ist kein
schlechter Vergleich. Das merkt man ja normalerweise nicht, da ist ja kein Gewicht, da ist keine Berührungs-
empfindung auf der Hand. Aber kriegt man so ein Haar ins Auge, dann ist man nur noch dabei, es herauszu-
kriegen. Dieses Beispiel ist sehr sprechend. Es macht einen großen Unterschied aus, und trotzdem sind diese Geisteszustände von großer Qualität.
Man ist total glücklich. Ich habe die Erfahrungen nicht differenziert. Zunächst ist man glücklich, glücklich,
Körper und Geist sind richtig glücklich – auch mit Anhaften. Und dann verfeinert sich die Geistesruhe und
das Haften an dem Glück hört auf und es kommt zu immer feineren Glückszuständen, die ohne ein spürbares
Haften an dem Glück einhergehen. Auch das geht weiter bis man gar nicht mehr davon spricht, dass Körper
und Geist glücklich oder freudig wären, es stellt sich ein tiefer Gleichmut ein.
Teilnehmer: Ist es so, dass zuerst ein Gefühl von Entzücken kommt, also zuerst die Freude, die dann das Klebrige hat, und ein Anzeichen dafür ist, also ‚bliss‘ könnte man sagen, also eine Einheitserfahrung?
Das Entzücken ist, wie Du sagst, vorangehend. Beim Eintreten in bestimmte Samadhis kommt es zunächst
zu einem Entzücken mit einem kleinen Kommentar dazu. Man merkt das „Oh wie toll!“, und dann hört die-
ser Kommentar auf, aber das feine Haften an dem Zustand geht weiter; ein kommentarloses Haften. Das ist beim ersten und zweiten Yana so, bei den ersten und zweiten meditativen Versenkungen.
Praktizierende wie Gendün Rinpoche sind offenbar aufgrund von Praxis in früheren Leben unmittelbar,
kaum dass sie die Gelegenheit hatten ins Retreat zu gehen, in diese große Stufe der Einsgerichtetheit einge-
treten. Bei Gendün Rinpoche war das so – das beschrieb er uns mal –, im ersten Drei-Jahres-Retreat ist er
gleich in diese Stufe eingetreten. Er sagte, es fiel ihm ganz schwer, die normalen Schritte des Meditierens zu
unterrichten. Er musste erst lernen, wie man mit einem aufgewühlten Geist umgeht; was man da alles tun
muss, damit er ruhig wird. Für ihn ging diese Phase der großen Einsgerichtetheit total schnell. Es gibt Prakti-
zierende, denen es leicht fällt dort hineinzukommen, d.h. aber nicht, dass es genau so leicht weitergeht.
Wir haben alle in früheren Leben vermutlich schon praktiziert. Die wenigsten von uns dürften sich diesem
Prozess in diesem Leben das erste Mal annähern; vermutlich haben wir damit schon Erfahrung. Die Schritte
nachzuerleben, wieder neu zu erleben, die wir in früheren Leben schon gemacht haben, geht deutlich schnel-
ler, bis wir in den Bereich kommen, wo wir auch in früheren Leben nicht weiter gegangen sind. Da beginnt
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
die echte Arbeit, alles andere ist relativ leicht, und man denkt „Wow, super!“, aber irgendwann berührt man
die Grenze, dort wo man halt noch nicht erwacht ist, wo sich die Erkenntnis noch nicht eingestellt hat oder die Geistesruhe sich noch nicht eingestellt hat, und da beginnt die Arbeit des jetzigen Lebens.
Doch obwohl die Erfahrungen mit Erkenntnis verbunden sind, ist es noch nicht die eigentliche Er-
kenntnis, auf die es ankommt, und du bist hier noch auf den Pfaden der Ansammlung und der Verbin-
dung. Da die Natur des Geistes noch nicht ganz verstanden wurde, handelt es sich hauptsächlich um
Geistesruhe mit Erfahrungen, in denen noch an Leerheit festgehalten wird.
Einfachheit
Wenn du genau diese Erfahrungen längere Zeit frei von Anhaften wahrst, werden sie [von dualisti-
schen Mustern] gereinigt und der verweilende [haftende] Anteil in den Erfahrungen von Freude,
Klarheit und Nichtdenken löst sich auf.
Wenn wir also immer weniger an den Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtdenken haften, lösen sich
die beobachtenden Funktionen auf. Dieser verweilende Anteil – das ist ein selten benutzter Ausdruck in den
Mahāmudrā-Lehren – ist das, was bewirkt, dass man von Geistesruhe spricht. Jetzt geht es in die Einsichts-
meditation. Die echte Einsichtsmeditation hat nichts Klebriges mehr. Da ist dieses Haftende, dieses Verwei-
lende nicht mehr aktiv, das muss sich auflösen. Und das löst sich auf, indem die Praktizierenden „ja“ sagen
zu den Geistesbewegungen. Dieses „ja“ zur Dynamik des eigenen Geistes war vorher nicht wirklich vorhan-
den. Es war eine eindeutige Vorliebe für den ruhigen Geist. Diese Vorliebe für den ruhigen Geist nennt man
den verweilenden Anteil an der Meditation, und die Qualitäten Freude, Klarheit und Nichtdenken werden mit
der Geistesruhe assoziiert. Freude, Klarheit und Nichtdenken treten aber auch im bewegten Geist auf – wenn der bewegte Geist zugelassen wird.
Die Wahrheit der Grundnatur allen Erlebens (dharmata) wird gesehen [d.h. unmittelbar erlebt] und
dadurch kommen Freude, Klarheit und Nichtdenken zur Ruhe in der dreifachen Leerheit frei von Ob-
jektbezug.
Dharmata ist die Natur des Seins, die Natur der Phänomene. Sie wird intuitiv verstanden, unmittelbar erlebt.
Das ist kein distanziertes Sehen, es ist ein Erleben, und die Erfahrungen von Freude, Klarheit und Nichtden-
ken kommen zur Ruhe und zwar in der dreifachen Leerheit. Diese dreifache Leerheit frei von Objektbezug
ist das Freisein von der Illusion eines Subjekts, eines getrennten Objekts und einer Handlung, die zwischen
den beiden stattfindet.
Aus der Perspektive des Erwachens ist in der Geistesruhe, die ich Euch eben beschrieben habe, noch etwas
Aufgewühltes, noch etwas Angespanntes. Da ist noch dukkha drin, da ist noch Stress drin, weil die Illusionen
von Subjekt-Objekt noch aktiv sind, weil immer die Illusion besteht von: „Ich tue etwas“, „Ich meditiere“,
„Ich erfahre etwas.“ Diese Anspannung ist eine Unruhe, trotz der ansonsten vorhandenen Ruhe. Das habe ich
gemeint damit, dass man nachts quasi nicht schlafen kann, weil man in den Shine-Erfahrungen steckt. Da ist
eine gewisse Anspannung, die einen wach hält. Wenn man hinüber findet in die Mahāmudrā-Erfahrung, kann
man wieder schlafen, weil diese Unruhe draußen ist. Dann stellt sich eine andere Erfahrung von Klarheit ein
– mit der Zeit, etwas später, keineswegs sofort –, wo man merkt, dass der Geist nachts klar und ruhig ist, oh-
ne diese Anspannung. „Eigentlich schlafe ich, aber innerlich ist da Gewahrsein, ist da Bewusstheit.“ Das ist
deutlich verschieden und deswegen heißt es hier: kommen Freude, Klarheit und Nichtdenken zur Ruhe in der
dreifachen Leerheit frei von Objektbezug.
Du erfährst die wahre Natur des Gewahrseins so deutlich als hättest du eine Hülle abgestreift oder ei-
nen Schatz gefunden und hast den Pfad des Sehens im Großen Fahrzeug erreicht, der auch „Frei von
komplizierenden Vorstellungen“ oder „Einfachheit“ genannt wird.
Für manche Praktizierende ist das ein deutlicher Moment, eine Erfahrung, die sie mit einer deutlichen Ge-
wissheit hinterlässt: „Jetzt habe ich verstanden. Ah, so ist das!“ Das ist danach, die Nachwirkung, eine klare
Gewissheit, in das Verständnis der Natur des Seins eingetreten zu sein. Aufgrund dieser Erfahrung wird plötzlich der ganze Dharma klar. Es wird durch und durch klar, worum es
immer ging. Alles macht plötzlich Sinn. Das zentrale Element, um das es im Dharma geht, die Erfahrung des
Erwachens, ist unumstößlich klar und alles setzt sich dazu in Bezug. Es ist klar, wohin die ganzen Unterwei-
sungen zielen, angefangen vom Zufluchtnehmen, über die verschiedenen Meditationsinstruktionen, was
Ethik eigentlich bedeutet, was mit Leerheit gemeint ist, was mit abhängigem Entstehen gemeint ist, … All das wird klar, weil jetzt die zentrale Erfahrung persönlich aus dem Inneren heraus entstanden ist.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Das ist aber nicht bei allen so. Bei manchen kann sich dieser Prozess des Entstehens einer Gewissheit über
die Natur des Geistes über Jahre hinziehen, manchmal nur über Monate, aber manchmal über Jahre. Es ist
nicht so wie eine klare Erfahrung sondern eher wie ein allmähliches Dämmern dieses Verständnisses, es wird
allmählich klar. Man kann zurückblickend nicht sagen, wann es klar geworden ist. Es ist klar geworden im Laufe von längeren Meditationsprozessen.
Wenn in dieser Phase zunächst noch eine gewisse Neigung besteht, an Leerheit zu haften, und die Na-
tur des Geistes nur ein wenig gesehen wurde, ist das die kleine Einfachheit.
Das überrascht Euch jetzt vielleicht. Ihr hättet vielleicht gedacht, dass alles Haften vorbei wäre, aber wenn
von Einfachheit gesprochen wird, ist das die Beschreibung der Gesamtentwicklung des Praktizierenden. Der
hat mal ganz offene Geistesmomente, ist aber noch unsicher darin, wie er dahin kommt, wie das genau pas-
siert ist. Das passiert ja nur, wenn man sich selbst vergisst, das Eintreten in diese Erfahrung ist nicht mit dem
Willen möglich. Wie genau das geht, sich selbst zu vergessen, weiß man noch nicht. Erst mal ist es eine
Überraschung, dass es passiert ist, dann passiert es wieder, weil es dann leichter mal passiert, aber wie genau
das geht, weiß man noch nicht. Es ist dann ganz natürlich, dass man an dem festhält, von dem man meint,
das müsste es sein: das Verständnis der Leerheit. Das ist ganz normal, dass man in dem Moment daran ein
wenig haftet. Es ist ein Festhalten an dem Verständnis, dass nichts Substanz hat. Dieses Verständnis der
Leerheit wird zu einem subtilen Bezugspunkt des oder der Praktizierenden und daran orientiert man sich.
Und genau das beschränkt die Erfahrung, denn statt ganz im Erleben aufzugehen, ist man noch etwas mit der
Vorstellung befasst, wie es sein sollte oder sein könnte; etwas, was man meint, noch so ungefähr zu erinnern von dem, was die letzten Male geholfen hat, in diese Erfahrung einzutreten. Genau das ist das Hindernis.
Wenn sich das Haften [an der Leerheit] an der Wurzel aufgelöst hat und du erkennst, wie es [wirklich]
ist, und sich das gewöhnliche Bewusstsein frei von Objektbezug zeigt, ist das die mittlere Einfachheit.
Da hat sich dieses Haften aufgelöst. Ihr werdet überrascht sein, es kommen immer noch verschiedene For-
men von Haften in den nächsten Mahāmudrā-Stufen. So einfach geht das nicht, das alles aufzulösen. Mittlere
Einfachheit ist eine klare Erkenntnis, wo auch schon das Fixiertsein auf Leerheit aufgehört hat. Aber hier die nächste Beschreibung:
Wenn sich das [Freisein von Haften an vermeintlichen Objekten] stabilisiert [wenn man immer wieder
in dieses Bewusstsein frei von Objektbezug hineinfindet], fühlst du dich wohl mit begrifflichem Denken
aber zunächst noch unwohl mit den Erfahrungen der äußeren Sinne.
Das ist eine interessante Erfahrung. Wir denken ja immer, das Denken wäre unser Problem. Tatsächlich ist es
aber so, dass es noch schwieriger ist, die wahre Natur der Sinneserfahrung, die von außen kommt, zu erken-
nen. Die wahre Natur des Denkens zu erkennen, ist relativ leicht, weil es ja innerlich stattfindet. Da ist es
relativ leicht zu sehen, dass es sich um einen Film handelt. Es ist relativ leicht, das zu durchschauen, weil es
keine konkreten äußeren Anlässe für diese Wahrnehmungen, für diese Denkprozesse gibt. Jemand, der die
Natur des Geistes verstanden hat, wird sich also sehr schnell wohl fühlen mit den inneren Geistesbewegun-
gen, aber bemerken, dass es keineswegs so ist mit den Erfahrungen, die vermeintlich von außen kommen –
was man sieht, was man hört, was Gesprochenes unter anderem, was durch Berührung passiert, was durch
Gerüche kommt, durch Geschmäcker. Das ist deutlich schwieriger. Damit fühlt man sich deswegen noch et-
was unwohl; unwohl in dem Sinn, dass die Praxis da noch nicht so richtig greift. Das bringt einen immer
noch ins emotionale Reagieren, immer noch in ein Annehmen und Ablehnen, während die inneren gedankli-
chen Prozesse, all das, was ohne Anregung von außen stattfindet, schon sehr leicht in seiner wahren Natur
erkannt wird.
Dies löst sich auf, wenn du erkennst, dass ausnahmslos alle Phänomene leer sind.
Dieses Unwohlsein mit den Erfahrungen der äußeren Sinne löst sich auf. Sie sind leer, nicht fassbar, aus-
nahmslos alle Erfahrungen haben dieselbe Natur. Da muss sich die Erkenntnis innerlich ausweiten. Sie muss
auch die Erfahrungen der fünf äußeren Sinne mit einbeziehen.
Wenn alles Zuschreiben und Leugnen bezüglich der Leerheit sämtlicher äußerer und innerer Phäno-
mene durchtrennt wurde, ist es die große Einfachheit.
Zuschreiben ist, wenn man sagt: „Das ist.“ Leugnen ist, wenn man sagt: „Das ist nicht.“ Wenn sich diese
Muster des Bestätigens und Verneinens, des Zuschreibens und Leugnens bezüglich der Natur der Phänomene
aufgelöst haben, dann ist man in der wirklichen Erkenntnis angelangt. Im Geist des Praktizierenden tauchen
natürlich z.B. Gedanken auf, wie „Das ist doch leer.“ oder „Jetzt ist es nicht leer.“ Sie sind wie Strampelbe-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
wegungen eines Kindes. Irgendwie ist man noch nicht klar mit der Natur der Phänomene, es braucht immer
noch eine Bestätigung, einen Kommentar. So ganz klar, kommentarlos klar ist es zunächst noch nicht. Wenn
es kommentarlos klar ist, ohne dass man Existenz zu bestätigen braucht, Existenz zu leugnen braucht, Leer-
heit zu bestätigen braucht, Leerheit zu leugnen braucht, wenn all das einfach klar ist für sämtliche Erfahrun-gen, dann spricht man von großer Einfachheit. Da sind dann alle sechs Sinne einbezogen.
Teilnehmer: Muss man das der Reihe nach durchlaufen?
Das musst Du nicht, wenn Du irgendwie springen kannst, tu es doch. [Lachen]
Da wird gelacht, aber ist es möglich von der mittleren Einsgerichtetheit in die Einfachheit zu gelangen?
Tatsächlich ist es möglich, und es ist sogar gar nicht selten. Jeweils die letzte Stufe, z.B. die große Einsge-
richtetheit, ist gar nicht unbedingt notwendig zu durchlaufen. Es gibt Praktizierende, die von der mittleren
Einsgerichtetheit in die kleine Einfachheit wechseln, und erst sehr viel später erfahren sie dann aufgrund der
zunehmenden Einsicht so ruhige Geisteszustände, die vergleichbar sind mit der großen Einsgerichtetheit –
sie sind nicht ganz das Gleiche, weil die Einsicht so stark ist. Aber diese Praktizierenden haben, bevor sie
Erkenntnisse haben, nicht die Ruhe entwickeln können, um in diese ganz tiefen Versenkungen einzutreten.
Und tatsächlich gibt es dasselbe Phänomen auch wieder, dass sich auf der mittleren Stufe von Einfachheit
bereits Erfahrungen von Eingeschmack zeigen, und erst wenn sich die ausdehnen, sich das dann tatsächlich
auf alle Sinneserfahrungen ausweitet. Das ist nicht so stringent, wie es hier dargestellt wird. Es gibt tatsäch-
lich gleitende Prozesse. Man kann es lesen in „Mondstrahlen des Mahāmudrā“.
Das führt auch dazu, dass Praktizierende sich manchmal gar nicht klar verorten können, weil Erfahrungen
von der nächsten Stufe sich schon erahnen lassen und sich schon wie Gewissheit anfühlen, aber noch keine
wirkliche Gewissheit sind. Man ist noch mit Hindernissen beschäftigt, die eigentlich einer früheren Stufe
zuzuordnen sind, aber Ahnungen für die nächste tauchen schon auf. Wenn man da keine kompetente Beglei-
tung hat, denkt man: „Oh, den Beschreibungen nach könnte ich da sein.“ Und auch: „Ich wäre ja gern schon
dort.“ Tatsächlich tut man gut daran, solange einen noch interessiert, auf welcher Stufe man ist, sich immer
der Stufe zuzuordnen, die vermutlich die niedrigste ist. Da ist die Selbsteinschätzung vermutlich richtig. Es
ist ganz normal, dass wir Ahnungen haben von dem, was sich andeutet und was als nächstes kommt. Das ist
ganz normal. Wir haben ja auch als Unerwachte schon Ahnungen vom erwachten Zustand. Es heißt ja nicht,
dass wir, bloß weil wir diese Ahnungen haben, schon dort wären. Diese Vorläufer, die Vorahnungen von dem,
wie es sein könnte, und ein gewisses Verständnis davon, was als nächstes kommen könnte, ist ganz normal.
Wo wir wirklich sind, ist das, was wir gemeistert haben, wo wir nach Belieben Zutritt haben. Da stehen wir
tatsächlich.
Teilnehmer: Ist es wichtig zu wissen, wo man steht?
Nein, das ist nicht wichtig. Ein Zeichen von dem Übergang, der hier von Einfachheit in Eingeschmack statt-
findet, ist, dass die Praktizierenden sich nicht mehr dafür interessieren, wo sie stehen. Das ist das Zeichen
dafür, dass sich die Ichbezogenheit wirklich in der Tiefe aufgelöst hat. Das sind ichbezogene Interessen, die
man gar nicht stoppen kann. Solange die Ichbezogenheit da ist, will man wissen, wo man steht. Wenn sie
nicht mehr da ist, will man es nicht mehr wissen. Es ist auch nicht so, dass man es gar nicht wissen will, man
ist sogar dankbar zu wissen, wo man steht, wenn es einem jemand sagt. Aber es ist keine Unruhe mehr im
eigenen Geist darüber, wo ‚ich‘ denn bin. Es ist ein klares Gefühl dafür, dass der Geist frei ist und von Natur
aus frei ist, und dass es nichts zu tun gibt, um ihn irgendwie noch freier zu machen und das reicht. Es gilt
dann nur noch, das in allen Bereichen des Lebens zu leben.
Diese ganze Unsicherheit – „Wo stehe ich?“, „Wo bin ich?“ – besteht, solange man noch nicht sicher ist,
wirklich im Trockenen zu sein, wirklich raus aus Saṃsāra zu sein; wenn immer noch Fragen auftauchen:
„Wie wird das wohl sein?“
In der Nachmeditation erfährst du [Praktizierende der Einfachheit] Erscheinungen als Trugbilder.
Trugbilder, Illusion, täuschend. Damit ist gemeint, so substanzlos wie ein Regenbogen. Das ist ein gutes Bei-spiel; deutlich erscheinend, aber nicht fassbar.
Du hast das Wesen von Bodhicitta erkannt …
Das bedeutet, dass hier das letztendliche Bodhicitta klar wird. Das relative Bodhicitta wurde vorher schon
praktiziert, jetzt ist es das eigentliche Bodhicitta, was der Geist des Erwachens ist, was der Geist aller Er-
wachten ist. Das wird hier klar.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
… und du hast die 82 Dinge aufgegeben, die auf dem Pfad des Sehens aufzugeben sind.
Gampopa macht darüber im „Kostbaren Schmuck der Befreiung“ eine Andeutung. Wenn ich mich richtig
entsinne, hat es damit zu tun, dass sich bestimmte verkehrte Annahmen in Bezug auf die fünf Skandhas auf-
gelöst haben als Grundlage für die persönliche Identifikation, und dass sich im Hinblick auf die Hauptemoti-
onen ebenfalls die grobe Identifikation aufgelöst hat. Wie man auf 82 kommt, kann ich nicht sagen. Ich glau-
be nicht, dass es für uns so relevant ist, weil man keine Strichliste macht und schaut, was man alles schon
losgelassen hat. Es passiert ganz von selbst, dass die Identifikation mit den Skandhas in dem Moment aufge-löst wird, zusammen mit deren Kombination mit den Hauptemotionen.
Im Mahayana wird von fünf Pfaden gesprochen, und für jeden Pfad wird beschrieben, was aufzugeben ist
und was dort zu verwirklichen ist. Das hier ist eine kleine technische Zwischenbemerkung von Karmapa,
damit man die Beschreibung der vier Yogas mit den fünf Pfaden in Beziehung setzen kann.
Wir sprechen also bei der Praxis der Einfachheit im Normalfall vom Pfad des Sehens. Das ist der Eintritt in
die direkte Schau der Natur der Dinge. Die Mahāmudrā-Lehren orientieren sich aber weniger an Klassifika-
tionen als an den Erfahrungen, und deswegen macht es nicht so viel Sinn, verschiedene Erklärungssysteme
oder Beschreibungssysteme miteinander zu vergleichen, weil die Kriterien leicht verschieden sind. Auch da zeigt Dagpo Tashi Namgyal in „Mondstrahlen des Mahāmudrā“ sehr schön auf, wie verschiedene
Meister die Stufe der Einfachheit mehr oder weniger breit ansiedeln. Entweder wird nur der erste Bhumi, die
erste Bodhisattva-Stufe, dem Pfad der Einfachheit zugeordnet oder es werden bis hin zu sieben Bhumis dem
Pfad der Einfachheit zugeordnet. Da gibt es also große Unterschiede, je nachdem wie die Meister diese Er-
fahrungen beschreiben, wie weit sie gehen mit dem Begriff ‚frei von komplizierenden Vorstellungen‘ – tröd-räl – was dann als Einfachheit übersetzt wird.
Tatsächlich ist man noch auf der Stufe von Eingeschmack nicht total frei, da tauchen dann und wann immer
noch komplizierende Vorstellungen auf. Die Erfahrung, dass sich das Leben immer weiter noch vereinfacht,
setzt sich fort. Das Leben wird immer noch einfacher bis hin zur Buddhaschaft. Der Begriff ist also dehnbar.
Genauso wie der Begriff von Eingeschmack mehr oder weniger breit dargestellt werden kann. Wir halten uns
an diese Beschreibung des Neunten Karmapa. Das ist die, die sich eingebürgert hat, die eine recht verlässli-che Referenz sein kann. Seid aber nicht überrascht, wenn Ihr irgendwo was anderes lest.
Wir sind also auf dem Pfad des Sehens angekommen, und da heißt es:
Du kehrst nicht mehr in Saṃsāra zurück und wirst nicht mehr in bedingter Existenz geboren, es sei
denn, durch die Kraft deiner Wunschgebete.
Genau so wird im Pali-Buddhismus der Stromeintritt beschrieben. Eine klare Erfahrung des Stromeintritts
bedeutet, dass man nicht mehr in Saṃsāra wiedergeboren wird. Bei Stromeintritt ist es laut Pali-Tradition
klar, dass man maximal noch sieben Geburten annimmt. Arhatschaft ist die letzte Stufe der Verwirklichung,
und dann gibt es noch den Nichtmehrwiederkehrer, der kehrt nicht mehr in ein Leben im menschlichen Da-sein zurück. Dazwischen siedelt sich die Einfachheit an.
Wenn man also wiedergeboren wird, ist es aufgrund des Bodhisattva-Gelübdes und aufgrund der Bodhisatt-
va-Wunschgebete, dass man in dieser Art von Existenz wiedergeboren wird. Sonst kann man in reinen Berei-chen, wie Dewatschen und dergleichen, seinen Weg weiter gehen.
Daher heißt die erste Bodhisattva-Stufe „Großes Glück“ oder „Erreichen vom Pfad des Sehens“.
Sie wird auch ‚Höchste Freude‘ genannt, weil die Freude groß ist, jetzt wirklich den Ausstieg aus dem Leid
gefunden zu haben und nicht mehr gefangen zu sein.
Das war die Erklärung zur Einfachheit. Was beschäftigt Euch da, gibt es dazu Fragen?
Teilnehmer: Mir fällt die Geschichte ein von Guru Saraha, passt es dazu?
Nein, das war große Einsgerichtetheit. Als Saraha diese zwölf Jahre in Versenkung war, war er aller Wahr-
scheinlichkeit nach im vierten Dhyana, in der vierten meditativen Versenkungsstufe, einer extremen Klarheit des Geistes, aber auf der Stufe der großen Einsgerichtetheit.
Wenn Saraha schon in der Einfachheit gewesen wäre, dann hätte er geistige Bewegungen zugelassen und
wäre deutlich dynamischer unterwegs gewesen. Er war aber quasi abgehockt auf einem meditativen Park-platz.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Teilnehmer: Wenn man in der großen Einfachheit aufgrund der Wunschgebete in Saṃsāra wiedergeboren
wird, kann man sich da dann wieder so verstricken, dass man für lange Zeit gar nicht mehr wieder raus-kommt oder ist man schon so stabil, dass nichts mehr passiert?
Soweit ich gelesen und gehört habe, ist es so, dass man sich für die Dauer eines ganzen Lebens wieder ver-
stricken kann. Man wird aber im Bardo, im Nachtodzustand, wieder Zugang zu der schon gemachten Ver-
wirklichung finden. So heißt es, es geht einem also nicht völlig verloren. Es ist ein Leben in den Sand ge-
setzt.
Teilnehmer: Du hast gesagt, dass bei der Einfachheit Nichtdenken eine Qualität ist, und in der nächsten Stu-fe lässt man wieder Geistesbewegungen zu. War das so?
Das ist richtig, das ist der Übergang von Einsgerichtetheit zur Einfachheit.
Ist das ein bewusster Akt?
Es kann ein bewusster Akt sein. In meinem Fall war es so, dass Lama Gendün gesagt hat, ich solle wieder
Geistesbewegungen einladen. Es war also ein ganz bewusster Akt – wie einen Rückwärtsgang einlegen –,
raus aus der nicht-denkenden Versenkung und ganz bewusst wieder Gedanken erzeugen und „ja“ sagen dazu.
Bei anderen ist es vielleicht nicht so ein bewusster Akt, sondern mehr ein Zulassen von dem, was sich ohne-
hin dann manifestiert. Es ist nicht so oft, dass sich Praktizierende in dieser Sackgasse verirren und deswegen
habe ich nicht so viele Praktizierende betreut, die diese Erfahrung gemacht haben. Tatsächlich muss man
aber bewusst „ja“ sagen zur Dynamik des Geistes. Ob man sie einladen muss, ist noch eine andere Frage, das
kann ich nicht so beurteilen.
Was dann passiert, ist, dass im Denken, in den Denkprozessen, eine Qualität des Nichtdenkens Einzug hält.
Das Denken ist dann nur noch Werkzeug, um eine Aufgabe zu lösen und ist nicht mehr von Ichbezogenheit
geprägt, d.h. es ist ein unkompliziertes Denken, was sich kurz einer Aufgabe widmet und dann wieder ruht,
ohne sich zu verselbstständigen, ohne wieder in einem ichbezogenen Karussell zu landen. Das ist die Quali-
tät des Nichtdenkens im dynamischen Geist, also im denkenden Geist. Klarheit löst auf dieser Stufe der Ein-
fachheit nicht mehr diese Faszination aus. Klarheit ist eine so vertraute und natürliche Qualität des Geistes
geworden, dass sie wirklich keine Faszination auslöst, weil sie auch nicht mehr verschwindet. Sie ist immer
da, wenn der Geist sich entspannt, und Freude ist eine ganz normale Begleiterin der Praxis geworden. Es ist
ganz so wie mit der Klarheit, es ist nichts Besonderes mehr, jedes Mal wenn der Geist sich öffnet, ist dieser
gelöste Geist, den man auch Freude nennen kann, immer da. Man braucht sie nicht zu suchen, sie ist immer
entweder schon da, oder gerade um die Ecke.
Teilnehmer: Karmapa unterscheidet zwischen Saṃsāra und bedingter Existenz?
Ja, er bringt hier beide Begriffe. Ich habe mich auch gefragt, was er damit meint. Eigentlich sind es sind Sy-
nonyme, manchmal schreibt ein Autor einfach Synonyme nebeneinander. Saṃsāra ist leidvolle Existenz im
Daseinskreislauf, dieser tibetische Ausdruck khorwa. Mit sipa – Existenz – sind die Kräfte des Werdens ge-
meint. Damit könnte Karmapa meinen – das ist eine Vermutung von mir –, dass die Kräfte des Werdens zum
Erliegen kommen. Die Kräfte des Werdens kennst Du aus der Kette der zwölf Glieder des abhängigen Ent-
stehens. Das sind die Kräfte, die im dualistischen Bewusstsein zur nächsten Wiedergeburt führen. Den Kräf-
ten des Werdens wird in dieser Verkettung von einem Leben zum anderen ein Ende gesetzt, wenn man nicht
mehr in Ichbezogenheit ist. Das könnte der Grund sein, warum Karmapa dieses zweite Wort noch hingesetzt hat.
Es heißt ja, dass die großen Meister wiederkommen, wenn wir Wunschgebete machen. Das Leben eines Karmapa oder Shamarpa oder Gendün Rinpoche ist davon abhängig? Ist das auch sipa?
Nein, das ist nicht mehr sipa in dem Sinne. Es ist nicht so, dass man jemanden zwingen könnte, aufgrund
unserer Wunschgebete Wiedergeburt anzunehmen, d.h. unsere Wünsche müssen mit den Wünschen der
Bodhisattvas zusammenkommen, dann entsteht so eine Wiedergeburt. Gendün Rinpoche sagte z.B. über sein
Wiederkommen vor seinem Tod, dass er dort wiederkommen würde, wo er gebraucht wird, dass er bereit
wäre, egal wo wiederzukommen. Dann braucht es eine Situation, wo er gebraucht wird. – Es könnte sein,
dass das hier bei uns ist, dass da eine Bereitschaft war und ein Wunsch wieder Nutzen zu haben. Wenn das so
ineinandergreift, dann sind es nicht Werdekräfte sondern Bodhicitta-Kräfte, die dazu führen, dass noch ein-mal ein Körper angenommen wird. Es sind also Kräfte, die frei sind von Ichbezogenheit.
An anderer Stelle meinte Shamar Rinpoche bei einem Gespräch, als wir im Karmapa-Haus in le Bost saßen,
dass es ganz schön schwierig wäre, immer wiederzukommen. Nicht schwierig im Sinne von, dass das Leben
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
schwer wäre, sondern dass es für einen Bodhisattva nicht leicht ist, eine ausreichende Kraft zu erzeugen, um
wieder einen Körper anzunehmen; dass es mit der Zeit immer schwieriger wird. Er hat damals davon gespro-
chen, es braucht im Grunde genommen wie ein feines Haften, ein feines Wollen an der Existenz, am nächs-
ten Leben, um das noch zu ermöglichen. In anderen Kommentaren habe ich gelesen, dass irgendwann diese
Möglichkeit wiederzukommen auch erlischt und dieser Bodhisattva-Strom aufhört sich zu manifestieren,
weil diese subtilen Kräfte nicht mehr erzeugt werden können. Wie das genau geht, weiß ich nicht, das ist al-les zitiertes Wissen.
Teilnehmer: Shamarpa hat einmal gesagt, es wäre „desire“ notwendig.
Ja, genau, so hat er es damals schon ausgedrückt, aber ich wollte es nicht sagen, weil ich es nicht mehr so genau erinnere. Aber er sagte, so eine Portion desire wäre schon hilfreich.
Teilnehmer: Aber die Buddha-Aspekte sind in dem Sinne verschieden von den Bodhisattva-Aspekten, von de-
nen Du gerade gesprochen hast?
Du meinst die Buddha-Aspekte, so wie Yidams, so wie Tara und dergleichen? Ja, die sind anders. So wie wir
Tara praktizieren, ist die Natur unseres Geistes. Wenn Du an Tara denkst als Bodhisattvi, die immer wieder kommt, dann gilt dasselbe für sie, was ich gerade
erklärt habe. Da heißt es z.B. im Kommentar zu Dewachen, dass Amitabha sich eines Tages nicht weiter ma-
nifestieren kann als vorsitzender Buddha von Dewachen. Tschenresi wird dann seinen Platz einnehmen und
auch er wird sich eines Tages nicht mehr manifestieren können als Leiter von Dewachen und dann wird
Vajrapani seinen Platz einnehmen. Auch Vajrapani wird sich eines Tages nicht mehr weiter manifestieren und
Karma Tschagme schreibt in seinem Kommentar: „Und dann wird es an dir sein.“ Der Leser des Kommen-
tars wird dann den Platz einzunehmen. Das ist also eine Vorbereitung darauf, dass nichts ewig dauert. Auch
die Buddhas haben keine ewige Präsenz in den Reinen Ländern, selbst diese subtile Präsenz hat ihr Ende.
Das war für mich eine wichtige Stelle, deswegen hat sie sich mir gut eingeprägt. Dort steht das so deutlich
beschrieben und damit wird auch dem Ewigkeitsdenken ein Riegel vorgeschoben, dass irgendwann dann so
ein ewiger Buddha oder eine Bodhisattvi wie Tara sich ununterbrochen manifestiert. Die Zeiträume sind rie-sig, die werden dort auch angegeben, das sind Weltzeitalter um Weltzeitalter.
Teilnehmer: Kann es sein, dass Mitgefühl auch eine ganz subtile Art von Haften ist?
Ich glaube, das ist genau das, was Shamar Rinpoche meinte. Es gibt eine Art von Mitgefühl, die auch Ma-
chikma ‚Begehren‘ nennt. Es gibt ein Mitgefühl, das voller Liebe und Hingabe zu den Lebewesen ist. In die-
ser Kraft des Mitgefühls steckt die Möglichkeit, sich wieder zu inkarnieren zum Wohl dieser Lebewesen. Ich glaube, das ist es genau, was gemeint ist.
* * *
Der Motor für all diese verschiedenen Stufen, die wir bereits angesprochen haben, ist etwas ganz Einfaches.
In der Pali Tradition würde man die Praxis so beschreiben: Es geht darum, aufzuspüren wo dukkha entsteht,
wo Stress, wo Anspannung ist, und da hinein Entspannung zu bringen. Das ist es, was den ganzen Weg aus-
macht. Ich glaube gar nicht, dass wir es im Mahāmudrā grundsätzlich anders sagen würden.
Es ist eine Praxis, sich darauf einzulassen, einfach zu sein und zu schauen, was uns daran hindert, einfach zu
sein. Teilweise sind es Emotionen, die uns daran hindern, also deutlich wahrnehmbare stärkere Formen von
Ichbezogenheit. Und manchmal merkt man, dass es diese grundlegenden Muster des Für-wirklich-Haltens
sind, dass man Dinge für wirklich hält. Darum ging es die letzten Tage recht häufig, denn das Erkennen der
Vergänglichkeit, der prozesshaften Natur des Seins, des Nicht-Selbst – anatta – oder dann von Leerheit –
shunyata – meint eigentlich ja dasselbe. Eigentlich ist damit gemeint, dass die Dinge abhängig entstehen,
dass sie nicht aus sich heraus entstehen sondern in Abhängigkeit von anderen Bedingungen, und dass sie sich
deswegen zusammen mit den Bedingungen ständig weiter entwickeln und auflösen. Das ist eigentlich die
Essenz des Weges. Das gilt es kennenzulernen; damit vertraut zu werden, dass alles Prozess ist, und dass es
in diesem Prozess gar niemanden gibt, der ein stabiles Ich darstellt; dass unser Ich, unser Selbst auch Prozess
ist; und dass – je entspannter wir in diesem Prozess sind – natürliche Qualitäten des Geistes zum Vorschein
kommen.
Diese natürlichen Qualitäten des Geistes sind zunächst noch etwas verfälscht, wie vorhin Freude, Klarheit,
Nichtdenken; aber auch Liebe, Mitgefühl, Geduld, egal welche Qualitäten. Sie alle sind noch etwas ver-
fälscht, weil noch durchdrungen von diesem Ich-Gefühl. Ich-Gefühl bedeutet immer, dass da Extra-
Schlaufen – Ich-Gedanken, komplizierende Vorstellungen – sind. Eigentlich könnte es noch einfacher sein.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Diese Ichbezogenheit ist nicht etwas, was einfach da ist und wie etwas Unsichtbares wirkt, sondern sie ist
wahrnehmbar. Das sind enge Geisteszustände, die mit den entsprechenden Gedanken einhergehen: „Und was
ist mit mir?“, „Und was hat das für mich zu bedeuten?“ – Ich in dem Ganzen. Das sind wie Extra-Schlaufen,
die sich in Hamsterräder auswachsen können. Und genau das ist dukkha, genau das ist die Anspannung. Das
ist die zusätzliche unnötige Anspannung. Dieser Anspannung auf die Spur zu kommen, sie zu entkräften, also
ihr keinen Saft mehr zu geben, sie nicht weiter zu nähren, das ist ein Aspekt der Praxis. Der andere ist, dieses
Für-wirklich-Halten auszuhebeln und zu merken, „Hey, da ist nichts wirklich!“ im Sinne von konkret exis-
tent.
Das sind die beiden großen Prozesse der Praxis: das Arbeiten mit den emotionalen Schleiern und das Arbei-
ten mit den Gewahrseinsschleiern. Beides lässt sich zusammenfassen, so als würde man einen Instinkt entwi-
ckeln für Anspannung: Wo wird der Geist eng, wo wird das Herz eng? Da geht die Praxis lang. Da, wo es
eng wird, da geht die Praxis hin. Da ist es wichtig, mit dem Gewahrsein hinzugehen. Dann zeigen sich all die
Stufen, von denen wir jetzt gesprochen haben, von selbst. Die tauchen dann ganz natürlich auf, denn durch
diese Prozesse des Loslassens im Emotionalen und des weniger Fixierens in diesem Bereich, wo wir norma-
lerweise alles für wirklich halten, kommt der Geist zur Ruhe, öffnet sich, klärt sich. Erfahrungen von Geis-
tesruhe tauchen auf, Einsicht beginnt sich einzustellen, usw.
Das vollzieht sich einfach so, wie es beschrieben wurde. Und damit geht es offenbar einfach weiter, immer
subtiler, immer feiner. Das ist aber deswegen keine schwierigere Arbeit, sondern es wird geradezu ein Be-
dürfnis. Unser Geist hat das Bedürfnis, frei zu sein. Wir haben das Bedürfnis, aus den engen Geisteszustän-
den herauszufinden. Es ist keine Freude, im normalen, engen Bewusstsein zu sein.
Wenn Gendün Rinpoche den Weg beschrieb, dann sagte er: „Man geht eigentlich von Freude zu Freude. Man
entdeckt immer mehr, wie frei und gelöst der Geist sein kann, und man findet Geschmack daran. Ohne anzu-
haften geht man von selbst in die freieren Geisteszustände.“ Saraha drückt das aus in diesem berühmten Zi-
tat: „Sobald du entspannst, befreit sich dein Geist – kein Zweifel.“
Es ist so, dass dem Geist eine ganz natürliche Neigung innewohnt, frei zu sein, zu fließen, und dass alle Enge
der Natur des Geistes zuwider ist. Der ganze Dharma-Prozess besteht darin zuzulassen, dass unser Geist so
sein kann, wie er natürlicherweise ist. Da ist nichts Anstrengendes dabei. Was dem entgegensteht, wenn man
als Anfänger mit der Praxis beginnt, ist, dass da starke Gewohnheiten sind, dass wir es einfach nicht gewohnt
sind, so offen zu sein. Das erinnert ein bisschen an die Vögelchen im goldenen Käfig, die gar nicht heraus
wollen, wenn man ihnen das Tor aufmacht. Ich weiß nicht, ob Ihr das schon erlebt habt? Die wollen da gar
nicht unbedingt heraus; und wenn, dann machen sie einen kleinen Ausflug und schnell wieder zurück ins
sichere Zuhause. So sind wir auch: ein bisschen verschreckt. Wir sind nicht so vertraut mit dem offenen,
freien Sein, und bevor es zu lange dauert: schnell wieder zurück in die vertrauten Nester – bis wir uns auf
den nächsten Ausflug wagen.
Eigentlich ist jede Meditationssitzung so ein Ausflug, ein Ausflug ins freiere Sein. Deswegen muss Meditie-
ren stressfrei sein. Wir dürfen uns keine Stressmeditation angewöhnen. Dass wir ein bisschen Anstrengung
brauchen, um aufs Meditationskissen zu kommen, ist klar. Aber bereits wenn wir da ankommen, sollte es für
uns sein wie: „Ah, endlich angekommen!“ Endlich wieder auf meinem Feriensitz sozusagen. – Ihr lacht, aber
es ist tatsächlich so. Manchmal haben wir aufgrund von Instruktionen, die wir bekommen haben, eine Hal-
tung entwickelt, wir müssten dieses und jenes Programm abspulen, sobald wir auf dem Meditationskissen
ankommen. Dann wird das Kissen wie zum Symbol für Stress. Das heißt, das ist nochmal mehr Stress. Wir
haben schon genug Stress im Alltag und jetzt wartet noch der Dharma-Stress auf uns. Das ist völlig kontra-
produktiv. Das müssen wir auf jeden Fall sein lassen. Wir machen uns kein Programm.
Wir können üben, aber wir üben so, wie mit einem Hündchen, das immer ein Leckerli bekommt. Das Üben
muss Spaß machen. Wir können üben – wenn wir etwas Anstrengung machen, so ist das gut, wenn wir be-
stimmte Qualitäten ein wenig üben –, das bedeutet, dass wir den Geist ausrichten, aber dann muss wieder die
volle Entspannung kommen. Das brauchen wir. Wir müssen uns das schenken: längere Phasen als die An-
strengung, in denen wir es uns schenken, den Geist wie in Urlaub zu schicken. Dann kommt wieder etwas
Übung und dann wieder eine längere Phase, wo wir es uns gönnen, einfach zu lassen.
In diesem entspannten Lassen merken wir, dass der Geist beginnt, sich darin zu stabilisieren. Zu Anfang ist
es so, dass der Geist hierhin und dorthin vagabundiert, wenn wir ihn lassen; da laufen Tagträume ab. Aber
das bleibt nicht so. Wichtig ist, dass wir den Ort, an dem wir meditieren, als den attraktivsten Ort unserer
Wohnung erleben; als den Ort, wo wir am liebsten einkehren. Dann sind wir gut unterwegs. Da hat unsere
Praxis eine Chance. Wenn wir um unser Meditationskissen herum alles putzen und schön machen, aber es
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
den einen Ort gibt, wo wir garantiert nicht hingehen, dann machen wir etwas falsch. Wir haben uns einen
spirituellen Stress aufgebaut. Das darf nicht sein.
Teilnehmer: Aber was ist mit den Übungen des Ngöndro? Das ist ja ein Programm.
Ja, das ist ein reines Freude-Programm, das ist total Klasse; nichts Schöneres als das. Ich habe es dreimal
gemacht. Nur dreimal, aber es ist sowas von schön. Ich mache es auch jetzt wieder und fange zusammen mit
den anderen im Grünen Baum wieder an. – Ich weiß nicht, ob mein Körper das noch alles mitmacht bei den
Niederwerfungen, aber das ist sowas von Klasse! Aus meiner Praxis-Erinnerung heraus waren die Zeiten der
Mandala-Opferungen fast die glücklichsten Zeiten, die ich je erlebt habe. Dorje Sempa – ein reiner Segens-
fluss die ganze Zeit; ganz zu schweigen von den Guru-Yogas. Sowas Schönes, so im Segen aufgehen zu
können.
Wer sich daraus einen Stress macht, der importiert Saṃsāra in diese Praktiken. Die haben nichts mit Stress zu
tun, das ist importiert. Ich möchte Euch wirklich ermutigen, das Ngöndro entspannt und freudig anzugehen.
Das setzt noch weitere Freude frei. Das macht uns noch freudiger und geschmeidiger und gelöster. – Die
Antwort hättest Du vielleicht nicht erwartet, aber tatsächlich ist das so.
Ihr kennt das doch, wenn Ihr irgendetwas Schönes macht; vielleicht jetzt im Frühjahr Euer Garten. Dann
werkelt Ihr da los, es wird gepflanzt und da muss noch umgegraben werden und da muss der Kompost vom
letzten Jahr umgeschichtet werden usw. Und das macht einen solchen Spaß. Andere würden das vielleicht als
Arbeit betrachten, aber es ist das absolut Genussvollste, was man tun kann – für die, die es lieben. So unge-
fähr muss man sich das vorstellen mit dem Ngöndro. Ja, da gibt es etwas zu tun, aber wenn man versteht,
worum es geht und das mit dieser entspannten Grundhaltung macht, dann ist das ein Geschenk, sich hinset-
zen zu dürfen und das zu machen.
Teilnehmer: Für mich ist das so die Frage: Wie viel Disziplin brauche ich? Und bleiben wir mal bei dem
Beispiel mit dem Garten, manchmal merke ich erst hinterher, wie schön es war. Vorher, ja mein Gott der Gar-
ten und dann muss ich mich da anstrengen, eigentlich würde ich lieber im Biergarten sitzen mit anderen…
Dann fange ich halt an, dann ist es vielleicht immer noch anstrengend, aber dann irgendwann…
Das mag sein, dass es im Ngöndro auch manchmal so geht. Im Biergarten ist die beste Zeit beim ersten Bier,
oder beim zweiten. Und danach und vor allen Dingen im Nachhinein denkt man oft: „Ach, hast Du Deine
Zeit wieder so ein bisschen verplempert … aber ganz nett.“ Beim Ngöndro ist das anders. Je mehr man da-
von macht, desto besser geht es einem. Die Wirkung ist anders. Beim Bier – je mehr Du davon trinkst… ist
nicht ganz dasselbe.
Meditation Und wieder sagen wir uns: „Ich bin jetzt in Ferien, an einem sicheren Ort, geschützt und hier ist es möglich,
innerlich loszulassen.“ – Was passiert wohl mit diesem Geist, mit diesem Bewusstsein, wenn ich ihm jetzt erlaube, sich einfach zu
entspannen? – Die Augen dürfen sich schließen, sie dürfen offen bleiben. … Der Geist darf denken, so viel wie er will. …
Alles darf sein. … Wir achten nur darauf, dass wir bei all dem, was auftaucht, nicht ins Greifen kommen, ins
Festhalten, sondern dass wir offen bleiben. – Immer wieder erlauben wir uns, uns zu entspannen, uns zu öffnen. … Manchmal forschen wir ein bisschen:
„Wie ist es, so offen zu sein, so einfach zu sein?“ Und dann lassen wir auch das Forschen und Schauen sein. Manchmal bauen sich Gedankenketten auf, kleine Filme. Und kaum dass wir es merken, ist es so, als wäre
die Luft draußen, wie aus einem Ballon, der in sich zusammenfällt. – Immer, wenn wir Anspannung bemerken, bringen wir das annehmende Gewahrsein hinein. – Manchmal, wenn wir merken, dass sich das Ich-Gefühl verdichtet, schauen wir da hinein, ob wir überhaupt
ein Ich finden können, so als würden wir diesen Luftballon anpieksen. – Entspannt und wach. –
Und wenn wir die Entspannung kaum noch aushalten können, dann entspannen wir noch mal ein wenig. … Wir entspannen ganz bewusst diese Impulse, tun zu wollen. –
* * *
Ich ermutige Euch sehr, in diese Art zu praktizieren Vertrauen zu haben. Das sogenannte Ego kann sich da
nichts rausholen. Es ist so vollkommen unspektakulär. Das ist der richtige Weg: unspektakuläre Praxis. Da
kann man nichts vorzeigen.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Teilnehmer: Da gab es eine Regung, dass Wachheit immer auch mit einem negativen Aspekt zu tun hat; mit
einer Vorsicht, wie so auf der Hut sein. Wenn es aber darum geht, jetzt auf dem Kissen auf einem sicheren
Ort zu sein, entspannen und loslassen, da habe ich jetzt gerade einen Knoten – da passt die normale Prä-
gung nicht.
Da würdest Du normalerweise dann endlich einschlafen können. Das nimmst Du mit in Kauf.
Ich kenne das, dass ich mich in die Müdigkeit hineinlehne und auslote und dass sie dann auch wirklich
[schnippt] weg ist.
Ja, und wenn das so ist bei Dir, dann geh nicht den Weg in eine Wachheit, die durch Sorge oder so etwas,
durch Emotionen entsteht, sondern gehe ruhig den Weg in die Entspannung. Und wenn Du da an der Schläf-
rigkeit vorbei oder sogar durch den Schlaf hindurch gehen musst, der Geist – hab keine Sorge – ist nicht von
Natur aus schläfrig. Du kannst da hinein vertrauen, und dann kommt eine neue Wachheit, die nicht mehr von
Emotionen getriggert wird, die eine natürliche Wachheit ist. Und die kommt, wenn wir entspannen, und zwar
konsequent entspannen über lange Zeit. Keine Sorge!
Diese Frage stellen sich viele, denn wir erleben eine ganz besondere Wachheit in Situationen, wo wir ange-
spannt sind; wo etwas geschehen muss, wo vielleicht eine Angst da ist oder ein starker Wunsch und so. Da
sind wir besonders präsent und wir denken, die Präsenz wäre anders nicht zu finden. Das stimmt nicht.
Teilnehmer: Wenn ich so anfange, mit einem Körpergefühl zu entspannen, dann entspannt immer auch ein
Ich, da ist direkt ein Zusammenhang. Auch umgekehrt, wenn ich merke, da hält noch was, da ist geistig was
angespannt, dann merke ich auch direkt, wie der Körper angespannt ist. Das ist faszinierend.
Ja genau. Das ist faszinierend. Das ist immer zusammen, nicht trennbar. Du kannst mal im Körper ansetzen
und dort entspannen, dann entspannt sich was im Geist, und umgekehrt kannst Du im Geist ansetzen und es
entspannt sich was im Körper. Das ist total Klasse.
Das hat man im Geist gar nicht gesehen, aber wenn man das Körperliche entspannt, dann merkt man, da
war ja tatsächlich etwas; irgendeine Erwartungshaltung oder eine Kleinigkeit.
Wie ist es denn jetzt beim Hören, Zuhören? Geht die Entspannung weiter?
Teilnehmer: Bei mir war es so, ich bekam mit der Zeit immer mehr Schmerzen in den Beinen. Das kenne ich
auch, dass sich alles verkrampft…
Hinlegen! Du hast heute schon so intensiv praktiziert. Gönn Dir doch einfach, ausgestreckt zu liegen. Hol
Dir eine Wolldecke und leg Dich hin. – Das kommt Dir vor, wie unerlaubt, gell? Aber genau das meine ich,
das darfst Du. … Das berührt Dich, gell? Das hast Du nie dürfen. Du darfst das, am besten sofort! Vielleicht
kann jemand in Deiner Umgebung Dir ein Tuch oder eine Decke geben. Streck Dich mal die zehn Minuten,
die wir noch haben, probeweise ganz aus. Wenn man sein Leben lang, so viele Jahre so zusammengehalten hat, dann hat man, wenn man sich dann so
ausstreckt bei dem, was einem am wichtigsten ist in der spirituellen Praxis, im Dharma, das Gefühl, man fällt
wie auseinander. – Ja, und jeder andere auch, der es ihr gleich tun möchte.
Ich habe in früheren Kursen schon erzählt, dass ich es auch nicht glauben konnte, als Gendün Rinpoche uns
empfohlen hat uns hinzulegen und wirklich zu entspannen. Für einige von Euch ist ja das fast einzige tibeti-
sche Wort, das Ihr kennt, rangbab. Die Rangbab-Meditation ist eine Form der Mahāmudrā-Meditation, wo
man alle vier Glieder völlig entspannt. Als Gendün Rinpoche uns das im zweiten oder dritten Retreatjahr
empfahl, sagte er: „Mensch! Lasst den Geist entspannt und den Körper auch!“ Und er selbst saß da so ganz
hingegeben im Caravan oder bei uns auf dem Bett in unserem Blockhaus. Walli stützte ihm so ein bisschen
die Knie, damit er nicht ganz runter rutschte vom Sofa. Ich habe mir das angeschaut, „ok, entspannen, ja.“
Dann habe ich ein bisschen locker gelassen, ich habe dann mal meine Beine ausgestreckt. Das nächste Mal kam er dann wieder: „Nein, ich hab euch doch gesagt, gaaaanz entspannt!“ Und er lachte
und lachte und lachte. Ich habe gedacht, der meint das wirklich ernst. Also gut, mal ganz kurz. Und dann
kam er das dritte Mal, einen Monat oder zwei Monate später. „Ich hab Euch doch gesagt gaaaanz entspan-
nen!“ Dabei ist er wirklich fast vom Bett gefallen, und dann ist es angekommen. Wir haben dann begonnen,
auch im Liegen zu meditieren. Und wirklich, so wie auch der Buddha das schon gesagt hat, alle vier Positio-
nen – Liegen, Sitzen, Stehen und Bewegen – zur Meditation machen. Und das Liegen geht wunderbar. Es ist eine Meditationshaltung; eine, in der man meditieren kann. Und das
war umso erstaunlicher, als Gendün Rinpoche ja bekannt war, so ein ganz ernsthafter Yogi zu sein. Zunächst
hatte er mir gesagt, ich solle so lange es geht und so viel es geht in der Sieben-Punkte-Haltung praktizieren.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Ich hatte richtig viel Anstrengung gemacht und er hat mich so gepuscht an die Grenzen dessen, was möglich
war. Und dann kam die Entspannung. Ihr könnt Euch gerne auch puschen. Mein Eindruck ist, dass Ihr Euch
schon genug gepuscht habt und dass es nicht noch mehr davon braucht – für die meisten von Euch – und
dass Ihr ruhig jetzt schon wissen könnt, dass es um ganz entspannte Praxis geht. Das nennt man rangbab – alles natürlicherweise fallen lassen. Babpa heißt fallen lassen und rang heißt von
selbst – von selbst fallen lassen, keine Anspannung mehr in Körper und Geist. Man spricht vom rangbab des
Geistes, vom rangbab der Rede und vom rangbab des Körpers. Den Geist fallen lassen, loslassen, nichts mehr wollen damit. Die Sprache entspannen, quasi die Klappe fallen lassen. Und den Körper fallen lassen.
Teilnehmer: Also nicht die Klappe halten.
Genau, nicht die Klappe halten, weil da ist oft noch so eine Spannung drin, die kann ruhig mal fallen. Völli-
ges Vertrauen, dass der Geist sich von selbst befreit. Das Ich, die ichbezogenen Muster werden uns nicht ins
Erwachen führen, das kennen die nicht. Die importieren immer nur wieder den Stress in die Dharmapraxis.
Das können sie gut. Da sind ganz viele Aber, … aber, aber … in der Luft. Hast Du eins auf Lager?
Teilnehmer: Aber beim Zen ist es doch extrem diszipliniertes Sitzen.
Extrem, bis zum Umkippen. Und hast Du schon mal hingeschaut, was die Erfolge sind? Es waren auch schon
Zen-Meister bei mir, um praktizieren zu lernen. Eine Zen-Roshi war da und hat drei Monate bei uns in Croi-
zet gelebt, nachdem sie schon alle Koans gelöst hatte. Sie hatte den vollen Segen, Zen-Lehrerin zu sein, aber
entspannt war sie noch nicht. Sie kam eigentlich um Mitgefühl zu lernen, weil Zen so ein trockener Weg ist.
– Das gilt nicht für alle Zen-Lehren. Nicht, dass Ihr meint, ich würde alles in einen Topf werfen. Zen ist der
Weg der Kraft. Da wird viel mit Kraft gearbeitet. Über Kraft und Halten werden die ichbezogenen Muster
zum Aufgeben gezwungen. Das geht auch. Schau mal, ob es für Dich passt.
Zen ist ein Weg der Langeweile. Da wird ganz bewusst darauf geachtet, dass alles möglichst langweilig ist.
Ja, um die Faszination auszuhebeln. Extra alles Schwarz-weiß. Extra immer die gleiche Routine, immer die
gleichen Sachen. Egal ob der Boden staubig ist oder nicht, es wird auf jeden Fall gewischt.
Teilnehmer: Das kommt bei uns nicht vor… [Lachen]
Man muss die Logik verstehen. Wir Westler sind so fasziniert davon, aber von innen her ist Zen ein Weg, in
dem man nur noch die Chance hat, in das augenblickliche Erleben zu gehen, in die Frische des Seins. Alles
andere ist völlig eintönig. Man schaut sogar im Soto-Zen direkt auf eine weiße Wand, auf der absolut nichts
ist, und kann da sehen, was im eigenen Geist los ist. Die zentrale Unterweisung im Zen ist die über die Leer-
heit, das Herz-Sutra und verwandte Lehren. Es geht darum, die nicht-fassbare Natur allen Erlebens zu sehen.
Das ist eine Schulung, bis man sich darin entspannt. Solange man die Schulung noch ernst nimmt, ist es das
noch nicht.
Teilnehmer: Anstrengend
Die Anstrengung bringen wir hinein. Wir bringen den Stress da hinein. Es ist nicht anstrengend, immer mit
dem Gong aufzustehen und in die Meditationshalle zu gehen. Es ist nicht anstrengend, immer dieselben
Handlungen zu machen, aber alles was sich daran entzündet, das ist anstrengend. Das sind unsere Muster.
Wenn man so einen Weg geht, dann muss man ihn auch konsequent gehen und verstehen, was damit gemeint
ist. Die Roshis schmunzeln über die Westler, die da kommen und sich einen abstrampeln; die nicht verstan-
den haben, dass genau dieses Abstrampeln die ganzen Zuckungen der Ichbezogenheit sind; dass es eigentlich
darum geht, in die Disziplin hinein zu entspannen. Das ist auch bei uns so. Das war wie die Frage mit dem
Ngöndro. Ngöndro sieht nach Disziplin aus. Es hört sich so an, als ob da diese äußere Disziplin gefordert ist.
Eigentlich geht es nur darum, sich da hinein zu entspannen. Aber es ist gut, solche Methoden zu haben, wo
wir wirklich etwas mit dem Tun entspannen können. Und dann wird das Tun extra übertrieben. Es werden
111.000 Verbeugungen gemacht – als ob 3 nicht genug wären. Ja, und es wird extra gemacht, dass man alle
seine Widerstände daran abarbeiten kann, alle seine Hoffnungen, und es geht immer noch weiter. Und nach
dem ersten Mal 111.000 kann der Lama durchaus sagen: „Jetzt kannst Du es noch ein zweites Mal machen.“
Ja, das ist ähnlich. Bis man merkt, dass es nur darum geht, im Moment zu sein. Nur darum, nichts anderes.
Entspannt im Moment zu sein, und dann ist es völlig egal, welche Praxis man ausführt.
Jede Praxis ist zu Anfang inspirierend und faszinierend. Und es ist so gewaltig inspirierend, dass man sich
denkt: „Oh, damit möchte ich Retreat machen.“ Und nach einer Woche beginnt schon die Langeweile. Und
es wiederholt sich. Man kann es noch so interessant gestalten, es wiederholt sich. Und dann bockt unser
Geist, dann versucht er zu verhandeln – die ganzen Muster. Unser Geist ist wie ein Affe. Er will immer rum-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
springen. Dann lädt man ihn ein, in Ferien zu gehen, sich ganz zu entspannen, sich total zu entspannen – da
will er dann was machen. Wenn er im Machen ist, will er sich entspannen, wie ein unruhiges Äffchen.
Meditation Einen Moment verweilen, einfach so. – Geistesbewegungen einfach lassen … zulassen … fließen lassen … annehmen, ohne festzuhalten. Da gibt es
kein ‚Besser‘ oder ‚Schlechter‘ … in ihrer Natur sind alle Geistesbewegungen gleich. – In dieser immer gleichen Natur zeigen sie sich in unaufhörlicher Vielfalt. Keine einzige Wahrnehmung ist
exakt so wie eine andere. – * * *
Auch jetzt, wenn Ihr die Unterweisung über die nächsten Stufen bekommt, bleibt einfach darin verankert,
dass es nicht darum geht, etwas zu erfassen, etwas zu begreifen, sondern nur darum, ein bisschen berührt zu
werden, Ahnungen zu bekommen. Im Grunde ist alles von einem Geschmack, auch die Konzepte, die Begrif-fe. Wenn wir so entspannt damit umgehen, ist alles sehr einfach, sehr selbstverständlich.
Die nächste Etappe, von der Karmapa schreibt, heißt ‚Eingeschmack‘, der eine Geschmack der Leerheit, der nicht fassbaren Natur aller Dinge:
Eingeschmack
Wird diese Praxis lange aufrechterhalten, geht sie [von selbst] über in die Erfahrung von Einem Ge-
schmack.
Mit Praxis ist die Praxis der Einfachheit, wo wir alle Erscheinungen einfach so nehmen wie sie sind und in
ihrer wahren Natur erkennen, gemeint.
Wir haben dabei das Gefühl, als würden wir etwas Ewiges entdecken, etwas immer Gleiches. Das ist der Ei-
ne Geschmack aller Erfahrungen – so unterschiedlich sie auch sind, so haben sie doch tatsächlich alle diesen
einen Flair, diesen Einen Geschmack. So seltsam das klingt, das ist ihre substanzlose Natur, dass sie alle wie
ein Traum sind, ähnlich wie ein Traum. Ganz egal, was für ein Traum es ist. Ganz egal, was für ein konkretes
Erleben es ist, es ist so, als hätten die Erfahrungen alle die gleiche Leichtigkeit, die gleiche strömende, flie-
ßende Natur. Darin sind sie sich gleich, so unterschiedlich die Wellen auch sind, so unterschiedlich die Erfah-rungen auch sind.
Zwar bist du nun bereits vertraut damit, dass Phänomene von ihrem Wesen her nicht wirklich [als ein
getrenntes Etwas] existieren, doch ist dir zunächst noch ein wenig unwohl mit der ungebremsten Fri-
sche all der auftauchenden geistigen Regungen.
Mit der Frische sind wir schon vertraut, aber wenn wir sie ganz zulassen, ist es eine unglaublich intensive
Vielfalt, und die überwältigt einen fast. Auf dieser Stufe springen noch Reaktionen an von „Mal Entspannen!
Etwas weniger wäre auch gut.“ Die Welt der Vielfalt ist unglaublich intensiv. Die Frische zuzulassen bedeu-
tet, ungebremst – also ohne Festhalten, ungehemmt – all die im Moment auftauchenden Erfahrungen voll
und ganz zuzulassen, und eben nicht mehr diese Bewegungen zu machen, nichts oder nur teilweise etwas
mitbekommen zu wollen, sondern alles ganz und gar zuzulassen. Bei diesem Übergang von Einfachheit zu Einem Geschmack ist das genau das Thema: sich ganz und gar zu öffnen für die Erfahrung.
Das hat mit unserem noch vorhandenen Anhaften an Ruhe zu tun. Man würde sagen, dass wir im Dharma
eine ‚ruhige Kugel schieben‘ wollen. Das Leben soll leichter sein. Tatsächlich ist das Leben aber heftig, also
unglaublich intensiv, und dem können wir nicht entgehen. Egal, wohin wir uns verziehen oder verdrücken
wollen, es holt uns überall ein – es ist nämlich überall. Der Geist ist intensiv, und wenn wir da nicht filternd,
bremsend unterwegs sind, dann merken wir, wie enorm intensiv das ist. Und das ist eine Herausforderung an
unsere immer noch vorhandene Vorliebe für Ruhe. Wir haben es schon alle lieber gerne ruhig und in Maßen.
– „Nicht zu viel!“ – Und wenn wir uns so ganz der Herausforderung des Lebens öffnen, dann bleibt nichts in Maßen. Das Leben ist maßlos lebendig. Damit haben wir es hier zu tun.
Wir sind auf einem Entwicklungsweg. – Ihr erinnert Euch noch, da war diese Phase der Einsgerichtetheit, wo
Geistesruhe sehr stark erfahren wird und auch als befreiend erfahren wird: „Endlich mal Ruhe!“ Und seither
sind wir in diesen bisher beschriebenen Stufen dabei, uns der Dynamik des Geistes zu öffnen. Das gelingt
immer mehr, weil wir alles das, was auftaucht, erkennen als ohne Substanz. Deswegen können wir es zulas-
sen. Wir können den Geist durchlässig werden lassen, weil ja nichts Substanz hat, aber immer wieder stoßen
wir noch an Grenzen von dem, was wir zulassen können, wofür wir durchlässig sein können. So manches
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
triggert uns noch, so manches löst noch emotionale Reaktionen aus, und vor allen Dingen in der Summe sind
die Erscheinungen, sind die vielfältigen Formen des Erlebens einfach ‚too much‘. Erstmal muss man sich noch weiter machen, und damit haben die Praktizierenden auf dieser Stufe zu tun.
Ist das [Anhaften an Ruhe] bereinigt, gibt es kein ‚leer‘ oder ‚nicht leer‘ mehr …
Das bedeutet, die Erkenntnis der wahren Natur der Phänomene ist durchgehend vorhanden, es wird nicht
mehr abgetastet und als leer erkannt, als nicht leer erkannt. Die Phänomene sind einfach, wie sie sind, und selbst die Bezeichnungen ‚leer‘ und ‚nicht leer‘ sind irrelevant geworden.
… und es wird unerheblich, ob du frei von komplizierenden Vorstellungen [von tröpa, diesen Extra-
Schlaufen] bist oder nicht.
Es wird unerheblich, ob der Gedanke ‚Ich‘ auftaucht oder nicht, ob ‚Ich‘ und ‚andere‘, ob Subjekt- und Ob-
jektbezüge im Geist vorhanden sind oder nicht, denn sie haben alle dieselbe Natur. Auf dieser Ebene ist es
gar nicht wichtig, frei zu werden von Ich-Denken, es glaubt niemand mehr daran. Das ist der große Unter-
schied. Es löst sich auch auf, aber wenn es da ist und wenn Extraschlaufen da sind, wenn der Geist sich mit
irgendetwas beschäftigt, so ist es einfach nur ein Film; ein weiterer Aspekt des Dauerfilmes, den wir ‚Leben‘
nennen, der halt mit begrifflichen Vorstellungen abläuft. Und das ist vollkommen okay. Sie werden ja auch in ihrer wahren Natur belassen, sie sind auch ohne Substanz.
Es geht gar nicht darum, die Quantität der geistigen Erscheinungen irgendwie reduzieren zu wollen. Es kön-
nen so viele sein, wie sie wollen. Sie haben alle dieselbe Natur. Ein Spiegel hat noch nie protestiert, dass da
zu viele Erscheinungen wären, die zu spiegeln sind. Und da der Geist so durchlässig wird wie ein Spiegel,
empfänglich wird für Farbreflexe, für Spiegelbilder, gibt es dann keine Grenze für das, was an Erscheinun-
gen im Geist auftauchen könnte. Und das ist die wachsende Geschmeidigkeit oder die zunehmende Flexibili-
tät des Geistes, bis hin zu einem Buddha, von dem es heißt, dass er gleichzeitig so und so viele Billionen von
verschiedenen Eindrücken haben kann. – Keine Ahnung, wie das läuft, aber es muss mit dieser völligen Of-
fenheit und Durchlässigkeit des Geistes zu tun haben.
Teilnehmer: Kann man denn unser Wahrnehmen und Erleben vergleichen mit den Pixeln eines Filmes, da ist dann oft so ein Flimmern und Schwirren...
Ja, ja. Das ist sogar so, wie wenn Du verschiedene Filme gleichzeitig laufen hättest, auf verschiedene Ebenen
der Wahrnehmung. Auf verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung laufen verschiedene Eindrücke. So ein
hübsch bequemer zweidimensionaler Film mit seinen Pixeln ist dagegen ein ruhiges Geschehen. Du nimmst
auf allen Ebenen mit all Deinen Antennen gleichzeitig wahr und das gibt ein multidimensionales Erleben, in
dem Du unterwegs bist. Da sind erstmal die sechs Sinne. Die fünf äußeren Sinne liefern schon jeweils ihre
eigene Show. Und auf der Ebene des sechsten Sinnes sind verschiedene Ebenen des Verstehens. Du kennst
das, wenn Du jemandem zuhörst, der Dir eine Geschichte erzählt. Du verstehst die Worte, das ist eine Ebene.
Du verstehst das Unausgesprochene, was dahinter ist, und Du erlebst den Menschen und Du erlebst gleich-
zeitig Deine eigenen Reaktionen. Du erlebst tiefe Bedeutungen, die mitschwingen und wie im vorbewussten
Bereich anklopfen: „Ah, vielleicht schwingt das noch mit!“ und gleichzeitig ist es so, als ob all die Personen
mit im Raum wären, die von der Geschichte betroffen sind, und Du spürst, wie das für die ist. Das ist mit
‚multidimensional‘ gemeint. Nun stell Dir vor, das geht immer weiter, dass wir mitschwingen mit all den
anklingenden aber unausgesprochenen Bedeutungen, die mit den Sinneswahrnehmungen mitschwingen und
durch die Bedeutung von Kommunikation und Erleben angeregt werden. Und wir werden immer offener und
durchlässiger für dieses gleichzeitige Erleben auf vielen verschiedenen Ebenen.
Teilnehmer: Das macht es ja, wenn ich auf meine äußerst bescheidene Ebene gehe, leichter. Aber dadurch, dass so viel passiert, entscheide ich mich ja nicht, da einzusteigen oder da …
Du entscheidest Dich meistens, da einzusteigen, wo es Dir am leichtesten fällt. Wo Du Dich am leichtesten in
Beziehung setzen kannst…
Ich meinte, dadurch, dass es so viel ist, dass eben keine Entscheidung gefällt wird, ob ich einsteige, sondern
da ist das, das, das und das! Wenn nur eine Wahrnehmung ist, dann fällt es mir relativ schwer, auf die nicht einzusteigen, weil die so dicht ist. Aber wenn es so unendlich viele sind, dann …
Genau! Es ist ein Mitschwingen ohne Präferenz, weil da ohnehin so viel ist. Das Einzige, was übrigbleibt, ist
zu vertrauen, dass aus der Multidimensionalität des eigenen Seins eine adäquate Handlung kommt, eine adä-quate Antwort auf die Situation. Aber das ist keine bewusste Entscheidung.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Als Beispiel das Malen von Porträts: Kunst besteht darin, Unausgesprochenes, fast wie Unsichtbares mit ins
Schwingen zu bringen, sodass wir mit den paar Strichen und Farben so viel erahnen und erfühlen. Und wenn man sagen wollte, wo es herkommt, man könnte nicht den Finger darauflegen.
Ich darf es nicht mit Absicht machen …
… Ja, genau! Es geht aus Deinem Erleben auf die Leinwand und von der Leinwand multidimensional weiter.
Das ist mit Gedichten genauso, das ist mit Musik genauso. Da schwingt immer viel mehr mit, als wir zu-
nächst mal so direkt wahrnehmen. Sprache ist auch so ein Phänomen. Da schwingt immer viel mehr mit, als
wir direkt hören.
Es ist ausreichend, der Frische des gegenwärtigen Erlebens gewahr zu sein; die wahre Natur des
Wahrgenommenen ist Eingeschmack.
Wenn all die leeren Erscheinungen, ein jedes Phänomen und sämtliche Erfahrungen, die auf dem Weg
auftauchen, als komplett erkannt werden, ist das der kleine Eingeschmack.
Mit komplett erkannt – auf Tibetisch tshang – ist so etwas wie ‚rund‘, ‚vollendet‘, ‚in sich rund und stim-
mig‘ gemeint. Das ist eine Erfahrung, dass das jetzige Erleben in sich vollkommen ist. Nicht ‚vollkommen‘
von einem moralischen oder ästhetischen Standpunkt aus, sondern ‚vollkommen‘ als Moment, als Erfahrung
des Gewahrseins. Es ist ein vollkommenes Erleben, nichts braucht hinzugefügt zu werden, nichts braucht weggenommen zu werden, es ist in sich rund und komplett.
Teilnehmer: Das Problem ist dann Unwissenheit, nichts anderes. Das heißt, das Paradoxe ist: Ich bin unwis-send und aus meiner Unwissenheit heraus versuche ich, Konstrukte zu machen.
Ja!
Ich kenne Momente, wo ich – wenn ich mich nicht reibe – auch kein Gefühl von Unsicherheit habe. Heute
Früh zum Beispiel habe ich das Gefühl gehabt, mein Geist will eigentlich nur spielen. Da ist zum Beispiel
der Spruch mit dem wilden Geist, also der Elefant, der mit dem Strick des Irgendwas an den Pflock des Ir-
gendwas gebunden wird. Das finde ich kein gutes Bild, weil man könnte es so auffassen, dass der Geist ge-
zähmt wird, indem ich mich draufsetze, beispielsweise. Wenn ich den Geist nun spielen lasse – das Paradoxe
ist, dass ich eigentlich will, dass es mir gut geht, aber ich mache im Prinzip das Gegenteil davon –, dann hat
er mal Lust, dann hat er mal keine Lust, dann tobt er, dazu passt zum Beispiel der Vergleich mit dem wilden Pferd, das mal rausgeht, aber zurückkommt.
Meine Erfahrung ist, dass ich meinen Geist am besten die ganze Zeit spielen lasse. Dann geht’s am besten.
Weil dann passiert auch die Freude automatisch und dann kommt er von alleine zurück. Weil, wo will er
denn hin?
Ja eben, und dann spielt er irgendwie ziemlich gut zum Wohl…
Ich könnte mich ja auch darüber freuen, dass er spielt. Himmel, Arsch und Zwirn!
… aber echt! Könntest Du ja!
Und warum mache ich das nicht? Oder in den allermeisten Fällen. Warum meine ich, ich muss irgendwie, irgendwie …
… und was der für eine schöne Musik spielt! Echt, das ist so einfach, den Geist spielen lassen und entspan-nen. Und der entspannt spielende Geist, das ist so ein Genuss.
… und dann mache ich nur heilsame Handlungen, weil es gibt nichts anderes …
… es gibt nichts anderes mehr, genau!
… da brauche ich dann kein Bodhicitta, weil das …
Das ist dann einfach, genau! Das können wir gut verknüpfen mit dem, was ich gerade erklären wollte, wenn
die Situationen dann so rund sind, wenn das Erleben so komplett ist. Das ist, weil der Geist völlig uneinge-
zwängt ist. Man zwängt ihn nicht ein und man hat keine Ausrichtung, das müsste irgendwie noch besser sein.
Das Erleben, so wie es jetzt ist, braucht nicht besser zu sein. Das ist der springende Punkt hier. Das Erleben,
jetzt gerade hier im Saal zu sitzen – jetzt gerade! Was sollen wir an dem Erleben noch verbessern? Wenn der
Geist aufgeht dafür, wie dieses Erleben ist, erleben wir es als vollendet, als in sich total. Es ist halt das Sein
und da gibt es nichts daran herumzumachen, das ist unglaublich. Mir fehlen auch die Worte dafür, das gut zu
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
beschreiben. Es hat was mit diesem allvollendenden Gewahrsein zu tun, mit dem Gewahrsein, das der Kar-
ma-Familie unter den Buddhas zugeordnet wird.
Wenn ich das Problem beschreibe, könnt Ihr vielleicht mehr verstehen, was hier gerade als Erfahrung be-
schrieben wird. Das Problem, die emotionale Verstrickung in diesem Bereich, ist ja, dass man nie zufrieden
ist. Immer müssen die Sachen besser sein: Neid, Eifersucht, Wettstreben, Ambitionen und dergleichen. Es
muss immer verbessert werden. Und wenn der Aspekt des allvollendenden Gewahrseins aktiv wird, dann
sind die Situationen aus sich heraus vollendet. Dieser Impuls, was machen zu müssen, um das Erleben noch
zu verbessern, das Leben noch zu verbessern, fällt weg. Das Erleben, man könnte sagen auf der dualistischen Ebene, wird genossen, gerade so wie es ist.
Aber jetzt gehen wir mal aus dem Genießen raus und gehen in die spontan gelöste Freude des Seins; gewahr
zu sein, zu erleben, gerade so, wie es ist. Das ist damit gemeint. Was soll man an einem Regentag noch ver-
bessern? Er ist perfekt – so, wie er ist. Auch der nächste Sonnenstrahl ist perfekt – so, wie er ist. Da geht es
nicht um Nutzen. Da geht es nicht um Ursache – Wirkung, es geht um die Qualität des Erlebens, jeder Mo-ment vollständigen Erlebens ist in sich rund.
Teilnehmer: Wenn da so diese Freude des Seins ist, was also manchmal passiert, dann kommt da so eine
Stimme aus dem Off: „So, ja, jetzt war das mal genug! Also, jetzt reicht es mal so!“ Wir können das, also, ich
bin gut genug, so ungefähr. Und dann ist es natürlich vorbei erstmal, das Gefühl. Und dann kann ich aber
jetzt – habe ich vorhin mal so gemacht – den Gedanken einfach mal anschauen. Und dann war er auch schon
wieder weg. Habe ich auch gelacht dabei.
Genau. Du könntest diesen Gedanken wieder anschauen.
Teilnehmer: Vorhin bin ich auf dem Bett gelegen und habe Barlung praktiziert und gemerkt, was ich für
Spannungen im Becken habe. Dann habe ich mich gefragt, soll ich da jetzt was machen, soll ich einfach da-
bei bleiben bei der Verspannung, oder soll ich einfach meine Haltung ändern? Und um einfach diese komi-
sche Frage in meinem Geist zu lösen, habe ich ein wenig mit meinem Hintern geruckelt. Ich habe etwas an der Situation geändert. Und das ist auch okay?
Ja natürlich! Auch das ist komplettes Erleben.
Es geht nicht darum, was zu tun oder nicht zu tun, sondern in diesem vollständigen Erleben des Jetzt zu sein.
Und ob Du ruckelst oder Schmerzen hast, oder, oder, oder …, jeder dieser Momente ist potenziell ein voll-
ständiger Moment des Erlebens. Und vollständig zu erleben ist in der Tiefe total befriedigend, totale Freude.
Es geht um gar nichts anderes, als vollständig zu erleben. Vollständig gelebte Trauer ist so etwas von erfül-
lend. Verzeiht, wenn ich das jetzt so sage, aber es geht mir wirklich darum – das ist wie ein Paradox.
Schmerz in seiner Intensität ist auch ein total komplettes Erleben, wenn man sich dem öffnen kann und nicht
in der Abspaltung bleibt. Ich hoffe, ich kriege die Botschaft rüber, aber darum geht es. Die Trennung löst
sich, indem wir sehen, es gibt niemanden getrennt von der Erfahrung. Und der Geist erlebt voll und ganz und
erlebt darin jeden Moment – es gibt ja keine Momente –, er erlebt diesen Strom des Erlebens als in sich
komplett.
Und das bedeutet nicht, dass wir darauf verzichten zu gestalten – z.B. ein bisschen zu ruckeln oder was im-
mer. Wir können gestalten! Wir können auch zum Arzt gehen. Das heißt nicht, dass wir aufhören, uns zu be-
handeln, bloß, weil da ein kompletter Moment des Erlebens war.
Teilnehmer: Habe ich das jetzt richtig verstanden, dass diese Überwältigung von der Frische des Erlebens
daher kommt, dass eine Tendenz da ist, das begreifen zu wollen und in dem Moment, wo dann diese Tendenz
aufhört, dann ist es eine Einheit. Und da kommt man auch nicht hin über ‚die Einheit zu erleben‘, sondern
sich hinein zu entspannen. Also es geht wieder darum, sich ganz dem Erleben, wie es dann ist, …
Ja, ich glaube, das hast Du richtig verstanden. Ob es Begreifenwollen oder Greifenwollen ist, beides passt.
Es ist immer ein Sich-Distanzieren und ein Haben- oder Nicht-Habenwollen. Selbst das Verstehenwollen ist
eine Form der Distanz.
Teilnehmer: Dzogchen, ist das auch damit gemeint?
Das ist damit auch gemeint. Das steht hier nicht im Text, aber es klingt mit. Dzogchen zielt ganz stark auf die
aus sich heraus vollendete Natur des Erlebens ab. Das ist einer der Zentralpunkte in den Dzogchen-Teachings.
Mich wundert es nur ein bisschen, dass das ja nicht die letzte Stufe, dass das nur ein Aspekt…
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Aber das beginnt jetzt hier ganz deutlich zu werden.
Wir sind hier am Anfang von Einem Geschmack. Wer beginnt, den Einen Geschmack zu erleben, hört auf,
am Leben herumzudoktern. Die sichtbare Folge ist, dass man merkt, da ändert sich ganz, ganz tief was an der Haltung den Erfahrungen gegenüber.
Teilnehmer: Was meinst Du mit ‚am Leben herumdoktern‘?
Naja, das tun ja alle. Aber hier geht es sogar darum, noch eine bessere Erfahrung haben zu wollen.
Das sind ganz einfache Dinge. Ich sitze hier schon tagelang vor diesem Pfeiler. Ich hätte mich auch ein biss-
chen nach rechts oder links setzen können, dann könnte ich direkt aus dem Fenster schauen. Aber es ist nicht
wichtig. Man muss an dieser kompletten Erfahrung, vor der Wand zu sitzen, nicht rummachen. Man kann,
und es wäre auch okay. Und es geht bei vielen Dingen so. Es darf einfach so sein, wie es ist. Es braucht nicht
anders zu sein. Und das geht ganz, ganz tief. Es geht bis in jede einzelne Sinneswahrnehmung; die ist ein-fach, wie sie ist und sie braucht nicht anders zu sein. Sie ist aus sich heraus unglaublich.
Teilnehmer: Wann beginnt man, etwas zu verändern? Ich habe im Retreat die Erfahrung gemacht sehr freud-
voll zu sein, obwohl ich nicht gesund war. Ab wann wird man fahrlässig?
Wenn man die Ebenen verwechselt. Man handelt immer da, wo man merkt: „Jetzt sind Ursache-
Wirkungsketten aktiv, ich muss auf dieser Ebene darauf eingehen. Das löse ich nicht mit meiner Mahāmudrā-
Praxis oder Shine-Lhaktong-Praxis.“ Die meisten Praktizierenden verwechseln die Ebenen. Der Körper ist
krank und sie meinen, sie könnten das durch Mahāmudrā heilen. Können sie ja auch gerne mal versuchen,
aber wenn es nach ein paar Tagen nicht klappt, dann sollen sie besser zum Arzt, oder sie suchen einen Psy-
chotherapeuten auf.
Ab wann stört einen die Mahāmudrā-Praxis?
Die würde mich stören, wenn ich merke, sie hat tatsächlich echte Auswirkungen auf meine Geisteshaltung. Dann würde ich denken: „Okay, dann verändere ich was dran! Dieses System braucht jetzt was anderes.“
Aber wenn es das gar nicht braucht?
Das Handeln auf der relativen Ebene – ob ja oder nein – ist kein Thema. Du kannst handeln, soviel Du willst.
Es geht um die Haltung, mit der Du handelst. Wenn Du dann zum Arzt gehst und Dich drum kümmerst, dann
tust Du das mit der genauso entspannten Haltung, die Du auch hättest, wenn Du zu Hause geblieben wärst.
Aber Du wüsstest, für den Körper gibt es eine Chance und es tut ihm gut, wenn er eine Arznei bekommt oder
wenn herausgefunden wird, was es ist.
Ich hatte im ersten Retreat – im Wald in der Dordogne – heftige Zahnprobleme; Zahnwurzeln waren dabei
durchzueitern. Es ging darum, sich damit zu entspannen und ich bin nicht zum Arzt gegangen. Ich bin gar
nicht auf die Idee gekommen, es ging drum, einfach damit zu entspannen. Das ist zweimal aufgetaucht. Ir-
gendwann sagte dann Gendün Rinpoche – und das fand ich auch interessant –: „Jetzt hast Du alles gelernt,
was es damit zu lernen gibt. Jetzt kannst Du auch zum Arzt gehen.“ So bin ich dann zum Zahnarzt gegangen.
Als Praktizierender kann man das vielleicht auch so nehmen – wenn es nicht gefährlich ist (es ist nicht im-
mer gleich gefährlich) –, und dann kann man viel damit lernen. Wenn man frühzeitig Abhilfe schafft, dann
lernt man weniger. Das muss man selber herausfinden. Aber man lässt es nicht so weit kommen, dass man dauerhaften Schaden davontragen könnte.
Da musste ich als Leiter der Drei-Jahres-Retreats oft aufpassen, dass ich die Retreatler rechtzeitig rausge-
fischt und zum Arzt oder ins Krankenhaus gebracht habe, bevor etwas Tragisches passierte – statt einfach zu
meinen: „Das kommt schon gut. Alles karmische Reinigung, entspann dich, bete zum Lama!“
Teilnehmer: Ich denke, das Problem ist dabei, dass man so eine freudvolle Grundstimmung hat…
Ja! Genau, man kann freudvoll sterben, das geht durchaus.
Dazu eine Geschichte: Ich hatte kürzlich einen Retreatler, der schon gut in Mahāmudrā angekommen war. Er
hatte eine Woche lang richtig heftige Bauchschmerzen, aber seine Praxis ging wunderbar. Er war ganz ent-
spannt, auch mit dieser Freude und Leichtigkeit, aber die Bauchschmerzen wurden nicht weniger. Und ich
dachte: „Das ist doch seltsam, Geist völlig entspannt und dann solche Bauchschmerzen!“ Irgendwann rief er
mich, weil die Bauchschmerzen wirklich stark waren. Ich habe ihn abgetastet und sagte: „Oh, das sieht so
aus, als würden wir dich ins Krankenhaus bringen müssen!“ Ich stellte aber noch ein paar sondierende Fra-
gen und merkte, dass da noch was anderes im Busch ist. Tatsächlich kamen wir in der Exploration drauf,
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
dass diese jetzt bemerkbaren Bauchkrämpfe und -schmerzen etwas mit dem frühen Verlust seiner Mutter zu
tun hatten, die durch einen Unfall gestorben ist. Als wir das Thema berührt und ins Bewusstsein geholt hat-
ten, waren die Bauchschmerzen weg. Das ist ganz spannend. Da war auf einer psychischen Ebene ein traumatisierendes Erlebnis aus der Kindheit,
das aber trotz offener Mahāmudrā-Praxis nicht zur Lösung kam. Und es brauchte eine Hilfe auf der psycho-
therapeutischen Ebene, um diesen Knoten zu lösen, und dann waren die Bauchschmerzen weg. Das war
schon sehr erstaunlich. Das sind verschiedene Ebenen. Es gibt Praktizierende, die teilweise wirklich in ganz offenen Geisteszustän-
den sind, aber trotzdem nicht an bestimmtes Material herankommen, das als Muster in ihnen aktiv ist. Aber
es erschließt sich nicht dem wahrnehmenden Bewusstsein, es ist untergründig aktiv. Deswegen sollte man immer schauen, dass man auf verschiedenen Ebenen schaut, was eigentlich ist, und
nicht denken, man bräuchte auf der psychischen oder auf der körperlichen Ebene oder zwischenmenschlich
nichts tun, bloß weil der Geist gelöst ist. Das ist der Rat, den ich Euch geben möchte: Verwechselt die Ebe-
nen nicht.
Teilnehmer: Hast Du ihm dann eigentlich nicht dabei geholfen, in das gegenwärtige Erleben zu kommen? Inwieweit hat ihn die Praxis eigentlich weggeführt von dem…
Ja, er war in einer Praxis, alles zu entspannen. Und dann ging er mit mir zusammen den Weg, das nicht nur
zu entspannen, sondern mal eine Weile zu halten und zu erforschen und einzuladen, was da noch so hoch-
kommt: die nächste Schicht der Assoziationen. Dann kamen wir erst zu einer dumpfen Trauer und an einen
heftigen Schmerz in der Trauer und dann kamen die Bilder von damals hoch… In dem Fall muss man anders
vorgehen und nicht einfach nur entspannen und sich öffnen, sondern tatsächlich auch mal eine Weile halten
und explorieren. Das ist etwas, über das nicht genug gesprochen wird in den Meditationsunterweisungen. Mit
dem, was gerade auftaucht, geht man entspannend um; mit diesem liebevollen, annehmenden Gewahrsein.
Dadurch kann es sich wieder lösen – aber man bleibt dran und es kommen nächste Schichten. Das kann sehr schnell gehen.
Es gibt Unterweisungen im Lodjong, im Mahāmudrā und auch im Mahāmudrā-Tschöd zum Beispiel, dass
man immer genau dort, wo die Angst ist, oder wo Dämonen zu sitzen scheinen, mit seinem Gewahrsein hin-
geht und fragt, was es braucht. Es gibt die Hinweise, bloß hatten wir das bisher noch nicht so klar umgesetzt,
was es in der persönlichen Praxis bedeutet, tatsächlich mit der Aufmerksamkeit dort zu bleiben, wo es
schwierig ist und nicht einfach nur alles zu entspannen. Es geht darum, den Mut zu haben, die Dämonen ein-zuladen, ihnen direkt zu begegnen.
Mir ging das auch so. Ich habe all die Jahre der Retreat-Praxis gehabt, dann Halbretreat im Kloster, die
Lehrtätigkeit, und erst in meiner Partnerbeziehung bin ich mit inneren Mustern konfrontiert worden. Und nur
weil ich drangeblieben bin und mich denen zugewendet habe, habe ich Dinge in mir gesehen und ins Ge-
wahrsein holen können, die ich all die 25 Jahre in Frankreich nicht gesehen habe und nicht habe befreien
können. Ich spreche da aus eigener Erfahrung. Es ist unglaublich, wie man auf verschiedenen Ebenen mul-
tidimensional funktioniert.
* * *
Die Stufe des kleinen Eingeschmacks war, wenn tatsächlich sämtliche Erfahrungen, ein jedes Phänomen als
in sich vollständig, komplett erkannt wird.
Darin gibt es noch einen Aspekt von Überzeugung aufgrund von [dualistischen] Erfahrungen.
Das heißt, ein Teil unserer Gewissheit, dass alles vollendet und komplett und von einem Geschmack ist, be-
ruht noch nicht auf der unmittelbaren intuitiven Einsicht, sondern ist noch genährt von dualistischen Erfah-
rungen und Schlussfolgerungen aus diesen Erfahrungen. Da ist also noch ein Überhang von den nyams, von
den Meditationserfahrungen, dem Wahrnehmen mit Beobachter, woraus wir verlässliche Schlüsse gezogen
haben, die jetzt noch aktiv sind. Das ist eben noch nicht das direkte Sehen, sondern da mischt sich noch et-
was rein. Man ist immer noch dabei, sich selbst ein wenig zu überzeugen mittels der Erfahrungen, die man schon gemacht hat.
Könnt Ihr das verstehen? Direkte Einsicht ist spontan präsent, ohne dass man begriffliches Denken braucht
und ohne dass man sich daran zu erinnern braucht. Ihr versteht jetzt auch, was mit Einem Geschmack ge-
meint ist, aber Ihr würdet Euch natürlich den Einen Geschmack jetzt einreden, Ihr würdet Euch daran erin-
nern. Das wäre sicherlich auch gut, aber es wird zum Hindernis. Sich an etwas erinnern zu müssen, bedeutet,
dass man es jetzt gerade nicht sieht. Es geht darum, es jederzeit zu sehen und von innen heraus zu erleben
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
und eben nicht sich mit den Schlussfolgerungen aus früher gemachten Erfahrungen so ein bisschen zu über-
zeugen, dass es jetzt doch auch leer ist und von einem Geschmack und komplett.
Dieser Schleier aus den dualistischen Erfahrungen heraus besteht noch weiter.
Ist der bereinigt, mischen sich [im Gewahrsein] äußere Materie und innere Bewusstheit, Erscheinun-
gen und Geist, dualistisches Gewahrsein und zeitloses Gewahrsein alle ohne Ausnahme zu einem [Ge-
schmack] in der reinen Grundnatur allen Erlebens.
Jetzt werden wirklich die tieferen dualen Muster aus der unmittelbaren Einsicht heraus aufgelöst. Wenn äu-
ßere Materie und innere Bewusstheit zu einem geeinten Erleben werden, also Erscheinungen und Geist,
wenn begriffliches Denken – Subjekt-Objekt-Denken – genauso als zeitloses Gewahrsein erfahren wird und
das zeitlose Gewahrsein nicht mehr woanders gesucht wird, sondern in den jetzt vorhandenen Geistesbewe-
gungen, dann ist man tatsächlich da angekommen, was eigentlich Eingeschmack ist, es wird hier die Stufe
des mittleren Eingeschmacks genannt.
Kurz: Wenn sich Existenz und Frieden in ihrer Gleichheit zeigen und Saṃsāra und Nirvāṇa in ihrer
Untrennbarkeit erfahren werden, ist das der mittlere Eingeschmack.
Existenz könnte man auch mit ‚Werdekräften‘ übersetzen. Frieden hat etwas mit dem Frieden Nirvāṇas zu
tun. Das sind zwei andere Wörter als Saṃsāra und Nirvāṇa. Wenn also alle Aspekte des Lebens – ob es sich
um dualistische, verwirrte Manifestation handelt oder um erwachtes, nonduales, zeitloses Gewahrsein –
wenn all das in seiner Untrennbarkeit, in seinem einen Geschmack erfahren wird, das ist der mittlere Einge-
schmack. Da sucht man dann nicht mehr nach der Lösung irgendwo anders, das hört vollständig auf.
Teilnehmer: Kann es hier schon hilfreich sein, wenn man mal eine Erfahrung gemacht hat, dass man sich da dran erinnert und auch dann Vertrauen hat?
Du bist noch bei der letzten Erklärung, nicht? Das kann durchaus hilfreich sein und das solltet Ihr ja auch.
Die Art von Sich-Erinnern, die jetzt gerade hilfreich ist, wäre, sich an früher schon erfahrene offene Geistes-
zustände zu erinnern und sich auch zu erinnern, wie man da hinkommt. – Es geht aber dann darum, das dann
zu erleben und nicht beim Herbeiholen der alten Bilder zu bleiben, sondern jetzt, dank der Erinnerung erneut
den Weg zu gehen.
Teilnehmer: Vor ein paar Jahren hatte ich schon eine Situation, da war ich hier und ich hatte einen Anruf
gekriegt, dass mein Vater schwer krank im Krankenhaus ist mit einem Lungenödem und ich habe dann mit
der Schwester dort telefoniert und dann hieß es, es sieht kritisch aus und wir sollen kommen. Ich war total in
der Panik und meine Tochter war dabei und ich habe gedacht, ich kann nicht fahren. Und dann hat aber La-
ma Yeshe noch einmal zu mir gesagt, so einfach: „Jetzt! Jetzt! Jetzt!“. Ich habe dann alles eingepackt, bin
ins Auto gestiegen und meine Tochter neben mir und dann sind wir losgefahren und ich habe gemerkt, dass
wenn ich im gegenwärtigen Moment bleibe, dass es dann ganz leicht ist und dass dann auch keine Angst da
ist, null Panik. Und dann ist immer wieder quasi der Geist wie abgehauen. Das war so ein schmaler Grat,
auf dem es ganz leicht war – und dann immer wieder wie der Geist abhaut, nach rechts und nach links – wie eine Schlagzeile: „Tochter eilt und…“ was weiß ich…
Ja – und Du willst mir vermutlich sagen, dass es Dir heute noch hilft, wenn Du Dich daran erinnerst…
Ja… aber auch diese Erfahrung – egal, was für eine Situation das ist – wenn ich in dem bleibe und dann …
Ja, das ist so eine ganz hilfreiche Erinnerung. Und dann reicht es nicht als Erinnerung, dann gilt es, genau
das zu tun und wieder zu erleben. Das ist dann hilfreich. Die Erinnerung zeigt den Weg und dann geht es da-
rum, das, was man daraus versteht, wieder umzusetzen. Jetzt gerade. Das ist der Unterschied zwischen sich
an etwas Vergangenes zu erinnern und es erneut zu erleben.
Teilnehmer: Ist das ‚drenpa‘?
Das ist drenpa, ja. Das ist sati – drenpa.
Teilnehmer: Ich bin noch nicht ganz sicher, was das heißt, dualistisches Erleben. Dieses dualistische Erleben
ist für mich dann in dem Moment, wo zeitloses Gewahrsein erlebt wird, ja nicht mehr dieses „Ich bin hier
und erlebe dich da drüben.“ – Das ist ja dann weg, oder? Das ist für mich ja dualistisches Erleben. Was hier
ja so beschrieben wird, dass das okay ist. Weißt Du, was ich meine?
Ja, ich weiß, was Du meinst. Die Muster dualistischen Erlebens sind hier natürlich überhaupt noch nicht auf-
gelöst. Die tauchen noch auf und werden aber im Auftauchen als das nonduale zeitlose Gewahrsein erlebt.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Das ist das Spannende. Das ist noch nicht vorbei. Aber das ist genau der Pfad der Reinigung dieser Muster. –
Sie tauchen weiterhin auf, werden aber nicht mehr bedient sondern durchschaut.
Sie lösen sich in diesem Moment auch genau gleich wieder auf…
Ja! Und man merkt, da gibt es gar nichts, was sich auflösen muss, sondern die werden in ihrer wahren Natur
erkannt, einfach als Geistesbewegungen in ihrer wahren Natur. Die tragen gar keinen Stempel, dass die ‚du-
al‘ oder ‚schwierig‘ oder sonst etwas wären. Die sind, wie sie sind, und befreien sich von selbst, wie alles
andere. Das heißt, man braucht nichts mit ihnen zu tun. Da heißt es dann, dass die wahre Natur von Saṃsāra
Nirvāṇa ist.
Du überlegst noch ein bisschen?
Nun ja, dieser Zustand ist mir noch ganz klar, ob da die Käseglocke noch drüber ist oder sich auflöst…
Also, ich weiß natürlich nicht, was Du mit Käseglocke meinst, aber in meinem Erleben wäre sie weg. Das ist
nämlich auch der springende Punkt hier, dass sie weg ist. Es darf alles sein, es gibt keine Käseglocke mehr,
alles wird in seiner wahren Natur erfahren und man redet es sich nicht mehr ein. – Das war der Satz vorher.
Es beruht nicht auf Überzeugung aufgrund von dualistischem Denken und Erfahren, sondern es ist direkte Schau. Deswegen braucht man keine Käseglocke mehr.
Teilnehmer: Also ist doch dann eigentlich niemand da, der erlebt.
War irgendwann schon mal jemand da? War schon mal jemand da?
… aber das ist auch nochmal so ein bisschen natürlich…
Meine Antwort ist nicht ohne, hör nochmal hin!
Okay!
Du sagst: „Dann ist doch niemand da!“ – Aber ist heute jemand da?
Ich denke, ja, nicht?
Ja, Irrtum! [Lachen] Es hat sich nichts geändert von damals bis jetzt. Es ist nicht vorher jemand da gewesen und dann niemand mehr da.
Aber im Moment würde ich mal so sagen, denke ich, dass da jemand ist, der erlebt!
Ja, ja! Da ist Denken, das sich für ein Ich hält, das erlebt, genau.
Genau. Und in dem Zustand ist das ja alles gar nicht mehr vorhanden. Sondern das ist im Grunde genom-
men nur noch ein reines Erfahren von der Natur des Seins – oder wie man es auch immer bezeichnen will,
aber es ist gar kein Ich, das irgendjemanden wahrnimmt, oder ein Beobachter, der wahrnimmt, sondern das
ist ein reines Sein.
Es ist Wahrnehmen da, es ist Denken da, es ist Fühlen da – alles, was Menschsein so ausmacht; ohne diese
unnötigen Extraschlaufen, das alles zu einem vermeintlichen echten Ich zu verdichten. Also, alles geht wei-
ter; wie jetzt, wie heute. Alles geht weiter, ohne tröpa, diese unnötigen Schlaufen, ohne diese Extravorstel-
lungen und Überzeugungen, wie „Das ist so! – Das ist nicht so!“ All dieses Komplizierende fällt weg. Aber
sonst geht alles weiter. Es befreit sich. Es geht nicht nur weiter, sondern es ist lebendiger, klarer, man kann
besser denken, man kann intensiver lieben, wahrnehmen und so weiter. Das befreit sich ja alles von dieser Käseglocke, von diesem Unnötigen, was das Leben so behindert und so schwer macht.
Dir kommt es vor, als ob das Leben wie so ein Auto wäre mit jemandem, der hinter dem Steuerrad sitzt. Und
dann ist ja niemand mehr hinter dem Steuerrad. Was ist dann mit dem Leben? Die Kräfte, die hinter dem
Steuerrad sitzen, die gehen genauso weiter – die Weisheitskräfte, die Mitgefühlskräfte und so weiter. Das
Leben läuft nicht aus dem Ruder. Es ist nicht so, dass da vorher jemand Kompetentes war und jetzt ein
Nichts hinter dem Steuerrad ist; die Inkompetenz, die vorher mit am Steuer saß, die ist weg.
[Lachen]
Bist noch so ein bisschen am Überlegen… Ist spannend!
Das ist ein Aspekt, den ich noch nicht so verstanden habe…
Ich verstehe ja, dass man versucht, sich das vorzustellen. Ich komme jetzt in Bereiche, wo es auch für mich ein bisschen schwierig wird.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Wenn die Vielfalt als ein Geschmack erfahren wird und sich die Erscheinungen der geschickten Mittel
und des abhängigen Entstehens ausweiten und sich der Eingeschmack als Vielfalt zeigt, dann ist das
der große Eingeschmack.
Die Vielfalt der Erscheinungen, das ist all unser Erleben. Das ist das, was auftaucht. Diese Vielfalt wird als
Eingeschmack erfahren. Eingeschmack als Vielfalt, Vielfalt als Eingeschmack.
… und sich die Erscheinungen der geschickten Mittel und des abhängigen Entstehens ausweiten. – Die
Erscheinungen der geschickten Mittel können wir uns zunächst übersetzen als die Erscheinungen des Mitge-
fühls; als die Erscheinungen eines kreativen Geistes frei von Ichbezogenheit, der ganz und gar von Mitgefühl
durchdrungen ist; diese Formen des Erlebens aufgrund der geschickten mitfühlenden Interaktion mit der
Welt. Das beinhaltet alle Formen des Denkens, Kommunizierens und Handelns. Wenn die sich ausweiten,
dann bedeutet das eine Zunahme der Aktivität in der Welt. Es gibt dann auch keine Bremse mehr, sich in der
Welt zu engagieren – aus Mitgefühl, mit dem Geschick zu wissen, wie der Geist funktioniert, wodurch Leid
entsteht, wodurch Befreiung entsteht. Und das begleitet alles Denken, Reden und Handeln.
Es gibt noch eine andere Ebene, wie das zu verstehen ist, und zwar dass alle Erscheinungen als geschicktes
Mittel erlebt werden. Jede Sinneswahrnehmung, jede Geistesbewegung wird als geschicktes Mittel erlebt, die
Natur des Geistes immerzu erneut zu verstehen. Alles wird in dem Fall zu einer Weisheitsbotschaft, zu einer
Botschaft über die Natur des Gewahrseins. Jegliche Sinneserfahrung wird da ‚geschicktes Mittel‘ genannt,
ob sie uns widerfährt oder ob wir sie quasi erzeugen. Das ist völlig irrelevant. Alles, was geschieht, wird in
seiner wahren Natur erkannt und stimuliert damit die sich ausweitende Erkenntnis, das sich ausweitende
Gewahrsein. Diese Erscheinungen sind allesamt Erscheinungen des abhängigen Entstehens. Alle entstehen sie aus dem
Zusammenwirken von Bedingungen und bringen momentane Erscheinungen hervor, die keinerlei Substanz
haben. Man kann also jede Sinneserfahrung – die gesamte Vielfalt – als geschicktes Mittel betrachten und
natürlich als Erfahrung des abhängigen Entstehens.
Auch da gibt es wieder die andere Ebene, dass diese Praktizierenden, die aufgrund ihres tiefen Verständnis-
ses des abhängigen Entstehens, das abhängige Entstehen geschickt zum Wohle der Lebewesen nützen kön-
nen. Aus Mitgefühl und Weisheit heraus nimmt ihre Aktivität zum Wohle der Wesen zu, weitet sich aus, dank
der Erscheinungen des abhängigen Entstehens, die sie voll durchschauen und jetzt auch zum Wohle anderer
einsetzen können. Sie schaffen sehr viele tendrels – das ist das Wort, das hier übersetzt ist – für das Erwa-
chen. Sinneswahrnehmungen sind tendrels, günstige Bedingungen für das eigene Erwachen, und was als Antwort in der Situation kommt, ist eine günstige Bedingung für das Erwachen anderer.
Ich hoffe, Ihr konntet mir folgen. – Nicht mehr? Okay, macht nichts, entspannen!
Wenn ich das mal richtig erfahren habe, dann kann ich es Euch besser erklären. Ich glaube, die Erklärung
stimmt, dass es dort diese beiden Ebenen des Verständnisses gibt. Die erste Ebene ist, dass alle Erfahrungen
als Ausweitung der eigenen Erkenntnis erfahren werden, dass sie zur Ausweitung des eigenen Verstehens der
Natur des Seins führen und total willkommen sind als ein Segen. Der zweite Aspekt ist, dass alle Situationen
genutzt werden können als ein unglaublich wissendes, weises, mitfühlendes Eingehen auf die Bedürfnisse
dieser Welt, wo beim Nutzen der Prozesse des abhängigen Entstehens geschickt zum Wohle der Lebewesen gewirkt wird.
Wir sind damit auf der Ebene des Großen Eingeschmacks. Da zeigt sich der Eingeschmack als Vielfalt. Da
kommt eine neue Dimension des Verstehens herein. Vorher ging es noch darum, bei all den vielen Dingen,
den vielen Geistesbewegungen, die im Leben passieren und auftauchen, immer zu verstehen, dass all diese
Erfahrungen Einen Geschmack haben. Jetzt kommt ein neuer Aspekt rein, und zwar zu sehen, dass all die
Erscheinungen sich als Vielfalt manifestieren, weil sie einen Geschmack haben; weil sie keine Substanz ha-
ben. Das heißt, es wird erlebt, dass die Qualität des Nicht-fassbar-Seins, fließend zu sein, Prozess zu sein,
leer zu sein von einem Wesenskern, die Vielfalt hervorbringt. Und da nichts Substanz hat, entsteht die ge-
samte Vielfalt. Es geht gar nicht mehr darum, die gesamte Vielfalt in seiner Natur quasi aufzulösen, sondern
man beginnt zu verstehen, wie alles entstehen kann, wie alles aus sich heraus ganz natürlich, aus seiner eige-
nen leeren Natur heraus entsteht. – Wie die leere Natur, die nicht fassbare Natur quasi verantwortlich dafür
ist, dass ständig solche Vielfalt entsteht. Da beginnt sich das Verständnis soweit zu befreien, dass es nicht
mehr darum geht, irgendwelche engmachenden Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Emotionen zu befreien,
sondern dass man merkt, was für ein in der Tiefe total freier Prozess das eigentlich ist, der das gesamte Le-
ben hervorbringt. – Das wäre der Große Eingeschmack.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Teilnehmer: Ist das eine Beschreibung für das spontane Buddha-Wirken?
Das geht jetzt in spontanes Buddha-Wirken über. Je nachdem, welcher Beschreibung von dem, was hier Ein-
geschmack genannt wird, wir folgen, geht das hin bis entweder zur siebten Bodhisattvastufe oder sogar bis
fast zur Buddhaschaft. Diese Phase des Eingeschmacks ist ein Großteil der Bodhisattva-Praxis bis zu den
ganz hohen Bodhisattvas, die tatsächlich schon spontan zum Wohle der Wesen wirken. Hier wird der Große
Eingeschmack besprochen, das heißt, wir sind jetzt ganz kurz vor dem Ende dieses ganzen Weges, wo sich
die Formen des Anhaftens befreien. Da geht es jetzt in erwachte Aktivität über.
Hier wird die „Geduld mit ungeborenen Phänomenen“ erlangt.
Das ist eine Form der Geduld, die auch im „Schmuck der Befreiung“ erwähnt ist. Es ist die dritte Form des
Paramita der Geduld, die Geduld mit der Natur der Phänomene, also auszuhalten, dass sie keinerlei Substanz
haben, dass sich nicht verfolgen lässt, woher sie kommen, wohin sie gehen, wo sie verweilen. Hier ist der
Praktizierende endlich ganz entspannt mit dem, wie es ist.
Diese Phase geht von der zweiten bis zur siebten Bodhisattvastufe; manchmal heißt es auch, bis zur
achten Stufe. Meditation und Nachmeditation sind nun zusammengekommen, [am Ende dieser Phase
des Einen Geschmacks] doch in der Nachmeditation …
Nachmeditation muss man sich immer übersetzen als ‚in den Aktivitäten‘. Nachmeditation bedeutet nach der letzten Meditation und vor der nächsten.
… zeigt sich noch der Fehler des Haftens an Leerheit. Ist der bereinigt, dann ist alles im Raum der
Phänomene [im Dharmadhatu] rein geworden, ohne den geringsten Unterschied zwischen Erlanger und
Erlangtem, Meditation und Nachmeditation, Ablenkung und Nicht-Ablenkung.
Bis dahin gibt es offenbar noch ein feines Haften an Leerheit. Dieses Haften an Leerheit bedeutet, dass die
Praktizierenden immer noch das Gefühl haben, sie müssten etwas erkennen im Erleben. – Sie erkennen auch
etwas und sie meinen, sich immer wieder daran erinnern zu müssen, die Leerheit zu erkennen, die nicht fass-
bare Natur der Phänomene. Leerheit wird subtil für ganz wichtig gehalten. Und wenn auch das sich auflöst,
dann ist man am Ende dieses Pfades von Eingeschmack angekommen. Da gibt es dann nichts mehr zu be-
freien in der Aktivität. Auch die Aktivität, die Nachmeditation ist zur Meditation geworden. Das ist dann der
Übergang in die Nichtmeditation, wo es nicht mehr nötig ist zu meditieren. Die Erkenntnis hat sich in alle
Bereiche ausgeweitet. Deswegen steht hier auch: Ablenkung und Nicht-Ablenkung – kein Unterschied mehr, alles ist Gewahrsein geworden.
* * *
Lasst uns wieder eine Weile nichts tun – Muße. Wie können wir entspannen, ohne den Geist zu deckeln, also
ohne ihm seine Lebensfreude zu rauben? Es geht um ein Entspannen in eine freudige, spielerische Gelöstheit
hinein – wenn es so etwas gibt. Das ist ja nur eine Vorstellung. Es ist also kein ‚Weg-Entspannen‘, sondern ein Sich-Öffnen ins Leben hinein.
Meditation Wie ist das, wenn wir das Leben ganz zulassen? – Alle Sinne ganz wach. Vielleicht so wie ein Kind, das am Ferienziel ankommt. – Über alle Sinne nehmen wir die neue Erfahrung auf. –
* * *
Der Rat für diese Art von Meditation ist: Wenn es um Frische geht, tatsächlich nur kurz meditieren. Kurz, um
es nicht wieder in Dumpfheit absacken zu lassen. Kurz in die Frische und dann schon wieder Schluss.
Teilnehmer: Ich hätte noch eine Frage zum Öffnen der Sinne. Wir sollen ja eigentlich nicht schauen, sondern nur ruhen. Und in so einer Situation passiert ja relativ wenig.
Ja, über den Sehsinn passiert relativ wenig. Wir nehmen natürlich wahr, dass die Menschen um uns herum
atmen, so kleine Bewegungen sind da.
Hauptsächlich beschränkt sich’s eigentlich auf das Hören.
Ja, in Meditationsräumen versuche ich meistens, den Teilnehmern zu ermöglichen, durch das Fenster zu
schauen, sodass ein bisschen mehr Lichtstimulation, ein bisschen mehr Naturkontakt da ist. In der Natur, da
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ist es mit dem Öffnen der Sinne ganz [anders] – da ist immer so viel los! Wenn man hier in einer Meditati-
onshalle sitzt, da wird das Visuelle ziemlich statisch. Das ist ein bisschen schade. Aber trotzdem ist es ein
lebendiges Erleben. Also das braucht ein bisschen zusätzlich, um in so einer Umgebung relativ gleichblei-
bend frisch zu bleiben, das hast Du gerade gemerkt.
Hast Du eigentlich die Augen geschlossen oder hast Du sie offen gehabt? – Du hast sie weiterhin offen gelas-sen.
Teilnehmer: Aber wenn es um die Öffnung der Sinne geht, dann geht es doch nicht um die Objekte oder die
Vielfalt der Objekte.
Nein, es geht nicht darum. Es ist nur so, dass ein frisches Interesse viel leichter zu wahren ist, wenn da auch was los ist.
In der Ablenkung…
Ja, wenn Du zum Beispiel den Hörsinn öffnest und da sind gar keine Geräusche, Du bist in einem geräusch-losen Raum, da ist es ganz schwer, den Hörsinn aktiv zu halten. Das braucht Erfahrung.
Teilnehmer: Bei mir ist gerade sehr viel Aufgeregtheit da, also alles so viel. Aber da ist auch Freude, und
hinter dieser Aufgeregtheit ist, glaube ich, auch Unsicherheit.
Und jetzt wäre es spannend, den Blick ein wenig auf diese Unsicherheit zu lenken. Das kannst Du Dir ja für
das nächste Mal vornehmen. Die dürfte ja nicht gleich weggehen, und da schau mal hin, was das eigentlich
ist, wie sich das anfühlt.
Teilnehmer: So ein subtiles Getriebensein, ein Erfahrenwollen hört auf in diesem Zustand für mich und es ist
so, als wenn etwas zurücktritt, und das Geschehen an sich das übernimmt. Also nicht mehr etwas, was Erfah-rung nach Erfahrung sucht, sondern das Spiel an sich ist da. Es ist das Getriebensein, das für mich wegfällt.
Ja! Wenn das Getriebensein wegfällt, das ist ein Zeichen dafür, dass diese duale Spannung weniger geworden
ist. Das fällt weg, genau.
Teilnehmer: Ich hatte ein kleines Problem damit, alle Sinne aufzumachen, da war schon zu viel machen für mich. Der Anspruch des ‚Aufmachens‘ war schon zu viel für mich.
Und wie bist Du damit umgegangen?
Ja, ich habe bemerkt, das bedeutet, ich muss nach einem minimalen Ich greifen, um das herzustellen und die-
ses Ich will aber das gar nicht. Da ist nichts, was etwas erzeugen will.
Was hättest Du denn erzeugen…
Nichts, da ist nichts, das irgendwas erzeugen, also die Sinne betätigen will.
Ja, da ist offenbar etwas, was die Sinne nicht betätigen will.
Ja!
Das wäre jetzt interessant, ja, das ist spürbar, wenn Du so drüber sprichst. Da würde ich mal reinschauen.
Eigentlich sind die Sinne von Natur aus offen.
Ich hatte jetzt das Empfinden, ich muss da noch mehr machen…
Ja, das verstehe ich, das kommt durch dieses Bild, das ich benutzt habe: ankommen an einem Ferienort.
Okay, dieses Zusätzliche war vielleicht einen Tick zu viel. Und hast Du Dich dann ganz geschlossen, oder
bist Du dann einfach…
Ich hab‘s einfach sein lassen.
Okay, nicht schlecht! Wie war das?
Ja, gut. [Lachen]
Gut! Ja, vertraue Dir! Das, was zu viel ist, immer sein lassen. Das ist immer ein guter Rat.
Teilnehmer: Ich war zu verschiedenen Zeitpunkten in verschiedenen Wahrnehmungen. Die erste Wahrneh-mung war: Ich sitze total bequem. Dann war eher riechen, und dann kam noch mal ein Gefühl hoch.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Ja, das kann ich gut nachvollziehen. Meinst Du wirklich, du hättest mit diesen paar Sachen die 10 Minuten
verbracht?
Ich wollte mal bequem sitzen und war dann enttäuscht, dass die schon die Glocken geschlagen haben, wo ich endlich mal bequem gesessen habe…
Bleib ruhig weiter, ich verstehe nicht, warum Du die Beine jetzt hoch hast. [Lachen]. Du hast jetzt ein paar
Sachen beschrieben, was war denn zwischendurch?
Ich rieche da, rieche Kaffee – riechen – loslassen, und dann kam das Nächste.
Das ist ein ständiger Wechsel. Da ist so viel los und das ist toll, jetzt hast Du schon so ein paar klare Etappen,
es ist deutlich geworden, wie das so wechselt in den Sinneswahrnehmungen. Aber schau dem mal noch wei-
ter zu, voller Interesse, wie flink das wechselt. Mal Körper, mal riechen, mal sehen, mal [deutet hin und her an] … die ganze Zeit. Und zwischendurch die Kommentare.
Teilnehmer: Ich war anfangs sehr wach und hatte gleichzeitig eine große Spannung im Bauch. Das war pa-rallel. Also, das war schon reichlich.
Das heißt, da hat sich etwas in Dir frei gefühlt? Und da war die Spannung im Bauch…
Ja, die ist geblieben.
Das finde ich jetzt natürlich spannend. Das machen wir natürlich jetzt nicht vor allen anderen. Nimm in die-
ses freie Gefühl auch mal den Bauch mit rein und schau, was dann stattfindet. Ob da was in Bewegung kommt? Kultiviere also nicht das freie Gefühl unabhängig vom Bauch, sondern mit Bauch.
Ich hab das schon ein bisschen probiert, weil ich viel angespannt bin und habe so das Gefühl, das geht hin
und her zwischen Lebendigkeit und zwischen Kommentaren und Bewertungen. Also im Moment ist die Span-
nung auch da, aber eher als etwas Lebendiges.
Ja genau, Spannung ist auch lebendig. Bleib da mal ein bisschen weiter dran und schicke die Aufmerksam-keit immer mal wieder in diese lebendige Spannung. Da ist was los.
Teilnehmer: Diese Frage nach dem ‚Wie‘ fand ich ganz anregend. Das war sehr belebend und öffnend und
da waren ganz viele Kommentare… Die Präsenz war gestärkt dadurch.
Diese Frage nach dem ‚Wie‘ soll die Präsenz stärken, allerdings geht es nicht um die Kommentare. Wenn Du
die Frage ‚Wie‘ in Zukunft mal wieder einsetzt – ich würde Dir empfehlen, die ruhig wieder zu benutzen –,
dann schau mal, dass Du sie so stellen kannst, dass sie nur die Präsenz erhöht; dass sie also das Gewahrsein
erhöht, ohne Antworten auszulösen. Wir sind nämlich so gewohnt, auf jede Frage zu antworten und dann
beschreiben wir uns und dann machen wir uns Antworten… Wenn diese Frage nach dem ‚Wie‘ als Lhaktong-
Sonde eingesetzt wird, ist es gut, wenn wir uns daran gewöhnen, nicht mit dem Intellekt zu antworten, nicht
mit dem begrifflichen Denken, sondern das wie eine Verschärfung der Wahrnehmung, der Auffassung zu
nutzen.
Teilnehmer: Ich kriege die fünf Sinne und dann diesen sechsten Sinn, den Geistsinn, nicht so richtig zusam-
men. Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn ich dann ein Sinnestor offen habe – ob Riechen oder Fühlen
oder Hören – dass das in der Meditation sehr frisch ist. Und wenn dann dieser Geist eingesetzt wird, dann ist
die Frische weg.
Sieh mal an! Welcher Aspekt des Geistes war denn das, der da so eingesetzt hat und die Frische ein bisschen vertrieben oder verhindert hat?
Teilnehmer: Das war ein Wollen, so ein Wunsch: „Jetzt will ich da auch noch eine Frische reinbringen.“
Ja, Wollen ist ein Frischetöter. Wie ist das im sechsten Sinn, wenn unsere Weisheitsfunktion auch dieses Wol-
len annimmt und es aber nicht weiter bedient?
Dann kommt die Frische insofern ein bisschen zurück, indem da so eine Lücke ist.
Was ist in der Lücke? Wie ist es in der Lücke?
Hell.
Wie ist es in der Helligkeit?
Ja, sonnig frisch.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Ja, genau, genau. Nimm einmal diesen sonnig hellen, frischen Geschmack der Lücke wahr. Da geht’s lang.
Das ist fein! Ich sage mir immer, wenn René Descartes doch nur die Lücken wahrgenommen hätte. Wer sind
wir in der Lücke? Wie ist es in der Lücke? Trungpa Rinpoche hat daraus immer wieder ein ganzes Teaching
gemacht: „The Gap“. Mit der Lücke hat er ganz viel gearbeitet. Er wollte, dass seine Schüler beginnen, die
Lücken wahrzunehmen. In der Lücke steckt unheimlich viel Neues, Ungeahntes, was wir entdecken können.
Ich war, als ich mit den Lücken vertraut wurde, auch erstmal so… ich habe sie auch als leuchtend klar, Hel-
ligkeit, strahlend, sonnig wahrgenommen. Es geht dann noch weiter! Als Tenga Rinpoche uns damals fragte,
„Welche Farbe hat der Geist, der entspannte, offene Geist?“, da habe ich ihm gesagt: „Das da!“ [Lacht] – Da
hat er gelacht.
Ja. In der Lücke zu verweilen, ist eine wunderbar hilfreiche, öffnende Form der Gewahrseinspraxis. Und
dann entsteht wieder was und dann ist wieder Lücke und dann entsteht wieder was, ist wieder Lücke… In der
Lücke ist was. Das darf ich Dir jetzt schon verraten. Da ist was. [Lacht]
Nichtmeditation
Frei zu sein von allen Merkmalen [d.h. dem Haften an Bezugspunkten] wie Meditationsobjekt und
Meditierendem, entspricht der kleinen Nichtmeditation und der achten Bodhisattvastufe.
Dieses tsändsin auf Tibetisch, dieses Haften an Merkmalen, ist schon eine wichtige Beschreibung von dem,
was eigentlich Saṃsāra ausmacht. Das ist auch der Grund, warum ich so oft von diesem Wechsel vom ‚Was‘
zum ‚Wie‘ spreche. Das hat mit dem tsändsin, dem Haften an Merkmalen zu tun. In unserer normalen Wahr-
nehmung sind wir ständig mit dem Beschreibbaren beschäftigt. Wir schauen in die Natur oder wir schauen
hier in den Raum und wir sehen Menschen und Tische, beschreibbare Objekte. Normalerweise nehmen wir
nicht den Raum wahr, wir gehen immer auf das Beschreibbare, auf die Merkmale. In den Merkmalen neh-
men wir die Farben, Formen und Konturen wahr; wir nehmen nicht die nicht fassbare Natur des Erlebens dieser Merkmale wahr.
Unser ganzes duales Leben ist ein Haften an Merkmalen. Ein vermeintliches Subjekt bezieht sich auf ein
vermeintlich getrenntes Objekt, was aber, um die Funktion eines Objektes haben zu können, beschreibbar
sein muss. Selbst abstrakte Dinge machen wir uns beschreibbar, wie ‚die Liebe‘, ‚der Raum‘, dann können
wir wieder daran haften. Genau, wie wenn wir ‚die Leerheit‘ sagen, dann wird dies wieder etwas, von dem
wir das Gefühl haben, das ist beschreibbar. Dann machen wir uns eine Vorstellung davon und schon ist wie-
der Haften da. Haften bedeutet immer, dass die Vorstellung eines Subjektes präsent ist – ob wir uns dessen
bewusst sind oder nicht – und dass beschreibbare Merkmale da sind, an denen wir haften.
Frei zu sein von dem Bedürfnis nach Bezugspunkten ist der Eintritt in die Nichtmeditation. Da findet keine
Bestätigung von Subjekt mehr statt und keine Aufspaltung der Wirklichkeit in Subjekt und Objekt. Die Welt
wird nicht mehr aus der Perspektive von Subjekt – Objekt erlebt. Das ist damit gemeint, wenn sich das Haf-
ten an Merkmalen auflöst. Es gibt beim Gehen keinen Gehenden mehr, beim Sehen keinen Sehenden, bei der
Meditation keinen Meditierenden, … es gibt beim Sprechen keinen Sprechenden, beim Helfen keinen Hel-
fenden … Diese Trennung, die uns normalerweise begleitet als das Selbstverständlichste der Welt, hat sich aufgelöst. Wenn das passiert, so heißt es, wäre das das Eintreten in Nichtmeditation.
Hier können im Schlafbewusstsein noch ab und zu geringe Makel des Festhaltens auftauchen.
Im Unterschied zum Wachbewusstsein zeigen sich im Schlafbewusstsein noch stärker die latenten Muster;
die Muster, die noch nicht bereinigt sind. Da kann es beim Auftauchen von Geistesbewegungen im Schlaf
noch einmal kurz zu einem Haften an Merkmalen – das heißt, zu einem Für-wirklich-Halten – kommen. Das
heißt nicht, dass sich die Träume auf dieser Ebene dann zu riesigen Szenarien ausgestalten, das ist längst
vorbei; so viel Haften ist nicht mehr übrig. Aber es kann kurz mal im Schlaf – im beginnenden Traum – zu
einem Haften an Merkmalen kommen. Es zeigt sich also noch ein gewisses Für-wirklich-Halten als letzter
Rest dieser Muster des Für-wirklich-Haltens und des Haftens an Merkmalen. Das sind zwei fast austauschba-
re Begriffe im Tibetischen: tsändsin ist dieses Haften an Merkmalen und dendsin ist das Für-wirklich-Halten, das Haften an Wirklichkeit. Diese beiden Begriffe werden fast austauschbar benutzt.
Sind diese bereinigt, zeigt sich nur noch die große meditative Ausgeglichenheit zeitlosen Gewahrseins,
was der mittleren Nichtmeditation und der neunten und zehnten Bodhisattvastufe entspricht.
Da taucht dann keinerlei Täuschung mehr auf, keinerlei Für-wirklich-Halten.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Werden dann mit dem Schwert der Weisheit und des zeitlosen Gewahrseins die Gewahrseinsschleier
mitsamt den [letzten] Gewohnheitsmustern entwurzelt, mischen sich der völlig reine Raum der Phä-
nomene (Dharmadhatu) und die grundlegende erhellende Klarheit, die „Mutter-Luminosität“ [das
‚Mutter-Klare-Licht‘]. Das ist die Stufe der Einheit des Nicht-mehr-Lernens, auf der sich die Erleuch-
tung eines Buddhas offenbart, die große Nichtmeditation, die der [elften] Stufe der Buddhaschaft ent-
spricht.
Wenn sich beim Durchlaufen der achten bis elften Stufe das natürliche Sein als das in seinem Wesen
reine gleichzeitige Entstehen offenbart, ist das der Wahrheitskörper. Wenn sich der Geist der Lebewe-
sen als das reine Wesen dualistischer Geistesbewegungen offenbart, ist das der Freudenkörper. Wenn
sich das reine Wesen dessen offenbart, was aufgrund von Bedingungen wie Objekte erscheint, ist das
der Ausstrahlungskörper. Diese drei Buddhakörper oder Grenzenlosen zeigen frei von allen Vorstel-
lungen und ohne jegliche Anstrengung eine unvorstellbare Aktivität für das Wohl anderer und bewir-
ken mühelos das Wohl der Lebewesen soweit der Himmel reicht und bis Saṃsāra geleert ist. Dies sind
die letztendlichen Qualitäten [die aus der Praxis entstehen.]
Karmapa schreibt hier nicht weiter darüber, was denn diese letzten Gewahrseinsschleier sind. Es sind die
letzten Residuen von Festhalten, Greifen, Für-wirklich-Halten, die allerfeinsten Schleier, die einen noch von
der Buddhaschaft trennen. Ich kann darüber gar nicht mehr sagen. Nehmen wir es doch einfach so, dass sich
da offenbar noch einmal etwas auflösen kann, was noch einmal einen entscheidenden Unterschied macht.
Wenn sich das auflöst, das heißt, wenn man dann durch diesen Vajra-Samadhi, den völlig unstörbaren Sa-
madhi in die Buddhaschaft eintritt, dann gibt es nichts mehr, was noch irgendein Greifen und Für-wirklich-
Halten auslösen könnte. Gendün Rinpoche sagte uns, das sei noch einmal ein Riesenunterschied zu einem
Bodhisattva auf der zehnten Stufe, weil absolut gar nichts mehr in irgendeine Form von Greifen führen kann.
Gendün Rinpoche sagte immer: „Wisst Ihr, zwischen einem Bodhisattva auf der zehnten Bodhisattvastufe
und einem Buddha, da besteht ein Unterschied wie zwischen einem Tropfen und einem Ozean“. Dann sagte
er: „Wisst Ihr, der Unterschied zwischen einem Bodhisattva auf der ersten Bodhisattvastufe und einem
Bodhisattva auf der zehnten Bodhisattvastufe ist wie zwischen einem Tropfen und einem Ozean. Und das
Gleiche zwischen einem normalen Lebewesen und jemandem auf der ersten Bodhisattvastufe. Dieses Bei-
spiel wurde häufiger von ihm erwähnt, um in uns eine Ahnung für die geistigen Dimensionen, um die es da
geht, zu erwecken. Beschreiben kann ich das nicht, außer eben, indem ich die Worte meines Lehrers wieder-hole.
Widmen wir uns nochmal diesen drei Körpern, die da beschrieben werden – Wahrheitskörper, Freudenkörper
und Ausstrahlungskörper. Ich finde die Beschreibung der drei Körper hier genial und durchaus ungewöhn-lich, als ein ganz großes Geschenk.
Da heißt es, dass sich das natürliche Sein in seinem Wesen als das reine, gleichzeitige Entstehen offenbart.
Das ist der Wahrheitskörper. Dieses gleichzeitige Entstehen ist also ein dynamischer Aspekt. Man spricht von ganz vielen Aspekten des gleichzeitigen Entstehens. Vielleicht ist Euch bekannt: Erschei-
nungen und Leerheit, Klarheit und Leerheit, Freude und Leerheit, Bewusstheit und Leerheit, aber auch das
gleichzeitige Entstehen von Saṃsāra und Nirvāṇa, von Bewusstheit und Nichtbewusstheit. Das trifft jetzt für
einen Buddha nicht zu, aber all das ist gleichzeitiges Entstehen. Das bedeutet, dass immer zugleich mit dem,
was sich als ein Erleben zeigt, auch seine wahre Natur vorhanden ist. Gleichzeitiges Entstehen bedeutet: Das,
was sich zeigt, ist immer zugleich mit seinem wahren Wesen, so wie eine Flamme immer zugleich ist mit
ihrer nicht-fassbaren Natur; oder ein Regenbogen – immer zugleich mit seiner nicht-fassbaren Natur.
Das ist die Basis für die gesamten Mahāmudrā-Erklärungen. Mahāmudrā wird auch die zugleich entstehende
Einheit genannt, die zugleich entstehende Verbindung – lentschig kyedjor. So wird zum Beispiel Vajra Yogini
(ein roter weiblicher Buddha, Verkörperung von Mahāmudrā) als lentschig kyema, die Zugleich Entstehende,
bezeichnet, weil Manifestation, Freude, Bewusstheit immer zugleich mit der wahren, leeren, nicht-fassbaren
Natur einhergehen. Und das wird hier als die Beschreibung der Erkenntnis des Dharmakaya bezeichnet. Die
vollständige Verwirklichung des Dharmakaya ist nur auf der Ebene der Buddhaschaft. Vorher ist der Dhar-
makaya noch nicht in seiner Gänze verwirklicht, obwohl der Dharmakaya die Erfahrung des Erwachens von
der ersten Bodhisattvastufe an ausmacht. Den Dharmakaya als das gleichzeitige Entstehen und natürliches
Sein zu beschreiben, bedeutet, dass er den gesamten dynamischen Aspekt und manifesten Aspekt schon in sich drin trägt, also all die Dynamik, die Kreativität, die zu der Vielfalt der Erscheinungen führt.
Dieser freie, offene Geist eines Buddhas ist dynamisch im ständigen Kontakt, im ständigen Sein in der Welt
und nimmt den Geist der Lebewesen als das reine Wesen dualistischer Geistesbewegungen wahr. Das of-
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
fenbart sie. Man nennt das mit einem anderen Ausdruck auch, dass die verwirrte Wahrnehmung normal emo-
tional gefangener Lebewesen wie wir von Buddhas als reines Buddhafeld wahrgenommen wird. Und man
spricht dann davon, dass die Buddhas die Buddhafelder kultivieren. Wenn sich die Buddhas um unseren
Geist kümmern, dann sind sie dabei, ein Buddhafeld zu kultivieren – wie gute Gärtner. Und so wie gute
Gärtner das Potenzial ihres Gartens, ihres Feldes wie schon sehen können, so sehen die Erwachten in all der
Verwirrung, die wir ihnen präsentieren, das zeitlose Gewahrsein. Sie erfahren in der Begegnung mit der Ver-
wirrung der Lebewesen die Dynamik der Verwirrung als das zeitlose Gewahrsein. Für sie gibt es gar kein
Problem, sie setzen sich mitfühlend mit uns in Beziehung und sagen: „Ja, ja, das ist schwierig, allerdings
nicht so schwierig, wie du denkst. Schau mal – ein wenig entspannen, ein wenig öffnen – und du wirst sehen,
das Ganze befreit sich von selbst.“ In ihrem Geist ist es schon selbstbefreit, in ihrer Wahrnehmung gibt es
dieses Problem nicht. Es ist nur dieses Für-wirklich-Halten und sie halten auch unsere Verwirrung nicht für
wirklich. Die lassen sich nicht da reinziehen, Saṃsāra für wirklich zu halten. Das ist damit gemeint und das
ist der Freudenkörper. Das ist unglaublich tief, weil das ist die mitfühlende Weisheit, die unsere Welt der
Verstrickung in ihrer wahren Natur erkennt und schon sieht, dass all das keine Substanz hat und wir alle
Buddhas sein werden, wenn wir es nur zulassen; wenn wir es zulassen, dass sich diese nicht haftende Offen-
heit einstellt. Das ist eine wunderbare Beschreibung von dem, was ‚Freudenkörper‘ ist.
Wenn sich das reine Wesen dessen offenbart, was aufgrund von Bedingungen wie Objekte erscheint, ist
das der Ausstrahlungskörper. Etwas, das wie Objekte erscheint, das sind ja all die Erfahrungen mit Merk-
malen, die im normalen verstrickten Gewahrsein wie getrennte Objekte erscheinen. Und tatsächlich ist all
das, was da an scheinbaren Objekten auftaucht, die dynamische Manifestation des Geistes. Und das nennt
man ‚Ausstrahlungskörper‘. Ausstrahlungskörper ist ein nur vermeintliches Objekt, ist kein wirklich existie-
rendes Objekt, kein wirklich existierendes Etwas; es ist das ganze Schauspiel, wahrgenommen in seiner illu-
sorischen Natur, ohne Für-wirklich-Halten. Das ist Ausstrahlungskörper. Diejenigen, die schon viele Unter-
weisungen gelesen und gehört haben, können vielleicht schätzen, was für wunderbare, lebendige Beschrei-
bung das ist – Buddhaschaft als die drei Aspekte, die ‚Buddhakörper‘.
Teilnehmer: Können wir mal zurückgehen zu den Gärtnern?
Zu den Gärtnern? Ja gerne, ist ja auch gerade Frühling.
Die Buddhas sehen ja auch unsere wahre Natur und die Qualitäten, die wir haben. Ist es wichtig, dass diese Qualitäten von dem Buddha gesehen werden, damit sie sich überhaupt manifestieren können?
Nein, das ist nicht so wichtig. Die würden sich auch manifestieren, ohne dass ein Buddha sie sieht. Die wer-
den dadurch nicht größer oder kleiner. Was aber natürlich passiert in der Begegnung mit jemandem, der sie
sieht, ist, dass eine Übertragung des Vertrauens stattfindet. Weil die eine Person Vertrauen hat in diese Quali-
täten, werden uns die Augen geöffnet für die Qualitäten, die in uns sind und wir beginnen, ein echtes, gesun-
des Selbstvertrauen in diese Buddha-Qualitäten in uns zu entwickeln. Und das ist natürlich eine sehr frucht-
bare Bedingung dafür, dass diese Qualitäten dann auch aufgehen können, dass sie sich zeigen können. Im Grunde genommen wässern diese Gärtner unseren Buddha-Garten, indem sie ständig Vertrauen und Liebe und diese unterstützenden Kräfte in den Garten hineingeben. Der Rest wächst von selbst.
Teilnehmer: Was Du da über den Weisheitskörper gesagt hast, dieses gleichzeitige Entstehen, da habe ich immer gedacht: „She shin, she shin, she shin! (Wissensklarheit)“
Ja, aber das ist auf einer viel früheren Ebene. She shin würde man hier jetzt gar nicht benutzen. Magst du den
anderen mal sagen, was deine Frage eigentlich ist?
„She shin“ ist ein Wort, das man nur sehr schlecht übersetzen kann. Es bedeutet so etwas wie ein Wissen,
das gleichzeitig vorhanden ist, mit was immer da ist; wortwörtlich gesehen. Du übersetzt es als Wissensklar-
heit. Aber für mich bedeutet es eben auch, dass in dem Moment, wo etwas da ist, das Wissen auch da ist, was es ist und wie es ist.
Ja, der tibetische Ausdruck dafür, was du gerade suchst, ist djitar bai khyenpa. Der beschreibt die Verwirkli-
chung des Dharmakaya und nicht she shin. She shin ist eine begleitende Qualität der Achtsamkeit, die begut-
achtet, ob man alles wirklich so umsetzt, wie man es sich vorgenommen hat. Das ist die eigentliche Funktion
von she shin. Es ist also eine begleitende Qualität. ‚Achtsamkeit‘ bedeutet nicht nur, dass ich etwas achtsam
tue, sondern es kommt zusätzlich she shin, was dieses Handeln begleitet und schaut, ob es wirklich so umge-
setzt wird. Wenn sich she shin reinigt von dieser dualen Haltung, dann könnte man sagen, wird es dieses djit-
ar bai khyenpa. Aber die Begriffe werden deutlich getrennt.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Bei uns ist es eher ein „Checker“. Ein notwendiges Checken, ein Begleiter der Achtsamkeit, der sich nicht
damit begnügt, zu Anfang der Handlung achtsam zu sein, sondern während der ganzen Handlung und auch
danach noch zu schauen, ob alles so gelaufen ist, wie man sich das gedacht hat. Und dieses kontrollierende
Gewahrsein, Beobachten, das braucht ein Buddha nicht mehr.
Was ihr jetzt gerade mit diesen Fragen erlebt, zeigt euch vielleicht auch, welchen Wert Abhidharma-Studien
haben. Abhidharma ist keine Philosophie, sondern eine Zusammenstellung der Begriffe, die der Buddha be-
nützt hat, samt ihren Definitionen und wie die Begriffe zusammenhängen. Für diejenigen, die lange und in-
tensiv meditieren, ist es sehr hilfreich, sich damit zu befassen, weil uns durch ein intelligentes Studium des
Abhidharma die Augen für verschiedene Geisteszustände geschärft werden. Wir lernen, ein Vokabular dafür
zu haben; wir lernen, sie feiner zu unterscheiden. Das ist der eigentliche Sinn von Abhidharma-Studium und
nicht, dass man irgendwelche Listen auswendig lernt. Es geht darum, dass man jeden Aspekt der Listen in
seinem eigenen Erleben findet und ein Vokabular dafür hat. Generationen von Praktizierenden haben sich damit beschäftigt und die passenden Ausdrücke dafür gefunden.
Teilnehmer: Gibt es deutsche Texte davon?
Ja, Heiko hat einmal angefangen, eines zu übersetzen. Er hat die bisher beste deutsche Übersetzung vom ers-ten Band des „Kejug“ gemacht. Das ist ein Abhidharma-Werk des ersten Mipham Rinpoche.
Die Übersetzung, die es im Shop gibt, ist aus dem Englischen und hat fast keine Fußnoten. Wir haben die
Übersetzung von Heiko gemeinsam mit ganz vielen hervorragend erklärenden Fußnoten versehen. Ich möch-te dieses Projekt auch bald einmal abschließen und dann veröffentlichen.
Diese Übersetzung war in der Zeit, als Heiko aus dem Kloster kam und intensiv noch im Tibetischen veran-
kert war. Seitdem ist er eher Gärtner geworden.
Heiko: Das stimmt, es bringt unheimlich viel, sich damit zu beschäftigen. Ich kann mich erinnern, am Anfang
dachte ich, dass es viel zu schwierig ist, aber die Sachen werden dann klar. Da sind doch viele trockene Sa-chen dabei, aber wenn man da so durchgeht, dann klärt sich unheimlich viel an Verständnis.
Ja, um sich so einen trockenen Text nutzbar zu machen, ist es wichtig, jeden Aussagesatz, der darin steht, in
eine Frage umzuwandeln. Das ist der Trick. Wenn Ihr Euch trockene Dharmatexte lebendig machen wollt, wandelt Aussagesätze in Forschungsfragen um. Dann wird es spannend.
Teilnehmer: Mach mal ein Beispiel.
Ein Beispiel: „Beim Eintreten in die erste Versenkungsstufe kommt es für gewöhnlich zu einem Benennen.“
Da musst Du rausfinden: Wie ist das genau, wenn ich in die erste Versenkungsstufe eintrete? Ist da ein Be-
nennen? Ist es da nicht? Wie findet das statt? Oder eine einfachere Aussage: „Eifersucht ist keine primäre
Emotion – kein Wurzel-Klesha – sondern eine sekundäre emotionale Verschattung.“ Warum? Dazu steht im
Abhidharma: Weil in Eifersucht sowohl Begehren wie Abneigung und Unwissenheit sich vermischen. Dann
forschst Du im eigenen Geist: Wie ist das wirklich? Und dann merkst Du: „Wow! Ja, tatsächlich, stärker
noch als in reiner Begierde ist in Eifersucht erstmal noch eine dicke Portion Ärger, Hass, Abneigung meis-
tens drin...“ Und dann ist trotzdem das Verlangen, das Begehren, dann sind noch andere Schleier. Und Du
merkst, was für eine starke Mischung an Gefühlen das ist, was wir normalerweise einfach Eifersucht nennen. Und so gibt es für jeden Gefühlszustand eine Definition, es wird in primäre – Haupt-Kleshas – und sekundä-
re Kleshas unterschieden. Und es gibt Verbindungen zwischen ihnen – welches als Basis für welches dient
und welche typischen Begleitemotionen da sind. Das alles wirkt sehr strukturiert und man kann das alles er-
forschen. Das heißt sozusagen: „Ja, wieso steht das da so, da will ich doch mal schauen.“ Wenn man das so durchforscht, hat man einen richtig großen Nutzen.
Teilnehmer: Aber nicht nur einen Fragesatz machen, sondern wirklich im Geist bei Dir…
Jaja, die Frage führt dann zu einem echten Forschen.
Kann natürlich eine Weile dauern, bis man dann das Buch durch hat!
Ja, ja! Das dauert eine Weile, da darf man nicht in Eile sein. Ich habe Abhidharma zum ersten Mal 1982 von
Anagarika Munindra gelehrt bekommen und war immer wieder mit Abhidharma befasst. Ich habe das als
eine ganz reiche, inspirierende Beschäftigung erfahren. Aber es braucht Jahre, um das zu erforschen. Im
Grunde genommen wird auch der „Schmuck der Befreiung“ von Gampopa als ein Abhidharma-Text einge-
stuft. Das ist auch einer von diesen eher trockenen Texten und obwohl das ein moderater Abhidharma-Text
ist, ohne allzu viele Listen, ist es auch da notwendig, so vorzugehen, dass man sich jeden Satz durch solche
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Fragen lebendig werden lässt. Das wäre der erste Abhidharma-Text, den ich Euch empfehlen würde: „Der
kostbaren Schmuck der Befreiung“ von Gampopa. Das ist schon einmal ein guter Einstieg. Das ist das, was man braucht für die Praxis, nicht mehr.
Und wer ein lebendiges Beispiel möchte, wie wir solche Abhidharma-Unterweisungen in die Praxis umge-
setzt haben, der kann sich einen dieser Sommerkurse in Croizet von der Webseite runterladen: „Wer bin ich?
– Teil 1“ http://www.awakeningtosanity.net/ – Dabei bin ich mit der Übersetzung von Heiko die fünf Skand-
has durchgegangen inklusive der 51 Geistesfaktoren und wir haben dazu viele Meditationen gemacht. Alles
unter der Forschungsfrage: „Wer bin ich eigentlich?“. Das ist das erste große Kapitel in Mipham Rinpoches
„Kejug“, da geht es genau darum. Da sind wir im Sommerkurs unter offenem Himmel Satz für Satz durch
diesen trockenen Kommentar und haben das lebendig werden lassen. Das ist ein gutes Beispiel um zu lernen, wie das geht.
Wenn du voller Energie die Methoden übst, die aufeinander aufbauend die Qualitäten der vorberei-
tenden Übungen bis hin zur Nichtmeditation hervorbringen, dann lässt du bereits entstandene Quali-
täten nicht verkümmern sondern weiter anwachsen, dann werden sich all diese Qualitäten zeigen. Vol-
ler Eifer so zu praktizieren ist der sechste Punkt.
Das ist der Schlusssatz zu dem gesamten sechsten Kapitelchen. Herausheben möchte ich nur diese Bemer-
kung bereits entstandene Qualitäten nicht verkümmern zu lassen. Darauf sollten wir achten, dass wir Kon-
tinuität entwickeln in unserer Gewahrseinspraxis und nicht mal viel Anstrengung machen und dann wieder
lange Zeit gar nichts, sondern am Ball bleiben! Das ist wie ein Garten, wo man im Frühjahr voller Elan rein-
geht, und dann nicht weiter gießt. Die Ernte ist dann nicht überragend, man muss sich drum kümmern. Lie-
ber weniger und dafür kontinuierlich. Das ist ganz besonders auch für die, die schon mal längere Retreats
gemacht haben und Qualitäten zu spüren bekommen haben, dann aber eine Zeit in ihrem Leben kommt, wo
sie sich manchmal gar nicht mehr darum kümmern (oder kümmern können). – Da ist es ganz wichtig,
schnellstmöglich wieder anzufangen und die Praxis dann kontinuierlich aufrecht zu erhalten. Das ist das, was mir in diesem Absatz hier wichtig erscheint. Habt Ihr sonst noch Fragen dazu?
Teilnehmer: Die letztendlichen Qualitäten, wo wir am ersten Tag über Leerheit gesprochen haben, da klang
so etwas durch wie, dass es da vielleicht Qualitäten gibt, die irgendwie anders sind, also vielleicht sogar
nicht mehr oder nicht bedingt oder irgendwie letztendlich, das klang so durch.
Ja, ich glaube, ich verstehe Deine Frage und sie ist auch hier an dem Punkt angebracht. Die Qualitäten, die
jetzt in unserer Praxis entstehen – so, wie wir jetzt praktizieren –, werden sich alle noch gewaltig weiterent-
wickeln, die bleiben nicht so. Da ist noch viel reingemischt an emotionalen Schleiern und Gewahrseins-
Schleiern. Wenn man von letztendlichen Qualitäten spricht oder auch von den Qualitäten des Letztendlichen,
die ändern sich dann nicht mehr. Das sind die grundlegenden Qualitäten des Geistes, frei von allen Schleiern.
Das ist der Unterschied. Die sind auch dynamisch, aber bleiben immer gleich, weil da nichts mehr zu berei-
nigen ist. Das ist einfach so, wie der Geist aller Buddhas ist, aller Erwachten. Alle beschreiben diese Qualitä-
ten als das, was sich dann tatsächlich immer zeigt. Kannst Du was damit anfangen? Das ist die Bedeutung…
Sind die bedingt oder nicht bedingt?
Naja, die sind so bedingt, wie der Geist bedingt ist. Ist der Geist bedingt?
Teilnehmer: Wenn es überhaupt einen gibt…
Wenn es keinen gibt, ist er auch nicht bedingt. Das ist genau die Frage, denn das, was wir hier jetzt ‚Geist‘
oder ‚zeitloses Gewahrsein‘ nennen, ist nicht etwas Bedingtes. Das heißt, es ist nicht mal so und mal anders,
sondern ist immer so. In dem Sinne ist das nichts Bedingtes. Und all die schwankenden Erfahrungen, die
Vielfalt der Erfahrungen, da ist immer etwas Bedingtes. Aber diese grundlegenden Qualitäten, die sind nicht
von Bedingungen abhängig. Deswegen sagt man, das ist nicht bedingt, das sind nicht-bedingte Qualitäten.
Aber tatsächlich lassen sich weder die Qualitäten noch der Geist als etwas Fassbares identifizieren. Es ist immer dynamisches Geschehen.
Teilnehmer: Die sind ja nur auf der höchsten Ebene nicht bedingt. Wenn sie bei uns auftauchen, sind da ja auch Bedingungen, oder nicht?
Die sind jetzt schon nicht bedingt. Auch unser Geist ist in der Tiefe nicht bedingt, ungeboren, das ist jetzt
schon der Fall. Nur sind da drüber noch jede Menge Schleier, die diese Qualitäten vereinnahmen und beset-
zen und verdrehen, den samsarischen Geschmack noch beimengen. Das nennt man die zeitweiligen Schleier,
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
die das bewirken. Also eigentlich ist das Nicht-Bedingte schon immer da; das ist nicht etwas, was dann ir-
gendwie kommen würde. Es zeigt sich noch nicht in seiner ganzen Reinheit.
Teilnehmer: Was sind die Unterschiede von Dzogchen und Mahāmudrā?
Keine Ahnung. Die Unterschiede von Dzogchen und Mahāmudrā sind auf dieser Ebene nicht mehr zu finden.
Da gibt es keine Unterschiede mehr. Es gibt Unterschiede in der Methode, in der Methodik und in den Wor-
ten, die gewählt werden, um auf dasselbe hinzuweisen. Aber in der Erfahrung ist da kein Unterschied. Es gibt auch viele Lehrer, die ganz klar sagen, dass es auf dieser Ebene keinen Unterschied gibt.
* * *
Teilnehmer: Ist dieses Gewahrsein das, was auch ‚rigpa‘ genannt wird?
Ja, das kannst Du rigpa nennen. Das ist zwar jetzt nicht der Ausdruck, der hier gebraucht wird, aber rigpa ist
der identische Ausdruck aus der Dzogchen-Tradition.
Und wie würde der jetzt hier im Tibetischen genannt?
Yeshe – zeitloses Gewahrsein.
Und dann hast Du noch gesagt: Dieses Gewahrsein ist nicht bedingt, das heißt, das ist dann nicht leer?
Doch, auch Nicht-Bedingtes ist leer.
Aber das ist doch der Grund, dass etwas leer ist, dass es eben bedingtes Entstehen ist.
Da kann man es noch besser verstehen, aber selbst Nicht-Bedingtes ist leer.
Das musst Du mir erklären.
Bei Bedingtem kann man den Eindruck haben, dass es entstanden ist und wirklich existiert, weil es durch
Umstände zusammenkommt. Nicht Bedingtes hat sowieso weder Anfang noch Verweilen noch Ende und ist
nicht als Solches existent. Tatsächlich beschreiben wir mit diesem nicht bedingten Gewahrsein auch wieder nur Qualitäten, kein Ding.
Der Geist als solcher ist nicht bedingt, ist kein Ding. Also gilt auch wieder, dass er nicht fassbar ist, nicht
auffindbar. Das sind auch wieder nur Qualitäten; Erwachen besteht nur aus Qualitäten, es ist kein Ding. Es
gilt also in gleichem Maße dafür, auch wenn die Erfahrung sich ständig wiederholt und immer gleich ist. So
gilt das genauso doch dafür.
Das Gewahrsein ist dann auch eine Qualität.
Genau, ist auch eine Qualität.
Auch wenn sie ungeboren ist.
Genau.
Trotzdem aber irgendwie vorhanden, relativ.
Erlebbar, genau wie die anderen Dinge, die bedingt sind, ist auch das Nicht-Bedingte Prozess und erlebbar.
Das ist schon spannend.
Da laufen wir durch diese Worte immer wieder in Sackgassen hinein, in Vorstellungen. Das ist ein echter
Nachteil mit Worten. Wenn man keine Worte sagt, dann hat man den Vorteil, keine Fehler zu machen, aber
man erkennt dann auch viel weniger.
Teilnehmer: Was ist mit diesem Schwert der Weisheit gemeint?
Das Schwert der Weisheit, da kannst Du einfach das Wort Schwert weglassen. Das Schwert drückt aus, dass
Weisheit so etwas Klares hat, mit dem Irrtümer durchtrennt werden. Das ist ein altes buddhistisches Symbol.
Ich glaube, das findet sich auch in anderen Traditionen.
Ich wäre manchmal so erleichtert, wenn man den Dharma ohne Worte erklären könnte. Das braucht aber auf
der anderen Seite auch eine so hohe Intuition um zu erahnen, was im Geist des anderen vor sich geht oder
was für Geisteszustände das sind, dass man nur sehr wenige Leute damit erreichen kann. Es ist ziemlich
mühsam mit Worten, weil sie immer wieder zu Missverständnissen führen.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
7. Ausdauernd Mahamudra praktizieren
Basis, Pfad und Frucht, sowie Sicht, Meditation und Aktivität
In diesem Kapitel gibt uns Karmapa abschließend ein paar hilfreiche Definitionen.
In Wirklichkeit geht es nur darum, dass von jeher mit der zweifachen Reinheit Versehene [d.h. den
Wahrheitskörper] zu erkennen.
Der Dharmakāya ist mit der zweifachen Reinheit versehen. Er ist frei von emotionalen Schleiern und frei
von Gewahrseinsschleiern, also von kognitiven Schleiern. Emotionale Schleier versteht man sofort, das sind
die Filter, die sich über unsere Wahrnehmungen legen, wenn wir von einer Emotion getrübt sind. Mit Ärger
wird die Welt als feindlich wahrgenommen und und und … Gewahrseinsschleier sind diese berühmten Mus-
ter in uns, von einem getrennten Objekt, von einem Subjekt auszugehen. Das sind die typischen Ge-
wahrseinsschleier, Dinge für wirklich zu halten. Eigentlich geht es nur darum, das Sein frei von diesen bei-
den Schleiern zu erkennen.
Teilnehmer: Ist das auch ein Gewahrseinsschleier, wenn ich Dinge für nicht wirklich halte, ohne dass ich es
erfahre?
Genau, das ist auch ein Gewahrseinsschleier.
Ihr habt vielleicht schon von Basis-, Pfad- und Frucht-Mahāmudrā gehört. Basis bezieht sich auf den Aus-
gangspunkt unserer Praxis, also auf jetzt.
Basis-Mahāmudrā: Das Innewohnende [das Potential] zur Zeit der Basis [bevor mit der Praxis begon-
nen wird] wird innewohnende Natur des Geistes, Soheit oder innewohnendes Mahāmudrā genannt.
Und wird manchmal auch Buddha-Natur genannt, die allen von uns innewohnt; die wohlgemerkt auch leer
ist, nicht-fassbar. Das ist Mahāmudrā als Basis. Das ist das Mahāmudrā, das uns schon innewohnt.
Pfad-Mahāmudrā: Der Geist an sich, beginnend mit dem Eintritt in die Meditation über die Stufen
und Pfade bis hin zur zehnten Bodhisattvastufe, ist Mahāmudrā zur Zeit des Pfades.
All die Mahāmudrā-Erfahrungen, wo der Geist allmählich von Schleiern befreit wird, von jetzt an bis zur
zehnten Bodhisattva-Stufe, nennt man Mahāmudrā zur Zeit des Pfades, also Pfad-Mahāmudrā. Das ist die
zunehmend weniger verschleierte Natur des Geistes, die immer mehr sich offenbarende Buddha-Natur.
Frucht-Mahāmudrā: Ist man dann vom Schlaf mangelnden Gewahrseins erwacht und der wahre Sinn
ist offenbar geworden, dann spricht man vom Mahāmudrā zur Zeit der Frucht.
Das ist also die völlig enthüllte Buddha-Natur. Frucht-Mahāmudrā ist also die unverhüllte Soheit, die nicht
mehr verschleierten Qualitäten der Natur des Geistes. Und das Spannende hieran ist, dass in dieser Art der
Darstellung bereits offenkundig wird, dass es nichts zu erzeugen gibt.
Eigentlich sind Basis-Mahāmudrā, Pfad-Mahāmudrā und Frucht-Mahāmudrā identisch. Nur ist die Buddha-
Natur noch nicht völlig freigelegt zum Zeitpunkt der Basis und zum Zeitpunkt des Weges. Und das ist irre.
Die Botschaft ist so was von Klasse, denn sie beinhaltet: „Du brauchst nichts zu erzeugen in deiner Meditati-
on. Lass einfach alles Überflüssige weg.“ Dann zeigt sich das, was ohnehin schon ist. Das hat immense Kon-
sequenzen. Das bedeutet auch, dass – wenn etwas einfach nur freigelegt wird – es nicht konstruiert ist und
auch nicht zusammenfallen wird. Wenn Erleuchtung etwas Konstruiertes wäre, dann müssten wir immer
wieder an den Bedingungen arbeiten, damit dieses Konstruierte nicht zusammenfällt, nicht wieder verloren
geht. Während hier gilt es nur, die Muster so tiefgehend zu reinigen, dass sie sich nicht wieder verschleiernd
über das Sosein schieben, sodass also der Vorhang nicht wieder zugeht.
Teilnehmer: Aber eins muss man ja schon erarbeiten, und zwar die Geistesruhe.
Jein. Auch die Geistesruhe ist etwas natürlicherweise Vorhandenes in uns. Schon das ist einfach ein sich Be-
freien von Schleiern. Das ist so ein Irrtum zu glauben, dass man sich Geistesruhe erarbeiten müsste. Aber das
hängt damit zusammen – vielleicht erinnerst Du Dich –, dass wir zu Anfang des Weges noch so in unseren
Gewohnheiten stecken, dass alles andere uns wie Arbeit vorkommt. Aber eigentlich ist jeder Schritt in Geis-
tesruhe eine totale Erleichterung; ein Sich-Ausdünnen der Schleier, das findet da bereits statt.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Aber trotzdem arbeitet man daran, natürlich auf der Stufe der Einsgerichtetheit. Und dann bei dem Kapitel
über Hindernisse hat er gesagt, diese Hindernisse tauchen auch auf der Stufe des Einen Geschmacks auf.
Ja. Auch vorher haben sie schon keine Substanz. Tatsächlich ist Geistesruhe keine Arbeit. Toll, dass Du es
noch einmal ansprichst, weil ich möchte wirklich, dass diese Botschaft gut rüberkommt. Das ist auch meine
persönliche Erfahrung.
Geistesruhe, die auf Anstrengung beruht, klar, da kann man Einiges machen, da kann man auch Erfahrungen
haben. Das geht aber sofort wieder verloren. Zu Geistesruhe, zu der wir durch Entspannung, durch Lassen
gekommen sind, haben wir ganz leichten Zugang. Das ist das, was sich natürlicherweise zeigt, immer wenn
Menschen entspannen. Und dieses Entspannen, das ist keine Arbeit, obwohl es uns so vorkommt. Normaler-
weise – Du kennst das jetzt schon – ist unser Geist so verkrampft. Wir laufen durch die Welt wie eine ge-
schlossene Faust. Und die Arbeit an der Geistesruhe ist ungefähr so, wie zu zeigen, wie unsere Faust aus dem
Dauerkrampf rauskommt. Und das kommt uns soo anstrengend vor und der Krampf will sich [die Faust]
immer wieder schließen. Aber eigentlich arbeiten wir mit dem natürlichen Sein und mit der Zeit geht es dann
leichter. Und es geht auch nicht darum, dass die Hand jetzt irgendwie flach ausgestreckt ist, sondern es geht
einfach um natürliche Entspannung.
Das ist es, was wir in der Geistesruhe machen. Und diese Arbeit des Öffnens einer Verkrampfung kommt uns
wie Arbeit vor, weil es so etwas Ungewohntes ist. Tatsächlich sind wir dabei, einen Krampf zu lösen, und der
ist eigentlich anstrengend. Und deswegen ist Geistesruhe auch sehr stabil, wenn sie dann mal eintritt, weil sie
nichts Unnatürliches ist. Es ist nur noch ein Restkrampf vorhanden in der Geistesruhe, und der kommt durch
die mangelnde Einsicht. Den lösen wir dann auch noch auf.
Der Ansatz von Mahāmudrā, Dzogchen und ähnlichen Methoden ist, diese Methoden der Geistesruhe, die
über Konzentration laufen, wo man das Gefühl hat, eine Anstrengung zu machen, nur als allererste Methoden
einzusetzen und dann diesen Weg zu verlassen und ganz und gar auf Entspannung zu setzen.
Teilnehmer: Das ist wie die Geschichte von Guru A-Yogi. Der war so faul, dass seine Familie ihn auf den
Verbrennungsplatz gelegt hat, weil sie nicht wussten, was sie mit ihm anfangen sollten. Er hat einfach nichts
gemacht. Und dort fand er einen Meister, der ihn gelehrt hat, das zu perfektionieren.
Super.
Das wird wohl so etwas gewesen sein.
Ja, genau. Der hieß sogar A-Yogi? Super. Ihr wisst vielleicht, dass im Sanskrit „A“ die Verneinung ist, also
heißt er hier Nicht-Yogi.
Es gab auch einen anderen, der hieß Lawapa. Lawapa wollte nur schlafen. Und er hatte obendrein die Frech-
heit, sich für seinen Schlaf den Eingang zum Königspalast auszusuchen. Er lag also jahrelang schlafend vor
dem Palast und hatte auch einen Yogi gefunden, der ihm gezeigt hatte, wie man im Schlaf Mahāmudrā prak-
tizieren kann. Und eines Tages war er durch mit der Praxis, er war erwacht. Lawapa wurde dann der Lehrer
des Königs. Das ist auch eine schöne Geschichte. Lawapa, einer der Mahasiddhas.
Teilnehmer: Oder Bhusuku, der faule Sack.
Bhusuku ist der Fall von Śantideva, dem berühmten Śantideva, von dem es dieses wunderbare Buch gibt:
„Eintritt in die Praxis der Bodhisattvas oder den Weg des Erwachens“. Śantideva war Mönch in Kalkutta und
pflegte offenbar nichts zu tun und bekam im Kloster den Spitznamen Bhusuku [Faulpelz]. Er blieb einfach in
seiner Zelle und kümmerte sich um nichts. Immer wenn jemand rein kam, lag er im Bett, nichts tuend. Ir-
gendwann hatten es seine Klostergenossen so satt, dass sie sagten: „Jetzt, an diesem großen Vollmondfest,
setzen wir Bhusuku auf die Rednerliste. Der soll die Festansprache halten.“ Und sie dachten, das gibt einen
Spaß, weil er natürlich der Aufgabe sicher nicht gewachsen sein würde. Also wurde er als der einzige Fest-
redner dieses großen buddhistischen Festtages festgesetzt. Bhusuku nahm das zur Kenntnis und lag weiter im
Bett. Dann kam der Festtag und alle versammelten sich. Ich weiß nicht mehr genau, wie es war, ob man Bhusuku
extra noch holen musste oder ob er tatsächlich von selbst kam. Auf jeden Fall nahm er dann seinen Platz ein;
der König war auch da mit den Ministern und dem ganzen Hofstaat. Das war damals so. Er nimmt seinen
Platz ein und fängt an zu sprechen und lehrt das, was heute als „Bodhicaryavatara“ bekannt ist, dieses be-
rühmte Buch, das der Dalai Lama die ganze Zeit unterrichtet, „Der Eintritt in die Bodhisattva-Praxis“. Er
spricht auswendig und beim neunten Kapitel über die Weisheit beginnt er mit der Levitation und steigt im-
mer höher und seine Stimme ist immer noch deutlich zu hören, bis er auf Höhe der Palmenwipfel ist. Und
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
selbst dann hört man seine Stimme noch und dann fliegt er mit dem Ende der Rede davon. – Man geht in sein
Zimmer und findet unter der Matratze die Rede, die er gehalten hat. Das ist der berühmte „Bodhicaryavata-
ra“. Und von Śantideva war in Kalkutta nichts mehr zu sehen.
Das war Bhusuku, der Faulpelz. Vorher hatte er nichts geschrieben, wie es hieß, nur für diesen Anlass. Es
gibt noch ein anderes Werk von ihm, das „Śiksasāmuccaya“. Es heißt, dass er das später noch verfasst hat.
Wieder ein Versuch, diesmal in Mahāmudrā-Sicht, -Meditation und -Aktivität einzusteigen. Das ist eine an-
dere Dreiteilung. Die Mahāmudrā-Praxis hat drei Aspekte: Sicht, Meditation und Aktion/Aktivität. An der
Mahāmudrā-Sicht haben wir in diesem Kurs hier ganz intensiv gearbeitet.
Mahāmudrā-Sicht: Die wahre Natur des Seins zu sehen, frei von allem Erfassen und Erfasstem, frei
von Subjekt und Objekt, entspricht der Sicht.
Also hier heißt es, dass die Sicht tatsächlich bereits ein Verständnis des Seins ist. Wir haben an der begriffli-
chen, an der intellektuell verstandenen Sicht gearbeitet und so ein bisschen versucht, die direkte Erfahrung
davon zu stimulieren. Es ist also keine Sicht oder Meinung, die aufgesetzt wäre, sondern das Sehen von dem,
wie es ist.
Mahāmudrā-Meditation: Diese unabgelenkt zu üben ist Meditation.
In dieser Sicht zu verweilen, ist Mahāmudrā-Meditation.
Mahāmudrā-Aktivität: Von allem Vorsatz frei zu sein und das bei allen vier Aktivitäten aufrechtzuer-
halten ist Aktivität.
Die vier Aktivitäten sind Liegen, Sitzen, Stehen und Bewegen, also alle Lebenslagen. In allen Lebenslagen in
dieser Schau der Natur des Seins zu bleiben und frei von einem Vorsatz, absichtslos, ist Mahāmudrā-
Aktivität.
Es ist die gelebte Meditation. Es ist Meditation in Aktion insofern, als es das Weiterführen dieser vollkom-
men offenen Art des Seins in die Aktivität hinein ist. Und wenn man das fortsetzt, dann entsteht die Frucht
der Mahāmudrā-Praxis, diesmal nicht Mahāmudrā als Frucht sondern die Frucht der Mahāmudrā-Praxis.
Die Frucht der Mahāmudrā-Praxis ist, frei zu sein von Hoffnung und Furcht, wie der Angst, in
Saṃsāra zu fallen, und dem Wunsch, aufzusteigen und Buddhaschaft zu erlangen, sowie frei zu sein
von Zu-Übendem und Übendem.
Frei sein von Hoffnung und Furcht ist also die Frucht. Und auch da muss man sagen, der Weg ist die Frucht.
Mahāmudrā-Praxis als Weg ist, sich stets darin zu üben, frei von Hoffnung und Furcht zu bleiben; sich nicht
von Hoffen, also von Erwartungen, Anhaften, Streben nach irgendetwas anderem verleiten zu lassen; sich
nicht von Angst, Ablehnen und Vermeidenwollen leiten zu lassen, sondern immer im Sein zu bleiben. Das ist
der Weg. Man nimmt die Frucht als Weg. Das ist ein wichtiger Satz. Es ist typisch für Mahāmudrā und auch
für Tantra, dass man die Frucht als Weg nimmt. Die Frucht ist Buddhaschaft und im Tantra nimmt man Bud-
dhaschaft als Weg, d.h. man praktiziert sich selbst als Buddha. Man visualisiert sich selbst in Form eines
Buddhas, benutzt erwachte Rede, tritt ein in die reine Sicht, also in die Schau des Seins, so wie ein Buddha
das Sein erleben würde. Und das ist der Weg. Der Weg nimmt die Frucht voraus und beschleunigt diesen
Prozess, sodass es leichter möglich ist, die Frucht zu aktualisieren.
Der große Vorteil an diesem Weg ist, dass wir keine Selbstzweifel nähren, dass wir uns keine Beschränkun-
gen auferlegen. Wir sagen nicht: „Irgendwann einmal werde ich dann Buddha sein.“ Es geht darum, dass wir
klar verstehen, dass völlige Freiheit jetzt schon unsere wahre Natur ist; dass das, was wir Basis-Mahāmudrā
nennen oder Buddhanatur, jetzt schon in uns ist und dass – indem wir das bejahend zulassen – es viel leichter
für diese Qualitäten ist, sich zu zeigen.
Wenn man immer sagt, „Nein, ich bin das noch nicht, ich bin noch ein kleines Baby“, und denkt, dass man
irgendwann – vielleicht in einigen Leben – das mal erfahren kann, so schieben wir das immer weiter raus
und dem Hinausschieben ist keine Grenze gesetzt. Man ist ziemlich zäh darin, sich für beschränkt zu halten.
Und Mahāmudrā-Praxis – genauso wie tantrische Praxis – ist eine Einladung, aus der beschränkten Sicht von
sich selbst auszusteigen.
Das erscheint mir auch als ein wichtiger Satz: Die Mahāmudrā-Unterweisungen laden uns dazu ein, aus der
beschränkten Sicht von uns selbst auszusteigen.
Teilnehmer: Ich kann mir vorstellen, dass das so eine Sicht für das Ego ziemlich nährend ist.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Die große Gefahr ist natürlich, dass das Ego sich das einverleibt, dass man sich auf eine ichbezogene Art und
Weise mit diesen wunderbaren neuen Lehren identifiziert: Ich-Buddha. Das ist die große Gefahr, und da
muss man aufpassen. Deswegen geht man diesen Weg tatsächlich auch nicht allein, man braucht Begleitung.
Da braucht es einen Vajra-Meister oder eine Vajra-Meisterin.
Teilnehmer: Ist es nicht auch das, was im Guru-Yoga gemacht wird?
Ja, der Guru-Yoga ist der Beginn davon. Man könnte aus normaler Sicht sagen, dass wir so dreist sind, uns
mit dem Guru zu verschmelzen und uns sogar selbst als Guru zu visualisieren, wie z.B. in einigen Karmapa-
Guru-Yogas, dass wir uns selbst als Karmapa praktizieren.
Wenn das – wie zuvor gesagt – von den ichbezogenen Mustern einverleibt wird, dann geht es in Richtung
Übles, dann geht es in Richtung Anmaßung. Da muss man genau aufpassen und sich bewusst sein, dass diese
Praxis ein Bejahen des innewohnenden Potentials ist, aber nicht bedeutet, dass man bloß, weil man das jetzt
so bejaht, schon dort ist. Man muss dieses feine Gefühl dafür haben.
Teilnehmer: Ist es deswegen wichtig, dass man verschiedene Aspekte der Yidams praktiziert oder kann man
bei einer Praxis bleiben?
Man könnte auch bei einer Praxis bleiben. Verschiedene Aspekte bejahen unser Potential in verschiedenen
Formen. Wenn ich als Mann mich z.B. als weiße Tara praktiziere, so ist das total hilfreich. Ich merke, auch
diese weiblichen Qualitäten, die in weiblicher Form dargestellt werden, sind Teil der Natur des Geistes.
Deswegen ist es hilfreich, verschiedene Yidams zu praktizieren, aber man könnte auch mit einem einzigen
Yidam den ganzen Weg gehen.
Der muss dann aber sehr passend sein?
Ja, der sollte passend sein. Aber das sind sie eigentlich. Eigentlich könnte das mit jedem gehen.
Teilnehmer: Ich habe noch eine Frage zu den Aktivitäten. Wie weit ist man auf so einer Stufe wirklich in der
Lage, aktiv zu sein, in welchen Bereichen, im alltäglichen Leben beispielsweise?
Solche Meister sind super gut in der Lage, aktiv zu sein. Sie sind total flexibel, haben eine riesige Auffas-
sungsgabe und lernen unglaublich schnell auch Dinge, die sie noch nicht kennen. Man merkt diesen Meistern
und Meisterinnen an, dass sie auch den großen Kultursprung vom mittelalterlichen Tibet zum jetzigen West-
europa total gut schaffen. Ja, das sind äußerst flexible Menschen, ganz wach und beeindruckend.
Bei Gendün Rinpoche war es schon beeindruckend auf seine Art, dass er sich vollkommen hemmungslos und
mühelos unter uns bewegte, obwohl er quasi kein Wort unserer Sprache sprach.
Aber dann jemanden zu erleben wie Shamar Rinpoche, der eine ganz andere Ausbildung genossen hat und
dann auch Englisch konnte – es geht gar nicht so sehr um diese intellektuellen Fähigkeiten –, zu erleben wie
Shamar Rinpoche von einem Menschen zum nächsten wechselte, von einer Situation zur nächsten, das war
schon sehr beeindruckend. Ein unaufhörlicher Strom höchst anspruchsvoller Situationen, die er mit völliger
Gelassenheit und Fluidität lebte – ein Anruf aus Hongkong, sich direkt wieder um jemanden kümmern, des-
sen Vater gestorben ist und, und, und ... Das war für mich so etwas, was mit Mahāmudrā-Aktivität einher-
geht. Das war das Beeindruckendste, das so mitzuerleben.
Und als ich das dann im jungen Karmapa auch wieder beobachten konnte, dass er schon in jungen Jahren
diese Geschmeidigkeit des Geistes und eine unglaubliche Auffassungsgabe hatte, war ich noch einmal beein-
druckt. Aber da hatte ich mich schon ein bisschen daran gewöhnt. Das ist wirklich erstaunlich.
Große Politiker oder Geschäftsführer von riesigen Unternehmen brauchen ja auch solche Fähigkeiten, aber
die sind dann am Ende des Tages ziemlich erschöpft und das ist dann schon ein bisschen anders. Da merkt
man bei den Meistern eine größere Durchlässigkeit des Geistes.
Teilnehmer: Die Motivation ist auch da.
Ehrlich gesagt, glaube ich, diese Meister brauchen keine Motivation mehr. Die haben eine Motivation und
brauchen doch keine. Es ist so, dass die ichbezogenen Motivationen, die sie davon abhalten könnten, zum
Wohl aller zu arbeiten, gar nicht mehr vorhanden sind. Und sie brauchen sich für den Rest nicht zu motivie-
ren, eigentlich. Es ist ein Sehen der Situation, zu sehen, was es braucht und ein spontanes Darauf-Eingehen.
Sie sind gar nicht mehr auf der Ebene, wo sie eine Motivation wach halten müssten, um sich zu motivieren.
Teilnehmer: Spontanes Hervorbringen von Antworten.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Ja, spontanes Hervorbringen oder Antworten auf Situationen.
Teilnehmer: Du hast vorhin gesagt, man kann verschiedene Yidams praktizieren aber auch einen einzigen?
Wer sagt mir das? Woran merke ich, was für eine Praxis für mich gut wäre? Viele oder eine?
Mit einer anfangen.
Ja und dann?
Solange praktizieren, bis Du an die Grenzen dieser Praxis kommst. Und vielleicht mit Deiner Lehrerin oder
Deinem Lehrer dann ab und zu mal schauen, ob es einen Wechsel braucht, ob etwas anderes noch stimulie-
render, inspirierender sein könnte.
Aber wenn ich merke, dass ich selber nicht mehr weiterkomme?
Bei so einer Praxis geht man auch davon aus, dass Du regelmäßig Kontakt mit jemandem hast, der Dich be-
gleiten kann. Du merkst das nicht so leicht selber. Dein Erleben kann Dir vorgaukeln, dass es das z.B. mit
diesem Yidam jetzt gewesen wäre und Du jetzt was anderes bräuchtest. Tatsächlich steckst Du aber woanders
fest, das hängt gar nicht mit dem Yidam zusammen. Das sind in Dir bestimmte Muster, in denen Du fest-
steckst, und kaum sind die gelöst, macht der Yidam wieder total Sinn.
Meditation Es ist alles gesagt, Ihr wisst, wie man meditiert. Seid eure eigenen Gurus!
Die wichtigsten Punkte der Praxis
Es ist nötig, den Sinn von Sicht, Meditation, Aktivität und Frucht wie beschrieben zu verstehen und
sich eifrig in den folgenden Punkten zu üben. Vertraue dich mit Inspiration und Respekt ganz den
Lehrern an. [Folge wirklich ganzen Herzens weisen Menschen.] Entwickle Gelöstheit und werde frei
vom Haften an Saṃsāra und an diesem Leben. Stütze dich jederzeit auf ein unabgelenktes Ge-
wahrsein. Richte dich genügsam auf das unmittelbar Wichtige aus. Bereite den acht weltlichen Anlie-
gen, den überflüssigen Gedanken über dieses Leben wie auch dem Wunsch, das eigene Gesicht zu
wahren, gleich ein Ende. Durchtrenne vollständig das Seil des Anhaftens, das dich an dieses Leben fes-
selt, und wenn Meditation entsteht, nutze diese Gelegenheit [wörtlich: „Lasse diese nicht herrenlos“]
und wahre sie zu allen Zeiten.
Teilnehmer: Ist es dann Kontrolle, wenn es nicht herrenlos ist?
Das ist nicht Kontrolle. Herrenlos bedeutet auch im Tibetischen so etwas wie ziellos, ohne innere Ausrich-
tung. Also: „Schätze es, wenn Meditation entsteht und entspanne dich weiter so, dass es weiterhin möglich
ist. Kümmere dich darum, dass es immer wieder entsteht.“
Teilnehmer: Ist „Vertraue dich mit Inspiration und Respekt voll und ganz Lehrern an.“ das Synonym zur
Lehre? „Vertraue dich der Lehre an.“ Könnte man das so formulieren?
Ja, Du kannst das auch synonym setzen mit ‚Lehre als den Dharma‘. – Vertraue Dich dem Dharma an. Achte
aber darauf, dass Du dabei nicht geschickt den Kontakt mit menschlichen Weg-Kennern umgehst, indem Du
sagst: „Ich vertraue mich dem Dharma an, aber nicht den Lehrern.“ Da muss man sich selbst auch ein wenig
beobachten, ob man nicht dabei ist, etwas zu vermeiden. Die Lehrer haben natürlich einen Blick auf unsere
Praxis und auf unser Sein.
Im Tibetischen steht da ‚Lama’ und tatsächlich ist der Dharma einer der Lamas. Der Dharma ist auch ein
Lama, ist auch ein Aspekt des Gurus – pedja-Lama, der Lama der Texte.
Teilnehmer: Beim Haften an Saṃsāra und an diesem Leben: Ist das nicht eigentlich dasselbe auch, das Le-
ben und Saṃsāra? Oder wie ist das?
Saṃsāra geht noch ein bisschen länger als dieses Leben.
Also ist es zeitlich begrenzt an dieses Leben?
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Mit Saṃsāra sind all die samsarischen Muster, das Haften an der eigenen Bedeutung usw. gemeint. Wenn
hier von Saṃsāra die Rede ist, dann sind das erstmal auch all die Annehmlichkeiten in Saṃsāra, aber das
sind auch die samsarischen Muster. All das gehört mit dazu. Es gibt ja keinen Ort der Saṃsāra heißt, es sind Verhaltensweisen, Denkweisen.
Teilnehmer: Aber wenn das Ichanhaften weg ist, dann doch auch das Haften an diesem Leben, oder?
Allerdings. Das ist klar, das gehört insofern schon zusammen.
Teilnehmer: Würdest Du vielleicht noch zum Thema unseres alten Misstrauens der Religion gegenüber spre-
chen? Ich kenne das von mir aus dem Evangelismus. Irgendwann brach dann dieses System so zusammen,
das Vertrauen war komplett weg. Und ich merke, dass ich gegenüber Lehrern auch noch unterschwellig so
ein Misstrauen habe. Ich liebe Dich, aber wenn ich dann was sage, werde ich irgendwie nervös - und da ist
sicher ein subtiler Zusammenhang. Die Frage ist, wie weit kann ich mich öffnen, gesehen werden und dabei
trotzdem noch dieses Vertrauen haben nach dieser komischen Erfahrung aus der Religion, die mein Vertrau-
en so zerstört hat? Da ging es um diese Schuld, Sühne usw., Katastrophen wurden meist sofort bestraft. Das ist hier natürlich nicht so, das merke ich ja auch. Aber trotzdem ist da noch so ein subtiles Muster von
tief sitzendem Misstrauen: Kann ich mich öffnen? Und dieses ganze Zeug da, also auch grad den Lehrern
gegenüber, auch weil es da noch mal so steht. Kannst Du da vielleicht noch mal einen Satz dazu sagen? Es ist ja so essentiell auch, wenn ich mitkriege, wie
Dein Gefühl zu Gendün ist. So etwas gibt es ja bei uns letztendlich jetzt nicht mehr in dem direkten Kontakt
im Kleinen außer jetzt z.B. mit Dir, also mit den deutschen Lehrern, die diese Rolle einnehmen, die aus einem
ähnlichen Hintergrund aber kommen.
Als Pfarrersohn kenne ich das ja ganz gut, all diese Enttäuschung, die ich da erlebt habe. Was das angeht,
sind wir gebrannte Kinder. Da war viel Fremdbestimmung im Spiel, viel subtile Manipulation oder sehr of-
fenkundige. Und die Vorbilder waren nicht das, was sie hätten sein können, also zwischen Lehre und Verhal-
ten war ein riesiger Unterschied. Wir haben mit Religion schlechte Erfahrungen mitgebracht. Man hat uns
zum Teil überredet oder fast gezwungen zu glauben und Glaubenssätze zu übernehmen, Haltungen zu über-
nehmen.
Daraus haben wir auch gelernt uns zu schützen, und jetzt fällt es uns schwer zu vertrauen. Selbst wenn wir
Menschen begegnen, die eigentlich unseres Vertrauens würdig wären, bleibt eine gewisse Zurückhaltung. –
Nicht immer, manche von uns machen den gegensätzlichen Fehler und denken: „Ah, die sind anders!“ Dann
überspringen sie die innere Hürde und vertrauen sich total an und landen wieder bei jemandem, der auch
subtil manipuliert. Das kann auch passieren, auch im Buddhismus.
Es bleibt uns vielleicht gar nichts anderes übrig, als den sorgfältigen Weg zu gehen und die Lehrer zu testen,
zu schauen, ob sie wirklich vertrauenswürdig sind. In dem Maße, wie sie uns überzeugen, gehen wir dann
weiter hinein in die Beziehung, aber wir stellen keinen Blanko-Scheck aus. Das empfehlen auch die Dhar-
malehrer. Sie empfehlen uns, die Lehrer gut anzuschauen. Wir können viel Dharma lernen, ohne uns abhän-
gig zu machen. Wir brauchen uns nicht in irgendeiner Form abhängig zu machen.
Wenn hier auch von Hingabe oder Inspiration und Vertrauen die Rede ist, dann ist damit nicht gemeint, sich
abhängig zu machen. Und da möchte ich Euch auch ermutigen: Wenn Ihr merkt, dass Euch Lehrer oder auch
Lehrerinnen irgendwie abhängig machen, seid auf der Hut. Es ist im tibetischen Buddhismus und auch sonst
durchaus verbreitet, subtile Abhängigkeiten zu kultivieren. Und das tut niemandem gut.
Du merkst es vielleicht bei anderen Lamas auch, die von Lama Gendün ausgebildet wurden, er hat uns nie
abhängig gemacht. Er hat uns die ganze Zeit in unserer Selbständigkeit gefördert. Wenn wir so eine starke
Hingabe zu Gendün Rinpoche haben, so war das nicht eine Beziehung der Hingabe, wo wir uns aufgegeben
hätten, sondern er hat uns gebeten und aufgefordert, all unser Potential, unser Wissen, unsere Erfahrung, ein-
zubringen. Das ist schon was ganz Besonderes und es gibt nicht so viele Lehrer, die so unterwegs sind.
Und dann, wenn jemand so eindeutig non-manipulativ ist, uns nicht fremd-bestimmen will, dann kann man
sich auch mal was sagen lassen. Dann geht das auch. Dann kann man auch mal sagen: „Okay, da ich diesem
Lehrer wirklich total vertraue und keine Anzeichen dafür sehe, dass er mich für seine Zwecke missbraucht,
bin ich bereit, mal besonders hinzuhören, obwohl ich das jetzt gerade nicht verstehen kann.
Ich weiß nicht, ob Dir diese Antwort weiterhilft, aber es war aus dem Herzen gesprochen, aus meiner Le-
benserfahrung. Magst Du noch irgendwo nachhaken?
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Im Moment ist das so okay. Den Rest muss ich dann alleine anschauen, wo bei mir noch Muster sind, alte
Verletzungen, wo ich noch dran arbeiten muss.
Ein gutes Zeichen ist, wenn man sich in Kontakt mit einer Lehrerin/einem Lehrer wirklich auf Augenhöhe
fühlt und als Mensch gesehen fühlt, wirklich von Mensch zu Mensch. Mit den wirklich erwachten Lehrern
ist das so. Da ist keine Abwertung, da ist keine Distanzierung. Das sind Begegnungen von Herz zu Herz.
Wenn das so ist, danach kann man gehen.
Teilnehmer: Ich hätte eine Frage zu unabgelenktem Gewahrsein. Das beschäftigt mich schon länger, dass es
auf der einen Seite wichtig ist, loszulassen und zu entspannen, auf der anderen Seite aber das Gewahrsein
nötig ist, dass von mir zumindest so eine gewisse Anstrengung, also überhaupt da zu sein gegen das Abdrif-
ten und...
Genau. Ja, das ist sehr anstrengend. Das ist noch einmal das, was wir schon besprochen haben. Bis das Ge-
wahrsein – also Achtsamkeit, Aufmerksamkeit – von sich aus wirklich unabgelenkt bleibt, braucht es eine
gewisse Anstrengung, eine Arbeit mit den Mustern, die immer wieder dazu führen, dass der Geist wie so ein
Affe herumspringt. Das ist die Anstrengung in diesen anfänglichen Jahren der Praxis, dass wir an uns arbei-
ten und diese Muster auflösen.
Das kommt nicht von selbst.
Ja, das kommt nicht von selbst, weil unsere normale Tendenz wäre, in den Mustern einfach weiterzumachen,
die uns vertraut sind. Ablenkung ist willkommen, weil dann spüren wir nicht so viel vom Unangenehmen. Da
kommen wir um eine gewisse Arbeit nicht herum.
Und wenn Ihr diese Arbeit ausführen möchtet, würde ich Euch eine gute Mischung empfehlen. Nehmen wir
an, Ihr habt z.B. wenn Ihr abends nach Hause kommt eine Dreiviertelstunde Zeit für Praxis. Da würde ich
empfehlen, erst zu entspannen und einfach so den Tag durchlaufen lassen, ohne zu meinen, praktizieren zu
müssen. Dann eine Weile – 10 Minuten, Viertelstunde – wie die Zügel in die Hand nehmen und diese Arbeit
machen, bewusst bei der Praxis zu bleiben, und dann noch mal den Rest der Praxis einfach in dem gelösten
Sein, das bis dahin entstanden ist, verweilen und noch mal einfach auf Entspannung setzen.
Zwischendurch ist diese Phase, wo ich mache, was z.B. ein Lehrer gesagt hat: „Mach doch einfach mal täg-
lich 100 unabgelenkte Atemzüge.“ Okay, dann ist das meine Praxis und ich übe mich darin. Ich führe sie aus
und gehe danach wieder ganz gelöst, einfach so ins natürliche Sein. Und ich werde die nützlichen Auswir-
kungen dieses Trainings spüren. Das tut gut.
Oder ich schlage den Tschenresi-Text auf und verbinde die Rezitation mit der Visualisation. Ich führe die
innere Visualisation aus, ich bin ganz dabei und für eine Viertelstunde befasse ich mich ganz mit den Inhal-
ten meiner Sadhana/meiner Praxis. Und dann kommt die Phase – entweder mit Mantra oder ohne –, wo ich
mich einfach wieder nur dem Strom übergebe und mich nicht weiter konzentriere und übe. Es braucht dieses
Gleichmaß.
Ist eine Dreiviertelstunde eine sinnvolle Zeit?
Ja, unter anderen Zeiten ist sie auch eine sinnvolle Zeit. Du musst einfach schauen, was Dir gut tut. Ich hatte
die ganzen Jahre, bis ich ins Retreat ging, mir angewöhnt, morgens eine Stunde und abends eine Stunde zu
praktizieren; manchmal war es nur eine Dreiviertelstunde. Und das habe ich durch das ganze Studium, durch
all die Aktivitäten mit Politik und so irgendwie durchgezogen. Das war mir sehr wichtig und hat mir gut ge-
tan. Und in diesen Zeiten – ich kann mich noch sehr genau erinnern, da war ich ja größtenteils Vipassana-
Praktizierender – praktizierte ich diese konzentrative Zeit mit Anapanasati, also Achtsamkeit mit dem Ein-
und Ausatmen. Das war meine Praxis und das war das Schärfen der Geistesruhe.
Also erst mal den Tag ausklingen lassen oder morgens einfach sein und dann anfangen. Und dann – das fühl-
te sich so ein bisschen an wie die Präsenz ein bisschen zu schärfen – eine Viertelstunde intensiv dabei blei-
ben und ohne mir es zu erlauben, wegzuspringen von der Praxis. Da ging es wirklich darum, ganz beim Atem
zu bleiben. Später waren es dann Vajrasattva oder die Niederwerfungen, die ich noch in der Zeit gemacht
habe, als ich in der Klinik gearbeitet habe. Es geht darum, ganz dabei zu bleiben und dann kommt das ruhige
Verweilen. Das war damals Vipassana mit einer leichten Aufmerksamkeit auf die Vergänglichkeit der Phä-
nomene, auf die prozesshafte Natur der Dinge. Das hat mir sehr gut getan und es scheint auch anderen so zu
gehen, dass eine begrenzte Zeit der klaren konzentrativen Praxis den Geist gut ausrichtet und dass danach der
Geist für einige Zeit unabgelenkt bleibt, weil er vorher so gut ausgerichtet wurde.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Man kann es auch ein bisschen anders aufziehen: 5 Minuten konzentrative Praxis, 10 Minuten entspannen, 5
Minuten konzentrative Praxis und wieder so etwa 10 Minuten entspannen. Man kann es auch so machen. Das
müsst Ihr auch wirklich selber rausfinden und dann besprechen. Ihr könnt gern zu mir kommen oder zu ande-
ren Lehrern gehen und besprechen, wie es Euch damit geht. Dafür sind wir ja da.
Teilnehmer: Kannst Du bitte noch ein bisschen dazu sagen: Wie richte ich mich genügsam auf das unmittel-
bar Wichtige aus?
Genügsamkeit – wenige Wünsche, wenige Ansprüche. Und wenn wir genügsam sind, dann bedeutet das,
dass wir uns auf das unmittelbar Wichtige konzentrieren. Der tibetische Ausdruck dafür ist wie eine kurzfris-
tige Geisteshaltung, dass wir nicht so lange Pläne machen sondern einfach das, was jetzt notwendig ist und
uns damit begnügen.
Ist es noch nicht angekommen? Was braucht es jetzt noch?
Also das unmittelbar Wichtige ist das, was gerade hilfreich ist?
Du kannst ein ‚nur’ einfügen: Nur auf das unmittelbar Wichtige.
Und das ist was?
Alles, was nicht unwichtig ist. Schau mal, nehmen wir mal an, Du bist bei Dir zu Hause. Ist es jetzt wichtig,
die Fenster zu putzen und Deine Schublade aufzuräumen und den und den noch anzurufen? Nein, das ist
nicht wichtig. Das ist damit gemeint. Und Du brauchst auch nicht, weil Du schon vor drei Jahren die Woh-
nung renoviert hast, sie jetzt gerade noch mal zu renovieren. Du lässt sie, wie sie ist, bist genügsam. Klar, es
gibt schönere Dinge davon und schönere Dinge davon, aber es ist halt so, wie es ist. Zum Beispiel ziehe ich
jetzt in dieses Zimmer im Grünen Baum. Da ist noch der Schick der 70er Jahre drin. Ist es so wichtig, das
jetzt sofort alles zu ändern? Nein, ist es nicht. Stattdessen kann ich meine Zeit nutzen für die Praxis. Und das
andere kommt dann schon zu seiner Zeit, irgendwann.
Teilnehmer: Meint mit ‚das eigene Gesicht wahren’ – also dem ein Ende zu setzen – das Ego loszulassen oder
was ist damit gemeint?
„Ist der Ruf erstmal ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert.“ Das ist damit gemeint. Das gehört zu den acht
weltlichen Anliegen, wird aber hier noch etwas deutlicher gesagt als ngo sung. – Das ist das Wahren des ei-
genen Gesichtes, was gerade in Asien etwas sehr Wichtiges war. Genau das geben wir auf. Es geht darum,
sich nicht um sein eigenes Ansehen zu kümmern, auch ungeniert die eigenen Fehler zu zeigen, nichts zu ka-
schieren.
Die acht weltlichen Anliegen sind:
Lob und Tadel – gelobt werden zu wollen und Tadel zu vermeiden
Ruhm und Schmach – Ansehen und Schmach ist ein altes Wort und bedeutet so viel wie verstoßen zu
werden
Gewinn und Verlust – Gewinn bedeutet Profit, gewinnen, Sieger zu sein und Verlust, Verlierer zu
sein, Verlust einzustecken oder auch Sieg und Niederlage
Glück und Leid.
In diesen Mustern, das eine jeweils haben und das andere jeweils vermeiden zu wollen, funktioniert die Welt.
Das sind die acht weltlichen Dharmas. Das ist der Dharma, der in der Welt gelehrt wird. Das ist der Dharma,
den wir ganz oft von unseren Eltern gelehrt bekommen haben.
Teilnehmer: Wenn es heißt, die Anhaftung an das Leben vollständig zu durchschneiden, ist schon heftig.
Das ist heftig, starker Tobak. Damit ist auch das Anhaften am Glücklichsein in diesem Leben gemeint; das
schwingt da auch mit, also gar nicht so sehr auf das Glück aus zu sein, sondern wirklich auf Befreiung und
auf das, was für alle Leben dienlich ist, nicht nur für dieses.
Schweigen bedeutet, dass es jetzt klar geworden ist?
Wenn da steht, durchtrenne vollständig das Seil des Anhaftens, das dich an dieses Leben fesselt, so hat das
was mit Mut zu tun, mit mutig sein; mutig dem inneren Lama zu folgen, der Stimme des Herzens – auch
wenn wir uns dadurch Nachteile in diesem Leben einhandeln. Mit dem Seil ist hier etwas beschrieben, was
uns zurückhält, das Seil des Anhaftens. Und das geht nie in andere Leben, das ist immer etwas in diesem Le-
ben, was wir in diesem Leben noch haben wollen oder schon haben und nicht loslassen wollen.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Teilnehmer: Nicht haben wollen.
Nicht haben wollen. Genau. Das sind unsere Fesseln.
Teilnehmer: Wer definiert denn dann, was ein Nachteil ist oder woraus man sich lösen muss?
Du! Du schaust selber. Lasst es Euch ja nicht von anderen definieren!
Teilnehmer: Aber wenn ich im dualistischen Denken bin, dann verleite ich mich ja schnell, das so zu sehen.
Wie kann ich das überhaupt?
Trotzdem darf die Entscheidung nur aus Dir heraus wachsen, denn sonst bist Du gar nicht in der Lage, die
Konsequenzen zu tragen.
Teilnehmer: Was ist denn eigentlich mit Verpflichtungen anderen gegenüber? Ist das auch ‚Seil des Anhaf-
tens’?
Verpflichtungen sind wir ja ganz bewusst eingegangen und die sollten wir wahrnehmen. Verpflichtungen hält
man. Eine Mutter lässt nicht einfach ihr Kind sitzen oder ein Vater, das ist klar. Verpflichtungen unter er-
wachsenen Menschen kann man auch lösen, damit kann man neu umgehen. Aber wo eine Verpflichtung be-
steht, wird die respektiert.
Teilnehmer: Und für ein Kind gilt das auch?
Also wenn Du das Kind bist? Ja, wenn wir eine Verpflichtung gegenüber unseren Eltern haben, ist das ganz
wichtig.
Teilnehmer: Was meinst Du, also wenn man im weltlichen Leben ist, dass man irgendwo mitgeht aber für
sich schaut, wie viel Gewinn brauche ich und was kann ich abgeben? Das ist so eine feine Grenze, mit wel-
chem Maß? Wenn man weltlich lebt, muss man ja ein gewisses Stück mitschwimmen. Aber ich glaube, man
muss es mit sich selbst dann ausmachen, wo ich jetzt mal einen Schritt zurücktreten oder sagen kann, „Okay,
du hast Recht.“ Oder ist das so eine Sache für sich?
Ja, es ist Deine eigene innere Weisheit, die Dich unterscheiden lässt, was es tatsächlich braucht und was es
nicht braucht. Was Situationen angeht mit den Familienmitgliedern oder andere Verpflichtungen, da muss
man sich oft fragen: Bin ich ersetzbar? Gibt es andere, die genau diese Funktion übernehmen können oder
bin ich tatsächlich der oder die Einzige und nicht ersetzbar in dieser Verpflichtung, in dieser Rolle?
Erfahrungen und Erkenntnis unterscheiden
Davon war ja schon viel die Rede, wie wichtig es ist, dualistische Erfahrungen nicht mit Erkenntnis, mit be-
freiender Erkenntnis, zu verwechseln.
Es gibt viele Unterschiede zwischen Erfahrungen und Erkenntnis, doch kurz gesagt ist es so: Wenn es
einen Meditierer gibt, einen eigenen Geist, der meditierend Freude, Klarheit, Nichtdenken oder Leer-
heit übt oder erfährt, dann handelt es sich um [dualistische] Erfahrung. Wenn Meditierer und Medita-
tion nicht zwei sind und sich direkte Erkenntnis ohne mentale Analyse zeigt, dann ist es [nonduale]
Erkenntnis. Es ist wichtig, Erfahrungen und Erkenntnis auseinander zu halten und – ohne nach ihnen
zu verlangen oder sie für das Beste zu halten – sich zu bemühen, sie zu allen Zeiten aufrechtzuerhal-
ten.
In diesen Satz ist ein kleines Paradox eingebaut. Tatsächlich bemühen wir uns, Erfahrungen und Erkenntnis-
se zuzulassen, ohne nach ihnen zu verlangen. Es braucht also eine entspannte innere Ausrichtung, die aber
ganz klar auch ist. Es geht darum. Und dieses tschog dsin – sie für das Beste zu halten – bedeutet, ohne an
ihnen wie an einem Dogma festzuhalten als nur das und dann ein bisschen zu glorifizieren, einseitig zu wer-
den, so ein bisschen sektenhaft drauf zu kommen.
Teilnehmer: Ich habe jetzt viel über den Vogelkäfig nachgedacht und habe für mich das Empfinden, es geht
ganz viel um Gewissheit und um den sicheren Ort und gleichzeitig aber auch um die Fähigkeit, in die Unge-
wissheit rauszugehen. Und mit der Gewissheit verknüpfe ich aber auch ganz viel Erfahrungswissen. Also
irgendwie, wenn ich ins Ungewisse will, muss ich ja doch die Erfahrung irgendwie auch loslassen.
Die bereits bekannte Erfahrung?
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Ja. Ist das nicht ein Widerspruch?
Das ist ein Wagnis. Und um es leichter zu machen, sprach ich davon, dass man sich ja erstmal an den Rand
des Unbekannten begeben kann. Und das ist das Vögelchen, das schon mal so ans Gitterchen hüpft und ein
bisschen rausguckt, und dann hat´s da vielleicht eine kleine Leiter, und dann spaziert es ein bisschen runter –
auskundschaften, ein kleiner Ausflug und dann wieder zurück. Beim nächsten Ausflug dann ist das, was vor-
her unbekannt war, schon nicht mehr unbekannt. Das ist dann schon ein Teil unserer Erfahrung geworden
und wir können ein bisschen weiter gehen.
Also gibt es schon noch Gewissheit außerhalb des goldenen Käfigs?
Ich weiß nicht, ob sie außerhalb oder innerhalb, ob sie überhaupt irgendwo ist an einem Ort. Es gibt sie im
eigenen Geist.
Erfahrungen und Erkenntnis auseinanderhalten ist sehr, sehr wichtig in der Praxis. In der Praxis von Geis-
tesruhe mit diesen beobachtenden Mustern, die aktiv sind, zeigt sich natürlich auch Erkenntnis. Das ist aber
nicht die nonduale Erkenntnis, sondern es ist eine Erkenntnis, die aus dem Beobachten des Seins entsteht.
Das ist auch eine Form von Weisheit. Und es ist wichtig, die Erkenntnisse, die da entstehen, nicht für das zu
halten, was man das Sehen nennt, das befreiende Sehen von dem, wie es ist. Es ist gut, sich da klar zu sein.
Teilnehmer: Aber es ist doch richtig, dass man eigentlich selber gar nicht in der Lage ist, auch nur im Ansatz
zu erkennen, dass es das wirklich war; diesen Unterschied überhaupt zu benennen, nennen wir es nur mal
nur benennen? Im Kontakt mit dem Lehrer zum Beispiel.
Doch. Du bist dazu in der Lage. Wenn Du ehrlich mit Dir bist, dann weißt Du es. Wir wollen es nicht immer
wahrhaben, aber wir sind dazu in der Lage.
Den meisten Praktizierenden, die mit solchen Fragen, ob das, was sie jetzt da erlebt haben, bereits Erkenntnis
sei oder Erfahrung, zu mir kommen, brauche ich nur ein paar Fragen zu stellen; sie beantworten sie selber
aus ihrer Erfahrung heraus und haben dann schon die Antwort. Da brauche ich dann gar nichts mehr zu sa-
gen, weil sie ehrlich und aufrichtig hinschauen und erzählen, wie es ist. Eigentlich ist dann schon alles klar.
Es kommt selten vor, dass man jemandem das Haften an einer Erfahrung als vermeintliche Erkenntnis ausre-
den müsste. Eigentlich braucht man nur die Aufmerksamkeit für die Prozesse, die da noch aktiv sind oder
aktiv waren, zu schärfen – „Ah ja! Da ist noch ein ganzer Anteil dualen Wahrnehmens, der da mit hinein-
spielt.“ Und dann ist die Sache eigentlich klar.
Und es kann auch umgekehrt sein: Wenn man die Erfahrung nondualer Erkenntnis macht und der Lehrer
spürt das, dann testet er einen und schaut, ob man wirklich selber die Sicherheit dieses Erkennens hat. Da
muss man dann tatsächlich selber zu dem stehen können, was man erfahren hat. Es muss aus einem selbst
heraus klar sein. Auch die Erkenntnis darf nicht einfach nur eine Erkenntnis sein, die vom Lehrer bestätigt
und quasi ‚zugeredet‘ wird, sondern sie muss als eine Gewissheit aus dem eigenen Erleben kommen.
Es ist also auch eine unumstößliche Gewissheit. Gendün Rinpoche sagte damals zu mir: „Erkenntnis ist das
Sehen der Natur des Geistes. Die muss so stabil sein, dass – selbst wenn der Buddha vor dir sitzt und das
Gegenteil behauptet – du nicht ins Wanken gerätst.“
Teilnehmer: Aber andererseits ist es doch manchmal so, dass es Praktizierende gibt, die gar nicht mitge-
kriegt haben, dass sie eine Erkenntnis haben?
Ja! Das, was man Erkennen nennt, das nonduale Sein, ist so ein unauffälliges Erleben; es ist so unauffällig,
so etwas Selbstverständliches, dass es manche gar nicht mitbekommen. Aber es hinterlässt Spuren in unse-
rem Wesen, es entsteht eine gewisse Veränderung. Und so jemand wie Gendün Rinpoche kriegte das auch
mit und hat dann manchmal Praktizierende bestätigt darin: „Du erlebst das schon! Hab Vertrauen in dich.
Das ist schon da. Hör auf, dich immer mit anderen zu vergleichen, wo du meinst, die hätten das und du hät-
test das nicht. Schau, es ist schon da.“ Und ein sehr fein wahrnehmender Lehrer kann dann auch dieses man-
gelnde Selbstvertrauen ein bisschen stärken und die Zuversicht in die eigenen inneren Dimensionen etwas
nähren. Das geht auch.
Das hat schon mit dem Koch von Gampopa angefangen. Die Geschichte kennt Ihr vielleicht noch nicht.
Nachdem Gampopa bei Milarepa war, hat er sein ganzes weiteres Leben in Höhlen gelebt, genau wie Mi-
larepa. Er hat zwar große Klöster gegründet, aber selber nicht dort gelebt. Er war oberhalb von Dhagla Gam-
po, das war der Name seines großen Stammklosters, in einer großen Höhle.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Und da er viel zu tun hatte, wurde er bekocht von einem Koch, der wie ein persönlicher Assistent war. Er war
immer da und wenn es gerade nicht viel zu tun gab, hat er meditiert und kriegte immer die Unterweisungen
von Gampopa mit. Eines Tages sagte Gampopa zu ihm: „Und jetzt ist es Zeit, dass du gehst. Geh hin, unter-
richte Schüler. Du hast alles verstanden und es ist jetzt Zeit, dass du gehst. Du kannst gerne auch da und dort
ein Kloster gründen.“ – „Was?“, sagte der Koch. – „Doch, du hast es verstanden, du hast alles verstanden, es
ist alles in dir. Jetzt geh und teile es mit anderen.“ Der war einfach in einer Dienerhaltung und hatte sich gar
nicht mehr mit sich selbst befasst, wo er denn steht, was er verstanden hat. Das Verständnis war in der Ge-
genwart von Gampopa ganz natürlich in ihm entstanden.
Er ist dann tatsächlich losgezogen, ich glaube sein Name war Dharma Wangtchug. Er hat die Barom-Kagyu-
Linie gegründet, aus der Gendün Rinpoche stammt. Deswegen sagte Gendün Rinpoche zu uns immer: „Wir
sind eigentlich eine Koch-Linie.“ – Was nicht zur Konsequenz hatte, dass das Essen besser gewesen sei, son-
dern dass in unseren Drei-Jahres-Retreats die Intendanten und Köche gleich behandelt wurden wie alle Prak-
tizierenden im Retreat. In den tibetischen Drei-Jahres-Retreats waren die Köche und Intendanten außerhalb
und das Essen wurde durch eine Pforte, eine große Luke, in den Drubkhang – das Retreatzentrum – reinge-
stellt und von den Retreatlern verteilt und entgegengenommen. Die geleerten Töpfe wurden dann wieder
rausgestellt. Unterweisungen gab es nur für die, die im Retreat waren.
Gendün Rinpoche sagte: „Bei uns sind die Köche genauso Praktizierende wie alle anderen, denn schließlich
hat unsere ganze Linie so angefangen.“ Lama Tashi, den Ihr zum Teil auch kennt, war unser Koch im Drei-
Jahres-Retreat und hat vollgültig mitpraktiziert wie alle anderen auch; hat alles genauso verstanden und inte-
griert. Und er war dann auch noch Gendün Rinpoches Koch – einer von zwei Köchen. Da merkt man: Ja, die
Botschaft kommt genauso an, obwohl da eine größere Aktivität ausgeführt wird während des Retreats.
Ist jetzt allen klar, was der Unterschied zwischen Erfahrungen und Erkenntnissen ist?
Teilnehmer: Bei mir ist es zumindest so, dass ich manchmal in der Meditation spüre, wenn es in diese Rich-
tung geht, dass da weniger Beobachtung ist, also dass ich mehr in der Erfahrung bin – dass ich mich in diese
Richtung bewege. Kann man das so stehen lassen?
Ja, das kann man so stehen lassen. Alles, was in die Richtung geht, dass Du Dich selbst vergessen kannst oh-
ne in Ablenkung zu geraten, geht in die richtige Richtung.
Meditation Genauso wie es Euch gut tut. Gerade so, wie Ihr jetzt meint, wie Euer innerer Lama meint. – Diese Art zu
sein, die tut mir jetzt gerade gut. –
Die zugleich entstehende Einheit des Mahāmudrā
Zugleich entstehend bedeutet, dass die letztendliche, die eigentliche, immer vorhandene Natur des Geistes –
Natur des Seins, Natur der Phänomene – immer zugleich mit allem anderen vorhanden ist. Es ist nicht nötig,
die Leerheit irgendwo anders zu suchen, von irgendwo anders her zu importieren, die wahre Natur des Seins
ist immer zugleich vorhanden. Ob nun Verstrickung, Saṃsāra oder ob Erwachen erfahren wird, die wahre
Natur des Seins ist immer dieselbe.
Jetzt kommt ein kleiner, kurzer Exkurs zu den vier Mudras, das sind Formen der Praxis, tantrische Praxiswe-
ge.
Von den vier Mudras ist Karmamudrā [die Praxis der Meditation während der sexuellen Vereinigung] ein
Weg für Praktizierende mit weniger scharfen Fähigkeiten, der die Verwirklichung des Begierdebe-
reichs hervorbringt. [Dies ist ein Weg, der Siddhis hervorbringt, nicht unbedingt die letztendliche Einsicht].
Samayamudrā und Dharmamudrā sind Wege für jene mit mittleren Fähigkeiten, welche die letztendli-
che Verwirklichung von Akaniṣhṭha hervorbringen.
Akaniṣhṭha – Tib. Ogmin – ist der höchste reine Bereich und bedeutet, dass dort tatsächlich letztendliche
Erkenntnis verwirklicht wird und ist ein Synonym für völliges Erwachen, eventuell noch mit einer Zwi-schenstufe in Ogmin, um von dort aus dann in die Buddhaschaft zu gehen. Das weiß ich nicht so genau.
Samayamudrā ist die Tummo-Praxis und Dharmamudrā wäre eine Yidam-Praxis wie z.B. im Anuttarayo-
gatantra. Die Definition zu den vier Mudras in der Fußnote – die vier Mudras sind hier vier Wege der Praxis
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
in Verbindung mit den vier sukzessiven Ermächtigungen des Anuttarayoga – ist die offizielle Definition.
Aber tatsächlich kommt es auf die Haltung des Praktizierenden an. Es ist nicht so, dass Karmamudrā unbe-
dingt ein Weg für diejenigen mit niederen Fähigkeiten ist, sondern wird manchmal als ein Weg für die mit
höheren Fähigkeiten dargestellt, weil es dazu große Meisterschaft des Geistes braucht.
Samayamudrā ist die Praxis mit der inneren Hitze, mit Tummo, und ist eine Form der Praxis der Vollen-
dungsphase mit Merkmalen. Es wird also noch eine minimale Visualisation ausgeführt, wodurch die Arbeit
mit den inneren Energien stattfindet, und sie führt in die letztendlichen Verwirklichungen.
Dharmamudrā – Dharma im Sinne von Phänomene – ist der Weg über die Praxis mit den Erscheinungen
und bezieht normalerweise intensivere Kyerim-Praktiken ein, also die Praktiken mit Visualisation, mit den
Erscheinungen, wie zum Beispiel bei ausführlichen Yidam-Praktiken. Daran schließt sich aber immer die
Vollendungsphase an. Praktiken auf die Weiße Tara, den Medizinbuddha oder Vajrayogini sind typische Anuttarayogatantra-Praktiken, die diesem Bereich zugeordnet werden.
Samayamudrā ist aus den sechs Yogas die Praxis der meditativen Versenkung in der tiefen Meditation, und
man könnte die Praxis des illusorischen Körpers von den sechs Yogas auch dem Dharmamudrā zuschreiben.
Mahāmudrā ist hier der Weg für jene mit scharfen Fähigkeiten, die Methode, um die höchste Verwirk-
lichung hervorzubringen.
Es ist der Weg, um schon in diesem Leben bis zur Buddhaschaft vorzudringen. Mahāmudrā, so wie es hier
beschrieben und eingeordnet wird, ist ein Weg ohne zusätzliche Methode. Es ist das Verweilen in der Natur
des Geistes direkt, und dafür braucht es natürlich ganz besonders talentierte Praktizierende, weil man da
nicht mehr den Weg über die Methoden geht, während jeder andere dieser Wege auch Mahāmudrā ist, aber
eben ein Mahāmudrā mit Methoden.
Es ist nicht so, dass die anderen Mudras keine Mahāmudrā-Praxis wären, sondern sie sind Formen der
Mahāmudrā-Praxis, wo man nicht direkt in der Natur des Seins verweilt, sondern über Methoden da hinein
geführt wird. Und es ist eben wichtig, solche Methoden zu haben, weil wir für gewöhnlich nicht zu den Prak-
tizierenden mit den scharfen, den hoch entwickelten Fähigkeiten gehören.
Hier [in der Praxis von Mahāmudrā] sind Erscheinungen und Leerheit, [was in Dharmamudrā das zentrale
Thema wäre] Freude und Leerheit, [was in Samayamudrā das zentrale Thema wäre] Bewusstheit und
Leerheit, Klarheit und Leerheit untrennbar [in allen die zugleich entstehende Einheit des Mahāmudrā],
frei von den Begrenzungen komplizierender Vorstellungen.
Und jetzt schreibt Karmapa, was ich nur unterstreichen kann:
Mahāmudrā ist durch Worte nicht zu verstehen. Es ist vom Lama nicht lehrbar, nicht zu erklären und vom Schüler nicht verstehbar. [Womit ich aus dem Schneider wäre.]
Teilnehmer: Und wir auch! [Lachen]
Ihr auch. Wir sind alle aus dem Schneider und wir gehen getrost weiter.
Noch eine Erklärung zum vor letzten Satz: Erscheinungen sind all das, was im Geist erscheint; das, was wir
wahrnehmen, ein Wahrnehmen – ein Klang, ein visueller Eindruck, ein Gedanke, der auftaucht; all das nennt
man Erscheinung. Es ist nicht fassbar. Was nimmt diese Erscheinung wahr? Wie kommt es dazu? Es ist immer eine Bewusstheit zu spüren, wie ein Bewusstsein. Es ist etwas Bewusstes, Kräfte des Bewusst-
seins sind zu spüren. Auch die sind leer. Dabei ist eine Freude, Leichtigkeit, diese gelöste Qualität zu spüren. Das ist also Freude und Leerheit, was
immer an Freude oder Glückserfahrung auftaucht, Wohlgefühl – all das ist auch ohne Substanz. Und dann noch die Klarheit. Klarheit ist die Präzision, mit der wir Dinge wahrnehmen, die Leuchtkraft des
Geistes. Auch die ist ohne Substanz. All diese vier – Erscheinungen, wie Klarheit, Freude und Bewusstheit – sind präsent in irgendeinem Erleben,
sie sind immer da und alle haben sie die Natur, nicht fassbar zu sein. Das ist eigentlich, worauf wir uns in
unserer Praxis des Mahāmudrā ausrichten. Dabei ist unsere Mahāmudrā-Praxis frei von allem „Es ist das“
und „Es ist nicht das“, „Das ist es nicht.“ Wir verzichten auf das Benennen, wir sagen auch nicht, „Das ist
Mahāmudrā und das ist kein Mahāmudrā“, denn das würde sowieso nie stimmen. Zu benennen „Das ist“, ist
so, als würden wir wieder einen Gegenstand schaffen. Alle Erfahrung ist ohnehin Mahāmudrā in dem Sinne,
dass alle Erfahrungen die Natur des Gewahrseins haben, des nondualen Gewahrseins. Von daher trifft es auch
nie zu, zu sagen: „Das ist nicht Mahāmudrā“. Diese Unterscheidungen werden immer vom dualistischen
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Geist getroffen, der sich immer noch versichern möchte: „Da bin ich richtig“ – „Da bin ich falsch“, „Da
geht’s lang“ – „Da geht’s nicht lang.“ Dabei ist die Natur von allem, was erlebt wird, ob es Verstrickung ist oder nonduale Klarheit des Geistes, immer dieselbe Geistesnatur. Darum geht es in der Mahāmudrā-Praxis.
Es [Mahāmudrā] ist frei von allem „Es ist das“ und „Es ist nicht das“, es ist die nicht fassbare [leere],
aber doch erfahrbare höchste Freude, …
Man könnte höchste auch groß schreiben als Hinweis darauf, dass hier nicht eine besonders große Freude
gemeint ist, sondern die nonduale Freude. Wenn von höchster Freude die Rede ist, ist immer die nonduale
Freude ohne Mittelpunkt gemeint, ohne dass es ein Ich gibt, das sich als Zentrum dieser Freude erfährt.
… etwas Großes, jenseits vom Intellekt, das ausnahmslos alle Phänomene von Saṃsāra oder Nirvāṇa durchdringt. „
Groß ist eine Anspielung auf maha von Mahāmudrā – maha bedeutet groß. Es ist groß im Sinne von jenseits
von unserem Verstand; zu groß, um es mit dem Intellekt zu verstehen. Groß auch in dem Sinne, dass es über-
all ist. Es ist mehr als groß, es ist überall und durchdringt alles Erleben.
Als ich diese Unterweisung zum ersten Mal hörte, dachte ich, die Leerheit wäre vielleicht so in den Phäno-
menen. Vielleicht ist da Leerheit in der Tulpe, weil sie durchdringt alle Phänomene. Ich habe versucht, mir
vorzustellen, wie das sein könnte und dass die Leerheit überall ist. Tatsächlich sind alle Phänomene im Geist,
alle Phänomene sind geistiges Erleben, und die Natur dieses Erlebens ist nicht fassbar. Das ist gemeint damit.
Ihr braucht nicht zu denken, dass die Leerheit irgendwo in den Phänomenen versteckt wäre, in den Dingen,
sondern das Erleben der Phänomene ist ein nicht fassbarer geistiger Prozess, der keinen Wesenskern hat, nichts Bleibendes.
Die Schlüsselunterweisungen des Lehrers weisen darauf hin, dass alle drei – Geist, dualistisches Den-
ken, wie auch der Dharmakāya – von jeher zugleich vorhanden sind.
Geist könnte so ein Überbegriff sein; Geist als das, was alles geistige Erleben beschreibt. Dualistisches Den-
ken meint die Prozesse in Saṃsāra und Dharmakāya beschreibt die Buddhaschaft. Die drei sind schon im-mer zugleich vorhanden, sind jetzt da.
Dharmakāya ist jetzt da, die Möglichkeit des dualistischen Denkens ist jetzt da. Geist – was wir so Geist
nennen und nicht finden können – ist immer vorhanden, immer zugleich. Das heißt, der Dharmakāya, die
Buddhaschaft ist nicht irgendwo anders zu suchen als in dem, was wir herkömmlich Saṃsāra und dualisti-
sches Denken nennen. Genau in der Erfahrung von jetzt ist der Dharmakāya bereits vorhanden. Das ist tat-
sächlich so! Wir brauchen nie die Aufmerksamkeit irgendwo anders hinzulenken als ins Erleben selbst, in die
Natur des Erlebens. Da offenbart sich der Dharmakāya – immer. Er braucht nie von irgendwo anders herbei
zu kommen.
Teilnehmer: Heißt das, dass auch in einem Buddha dualistisches Denken vorhanden ist?
Ja – das heißt, dass die Möglichkeit, dualistisch zu denken, in ihm vorhanden ist, aber bei gleichzeitigem
Gewahrsein des Dharmakaya. Der Buddha kann sagen: „Hallo Svenja, wie geht’s Dir heute?“ Und du kannst
ihn zurückfragen: „Wie geht’s Dir?“ Das sieht aus wie dualistisches Denken, ist aber ohne jegliche Täu-
schung, dass ein Buddha oder eine Svenja wirklich existieren würden. Dualistisches Denken insofern, als in
Ich und Du, in Subjekt und Objekt gesprochen und gedacht wird, aber ohne ein Für-wirklich-Halten dieser
Elemente; ohne in die Täuschung zu fallen. Es ist also nicht ganz das gleiche dualistische Denken.
Wie ist das mit diesem ‚namtog‘ (dualistisches Denken) und ‚mi-togpa‘ (Gedankenfreiheit) gleichzeitig?
Es ist jetzt einfach ‚Denken‘ und kein fixierendes dualistisches Denken mehr. Da gibt es in den Texten einen
kleinen Unterschied: Namtog wird benutzt, wenn ausgedrückt werden soll, dass es sich um einen Prozess
handelt, wo noch dualistisches Greifen ist. Das Wort tog bedeutet auch ‚denken‘ oder ‚Gedanken‘. Wo tog
steht, sind beide Interpretationen möglich. Hier geht es vor allem um die Aussage, dass wir das nonduale Sein tatsächlich als die wahre Natur dualistischen Denkens erfahren können. Das ist die zentrale Aussage.
Wer dazu eine kleine Passage lesen mag: im Weisheitskapitel von Gampopas „Schmuck der Befreiung“ gibt
es eine schöne Passage, wo diskutiert wird, ob ein allbewusster Buddha noch Erscheinungen wahrnimmt,
und wie das mit dem dualistischen Denken bei einem Buddha ist. Die dort zitierte Antwort von Milarepa ist
ähnlich einfach wie die, die ich Dir gerade gegeben habe.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Wenn wir das nicht verstehen [was gerade erklärt oder angedeutet wurde], zeigen sie uns, wie sie [diese
verschiedenen Aspekte] sie jetzt in untrennbarer Einheit vermischt sind. [Wie das jetzt schon der Fall ist.]
Das wird die „zugleich entstehende Einheit des Mahāmudrā“ genannt.
Wir können uns zurücklehnen, weil uns das sowieso noch viele Male erklärt wird, wir noch viele Male damit
vertraut gemacht werden. Es ist wirklich einer der kaum zu begreifenden Punkte, dass das, was wir Bud-
dhaschaft nennen, jetzt schon vorhanden sein soll. Der Dharmakāya, die Erfahrung des Seins, so wie es ist,
dass diese wahre Natur des Seins, die wir ja so gerne erkennen würden, jetzt schon da ist, ohne dass wir sie erkennen. Das ist schwer zu begreifen. Da flippt der Intellekt ein bisschen aus.
Und tatsächlich ist es möglich. – Es passiert Menschen, dass der Geist plötzlich aufgeht und diese Dharma-
kāya-Erfahrung auftaucht. Viele, die darauf nicht vorbereitet sind, können nichts Rechtes damit anfangen.
Sie sind etwas verwundert, finden es seltsam, was das gerade für eine Pause im normalen Funktionieren war.
Sie können das dann nicht nutzen als eine Erfahrung, die wegweisend wird für einen echten Weg der Befrei-
ung, weil sie darauf nicht vorbereitet sind. Und weil es auch so unscheinbar ist, dass es gar nicht recht wahr-
genommen wird. Es wird nicht auf dieselbe Art wahrgenommen, so in den Sinneswahrnehmungen jetzt. Es
ist sehr verwunderlich, es wird eine unglaubliche Freiheit noch im Nachhinein erfahren, eine unglaubliche
Leichtigkeit, und man spürt dann: „Da war was – da war was!“ Doch was es war und wie man dahin ge-
kommen ist, ist nicht klar. Und das ist der Unterschied zu einem Weg, wo man darauf vorbereitet wird, wo
sich irgendwann diese Erfahrung einstellt, sich mehrfach einstellt und wo man weiß, wie man da hingekom-
men ist und was es braucht, um wieder dort hineinzufinden, welche Schleier aufgelöst werden müssen. Das ist der Unterschied.
Und jetzt schreibt Karmapa noch ein paar Worte zu den Mahāmudrā-Übertragungslinien, denn es gehört zu
einem Text dazu, dass man sagt, wo das Ganze herkommt.
Die Mahāmudrā-Übertragungslinien der Kagyü-Schulen
Die Linie geht von Vajradhara [von dem Urbuddha Dordje Tschang aus, den Tilopa in vielen Visionen er-
lebt und von dem er direkte Unterweisungen erhalten hat] zu Tilopa, Naropa, Marpa, Milarepa und Gam-
popa. Von diesem gingen vier Übertragungslinien aus. Aus der Übertragung von Gampopa an
Gomtsül gingen unter anderem das Schang-Kagyü-Mahāmudrā und das Barom-Kagyü-Mahāmudrā
hervor. Aus der Übertragung von Gampopa an Phamo Drupa gingen acht weitere Kagyü-Linien her-
vor: 1. Drikung-Kagyü-Mahāmudrā, 2. Taklung-Kagyü-Mahāmudrā, 3. Tschän-nga-Kagyü, 4. Marje-
Kagyü, 5. Schugseb-Kagyü, 6. Throphu-Kagyü, 7. Jazang-Kagyü und 8. die Drugpa-Kagyü, die von
Lingrä, Gyarä und anderen übertragen wurde.
Von der vierten Linie, die von Gampopa ausging, heißt es:
Besonders erwähnen möchte ich die Linie des Karma-Kamtsang-Mahāmudrā [das ist die Linie, in der
wir großgezogen wurden], die von Gampopa zum [1. Karmapa] Düsum Khyenpa und von diesem ohne
Unterbruch bis zu meinem Lama, dem allbewussten [5. Shamarpa] Köntschok Yänlag ging. Aus die-
sen Unterweisungen sind die Wärme des Segens und der Atemhauch der Dakinis noch nicht ver-
schwunden.
Sie sind also immer noch erhalten. Damit will Karmapa sagen, dass diese Mahāmudrā-Linie bis zu dem Tag,
an dem er schreibt, stets lebendige Verwirklichung hervorgebracht hat. Das ist eine Linie, die den Atem-
hauch der Dakinis, also den Atemhauch der Weisheit, der Inspiration immer noch verströmt, und Menschen inspiriert und sie tiefste Verwirklichung finden lässt.
Manchmal gibt es Linien, aus denen der Segen oder der Atemhauch der Dakinis wie verschwunden ist. Das
sind Linien, die einschlafen, die nicht mehr die Kraft freisetzen, Menschen zu inspirieren. Diese Art Übertra-
gung verläuft dann. Welche Bedingungen auch immer dazu geführt haben, aber von den obigen acht Linien,
die von Phamo Drupa ausgingen, sind heute nur noch vier aktiv. Da sind Linien zu einem Ende gekommen,
sie wurden nicht mehr fortgesetzt oder haben sich mit einer anderen Linie zusammengetan. Auch die Barom-
Kagyü-Linie, zu der Gendün Rinpoche gehörte, hat nur noch ganz wenige Vertreter. Es gibt sie noch in Tibet,
aber hier im Westen wird Barom-Kagyü fast nicht mehr gelernt, sie unterscheidet sich auch nur wenig von
Karma-Kamtsang.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Solche Übertragungslinien verschmelzen in andere, fächern sich auf, manche Äste werden einfach nicht wei-
tergeführt, weil es keine Lehrer mehr gibt, die das als ihre zentrale Übertragung nehmen. Und es ist Teil un-
serer Aufgabe – ich beziehe Euch da auch mit ein, weil Ihr tut das auch ohnehin schon – dass wir uns dafür
engagieren, das, was uns inspiriert, auch am Leben zu erhalten und weiterzugeben, so dass es für die, die
nach uns kommen, auch noch zur Verfügung steht. Das ist ein Gesamtunternehmen. Da kann jeder mithelfen,
da gehören alle mit dazu, die in einem Dharma-Projekt wie hier in Möhra ihre Energie, ihre Zeit, ihre materi-
elle Unterstützung, ihre Praxis, ihr Wissen reinstecken und dazu beitragen, dass so ein Ort erhalten bleibt und weitergehen kann.
Die von einer Generation zur anderen übertragenen Worte des gesamten Mahāmudrā haben sich weit
verbreitet und auch vermischt und sie alle haben ihre Übertragungslinie.
Mahāmudrā hat sich in Tibet unglaublich weit ausgebreitet. Es gab in Tibet zwei große Traditionen, zwei
große Linien der Meditationspraxis: Dzogchen und Mahāmudrā. Drei tibetische Linien gehören zu
Mahāmudrā, das sind die Kagyü-, Sakya- und Gelug-Linie, und die älteste Linie, die noch zur ersten Über-
setzungswelle gehört und auf Guru Rinpoche und die mit ihm verbundenen Meister zurückgeht, war die
Dzogchen-Linie, die Nyingma-Linie. In der Essenz sind sie gleich, aber in den Methoden kann man doch
deutliche Unterschiede merken.
Gendün Rinpoche hatte das Glück, auch die Dzogchen-Übertragungen zu bekommen. Er war Teil einer Fa-
milie, wo einer der Großonkel, Choggyur Lingpa, ein großer Dzogchen-Meister war. Und so hat Gendün
Rinpoche diese Linie von Choggyur Lingpa von Kindheit auf bekommen. Dazu gehören Meister wie Urgyen
Tulku oder Tsoknyi Rinpoche. Wir haben ein paar Kerntexte des Dzogchen im Retreat übertragen bekom-
men, aber unsere Praxis war immer die Mahāmudrā-Praxis. Die Methoden haben wir nicht übertragen be-
kommen, aber die Essenz von Dzogchen.
Die Quelle vieler Qualitäten, das „Mahāmudrā der zugleich entstehenden Einheit“ (Sahaja Yoga), ist
in der Welt bekannt wie Sonne und Mond.
Die Welt war Tibet [lacht] – Dsambuling. Aber soweit die Neuigkeiten gingen – also überall – war
Mahāmudrā bekannt wie Sonne und Mond.
Deshalb kann es gar nicht anders sein, als dass Erfahrungen und Erkenntnisse entstehen, wenn man
mit einer Ausdauer praktiziert „bis die Knochen auf Stein treffen“.
Das ist so ein Ausdruck – „bone meets stone“ –, der sich auf Praktizierende wie Milarepa bezieht. Ihr kennt
die letzte Übertragung von Milarepa an Gampopa: Milarepa saß so unbeirrbar und unbekleidet auf den Fel-
sen, dass er einen völlig verschwielten Hintern entwickelt hat, überall hatte er Kallus unterm Hintern. Gam-
popa war nur kurz bei Milarepa. Er hat alles so schnell verstanden, dass er vermutlich nur anderthalb Jahre
bei Milarepa war. Am Ende dieser Zeit ruft Milarepa Gampopa nochmal über den Fluss zurück, über den er
schon fortgegangen war, und sagt: „Ich habe dir noch eine letzte Unterweisung zu geben, aber ich weiß nicht,
ob du ihrer würdig bist.“ Es ging dann mehrfach hin und her und schlussendlich dreht sich Milarepa um, hebt
einfach sein Gewand und hält ihm den Hintern hin. Das ist diese Übertragung: „Praktiziere! Setz dich auf
deinen Hintern! Praktiziere!“ Diese Unterweisung würde ich Euch gerne weitergeben [Gelächter] … aber ich
habe nicht die entsprechenden Schwielen…
Also, lasst uns praktizieren. Es ist nicht so, dass der Knochen unbedingt auf dem Stein ankommen muss, aber
diese Ausdauer braucht es; viel Ausdauer, eine intensive Praxis voller Hingabe und dann ist es klar, dass die Erfahrungen und Erkenntnisse entstehen.
Der siebte Punkt ist also, so zu praktizieren.
Nachwort
In diesem Text habe ich keine Zitate verwendet [anders als im „Ozean des wahren Sinnes“] sondern
hauptsächlich durch direkte Erläuterungen in die Praxis eingeführt.
Es ging ihm also hauptsächlich darum, direkt über die Praxis zu sprechen. Das macht diesen Text ja auch so
wunderbar. Es geht mit Ausnahme dieser kurzen Schlusspassage immer um die Erfahrung, um die Praxis, immer um das, was man sonst eigentlich in den Texten gar nicht findet.
9. Karmapa, „Das Dunkel mangelnden Gewahrseins auflösen“ Lama Tilmann, Möhra 2016
Lama Rabdjam Mawa Samtän Kunga aus der Gruppe von Sam bat mich nachdrücklich um solch ei-
nen Text. Da ich, Mipham Tschöwang, Vajracara des Hauses von Schokaor, diesen Wunsch unmöglich
ablehnen konnte, schrieb ich dies während der Meditationssitzungen in Einklang mit den Worten
früherer Meister, obwohl mir selbst die Erfahrung fehlt. Zusammengefasst sind es hier 20 Lektionen
oder je nach Zählweise 22 oder 25.
Ich glaube ihm nicht so ganz, dass ihm die Erfahrung fehlt. Das sind so kleine Sätze am Schluss der Texte,
die man von tibetischen Meistern häufig hört, wo sie bewusst darauf verweisen, dass sie nichts erfunden ha-
ben, dass alles die Worte der früheren Meister sind und dass sie nichts verfälschend aus ihrer Erfahrung bei-
getragen haben. Dann kommt es bei den Karmapas manchmal zu Formulierungen, dass sie sich den „alten
Bettler“ nennen, oder den „Mönch, der nur vorgibt, einer zu sein“. Das sind Formulierungen, die dazu bei-
tragen, am Schluss eines Textes ganz bescheiden aufzuhören und zu sagen: „Ja, das sei jetzt dem Wohl der
Wesen gewidmet. Es ist nicht mein Verdienst. Was hier an Heilsamem steht, kommt aus der Übertragungsli-
nie, aus der Natur des Geistes selber, ein ‚Ich‘ hat dazu gar nichts beigetragen.“ Das ist die Grundhaltung, so können wir das verstehen.
Mögen durch die hieraus entstehende positive Kraft ich und alle anderen fühlenden Wesen, die meine
Mütter waren, von ganzem Herzen das Haften an Sinnesfreuden aufgeben [wohlgemerkt: das Haften, nicht die Sinnesfreuden – bitte nicht verwechseln!] und die Natur des Geistes sehen!
Shubha mastu sarva dja ga tāma!
Keine Ahnung, was das heißt. Vermutlich ist es eine Besiegelung des Textes mit Wünschen für das Wohler-
gehen aller Lebewesen.
* * *
Damit wären wir ans Ende der fünfjährigen Erklärungen gekommen. Ich freue mich sehr, dass wir das ge-schafft haben. Wie viele von Euch waren denn alle fünf Jahre da? Ein paar haben’s geschafft.
Und Ihr anderen dürft Euch das anhören und lesen, was an Abschriften bereits vorhanden ist, so dass Ihr
auch alles nacharbeiten könnt. Das lohnt sich wirklich. Wenn Ihr mal Retreat macht, könnt Ihr diese Ab-
schriften mitnehmen und damit praktizieren, oder zu Hause allmählich durcharbeiten. Das ist noch einiger-
maßen überschaubar. Das ist nicht so umfangreich. Es wäre aber gut, wenn Ihr, da Ihr nicht da wart, diesen
Text und diese Abschriften in engem Kontakt mit Dharmalehrern studieren würdet, damit Ihr Fragen klären
könnt, so wie wir auch jetzt während des Kurses immer wieder Fragen klären konnten. Das gehört einfach
mit dazu. Da muss man mit sich selbst so aufrichtig sein und sagen: „Ich war nicht dabei. Ich denke zwar, ich
verstehe es, aber ich würde gerne sicher sein und frage mal jemanden, der mir darauf antworten kann.“
Widmung
ENDE