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Mathias Kruse

Literatur als Spektakel

Hyperbolische und komische Inszenierung des Körpers in isländischen Ritter- und Abenteuersagas

Herbert Utz Verlag · München 2017

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Münchner Nordistische StudienBand 30

Ebook (PDF)-Ausgabe:ISBN 978-3-8316-7269-1 Version: 1 vom 02.12.2016Copyright© Herbert Utz Verlag 2017

Alternative Ausgabe: SoftcoverISBN 978-3-8316-4588-6Copyright© Herbert Utz Verlag 2017

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Mathias Kruse

Literatur als SpektakelHyperbolische und komische Inszenierung des Körpers in isländischen Ritter- und Abenteuersagas

Herbert Utz Verlag · München

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Münchner Nordistische Studien herausgegeben von

Annegret Heitmann und Wilhelm Heizmann

Band 30

Titelbild: Flateyjarbók GKS 1005 fol 79r

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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auszugsweiser Verwendung – vorbehalten.

Copyright © Herbert Utz Verlag GmbH · 2017

ISBN 978-3-8316-4588-6

Printed in EU

Herbert Utz Verlag GmbH, München089-277791-00 · www.utzverlag.de

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Vorwort

Ziel der vorliegenden Studie, die sich mit den auch als lygisögur be-zeichneten, in Island entstandenen Ritter- und Abenteuersagas be-fasst, ist der Versuch einer Rekonstruktion der Rezeptionsbedin-gungen im Zeitraum der Entstehung des Genres, im ›Norwegi-schen Jahrhundert‹ Islands (ca. 1262-1412). Ausgehend von dem Be-fund einer augenscheinlich von Hyperbolik gepägten Art der Dar-stellung von Gewalt, wie sie insbesondere die zahlreichen enthalte-nen Kampfschilderungen der betrachteten Werke prägt, verbunden mit der Inszenierung gewaltiger und grotesker Körper, die im Kampf (wie auch abseits der Kämpfe) agieren, liegt das Augenmerk hierbei auf dem per Definition mit dem Phänomen der Hyperbolik verbundenen Aspekt der Glaubwürdigkeit des Erzählten. Im Zen-trum steht die Frage, welches »Texterlebnis« die lygisaga dem Rezi-pienten im Island des Spätmittelalters zu bieten vermochte und in welchem Umfang die dargestellten Körper und ihre in jeder Hin-sicht »gewaltigen« Taten glaubwürdig, oder übertrieben, gar ko-misch erschienen.

Angesichts des vergleichsweise geringen Bekanntheitsgrades vie-ler der behandelten Werke, die modernen Anforderungen genügen-de Editionen (geschweige denn Übersetzungen) in vielen Fällen vermissen lassen, ist auf Abschnitte deskriptiver Art nicht zu ver-zichten. So bietet die Untersuchung zugleich eine Bestandsaufnah-me der Kampf- und Schlachtenschilderungen isländischer lygisögur, deren Wesensart es zu ergründen gilt.

Um die Lesbarkeit schließlich auch für eine nicht mit dem Altis-ländischen vertraute Leserschaft zu gewährleisten, wird (außerhalb der Fußnoten) für jedes Zitat eine Übersetzung angegeben. Ist kein Übersetzer angeführt, stammt die Übertragung aus eigener Feder. Der für das Altisländische charakteristische Wechsel des Tempus wurde in diesem Fall beibehalten. Siglen und Datierungen der mit-telalterlichen Handschriften folgen den Angaben des ONP. Dabei sind die angegebenen Datierungen als Näherungswerte zu verste-

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hen, die in erster Linie der groben zeitlichen Einordnung der ent-sprechenden Handschrift dienen.

Die Studie, die im Rahmen der Beschäftigung als Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Nordischen Institut / Institut für Skandina-vistik, Frisistik und Allgemeine Sprachwissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel entstand, wurde im November 2015 als Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophi-schen Fakultät an der Universität zu Kiel eingereicht und im Mai 2016 verteidigt. Ihr Entstehen verdankt sie nicht nur der Geduld von Prof. Klaus Böldl, dem dafür (und für vieles andere) besonderer Dank gebührt, sondern auch dem angenehmen Arbeitsumfeld am ISFAS (alle Kollegen und Möwen eingeschlossen), wo mit Laufey Guðnadóttir, Magnús Hauksson und Elsa Björg Diðriksdóttir auch kein Mangel an tatkräftiger Hilfe mit den Tücken des (Alt-)Isländi-schen bestand. Zu danken ist auch Prof. Wilhelm Heizmann, nicht zuletzt für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Münchner Nordistischen Studien.

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Inhaltsverzeichnis

I. Das »Spektakel des Körpers« ...................................................... 9

1. Befund: Schlachten, lange Nächte und vier Riesen namens Rúnga ........................................................................................ 9

2. Diagnose: Literatur als Spektakel – und eine Frage des Glaubens ................................................................................... 28

2.1 Hyperbolik, Komik und das Überschreiten zweier Grenzen ....... 30

2.2 Fragestellung und Methode: »Texterlebnisse« mittelalterlicher Rezipienten ...................................................................................... 45

II. Der geschichtliche Rahmen: Island im ›Norwegischen Jahr- hundert‹ (1262-1412) ................................................................... 56

1. Verlust der Unabhängigkeit und gesellschaftlicher Wandel . 56

1.1 Zwischen Isolation und Partizipation – eine Insel in Randlage . 60

1.2 Das 14. Jahrhundert als Jahrhundert der Krise? ............................ 72

2. Zwei Kulturen? Zum Literaturbetrieb im spätmittelalterli-chen Island ............................................................................... 80

2.1 Literarische Vielfalt zwischen Tradition und Innovation ............. 86

2.2 prestar ok bœndr – Laien, Geistliche und Literaten ....................... 91

III. lygisögur – Isländische Ritter- und Abenteuersagas .......... 108

1. Genrefindung: Terminologie und Gattungsgrenzen ........... 108

2. Stimmen aus zehn Jahrhunderten: Das Urteil der Rezipi-enten ....................................................................................... 116

2.1 fabulae? Fiktionsbewusstsein und Eskapismusdebatte ............... 120

2.2 Verfall und Vulgarisierung? Genreentwicklung und Forschungs geschichte ....................................................................................... 129

3. Korpusfindung: Zuordnung und Definition ...................... 140

3.1 Textkorpus lygisaga – und die Problematisierung des Textbe-griffs ...............................................................................................143

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3.2 Jenseits des Korpus: Prä- und Referenztexte und ihr Beitrag zum »Texterlebnis« ........................................................................ 154

IV. Die Inszenierung des Körpers im Kampf ............................ 166

1. Kämpfende Körper: Ein Schauspiel ohne Schmerz ............. 166

1.1 Schlachtenschilderungen: Konventionen und Darstellungsva-rianten ............................................................................................ 168

1.2 Getöse und Blut: Die Hyperbolik des Massenkampfes ............. 188

1.2.1 gný ok vápnabrak: Die »Sinnlichkeit« des Kämpfens .............. 195

1.2.2 fellr hverr um þveran annan: Berge von Leichen und Bäche von Blut ..................................................................................... 215

1.3 Fragmentierung des Körpers: Hiebe und Wunden ..................... 235

1.3.1 kljúfa e-n at endilǫngu: Gewaltige Hiebe und ihre Wirkung . 241

1.3.2 ok af honum báða þjóhnappana: Groteske Verletzungen ....... 274

2. Groteske Gestalten: Große Helden und gewaltige Gegner . 298

2.1 Können und Kraft: Körperliche Exorbitanz ............................... 303

2.1.1 tólf karla afl: Gewaltige Kräfte ................................................ 307

2.1.2 sem fugl flýgi: Athletik und Schnelligkeit ................................ 326

2.1.3 allra sverða bezt: Außergewöhnliche Ausrüstung ................... 340

2.1.4 mjǫk hamrammr: Magische Kräfte ......................................... 359

2.2 líkari trǫllum en mǫnnum: Die Riesenhaftigkeit der Vorzeit ...... 393

2.2.1 Belustigungen: Von Glocken und Zähnen ............................ 402

2.2.2 Beweise: Von Zeugnissen und zeitgenössischen Zwergen ....413

2.2.3 Begegnungen: Von halben und ganzen Riesen ..................... 432

2.2.3.1 Kinder zweier Welten ........................................................ 435

2.2.3.2 Riesen und Sámi ................................................................. 453

2.2.3.3 Die Doppelnatur des Helden ............................................. 456

2.2.4 Begrifflichkeiten: Von echten und falschen Riesen .............. 466

2.2.4.1 Der Held als (vermeintlicher) Troll ................................... 468

2.2.4.2 trǫllskapr: Zum Signifikat des Signifikanten trǫll ............. 482

2.2.5 Bestien: Von schwarzen Teufeln und Tieren ....................... 500

2.2.5.1 »black monster figures«: Riesen, Berserker, blámenn ...... 503

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2.2.5.2 Ästhetisch und menschlich deformiert: Tiergestalten – Tierverhalten ........................................................................ 525

2.2.5.3 Die Doppelnatur des Ungeheuers ..................................... 559

2.2.6 Beschreibungen: Von breiten Hinterteilen und Pferdeladun-gen von Fleisch ......................................................................... 581

V. Fazit: Wunder der Vorzeit im Dienste der Unterhaltung ... 611

1. Verdächtige Fiktion: Ab wann ist die Wahrheit überschrit- ten? .......................................................................................... 611

2. Fern und fremd: Die Faszination der (gewaltsamen) Insze-nierung des Körpers .............................................................. 633

2.1 Gewalt-Spektakel in Mittelalter und Moderne ........................... 635

2.2 Körper-Spektakel auf »Glashimmel«, Pergament, Papier und Marmor .......................................................................................... 654

Anhang ........................................................................................... 677

Aufstellungsverzeichnis .............................................................. 677

Bibliographie ................................................................................. 678

Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen.............................. 678

Verzeichnis der verwendeten Siglen .......................................... 679

Primärliteratur ............................................................................. 682

Sekundärliteratur ......................................................................... 691

Bildnachweise .............................................................................. 731

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I. Das »Spektakel des Körpers«

1. Befund: Schlachten, lange Nächte und vier Riesen namens Rúnga

»Die Evangelien machen keinen Spaß.«

Isländische Redensart1

Als Herzog Sintram von Venedig erkennen musste, dass er die lan-ge Reise ins Reich der Tartaren2 vergebens angetreten hatte, da Kö-

1 »Ekki er gaman að guðspjöllunum [...].« Jón Árnason, Árni Böðvarsson u. Bjarni Vilhjálmsson (Hg.) 1954, S. 493. 2 Das Reich der Tartaren oder Mongolen (Tartaria, Tartararíki), deren Expansion im 13. Jh. die Ostsee, Ungarn und das Heilige Land erreichte und die nach Vorstel-lung zeitgenössischer Chronisten mit den Völkern Gog und Magog in Verbindung gebracht und dem Namen nach dem Höllenschlund des Tartaros entstiegen schie-nen, stellt in den isl. Ritter- und Abenteuersagas eines von vielen Wunderländern des Ostens dar und ist in einem Atemzug zu nennen mit dem »Land der Hunnen« (Húnaland), Griechenland (Grekland, Grikkland, Grecia), Byzanz (Miklagarðr) oder Indien (India, Indialand). So verzeichnen isl. Annalen zwar historisch korrekt etwa die Auseinandersetzungen in Ungarn 1241 nach der Zerstörung Kiews (vgl. Ann-Reg 131, AnnSk 189) und lassen auch ein Bewusstsein für die (für das christliche, westliche Europa) positiven Aspekte der mongolischen Expansion erkennen, in-dem sie wiederholt von den Siegen der Tartaren über das Heer der Sarazenen im Heiligen Land berichten (vgl. die Einträge zu den Jahren 1277 (AnnVet 50, Ann-Reg 140, AnnSk 195, AnnL 259 u. AnnFlat 540), 1299 (AnnVet 52, AnnReg 145 f., AnnFlat 545) und 1306 (AnnReg 148, AnnSk 201)), während die Hákonar saga Há-konarsonar von der Bedrängung der russischen Fürstentümer bis hinauf an das Weiße Meer und der Aufnahme von Flüchtlingen in Norwegen (vgl. Flateyjarbók, Bd. 3, S. 182, 187 u. 232) und die Árna saga byskups gar von einer Gesandtschaft des »Tartarenkönigs« an den Hof des norweg. Königs Eirík Magnússon (†1299) im Sommer 1286 zu berichten weiß (Árna saga byskups, S. 135; vgl. AnnVet 50 f., Ann-Flat 541), doch ist das Mongolenbild der sma. Ritter- und Abenteuersagas weniger an den hist. Fakten ausgerichtet: Zwar tritt man auch hier als »Tartarenkönig« als mächtiger Eroberer auf, doch führen die Feldzüge bis in das »Land der Sachsen« (Saxland), bis nach Spanien (Spaníá) und an die Küsten Afrikas (Affríka, Bláland), wo man nach trojanischem Vorbild karthagische Prinzessinnen entführt, die den Namen (H)Elena tragen, während die Tartaren unter den Namen Agamemnon,

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nig Flóres ihm die Hand seiner Tochter Elena verweigerte, fühlte er sich tief gekränkt. Auf Drohungen ließ er bald Taten folgen und so begann er, in seine Heimat zurückgekehrt, mit Unterstützung seiner Brüder Reinald und Bertram eine Streitmacht zu sammeln, die in der Lage wäre, dem König der Tartaren die Stirn zu bieten und ihm die Tochter mit Gewalt zu entreißen. Von Venedig aus setzte er seine Truppen schließlich nach Osten in Bewegung und näherte sich Traktia3, der Hauptstadt der Tartaren. Während sich in Sintrams Heer drei junge Ritter befanden, die jeden anderen sei-ner Streiter bei weitem übertrafen und die ohne es zu wissen Brü-

Menelaos, Flóres oder Eskupart als riesenhafte Ritter und (dem Vorbild der chan-sons de geste folgend) selbst als heidnische »Mohammedaner« erscheinen (vgl. Fló-ress saga konungs ok sona hans, Rémundar saga keisarasonar u. Gǫngu-Hrólfs saga). So können ihre Herrscher auch jungfräuliche Königinnen sein, die gegen übelwollen-de Fürsten aus Indien verteidigt werden müssen (Ála saga flekks), oder ihre Prin-zessinnen werden von Riesen entführt und müssen befreit werden, ehe sie einem vorbildlichen holsteinischen Adeligen zur Frau gegeben werden können (Sigurðar saga þǫgla). 3 Vgl. Kreutzer 1998,1, S. 354: »Wahrscheinlich ist mit Traktiá ›Tracia‹ gemeint, obwohl es hier als Stadt bezeichnet wird. Tracia wird u.a. in der Snorra Edda und auf der Großen Mappa mundi von ca. 1250 genannt (zwischen Grecia und Constan-tinopolis) [...].« Ähnlich vage Verortungen finden sich auch in anderen Ritter- und Abenteuersagas. So liegt das Land Tattaríá, in dem König Hertryggr bzw. Tryggvi herrscht, der Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana zufolge irgendwo im Osten, »in Russland (Rússía) [...] zwischen dem Land der Hunnen (Húnaland) und dem Reich der Rus (Garðaríki)« (EgÁsm 1f. u. 81), während auch die Gǫngu-Hrólfs saga es als angrenzend an Garðaríki beschreibt und von großem Reichtum und der herausragenden Größe und Kampfkraft seiner Bewohner zu berichten weiß (GHr 284: »Tattararíki er eitt kallat mest ok gullauðgast í Austrríki, þar eru menn stórir ok sterkir ok harðir til bardaga.«). Eine »genaue« Beschreibung der teils fantasti-schen Länder des Ostens bietet auch die Þjalar-Jóns saga. Ihr zufolge liege östlich von Nowgorod (Hólmgarðr) das Land Galizien (Galizia), »im Norden aber Kiew, Russland, Karelien, das Land der Riesen, das Land der Kvenen, das Land der Ein-füßler, das Land der Kleinwüchsigen und manch andere kleinere Länder, und viele Könige beherrschen diese Reiche. All dies nennt man das Reich von Nowgorod, mancher aber nennt es auch das Reich der Tartaren [...]« (ÞJ 12: »Enn austr af lan-dino er Galizia, enn nordr af Kæno gardr ok Ruza land, Kiri\la land, Risa land, Kuenland, Einfætinga land, Smarra manna land ok mỏrg onnur smalỏnd, ok mar-ger kongar ero yfer þessum rickium. Er þetta kallat Holmgarda riki allt vm leingra, enn sumer kalla Tartara riki [...]«).

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der waren und Söhne des gegnerischen Königs, die dieser mit seiner ersten Frau gezeugt hatte, ehe sie im Nebel Schiffbruch erlitt und die Kinder verschwanden – in Unkenntnis der ihnen bei ihrer Ge-burt verliehenen Namen nannten sie sich Únus, Sekúndus und Ter-tíus –, gab es auch auf der Gegenseite, die nicht unvorbereitet ge-blieben war, schreckliche Kämpfer. König Filipus von Schwaben4, Flóres’ Schwiegervater, und Graf Ríkarð von Nowgorod, Flóres’ Onkel, waren mit ihrer Streitmacht den Tartaren zu Hilfe geeilt, und im Heer aus Nowgorod befanden sich zwölf Berserker, denen Eisen nichts anhaben konnte. Diese »heulten wie Hunde, und nie-mand verstand ihre Sprache, und ihr einziges Vergnügen war es, Menschen zu töten«5, wie der unbekannte Urheber der Flóress saga konungs ok sona hans seine Zuhörer und Leser wissen lässt.

Als alle Abteilungen in Stellung gebracht waren, begann die Schlacht. Kriegshörner erklangen und die Schlachtreihen stießen aufeinander. »Da konnte man gewaltigen Lärm und Waffengeklirr hören. Man konnte sagen, dass alle Länder des Ostens zu erbeben schienen, und für eine lange Zeit des Tages sah man vor lauter Ge-schossen den Himmel nicht.«6 Als die ersten Anführer aufeinander-trafen, »konnte man gewaltige Hiebe und viele Gefallene sehen.«7 Ríkarð von Nowgorod schlug wütend nach Herzog Reinald und »spaltete ihm Leib und Brünne, so dass der Hieb erst vom Sattel aufgefangen wurde.«8 Im Schlachtengetümmel konnte man »manch mutigen Mann aus dem Sattel stürzen und manch Ross ohne Rei-

4 Sváfa, die an. Bezeichnung des Herzogtums Schwaben (lat. Suevia), das bis 1268 bestand; vgl. Metzenthin 1941, S. 102 f. 5 FlórKon 143: »Meðr honum váru XII berserkir; á þá bitu eigi járn; þeir grenjuðu sem hundar, ok skilði engi þeirra mál, ok engi var þeirra skemtan utan at drepa menn.« 6 FlórKon 145: »Mátti þar heyra mikinn gný ok vápnabrak; mátti svá at kveða, at ǫll Austrlǫnd þótti skjálfa, ok var þat langa stund dags, at ekki sá himin fyrir sko-tum.« 7 FlórKon 146: »[...] ok mátti þar sjá stór hǫgg ok mikit mannfall.« 8 Ebd.: »Hann hjó af mikilli reiði til hertugans ok klauf búkinn ok brynjuna, svá í sǫðlinum nam staðar.«

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ter sehen«9, doch unbeeindruckt nahm Tertíus Rache, spaltete den Schild Ríkarðs, der aus sieben Lagen Elfenbein bestand, und schnitt ihm den Leib auf, »dass Lunge und Herz ins Gras fielen, der Graf aber tot vom Pferd.«10 Andernorts konnte Herzog Bertram König Flóres eine schwere Wunde schlagen, doch schlug dieser »dem Her-zog einen so gewaltigen Hieb quer über die Schultern, dass es den Herzog mitsamt all seiner Rüstung in zwei Teile spaltete und Sattel und Pferd dazu, und er fiel tot zu Boden.«11 Lautes Kampfgeschrei erhob sich und auch aus dem Flügel, an dessen Spitze sich Sintram befand, war nun Lärm zu hören. Mit aller Kraft hieb dieser »nach Männern und Pferden« und sandte Únus aus, nach Bertram und König Flóres zu sehen:

Þarf nú eigi at eggja hann, því hann er nú líka sem þá vargr kemr í sauðadun. Støkkr nú allt undan honum, ok mœtir hann nú merkismanni Flóres konungs; sá hét Rúngá, níu alna hár. Únús hræðiz ekki hans miklu hæð, heldr hleypr hann í mót honum, ok leggr hvárr til annars, ok misti risinn Únús, en Únús lagði neðan undir skjǫldinn. Þetta lag kom í sǫðulbogann, ok nisti hann svá risann í sǫðlinum. Risinn brá við hart, svá spjótit brotnaði; en Únús hjó hǫnd af honum en hǫfuðit af hestinum, ok fell á jǫrð allt saman, ok varð þá dykr mikill. Ok nú kom í mót honum Fló-res konungr ok IIII berserkir, ok hefir hann nú nóg at vinna.12

Nun braucht man ihn nicht erst anzutreiben, denn schon wütet er wie ein Wolf in der Schafherde. Alles läuft nun vor ihm da-von, und er trifft auf den Bannerträger des Königs Flóres. Der hieß Rúnga und war neun Ellen [ca. 4,50 m]13 hoch. Únus macht

9 Ebd.: »[...] ok mátti þar sjá margan vaskan mann af baki falla ok margan hest lau-san hlaupa.« 10 FlórKon 147: »En blóðrefillinn nam brjóstit ok reist sundr brynjuna ok búkinn, svá at lungun ok hjartat fell í gras, en greifinn fell dauðr af hestinum.« 11 Ebd.: »[...] því hjó hann um þverar herðar hertugans svá mikit hǫgg, at hertugann tók í sundr með ǫllum hertygjunum ok svá sǫðulinn með hestinum, ok fell hann dauðr til jarðar.« 12 FlórKon 148; Kreutzer (Übers.) 1998, S. 93 f. Der Text folgt in der gesamten Schlachtenschilderung der Handschrift AM 343 a 4° (ca. 1450-1475). 13 Zur isl. Elle, die vom 13. bis zum 16. Jh. einer Länge von etwa 49 cm entspochen haben dürfte, vgl. Ólsen 1910. Der Einfachheit halber soll im Folgenden stets von 0,50 m ausgegangen werden.

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sich vor seiner Größe nicht bange, sondern läuft ihm entgegen, und jeder stößt nach dem anderen. Der Riese verfehlte Únus, aber dieser traf ihn unterhalb des Schildes. Der Stoß drang in den Sattelbogen und nagelte den Riesen im Sattel fest. Der Rie-se stemmte sich heftig dagegen, so dass die Lanze brach, aber Únus hieb ihm den Arm und dem Pferd den Kopf ab, und alles zusammen fiel auf den Boden, und es gab ein großes Gepolter. Jetzt kamen ihm König Flóres und vier Berserker entgegen, und er hatte nun alle Hände voll zu tun.

Auch Tertíus, dessen Arme inzwischen blutig waren »bis zu den Schultern«, sah sich einigen Berserkern gegenüber, spaltete einen Gegner der Länge nach und schlug einem anderen mit solcher Wucht auf den Helm, »dass ihm beide Augen herausflogen, er vom Pferd fiel und sich den Hals brach.«14 Wer es mit Sekúndus zu tun bekam, dem erging es ähnlich: Nachdem dieser einen weiteren Ban-nerträger des Gegners mitsamt Pferd in zwei Teile gespalten hatte, schlug er einem Berserker den Schädel ein, »dass ihm das Hirn zum Mund herauskam.«15 Erst als seinem Pferd das Rückgrat gebrochen wird und er seine Waffen verliert, wendet sich das Blatt. Letztlich kann auch er, der mit bloßen Fäusten noch vierzig Gegner tötet, es nicht verhindern, überwältigt und gefangengenommen zu werden – ein Schicksal, das bald auch seine Brüder ereilt.

Als die Gefangenen nach verlorener Schlacht beisammen sitzen, ist es Sintram, der – ebenfalls in die Hände des Gegners gefallen – schon bald das Wort ergreift:

14 FlórKon 149: »[...] ríðr hann nú framm ok hefir báðar hendr blóðgar til axla, ok klofinn er nú hans skjǫldr. Kómu nú í mót honum III berserkir ok C riddara; ok nú høggr hann til þess kappa, er næstr honum var, á ǫxlina, ok klauf hann í sundr at endilǫngu. Annarr berserkr leggr til hans með spjóti, en hann greip í móti ok hristi svá hart, at sundr gekk spjótit, ok reiðir upp þann hlutann, sem hann hafði, ok rekr á hans hjálm, svá út flugu bæði hans augu, en hann datt af hestinum ok brotnaði á háls.« 15 FlórKon 150 f.: »Þat var svá þungt hǫgg, at hann klauf bæði hestinn ok manninn: [...]. Koma nú at honum báðir berserkirnir. Hann høggr til annars með øxinni, ok kom í hǫfuðit, en hann var svá magnaðr, at ekki beit, en þó brotnaði haussinn í mo-la, svá heilinn fell framm um munninn.«

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»Góðir drengir!« sagði hann, »lǫng mun oss þykkja nóttin, ef vér þegjum. Tǫlum heldr keski nǫkkura. Væri mér forvitni á at vita, hvat drengjum þér værið eðr í hverjar þrautir þér hafið komit.«16

»Gute Männer!« sagte er, »die Nacht wird uns lang vorkommen, wenn wir schweigen. Lasst uns lieber etwas Lustiges erzählen. Ich wäre neugierig zu erfahren, was für Männer ihr seid und in welche Abenteuer ihr geraten seid.«

Spätestens als Sintram selbst nun den Anfang macht und davon be-richtet, wie er einst zwei Tage lang bis zu den Schultern im Schlund eines Drachen steckte, ehe König Þiðrekr von Bern erschien und ihn aus dieser misslichen Lage befreite, dürfte ein mit der Über-lieferung vertrauter Zuhörer, der einem Vortrag der Flóress saga lauschte, erkannt haben, dass dieser Herzog von Venedig ihm durchaus kein Unbekannter war. Er zählte zu den Recken, die sich am Hofe Þiðrekrs von Bern versammelt hatten, und war ein Neffe zweiten Grades Meister Hildebrands, wie es die Þiðreks saga af Bern zu berichten wusste, der auch die Erzählung vom Drachenkampf entstammte.17 Nachdem Sintram die Ritter, die auf das Untier auf-merksam geworden waren, höflich auf seine Lage hingewiesen hat-te – »Gute Männer!«, sagte er, »reitet herüber und steht mir bei!«18 – und ihnen für den Kampf sein eigenes Schwert empfohlen hatte, das zunächst aus dem Maul des Drachen zu bergen war, sah er sich zu allem Überfluss genötigt, seine Retter zu vorsichtigen Schlägen anzuhalten, steckten doch seine Beine noch tief im Hals des Dra-chen.19 Dass er seine Geschichte auch in der Flóress saga noch erzäh-len konnte, zeigt, dass die Rettung erfolgreich verlaufen war.

Die Erzählungen, mit denen die drei Brüder aufwarten konnten, waren ähnlich spektakulär. Während Únus, den es nach dem Schiffbruch nach England verschlagen hatte, ebenfalls von einem

16 FlórKon 153. 17 Vgl. ÞiðrI 32 f. u. 196-203. 18 ÞiðrI 197: »Goðir drengir segir hann riðit hingat oc dvgið mer.« 19 Vgl. ÞiðrI 198 f.: »Nv mælir enn hinn sami maðr við fasold. hogg varlega minir fœtr ero harðla langt comnir niðr i hals drecans oc scaltv varaz þat at eigi vil ec liota sar af sialfs mins sverði ef þv fær til gætt þvi at þat er sarbeitt harðla.«

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Drachenabenteuer berichten konnte – er war fliegend auf dem Rü-cken eines Drachen aus einer Höhle entkommen, in die man ihn gelockt hatte, und hatte die Bestie anschließend töten können20 –, erzählte Sekúndus davon, wie er auf See von einem Greif (gammr) davongetragen und in dessen Nest verschleppt wurde, aus dem er nur durch einen beherzten Sprung in die zusammengenähten Män-tel fünf junger, hilfsbereiter Frauen entkommen konnte, ehe man ihn in der Gascogne aus Missgunst in eine Schlangengrube warf.21 Und auch Tertíus konnte von einer Odyssee berichten, die ihn nach der Zerstörung des Schiffs durch ein sirenenartiges Meerweib (margýgr) mit dem »Äußeren eines Trolls, riesigen Händen mit lan-gen Fingern und großen Nägeln, üppigen, herabhängenden Brüsten mit großen Brustwarzen«, gewaltigen Klauen »wie ein Flugdrache« und einem Unterleib mit einer »breiten Fluke wie ein Wal«22, und

20 FlórKon 154-157; dabei folgt Únus’ Geschichte mit dem Abstieg in die Höhle und dem Verrat durch den Begleiter, der das rettende Seil emporzieht und damit verschwindet, dem Erzählmuster des sog. Bärensohnmärchens, Typ AaTh/ATU 301, auch bekannt als The Three Stolen Princesses (vgl. Uther 2004, Bd. 1, S. 176-179). Zur weiten Verbreitung v.a. der sog. Zwei-Troll-Variante des entsprechen-den Erzählmusters im Norden, die statt des Drachen mit zwei Trollen aufwarten kann und etwa auch aus dem Beowulf bekannt ist, vgl. Kruse 2009, S. 125-145. 21 FlórKon 158-163; eine ganz ähnliche Greifenentführung schildert (neben der jün-geren Fassung der Ǫrvar-Odds saga, ǪrvA 119 f.) auch das mhd. Heldenepos Ku-drun, wie es das Ambraser Heldenbuch aus dem frühen 16. Jh. überliefert. Hier ist es Hagen, Sohn eines irischen Prinzen und einer norweg. Prinzessin, der als Kind von einem Greifen (grîfe) entführt und in dessen Nest verschleppt wird. Als sich die Brut des Greifen um die Beute streitet, fällt er aus dem Nest und stößt wenig später auf drei Prinzessinnen, die ebenfalls von dem Untier entführt wurden (Ku-drun 67-113, II. Aventiure). 22 FlórKon 164: »Þá heyrða ek hljóð fǫgr. Þvínæst sá ek koma upp ór kafinu hjá skipinu ógurligt kvikendi. Þat var þess háttar, sem kalla margýgi. Hon hefir trǫlls ásjónu, stórar hendr ok langa fingr með stórum nǫglum, brjóst mikil ok síð ok á spenar stórir, en niðri frá stórar klœr sem á flugdreka, ok þar niðr frá hvals líki ok á sporðr breiðr. Hon hefir þá náttúru, at hon meiðir skip en drepr menn; hon hefir svá fagra raust, at hon svæfir menn; síðan tekr hon skip ok brýtr með sínum spor-ði.« Kreutzer (Übers.) 1998, S. 103. Ähnliche Beschreibungen des Meerweibs mar-gýgr finden sich bereits im norweg. Königsspiegel (Konungs skuggsjá, S. 27) und in einigen Fassungen der Óláfs saga helga, der sog. Legendarischen Saga des Hl. Óláfr

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Abb. 1: Sirenendarstellung des isländischen Physiologus (AM 673 a I 4° (ca. 1200),

sog. Fragment ›A‹; Árni Magnússon, der das Pergament 1705 bereits durchlö-chert erhielt, notiert, dass das Blatt im Dýrafjord als Mehlsieb Verwendung fand; vgl. Dahlerup (Hg.) 1889, S. 234).

der Verschleppung auf eine untergehende »Insel«, die sich ebenfalls als Seeungeheuer herausstellte, bis in die Hände von Meerjungfrau-en führte, die ihn am Grund des Ozeans bewirteten. Ihnen ging er am Ufer des Rheins jedoch verloren, als ein gewaltiger Riese er-

(ebd., S. 14) sowie den interpolierten Fassungen der Handschriften AM 61 fol., Bergsbók (Óláfs saga helga, Bd. 2, S. 752 f.: »Margygrin [...] er sua skapat. at þat er fiskr niðr fra beltis stað ok fiỏðr \. en kona vpp þaðan. [...] þetta skrimsl er i bok-um kallaz sirena eða hyrenus ok lek ser i osinum«) und Flateyjarbók (Bd. 2, 25 f.; vgl. Abb. 2); vgl. auch Lagerholm (Hg.) 1927, Anm. S. 164 f. Von der Sirene (Sire-na) und ihrer wunderschönen, einschläfernden Stimme berichtet auch der isl. Phy-siologus (258 f.; vgl. Abb. 1); vgl. allg. Kreutzer 1985.

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Abb. 2: Darstellung eines margýgr-Kampfes in der Óláfs saga helga der Flateyjarbók

(GKS 1005 fol (1387-1395); 79r).

schien, sich seiner annahm und ihn zu seiner Tochter in die Wiege legte.23 Die Riesentochter sollte zu seiner Geliebten werden und ihn im Mannesalter auf Feldzüge bis nach Afrika begleiten.

23 FlórKon 165-169; das Seeungeheuer, das hier unter dem Namen lyngbakr (»Hei-derücken«) erscheint u. für eine Insel gehalten wird, kennt neben der jüngeren Fas-sung der Ǫrvar-Odds saga (ǪrvA 132) wiederum bereits der isl. Physiologus, dort unter dem Namen Aspedo (ebd., S. 273; das Tier Aspidochelone); vgl. auch Konungs skuggsjá, S. 17; Lagerholm (Hg.) 1927, Anm. S. 166. Von ähnlichen Ungeheuern weiß auch die Brandanus-Legende zu berichten (vgl. den Fisch Jaskonius der isl. Brendanuss saga, S. 274 f., einer Übertragung der Navigatio Sancti Brendani), deren sog. »Reisetext«-Variante mit ihren Greifen- und Sirenenabenteuern ohnehin zu-mindest indirekt auch als Vorbild der Darstellung der Flóress saga in Frage kom-men dürfte; vgl. Kreutzer 1985, S. 28 f. Das Vorbild der Meerfrauen (sækonur) hin-gegen ist aller Wahrscheinlichkeit nach in der vom Verfasser der Flóress saga aus-giebig verwendeten Þiðreks saga zu suchen, in der neben König Vilcinus auch Hög-ni am Rheinufer einer »Seefrau« begegnet (ÞiðrI 46, ÞiðrII 64 u. 286; vgl. Lager-holm (Hg.) 1927, Anm. S. 165 u. 167 f.; Kreutzer 1985, ebd.). Das ebenfalls keines-

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Da König Flóres die Gefangenen belauscht hatte, hörte nicht nur Sintram aus ihren Geschichten heraus, »dass sich hier Brüder wiedergefunden haben dürften.«24 Verhandlungen begannen, die dazu führten, dass der König sich den verloren geglaubten Söhnen offenbarte. Und »ob nun mehr oder weniger Worte gewechselt wurden, lief es darauf hinaus, dass Jungfrau Elena mit Sintram ver-lobt wurde«25, und am Ende der Geschichte hatte ein jeder sich ein Königreich erobert und eine passende Gemahlin gefunden, ganz wie es sich gehört für eine isländische Ritter- und Märchensaga (ly-gisaga).26

Die im Island des 14. Jahrhunderts entstandene Flóress saga ko-nungs ok sona hans, die mit ihrem versöhnlichen Ende, der Art und Weise der behandelten Konflikte, Prinzessinnenraub und Riesentö-tung, und dem weiten Blickwinkel des Erzählers, der sein Publi-kum mitnimmt auf eine Reise vom Reich der Tartaren bis nach Ve-nedig, zu den Küsten Afrikas, über Lothringen und Schwaben bis an den Rhein, nach Frankreich, England und Nowgorod, »in vie-lem als typisch«27 für ihre Art angesehen werden kann und deren Verfasser man zugutehielt, er könne »gut erzählen«, habe Humor und könne »Spannung erzeugen und aufrechterhalten«28, zeichnet sich nicht nur durch die von erzählerischem Selbstbewusstsein zeu-

wegs ungewöhnliche Motiv der Aufnahme und Erziehung durch einen Riesen be-schreibt etwa Ellis 1941; vgl. auch Kruse 2009, S. 145-159. 24 FlórKon 170: »En svá heyriz mér á sǫgu yðvarri, sem hér muni brœðr fundiz ha-fa.« 25 FlórKon 175: »En hvárt sem þar eru fleiri orð um tǫluð eðr færri, þá verða þær endalyktir, at jungfrú Eléná er fǫstnuð Sintram [...].« 26 Zur Gattung der lygisögur und den dt. Bezeichnungen »Märchensaga«, »Aben-teuersaga« u. »originale [d.h. isländische] Rittersaga« (in Abgrenzung von den sog. »übersetzten Rittersagas«) vgl. Kap. II.2.1 u. III.1. 27 So Lagerholm (Hg.) 1927, S. lxxvi. 28 Kreutzer 1998,2, S. 419; mit Einschränkungen bereits Lagerholm (Hg.) 1927, S. lxxvi f.: »Der verfasser hat doch eine nicht verächtliche fähigkeit, aus den zusam-mengestoppelten motiven ein ganzes zustande zu bringen, das für moderne leser allerdings wenig reiz hat, das aber seinerzeit sicherlich lebhaft gebilligt wurde; die sprachlichen klischees und die stereotypen wendungen verwendet er mit einer ge-wissen virtuosität und mitunter würzt er seine darstellung mit ein paar körnchen ironie, die erfrischend wirkt [...].«

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gende Verwendung der Figur des Herzog Sintram aus der Þiðreks saga, dessen Geschichte sie aufgreift und zu einem Ende führt, son-dern auch durch eine Reflexion der eigenen Arbeit aus, wie sie im Motiv des Geschichtenerzählens, der »Geschichte in der Geschich-te«, aber auch im Prolog der Saga ihren Ausdruck findet. Neben der Verteidigung der Glaubwürdigkeit des Erzählten wird dort bereits in gleichem Maße wie in Sintrams Worten von der Länge der Nacht und dem Zeitvertreib durch das Erzählen von »etwas Lusti-gem« (keski nǫkkur) dem eigenen Dasein eine Berechtigung verlie-hen, die weniger als bei Geschichten von »reichen Königen« und von Heiligen, die nun einmal nur »wenig Unterhaltung und Kurz-weil« (lítil skemtun) bieten würden, im Bereich der Bildung, im Er-langen von Weisheit (vísdómr) oder im Erlernen »höfischer Sitten« (hœverskir hirðsiðir) zu sehen sei, sondern darin, dass man sich an Helden wie den Söhnen des Flóres, die »in gefährliche Situationen gerieten«, aus denen sie sich »auf unterschiedliche Art und Weise befreien konnten«, ein Beispiel an Tapferkeit nehmen könne.29 So

29 FlórKon 121 f.: »Ef menn girnaz at heyra fornar frásagnir, þá er þat fyrst til at hlýða því, at flestir sǫgur eru af nǫkkuru efni; sumar eru af guði ok hans helgum mǫnnum, ok má þar nema mikinn vísdóm; eru þeir þó fleiri menn, er lítil skemtun þykkir at heilagra manna sǫgum. Aðrar sǫgur eru af ríkum konungum, ok má þar nema í hœverska hirðsiðu, eðr hversu þjóna skal ríkjum hǫfðingjum. Enn þriði hlutr sagnanna er frá konungum þeim, sem koma í miklar mannraunir ok hafa mis-jafnt ór rétt; er þar eptir breytanda þeim sem vaskir eru.« Der Text des Prologs, dessen Unterteilung der Sagaliteratur in drei »Stoffgruppen« in dieser Form ein-zigartig ist, folgt der Handschrift AM 343 a 4° (ca. 1450-1475). Da die Möglichkeit einer Interpolation besteht, bleibt unklar, ob Prolog und Saga auch tatsächlich von ein und demselben Verfasser stammen. Da der Text jedoch in dieser Form auf uns gekommen ist und die Saga die Formulierung des Prologs an verschiedenen Stellen aufzugreifen scheint, soll hier vereinfachend von dem Verfasser der Saga die Rede sein. Darauf, dass neben der Saga selbst auch die Erzählungen der drei Brüder zur dritten angeführten »Gruppe« (hlutr) und nicht zu den Geschichten von »reichen Königen« oder Heiligen zu rechnen sind, deuten auch die Worte, mit denen Sin-tram die Erzählungen der Brüder kommentiert: Alle drei seien sie der Charakteri-sierung der dritten »Gruppe« entsprechend in großer Gefahr gewesen, hätten sich aber vortrefflich aus ihr befreit. Vgl. FlórKon 158 (»Sintram svarar, at honum þótti hann hafa komit í mikla mannhættu ok vel ór rétt […]«), 163 (»›Bæði þykki mér þú hafa komit í mikit ok vel ór rétt,‹ sagði Sintram«) u. 169 (»Sintram sagði, at honum þótti hann í miklar mannraunir komit hafa ok gæfusamliga ór hafa rétt […]«). Zur

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souverän sich der Verfasser im Umgang mit erzählerischen Ver-satzstücken jeglicher Couleur erweist – dem von Henry Goddard Leach geprägten Bild des »Flickenteppichs«30 entsprechend bedient er sich nicht nur der Þiðreks saga, der er neben dem Protagonisten Sintram auch Teile der Argumentation des Prologs, die »Meerfrau-en« (sækonur) und auch die Figur eines riesenhaften Bannerträgers namens Rúnga zu verdanken zu haben scheint, sondern auch der Trójumanna saga, der die einleitende Erzählung vom Raub Elenas nachgebildet ist, und folgt darüber hinaus einem aus byzantinischen Romanen des 12. Jahrhunderts bekannten Erzählmuster und dem Motiv der »Geschichte in der Geschichte«, wie es die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht perfektionierten31 –, so geübt ist auch sein Umgang mit den erzähltechnischen und stilistischen Gepflo-genheiten seiner Zeit und seines »Genres«, die die Erwartungen ei-nes an Ritter-, Abenteuer- und Märchensagas geschulten Publi-kums zu erfüllen hatten.

So handelt es sich auch bei der Flóress saga um den Vertreter ei-ner »populären Schemaliteratur, die ständig selbst auf ihre Unter-haltungsfunktion verweist (was allerdings keineswegs heißt, daß sie darauf zu reduzieren wäre)«32, wie es Jürg Glauser ausdrückt. Folgt

Argumentation dieser und ähnlicher Autorenkommentare, die als Vorbild oftmals den Prolog der Þiðreks saga erkennen lassen, vgl. Kap. III.2.1 u. V.1; vgl. auch Kreutzer 1998,1, S. 354; Tómasson 1988, S. 360 f. 30 Leach 1921, S. 164: »Obviously, between the riddarasaga and pure invention are lygisögur of all types: translations of lost originals, translations with Icelandic em-bellishment, trader’s and traveller’s recitations brought not by manuscript but by word of mouth, foreign tales held in oral tradition and written down centuries af-ter they came to the North. Some are patchworks from all these sources, combined with personal invention. The Icelandic lygisögur are the crazy quilts of mediæval ro-mance.« Glauser (1983: 101-128) spricht vom »Erzählen in Schablonen«. 31 Zum Vorbild der Þiðreks saga s.o.; vgl. auch Kreutzer 1998,1, S. 354 u. 356 f. Ein Bannerträger namens Rúnga erscheint in ÞiðrII 240-243: In der Schlacht erschlägt er zwei Ritter und tritt im Anschluss Þether entgegen, der ihm den Kopf spaltet »bis zu den Backenzähnen«. Auf griech.-byzantin. Vorbilder bezüglich der Struk-tur der Saga verwies neben Leach (1921: 384) v.a. Schlauch (1934: 55-68); vgl. auch Kreutzer 1998,2, S. 418; dazu auch Jensson 2003. Zur Bandbreite der Quellen der Saga vgl. auch Lagerholm (Hg.) 1927, S. lxxvii-lxxix; Kreutzer 1998,2, S. 418 f. 32 Glauser 1998,1, S. 398.

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man der Darstellung Glausers, so war die Märchensaga, die die Welt ordnete und überschaubar machte und deren tapfere Helden jedes Abenteuer bestehen konnten und stets die Oberhand behiel-ten, »Literatur für Ritter, vor allem aber für solche, die es gerne geworden wären.«33 Selbst der gefährlichste und übermächtigste – sprich: riesenhafteste – Widersacher konnte im Universum der ly-gisögur bezwungen werden. Und wo es nicht das »ob« ist, sondern das »wie«, das Spannung erzeugt34, verschiebt sich auch in der Be-schreibung der Auseinandersetzung des Helden mit seinem Gegner das Gewicht vom Ausgang des Aufeinandertreffens hin zu dessen Verlauf, den es auf möglichst anschauliche Art und Weise zu schil-dern gilt. Als intensivierendes Mittel ist es hierbei gerade die kör-perliche Gewalt, der sich – in ähnlicher Weise wie im heutigen Ac-tionkino, vom Superheldencomic bis hin zu James Bond und dem Bereich des Splatterfilms – auch die Erzähler isländischer lygisögur bedienen. Auch sie dient der Unterhaltung – sei es durch das Erre-gen von Grauen oder von Komik und zum Zwecke der »Angstlust« und Angstbewältigung, oder das Erregen überhaupt, im Sinne soge-nannter Funktionslust auf sensomotorischer wie emotionaler Ebe-ne35 – und findet ihren Ausdruck in episch ausgearbeiteten Kampf-

33 Glauser 1983, S. 233; ähnlich: Ders. 1985, S. 108: »Literatur für Ritter und sol-che, die es werden wollten.« 34 So bereits Finnur Jónsson 1924, S. 100: »Det kan ikke nægtes, at der frembring-es en spænding hos læser og tillhører – at sige ikke just hos nutidens –, indtil op-løsningen kommer; denne er, som sagt, altid god for sagaens helt og heltinde, der har lidt og döjet så usigelig; men læseren er netop forberedt og vænter denne løs-ning, det er ikke den, han er spændt på, men måden, hvorpå den løses.« Vgl. auch Hermann Pálsson u. Edwards 1971, S. 37: »The interest would lie not so much in where the tale was going, but by what route it would reach its predictable destina-tion.« 35 Zu den unterschiedlichen Funktionen der Darstellung von Gewalt vgl. etwa Kunczik u. Zipfel 2006, S. 61-77. Neben der vermutlich rein ästhetischen Funk-tion von (gewaltreicher) »Action«, die allein aufgrund von Geräusch und Bewe-gung ein Lustempfinden – die sog. Funktionslust, die Lust am Funktionieren des Körpers und der Sinne sowie am Empfinden von Gefühlen – auslöst, und dem Faszinationspotenzial, das Gewalt per se anhaftet, wie es v.a. evolutionstheoreti-sche Ansätze betonen, können die Gründe für die Nutzung von Gewalt in den Medien etwa im sog. Mood-Management liegen, der Stimmungsregulierung bei

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und Schlachtenschilderungen und jenem »unrealistischen Hyperrea-lismus des Grausigen«36, wie er auch andere Gattungen mittelalter-licher Literatur auszeichnet.

Wo bereits der altnordischen Literatur in ihrer Gesamtheit die Darbietung der gewaltsamen Fragmentierung des Körpers als »the-matische Dominante«37 zugeschrieben wird und der Gattung Ro-mance, der auch die isländischen lygisögur zuzurechnen sind, eine generelle Obsession am »Spektakel des Körpers«38 nachgesagt wird, ist es die Kampfszene, die auch Matthew Driscoll in seiner Darstel-lung der isländischen lygisaga als wesentlichen Bestandteil des Gen-res bezeichnet39 – ein Bestandteil, dessen offensichtlicher Promi-nenz die Forschung lange Zeit über mit Unverständnis begegnete, während er dem isländischen Rezipienten geradezu als Inbegriff guter Unterhaltung zu gelten schien. Dies jedenfalls legt die anek-

Stress oder Langeweile, oder im sog. Excitation-Transfer, dem emotionalen »Be-wegen« des Rezipienten, der auf Inhalte sexueller oder gewalttätiger Natur zu-meist am stärksten reagiert. Der sog. Dispositionstheorie nach ist hierbei der Ge-nuss des Rezipienten besonders groß, sofern die Gewalt der Bestrafung des »Bö-sen« und der Herstellung von Ordnung dient. Daneben spielen auch Sensations- und Angstlust (etwa bzgl. des Ansehens von Horrorfilmen) und damit auch die Angstbewältigung eine Rolle, insbesondere da sich der Rezipient jeweils nur »pro-beweise« und in der Fantasie mit der Gewalt, der er sich aussetzt, konfrontiert sieht und sie somit stets aus sicherer Distanz heraus betrachtet. Mit gewissen Ein-schränkungen dürften die entsprechenden Theorien, die v.a. anhand der Betrach-tung von Gewalt in den modernen Massenmedien erarbeitet wurden, auch für den mittelalterlichen Konsumenten Gültigkeit beanspruchen. 36 Jauß 1968, S. 149. 37 Glauser 2006, S. 34: »Die Faszination der Heldensage, der Mythologie und da-mit der Skaldik, die sich dieser Erzählungen als thematischer Vorlagen bedient, an solchen zerstückelten, durchbohrten Körpern und abgetrennten Gliedmaßen ist allgegenwärtig, und das Motiv des ›Fließens im Blut‹ kann durchaus als Chiffre für die nordgermanische Heldendichtung als Ganzes stehen […]. In sämtlichen Gattun-gen der altnordischen Literatur wimmelt es von Darstellungen fragmentarisierter Körper.« Die Funktion entsprechender Darstellungen hingegen könne sehr unter-schiedlich sein (ebd., S. 35). Vgl. auch den Befund Rudolf Simeks (Ders. 2003: 92): »Wenn von Körpern und altnordischer Literatur im selben Kontext die Rede ist, so drängt sich meist das Bild des geschändeten, verstümmelten oder getöteten Kör-pers auf [...].« 38 So Cohen 1999, S. 96: »Romance is obsessed with the spectacle of the body.« 39 Driscoll 2005, S. 202: »The staple of the lygisögur is the battle scene.«

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dotenhafte Erzählung über eine alte Frau nahe, deren Ausspruch über die ebenso »kampflosen« wie langweiligen Evangelien in Is-land zum geflügelten Wort avancierte: »Die Evangelien machen keinen Spaß; nirgends gibt es einen Kampf«, sagte die Alte.40 Åke Lagerholm hingegen konstatierte 1927 im Vorwort seiner Edition dreier lygisögur:

Was bei der lektüre dieser sagas vielleicht am stärksten in die augen fällt, sind die endlosen und stereotypen schlachtschilde-rungen, voll der geschmacklosesten übertreibungen. […] Auch die seeschlachtschilderungen, von denen es in den sagas wim-melt, sind schablonenmä_sig und in die länge gezogen […].41

Dass mit den Schilderungen der Flóress saga hinsichtlich »ge-schmackloser Übertreibungen« das letzte Wort noch nicht gespro-chen war, lässt ein Blick auf die jüngere Vilhjálms saga sjóðs erahnen – Finnur Jónsson zufolge »eine der dümmsten und am wenigsten ansprechenden Kompositionen« der gesamten Sagaliteratur42 –, die in ihrer Darstellung einer Schlacht vor den Toren der Stadt Ninive, in der König Arkistratus von Ermland (Armenien?) residiert, nicht nur einen weiteren Bannerträger namens Rúnga auf den Plan ruft, sondern auch das Motiv der aus dem Kopf fliegenden Augäpfel und die groteske Beschreibung der Widersacher des Helden auf die Spitze zu treiben scheint. Die Saga berichtet von einem Riesen na-

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Jón Árnason, Árni Böðvarsson u. Bjarni Vilhjálmsson (Hg.) 1954, 493: »›Ekki er gaman að guðspjöllunum, enginn er í þeim bardaginn‹, sagði kerlingin. ›Og verri eru þó helvízkir pistlarnir‹, gall við önnur kerling. Þaðan er það orðtak dregið að ekki sé gaman að guðspjöllunum þegar manni ofbýður eitthvað, að kerlingunni þót-ti ekkert til þeirra koma hjá tröllasögum og lygasögum sem hún var vanari að heyra og þótti meiri mergur í.« Vgl. auch Lagerholm (Hg.) 1927, Anm. S. 121; Glauser 1983, Anm. S. 114. 41

Lagerholm (Hg.) 1927, S. xvi. 42 Finnur Jónsson 1924, S. 117: »Det er en af de dummeste og mindst tiltalende kompositioner og sikkert en af de alleryngste.« Die relative Zurückhaltung der Flóress saga betont bereits Lagerholm (Hg.) 1927, S. lxxvii: »Die geschmacklosen übertreibungen, die in diesen sagas oft vorkommen, finden sich zwar auch hier, aber doch bei weitem nicht in dem ma_se wie sonst oft.« Dem folgt auch Kreutzer (1998,2: 418): »Geschmacklose Übertreibungen (v.a. in den Kampfschilderungen) drängen sich weniger in den Vordergrund.«

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mens Knabbi, der mit elf Begleitern auf Dromedaren vor den To-ren der Stadt erscheint. Dabei nun war es weniger seine Größe als vielmehr die unglaubliche Breite seines Leibes, die die Bewohner der Stadt verblüffte.43 Im Namen seiner Schwäger Frollo und Grif-fon, der Könige des Kaukasus, war er gekommen, um die Unter-werfung Ermlands zu fordern. Natürlich weigerte sich der König und so marschierte schon bald ein beeindruckendes Heer aus dem Kaukasus vor den Mauern Ninives auf. Das Kriegsvolk, das nicht aus Menschen, sondern aus »Riesen und üblem Gesindel« bestand und wilde Tiere wie Bären, Löwen, Tiger und Elefanten mit sich führte, bedeckte zu Hunderttausenden das Land.44 Manch »hässli-chen Schuft« konnte man dort sehen, Lanzen dick wie Balken, und ein Kreischen war in der Luft.45 Drei Bannerträger ragten aus der Masse empor: Da war der Riese Rúnga, fimtugur at hæd46, ein Mann namens Gnepja, über dessen Größe es nichts weiter zu sagen gab, als dass seine Nase »sechs lange Spannen« (ca. 1,50 m) unter seinen Brauen hervorragte und seine Augen dreieinhalb Spannen (knapp 1 m) weit voneinander entfernt lagen47, und der vierfüßige Galapin, dessen Hinterbeine in Hufe übergingen und der kämpfen konnte wie ein Pferd – und »eher noch verlässt uns die Kraft oder geht das Pergament zu Ende, als dass wir das Aussehen all dieser abscheulichen Geschöpfe dort werden beschreiben können«, wie der Erzähler sich entschuldigt, nicht ohne hinzuzufügen, dass es

43 VSj 90: »þeir voru suo storer at aungua hofdu þeir slika sied og bar þo einn langt af odrum og undrudu þeir þo meir digurd hans enn hæd.« Der Text folgt der Handschrift AM 343 a 4° (ca. 1450-1475). 44 VSj 93: »[...] og uar allt land fullt af hernum. og uoru þat risar og illþydi. þeir uo-ru .c. þusunda at taulu. og uar þar engi mennzkur madur j. þeir haufdu tamit maurg uilli dyr.« 45 VSj 97: »matti þar sea margann liotan fant. [...] enn burtstengr þeirra uoru asum likar. en þeirra hliod uar sem nagaull.« 46 Ebd.; die Größenangabe, »fünfzig groß«, nennt keine Maßeinheit – würde es sich wie sonst üblich um Ellen (álnar) handeln, entspräche dies einer Größe von ca. 25 m, bei Spannen (spannar) od. Fuß (fœtr) wäre dies noch einmal zu halbieren, während man bei der Berechnung in Faden (faðmar) auf eine Höhe von gut 80 m käme. 47 Ebd.: »þat bar sa madur er Gnepia het. ecki seger fra uexti hans. en .vj. langspan-na var nef hans upp under bryn. enn halfrar fiordu spannar var jmilli augna hans.«

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dort noch einen Tierbändiger namens Krumbak gab, den man in ei-ner Wolfshöhle gefunden hatte und der bei Nacht besser sehen konnte als bei Tage.48

Nachdem auch der Held Vilhjálmr, den die Suche nach der zu-vor von König Arkistratus’ Söhnen entführten Prinzessin Astrino-mia von Byzanz nach Ninive geführt hatte, unbemerkt auf Seiten der Ermländer Stellung bezogen hatte, indem er mit dem Feigling Sjóðr, der zwar »groß und stark« war, doch leider kein Blut sehen konnte49, die Rüstung tauschte, konnte die Schlacht beginnen: »Da fehlte es nicht an Hörnerklang und Pfeile und Speere flogen so dicht, dass man weder Sonne noch Himmel sah.«50 Ein Bannerträ-ger namens Arius tat sich bald gegen Rúnga hervor. Nachdem er bereits einem Gegner Brust und Bauch aufgeschlitzt hatte, dass die-sem die Eingeweide aus dem Unterleib quollen, schlug er einen weiteren Gegner in der Mitte entzwei, ehe er dem Riesen ein Vier-tel des Helms abtrennte, mitsamt Ohr und Wange, »so dass die Zähne durchschienen.«51 Dass er selbst nun von Rúnga aufgespießt wurde, hinderte ihn nicht daran, im selben Moment noch einem weiteren Feind die Beine abzutrennen. König Arkistratus indessen schlug einem Gegner auf den Helm, dass diesem die Augen heraus-flogen, »und die Augen flogen so schnell aus dem Schädel, dass je-des von ihnen einen Mann erwischte, und beide waren sie auf der Stelle tot.«52 Wen der Stoß einer Lanze traf, der wurde so weit da-vongeschleudert, dass er »nicht mehr zu sehen war, und als er auf-

48 VSj 98: »Galapin het sa sem þat bar. hann hafdi .iiij. fætur og voru hỏfar a hinum eptrum fỏtunum og bardi hann sem hestur. enn fyr þrytur bædi bokfellit og nenn-ingina enn vær getum sagt fra yferlitum allra þeirra sem þar uoru afskræmiliga ska-pader. Krumbak het einn madur j lidi þeirra. ei uissu menn ætt hans. þuiat hann fannzt j greni ylfu einnar. hann sa betur um nætur enn daga. Hann atti at styra þeim hinum olmu dyrum sem þeir haufdu.« 49 VSj 95: »Siodr [...] uar mikill og sterkr og vel buinn at jþrottum. enn suo uar hann hugblaudur at hann þordi eigi mannzblod at sea.« 50 VSj 101: »og skorti þar eigi ludragang enn orfar og spiot flugu suo þyckt at huor-ki sa sol ne himen.« 51 VSj 102: »nu hoggr Arius til hans eitt mikit hogg. þat kom a hialminn og tok af fiỏrdungin og eyrat og uangafjlluna suo berar skinu uid tennurnar.« 52 Ebd.: »kongr slo a hans hialm suo hausinn lamdizt. en augun flugu suo snart ut ur hausinum at a sinn mann kom huort þeirra og hofdu þeir þegar bana.«

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traf, war jeder Knochen in ihm feiner als Mehl.«53 Da war es Rún-ga, der einen Speer nach König Arkistratus warf und diesen damit aufspießte, »dass er eine Elle weit aus seinem Rücken drang«, ehe Vilhjálmr den Riesen köpfte, dessen gewaltiger, stürzender Leib noch vier Männer unter sich begrub.

Wie die Verfasser der lygisögur sich bei derartigen Kampfschil-derungen vorgegebener Schablonen und Versatzstücke und eines Arsenals stereotyper Hiebe, Wunden und Verletzungen bedienten, die auf unterschiedliche Art und Weise variiert und kombiniert werden konnten, zeigt auch der Blick auf die Jarlmanns saga ok Her-manns, deren Erzähler einen weiteren Riesen und Bannerträger na-mens Rúnga auftreten lässt, dessen Gegner auch dort den Namen Arius trägt. Vor den Mauern von Byzanz und unter einem wieder-um von Geschossen verdunkelten Himmel erscheint dieser Rúnga, wohl fünfundzwanzig Ellen (ca. 12,50 m) groß und mit einem Lei-besumfang von fünfzehn Ellen (ca. 7,50 m) – »an der dünnsten Stelle.«54 Arius trennt ihm den Unterarm ab. Da »stach Rúnga nach Arius und durchbohrte ihn, hob ihn auf seiner Lanze empor, mit-samt Banner, und schleuderte ihn weit über das Feld.«55 Den Tod findet dieser Rúnga durch einen Wurfspeer des byzantinischen Kaisers, der ihm »ins Auge drang und zum Hinterkopf hinaus.«56 Hier ist es nun Jarlmann, der seinem Gegner Starkus ein Viertel des Helms abtrennt, und dazu Ohr und Wange, »so dass die Ba-ckenzähne durchschienen.«57 Als Jarlmann ihn im Anschluss den Kopf abschlägt, fliegt dieser weit davon. Auch der Kaiser wird bald mit solcher Wucht getroffen, »dass er weit vom Pferd geschleudert

53 VSj 103: »[...] og hraut sa burt af hestinum og upp j loptit so at fal syn og uar huert bein miolui smærra j honum er hann kom nidr.« 54 Jarlm1 23: »hann uar halfþritugur at hæd .xu. alna þurfte hann um sik. þar sem hann uar miostur.« Der Text folgt der Handschrift AM 556 b 4° (ca. 1475-1500). 55 Ebd.: »Runga lagdi þ til Arius. ok j gegnum hann. ok uegur hann upp spioti-nu ok merkit med honum. ok kastar honum langt uaullinn.« 56 Ebd.: »keisarinn uar þar nær staddur ok fleygdi gaflaki at Runga ok kom j augat ok ut um hnackann. fell Runga þ daudur.« 57 Jarlm1 24: »j fyrsta hỏggi hio Jarlmann fiordung af hialminum. ok af Starcus ey-rat. ok kinnina. suo at iagslarner skinu uid berer.«

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wurde und sich sein Helm mehr als neun Fuß (gut 2,50 m) tief in die Erde bohrte [...].«58

Zurecht konstatiert Glauser in seiner Betrachtung des Erzähl-stils der Märchensaga, deren »neue Einstellung zu Fragen von Rea-lität und Phantasie, Wahrscheinlichkeit, Glaubhaftigkeit und ihrer angemessenen Repräsentierung in einem fiktionalen Text« sich »nicht zuletzt in der größeren Bedeutung, die ironisierenden Schreibweisen [...] zukommt«59, äußere: Es »wimmelt [...] von Be-schreibungen grotesker Phänomene, hauptsächlich natürlich grotes-ker Körper«, die »in übergroßen, jedes menschliche Maß sprengen-den Proportionen«60 geschildert werden. Wo hässliche Riesen und Trolle, schwarzhäutige blámenn und Heiden bevorzugt verstüm-melt und getötet werden, wozu man sie mitsamt Rüstung und Reit-tier in zwei Teile spaltet, wo das Gewicht abgetrennter Nasen und abgetrennten Fleisches in Pferdeladungen gemessen wird und Di-mensionen erreicht, dass »ein Mensch nicht mehr hätte heben kön-nen«61, wo Gesäßhälften abgetrennt werden, »dass sie noch an den Kniekehlen hängen«, und man diese »Last« hinter sich herschlei-fend, armlos und mit wedelnden Stümpfen und brüllend wie ein Stier durch die Schlachtreihen stürmt62, wo Speere mit zwei Hän-

58 Ebd.: »Ermanus [...] ʀidur at keisaranum. ok lagde til hans suo fast at hann fauk langt j burt af hestinum. ok meir enn niu feta stod fastur hialmurinn j uellinum.« 59 Glauser 1998,1, S. 406. 60 Ebd. 61 Vgl. EgÁsm 51 (Egill haut einem Riesen ein Stück Fleisch aus dem Arm: »ok var þat svá mikit stykki, at einn maðr mundi eigi meira lypta«), EgÁsm 75 (Egill trennt dem Riesen Hildir im Stolpern die Nase ab, obwohl er ihn eigentlich köpfen woll-te: »ok var þat svá mikit stykki, at þat var nóg klyf«) u. ǪrvA 136 (Sírnir trennt Ögmundr die Gesäßhälften ab: »hjó Sírnir þá svá mikinn hlut ór kríkum Ǫgmun-dar, at enginn hestr dregr meira«). Vgl. auch ÞiðrI 363 (Viðga trennt dem Riesen Etgeir ein gewaltiges Stück aus der Wade, »at engi hestr beʀr meira«) u. ÞiðrII 383 f. (dito, Heimir u. Aspilian: »suo mikid leysti hann af hans lære ath ei munde einn hestur draga meira«). 62 So Röndólfr (GHr 324 f.): »Hjó Hrólfr þá af Röndólfi aðra höndina, svâ hún fèll niðr, sneri hann þá undan; hann veifaði stúfunum, ok öskraði sem griðúngr, í því höggr Hrólfr undan honum báða þjóhnappana, svâ þeir loddu við í knèsbótum, dró hann þá slóðann eptir sèr, ok hljóp beljandi upp í fylkíng Eireks konúngs, svâ allt hrökk undan; drap hann með því margan mann.«

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den zugleich geschleudert, im Flug abgefangen und postwendend zurückgeschickt werden, um sich in den (staunend?) geöffneten Mund des Gegners zu bohren und diesen an den Mast des Schiffes zu nageln63, wird auch die Parallele zum modernen Action- und Horrorfilm offenbar: Der »Logik der Überbietung« folgend schlägt die Gewaltdarstellung »in eine Hyperbolik der Gewalt um, die zu-weilen in eine komische Ästhetik des Grotesken mündet [...].«64

2. Diagnose: Literatur als Spektakel – und eine Frage des Glaubens

»Der Anblick ist stärker als der Bericht.«

Altisländisches Sprichwort65

Wie ist dieser Befund zu bewerten? Zu beobachten ist: Isländische lygisögur erzählen vorgegebenen Schemata folgend von Rittern und anderen Helden in höfischem Ornat, die zumeist in fernen, exoti-schen Ländern fremdartigen Wesen begegnen und Abenteuer be-stehen, wobei sie »Beispiele an Tapferkeit« geben, indem sie allen Widrigkeiten zum Trotz ihre Gegner stets bezwingen und ihre Questen – zumeist Brautwerbungen – zu einem erfolgreichen Ab-schluss bringen. Dabei zeigt sich eine Vorliebe für Hyperbolik, für das Groteske und Riesenhafte, wie es besonders in epischen Kampf- und Schlachtenschilderungen hervortritt, die die Fragmen-tierung der Leiber unter Verwendung bestimmter Erzählschablo-nen in einer »auf Plastizität ausgerichteten Bildsprache«66 in Szene setzen.

Wie ein Blick auf die angeführten Beispiele zeigt, sind es opti-sche und akustische Reize, die bei der Inszenierung von Schlachten,

63 EgÁsm 32: »Aðra kesjuna tók Ásmundr á lopti, ok skaut aptr á Vísin, ok hœfði í ginit á honum, svá út gekk um hnakkann, ok upp á fjǫðrina, ok hekk Vísinn þar dauðr.« 64 Meteling 2006, S. 23; vgl. ebd., S. 88-95. 65 »Sjón er sǫgu ríkari.« Vgl. Singer et al. (Hg.) 1995-2002, Bd. 10, S. 368. 66 Glauser 1998,1, S. 406 f.