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Dieter Langewiesche (Hg.) Liberalismus im 19. Jahrhundert Deutschland im europäischen Vergleich Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 79

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Dieter Langewiesche (Hg.)

Liberalismus im 19. JahrhundertDeutschland im europäischen Vergleich

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 79

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka

Hans-Ulrich Wehler

Band 79 Dieter Langewiesche (Hg.)

Liberalismus im 19. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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Liberalismus im 19. Jahrhundert

Deutschland im europäischen Vergleich

Dreißig Beiträge Mit einem Vorwort von Jürgen Kocka

Herausgegeben von Dieter Langewiesche

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

ISBN E-Book: 978-3-647-35741-6© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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CIP-Kurztitelaufnahmeder Deutschen Bibliothek

Liberalismus im 19. [neunzehnten] Jahrhundert: Deutschland im europ. Vergleich;

30 Beitr. / mit e. Vorw. von Jürgen Kocka. Hrsg. von Dieter Lange wiesche. -Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988

(Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 79) ISBN 3-525-35741-9

NE: Langewiesche, Dieter, [Hrsg.]; GT

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Bielefeld

© 1988 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen - Printed in Germany. -Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich

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insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gesetzt aus Bembo auf Linotron 202 System 4 (Linotype). Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen.

Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

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Inhalt

Vorwort von JÜRGEN KOCKA 9

DIETER LANGEWIESCHE Deutscher Liberalismus im europäischen Vergleich. Konzeption und Ergebnisse 11

I. Liberalismus im innerdeutschen und deutsch-österreichischen Vergleich

LOTHAR GALL

Einführung 23

JAMES J . SHEEHAN

Wie bürgerlich war der deutsche Liberalismus? 28

BARBARA VOGEL Beamtenliberalismus in der Napolconischen Ära 45

KLAUS KOCH Frühliberalismus in Österreich bis zum Vorabend der Revolution 1848 64

HERBERT OBENAUS

Region und politisches Interesse im Vormärzliberalismus Preußens . . 71

WOLFGANG KASCHUBA

Zwischen Deutscher Nation und Deutscher Provinz. Politische Horizonte und soziale Milieus im frühen Liberalismus . . . . 83

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TONI OFFERMANN

Preußischer Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung im regionalen Vergleich. Berliner und Kölner Fortschrittsliberalismus in der Konfliktszeit 109

HARM-HINRICH BRANDT

Liberalismus in Österreich zwischen Revolution und Großer Depression 136

LOTHAR HÖBELT Die Deutschfreiheitlichen Österreichs. Bürgerliche Politik unter den Bedingungen eines katholischen Vielvölkerstaates 161

CHRISTOF DIPPER

Adelsliberalismus in Deutschland 172

GANGOLF HÜBINGER

Hochindustrialisierung und die Kulturwerte des deutschen Liberalismus 193

II. Liberalismus im britisch-deutschen Vergleich

WOLFGANG J . MOMMSEN Einführung: Deutscher und britischer Liberalismus. Versuch einer Bilanz 211

RUDOLF MUHS

Deutscher und britischer Liberalismus im Vergleich. Trägerschichten, Zielvorstellungen und Rahmenbedingungen (ca. 1830-1870) 223

GEOFF ELEY

Liberalismus 1860—1914. Deutschland und Großbritannien im Vergleich 260

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III. L ibera l i smus in den ›romanischen‹ Ländern: Frankreich, Italien, Belgien und Spanien

THOMAS NIPPERDEY

Einführung 279

HEINZ-GERHARD HAUPT

Ein soziales Milieu des nachrevolutionären Liberalismus in der französischen Provinz: Die Landbesitzer 282

PIERRE AYÇOBERRY Freihandelsbewegungen in Deutschland und Frankreich in den 1840er und 1850er Jahren 296

HEINZ-GERHARD HAUPT/FRIEDRICH LENGER

Liberalismus und Handwerk in Frankreich und Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts 305

RAINER HUDEMANN

Politische Reform und gesellschaftlicher Status quo. Thesen zum französischen Liberalismus im 19. Jahrhundert 332

GERD KRUMEICH

Der politische Liberalismus im parlamentarischen System Frankreichs vor dem Ersten Weltkrieg 353

MARCO MERIGGI

Der Adelsliberalismus in der Lombardei und in Venetien (1815-1860) 367

HARTMUT ULLRICH

Der italienische Liberalismus von der Nationalstaatsgründung bis zum Ersten Weltkrieg 378

JEAN STENGERS

Der belgische Liberalismus im 19. Jahrhundert 415

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JOAQUIN ABELLÁN

Der Liberalismus in Spanien 1833-1868 440

IV. Südost- und Osteuropa: Ungarn und Rußland

DIETRICH GEYER Einführung 455

ANDRÁS GERGELY

Der ungarische Adel und der Liberalismus im Vormärz 458

ISTVÁN DIÓSZEGI

Die Liberalen am Steuer. Der Ausbau des bürgerlichen Staatssystems in Ungarn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts 484

DIETRICH BEYRAU

Liberaler Adel und Reformbürokratie im Rußland Alexanders II . . . 499

HEINZ-DIETRICH LÖWE

Bürgertum, liberale Bewegung und gouvernementaler Liberalismus im Zarenreich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert 515

Abkürzungsverzeichnis 534

Tagungsteilnehmer und Autoren 536

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Vorwort

Vom Oktober 1986 bis zum August 1987 bestand im Zentrum für Interdiszi­plinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld eine Forschungsgruppe zum Thema »Bürgertum, Bürgerlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Das 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich.« Etwa 40 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Disziplinen und Ländern nahmen daran teil. Zu den Zielen gehörte es (a) das Bürgertum als gesellschaftliche Großgruppe (›Formation‹) des 19. Jahrhunderts näher zu untersuchen, (b) nach der Bedeutung, dem Realisierungsgrad und den Grenzen der Bürger­lichkeit verschiedener, sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer Bereiche (Literatur, Unternehmerverhalten, Liberalismus, Behandlung von Minderheiten etc.) zu fragen sowie (c) die deutsche Entwicklung im interna­tionalen Vergleich zu erforschen, um herauszufinden, ob es in bezug auf das Bürgertum und die Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts so etwas wie einen deutschen ›Sonderweg‹ gab, inwiefern, warum und inwieweit nicht. Die Ergebnisse dieser Forschungsgruppe werden gesondert veröffentlicht (J. Kocka, Hrsg., Das Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im euro­päischen Vergleich, München 1988).

Im Rahmen dieses Projektes fanden mehrere Konferenzen statt, an denen auch Wissenschaftler teilnahmen, die nicht zur Forschungsgruppe gehörten. Nach einer Vorbereitungskonferenz, deren Ergebnisse bereits veröffentlicht wurden (J. Kocka, Hrsg., Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987) und einer Auftaktveranstaltung Anfang Oktober 1986 wurden Konferenzen zu folgenden Themen abgehalten: Bürgerliche Gesell­schaft, Bürgertum und Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert (Leitung: Ute Frevert); Bürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich (Leitung: Dieter Langewiesche); das Bürgertum in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert (Leitung: Wladislaw Dlugo­borski); Professionalisierung und Bürgertum (Leitung: Hannes Siegrist).

Nachdem die Ergebnisse der Tagung über Bürgertum und Geschlechter­verhältnisse bereits in dieser Reihe veröffentlicht worden sind (siehe U. Fre­vert [Hg.], Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahr­hundert, Göttingen 1988), enthält der hiermit vorgelegte Band die Beiträge und Ergebnisse der Liberalismus-Konferenz (18.-21. 2. 1987), die Dieter Langewiesche auf Einladung der Forschungsgruppe vorbereitet und durch­geführt hat. Mitglieder der Forschungsgruppe nahmen - zusammen mit den am Schluß des Bandes aufgeführten Wissenschaftlern - teil, die Ergebnisse der Konferenz fanden in die Arbeit der Forschungsgruppe Eingang. Teilneh-

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men sollte auch Siegfried Schmidt, Jena, er verstarb vor Beginn der Konfe­renz. Wie die Forschungsgruppe insgesamt, so wurde auch diese Liberalis­mus-Konferenz vom Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld ermöglicht und beherbergt. Es unterstützte auch die Drucklegung dieses Bandes. Dafür gebührt ihm Dank.

Das Verhältnis von Liberalismus und Bürgertum ist ein zentrales Problem der historischen Bürgertumsforschung. Daß im 19. Jahrhundert hauptsäch­lich Bürger zur sozialen Basis des Liberalismus gehörten und im Liberalis­mus bürgerliche Interessen, Erfahrungen und Erwartungen klassisch zum Ausdruck kamen, ist eine weithin akzeptierte Einsicht. Sie wird in den folgenden Beiträgen nicht wirklich in Frage gestellt, wenngleich sehr deut­lich wird, wie sehr liberale Politik auch in anderen sozialen Kategorien -etwa in Teilen des Adels - Unterstützung finden konnte und wie sehr die sozialen Stützpunkte der Liberalen von Land zu Land, oftmals von Region zu Region variierten. Überdies ist klar, daß bei weitem nicht alle Bürger liberal optierten, je später desto weniger. Zwar wird man weiterhin, vor allem für die ersten drei Viertel des 19. Jahrhunderts, von einer gewissen Affinität zwischen »bürgerlich« und »liberal« ausgehen dürfen, von einer stabilen Korrespondenz zwischen den von ihnen bezeichneten Phänomenen aber nicht.

Die Beiträge dieses Bandes lassen den Liberalismus des 19. Jahrhunderts als in sich ungemein vielfältiges gesamteuropäisches Phänomen erkennen. Die politischen Zielsetzungen, die Gesellschaftsbilder, die Organisations­formen der Liberalen variierten von Land zu Land und veränderten sich mit der Zeit; und das gilt auch für das wichtige Verhältnis von Liberalismus und Demokratie. Vor allem diese Themen werden im folgenden ausführlich vergleichend behandelt. Die deutsche Entwicklung steht dabei im Zentrum, jedoch in strikt komparativer Perspektive. Zum einen geht es um den innerdeutschen Vergleich, die regionale Vielfalt der deutschen Verhältnisse (einschließlich Deutsch-Österreichs). Zum andern wird international ver­glichen: nicht nur mit England, Frankreich und Belgien, sondern auch mit Italien, Ungarn und Rußland. Der häufigere Blick nach Westen wird damit durch den nach Süden und Osten ergänzt. Daraus ergeben sich neue Er­kenntnisse in das, was an der deutschen Entwicklung allgemein-europäisch, und in das, was an ihr spezifisch war.

Jürgen Kocka

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DIETER LANGEWIESCHE

Deutscher Liberalismus im europäischen Vergleich: Konzeption und Ergebnisse1

Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des Liberalismus. Mit dessen Wir­kungsmächtigkeit konnte keine andere politische Ideologie, keine andere politische Bewegung konkurrieren. Liberale Ideen begleiteten und formten den Weg der europäischen Gesellschaften in die »Moderne«, aber nur selten konnten die Liberalen diesen Weg von den Schalthebeln der staatlichen Herrschaft aus steuern. Die Allgegenwart des Liberalismus führte also die Liberalen keineswegs zwangsläufig in die Zentren der politischen Macht. Warum das so war, und warum die Entwicklung in den einzelnen Staaten so überaus unterschiedlich verlief, gehört zu den Kernproblemen, mit denen sich jeder Versuch, die europäische Geschichte vergleichend zu erforschen, auseinandersetzen muß.

Nur der Vergleich läßt nationale Besonderheiten erkennen. Das ist in der Debatte über den »deutschen Sonderweg« oft verkannt worden, denn sie lebte mehr von behaupteten als von durchgeführten Vergleichen. Wer in der deutschen Geschichte einen Sonderweg auf »1933« hin angelegt sieht, in den von Deutschland erzwungenen Rückfall hinter all das, was in der Geschichte der Zivilisation erreicht und gesichert zu sein schien - wer so argumentiert, muß wissen, warum dem deutschen Bürgertum der Griff nach der Macht bis zum Ersten Weltkrieg nicht gelungen ist. Waren es doch bürgerliche Sozial­kreise, welche die neuen politischen und gesellschaftlichen Leitbilder des 19. Jahrhunderts prägten, den ökonomischen Wandel zum modernen Indu­striestaat vorantrieben und die kulturellen Normen schufen, die sich überall durchsetzten.

Warum entstand in Deutschland im vergangenen Jahrhundert eine »bür­gerliche Gesellschaft« ohne politische Herrschaft des Bürgertums? Dies zu fragen heißt, nach der Machtschwäche des Liberalismus zu fragen - ein Kernproblem der jüngeren deutschen Geschichte, zu dessen Erhellung die­ser Band beitragen will, indem die deutsche Entwicklung in zweifacher Weise in eine Vergleichsperspektive gerückt wird: innerdeutsch und europä­isch.

Einen einheitlichen deutschen Liberalismus hat es nie gegeben. Neben der Spaltung in unterschiedliche politische Richtungen müssen deshalb die star­ken regionalen Differenzierungen beachtet werden. Dieser Aufgabe wid-

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men sich die Beiträge im Teil I, der auch drei Beiträge zur österreichischen Entwicklung umfaßt, die in den meisten Studien zum Liberalismus in Deutschland ausgeklammert wird. Darin mag sich die fortdauernde Wir­kungsmacht des kleindeutsch-preußischen Nationalstaats ausdrücken, der über seinen Untergang hinaus das Geschichtsbild formt. Die Geschichte des österreichischen Liberalismus verdeutlicht jedoch auch, in welch starkem Maße der Ausschluß Österreichs aus Deutschland 1866—71 sich zuvor be­reits angebahnt hatte: Die österreichischen Liberalen hatten von Beginn an wenig Kontakte mit denen in den anderen Staaten des Deutschen Bundes -ein Symptom für die frühzeitige Isolierung Österreichs von den politisch­gesellschaftlichen Bewegungen und Ideen, die den bürgerlich geprägten deutschen Nationalstaat forderten und vorbereiteten.

Die Beiträge in den Teilen II und III ergänzen den innerdeutschen Ver­gleich um den europäischen. Gleichwohl bilden die Darstellungen zu Groß­britannien, Frankreich, Italien, Belgien, Spanien, Ungarn und Rußland nicht bloße Folien, vor denen sich der deutsche Liberalismus abheben soll. Die nationalen Entwicklungen werden vielmehr in ihren jeweiligen Eigen­heiten gewürdigt. Nur so lassen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen. Voraussetzung ist jedoch, daß auch jene Beiträge, die nicht bereits selber den Vergleich durchführten, von gemeinsamen Fragestellungen aus­gehen. Deshalb wurden die Autoren gebeten, soweit es das Thema, der Forschungsstand und die Quellenlage zulassen, folgende fünf Aspekte ein­zubezichen:

1. Liberale Konzeptionen für die politische Herrschaftsordnung. Gefragt wird nach dem Ausmaß an Parlamentarisierung, das die Liberalen anstreb­ten und erreichten, nach ihren Einstellungen zu den konfliktreichen Prozes­sen der inneren Staatsbildung: Spannungen zwischen Zentralstaat und Föde­ralismus oder Regionalismus, zwischen Nationsbildung und Nationalitä­ten, und anderes mehr.

2. Liberale Gesellschaftsbilder: Mit welcher Intensität durchdrangen sie das soziale und ökonomische Leben? Gefragt wird nach den sozioökono­mischen Gestaltungsvorstellungen von Liberalen und ihren Erfolgen und Mißerfolgen, nicht nach einem genaueren Vergleich der Sozial- und Wirt­schaftsstruktur der einzelnen Staaten. Das wäre ein anderes Thema.

3. Kooperation und Abgrenzung in Politik und Gesellschaft.-Liberale Weltbilder imprägnierten zwar die Zukunftserwartungen des 19. Jahrhun­derts, doch sie stießen stets auch auf Widerspruch und auf konkurrierende Modelle. Weit mehr noch gilt das für den Liberalismus als politische Bewe­gung und Partei, der immer auf Bündnispartner angewiesen war, um sich behaupten und politisch wirken zu können. Zu fragen ist also nach dem Verhältnis von Liberalen zu Demokraten und Republikanern, zu Arbeitern und Arbeiterbewegungen, zu den Kirchen und anderen weltanschaulichen Organisationen, zum Adel und zu den staatlichen Funktionseliten, Bürokra­tie und Militär.

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4. Organisationsgrad und soziale Rekrutierungsfelder des Liberalismus. Das 19. Jahrhundert war ein vereinsseliges Säkulum. Wer etwas bewirken und sich in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen wollte, mußte sich organi­sieren. Der fortschreitende Prozeß der Organisierung und Bürokratisierung durchdrang alle Lebensbereiche, politische ebenso wie ökonomische, soziale und kulturelle. Wie reagierten die Liberalen, die angetreten waren, das Ideal des selbstverantwortlichen Individuums zu verwirklichen, auf diese Ent­wicklungen, die den Einzelnen wieder in kollektive Bindungen einfügten? Das Problem, Interessen organisieren zu müssen, um sie durchsetzen zu können, wurde für die Liberalen noch brisanter, als im 19. Jahrhundert eine vielfältig geschichtete Klassengesellschaft entstand. Sie konfrontierte die Liberalen vor allem nach der Jahrhundertmitte mit den Ansprüchen neuer Sozialschichten, die nicht zum herkömmlichen Rekrutierungsreservoir des Liberalismus zählten. Diese Schichten an sich zu binden, wurde zur Lebens­frage des Liberalismus. Wie stellte er sich ihr?

5. Das Verhältnis von Liberalismus und Bürgerlichkeit. Wenn liberale Ideen auch dort Gesellschaft und Politik mitgestalteten, wo dem Liberalis­mus der Griff nach der Macht mißlang, liegt es nahe, von einer engen Verbindung zwischen liberalen Weltbildern und bürgerlichen Verhaltens­normen auszugehen. Liberalismus und »bürgerliche Gesellschaft« scheinen eine Symbiose gebildet zu haben. Empirisch erhärtet wurde diese geläufige Vermutung bislang jedoch nicht. Zu fragen ist deshalb: In welchem Maße wurde Bürgerlichkeit als eine besondere Form der Lebensführung durch liberale Normen bestimmt? Und in welcher Weise hat der bürgerliche Tugendkatalog, den das 19. Jahrhundert ererbt hatte und zum Allgemeingut werden ließ, die Gesellschaft für liberale Ideen aufgeschlossen?

Die Antworten, die in den Beiträgen auf diese Fragen gegeben werden, können hier nicht vorgestellt werden. Einige zentrale Ergebnisse und offene Forschungsprobleme seien jedoch aus der Sicht des Herausgebers kurz umrissen:

1. Liberale wollten die Welt verändern. Deshalb empfiehlt es sich, sie an ihren Taten zu messen. Da sie es mit höchst unterschiedlichen Handlungsbe­dingungen zu tun hatten, auf die sie sich jeweils flexibel einstellten, um wirken zu können, entzieht sich der Liberalismus der Tat einer allgemein­gültigen, überzeitlichen Definition. Das erschwert generell den Vergleich. Um dabei nicht in Beliebigkeit und Willkür zu verfallen, müssen konkrete Untersuchungsfelder zeitlich und thematisch abgesteckt werden. Denn eine so veränderungsreiche Erscheinung wie der Liberalismus darf nicht auf einige »ewige« Grundprinzipien reduziert werden. Es gilt vielmehr zu erfas­sen, welche Funktionen diese Prinzipien unter den verschiedenartigen Handlungsbedingungen erfüllten, wie sie sich unter dem Druck des politi-

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schen und gesellschaftlichen Wandels veränderten, und welche Versuche unternommen wurden, sie zu verwirklichen. Diese Notwendigkeit, den Liberalismus als handlungsfähige Größe zu untersuchen, zwingt Studien über den europäischen Liberalismus zu einer weiten Vergleichsperspektive, die schwer zu konkretisieren ist, muß sie doch Gesellschaft und Staat glei­chermaßen umfassen, um die Wirkungsmöglichkeiten des Liberalismus erhellen zu können.

Dieses anspruchsvolle Programm läßt sich am ehesten einlösen, wenn Umbruchsphasen, in denen über die Handlungschancen von Liberalen neu entschieden wurde, in den Mittelpunkt gerückt werden. Als eine solche Phase - neben anderen, die von den Autoren ebenfalls behandelt werden -weisen die Beiträge dieses Bandes die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts aus. Bis dahin unterschieden sich die Handlungsbedingungen der europäi­schen Liberalen grundlegend, je nachdem ob sie in bereits gefestigten Natio­nalstaaten lebten oder Nationen angehörten, welche die Staatsgründung noch nicht erreicht hatten. Als dann jedoch bis 1870/71 auch in Deutschland und Italien Nationalstaaten entstanden und die Autonomie des ungarischen Königreichs innerhalb der Habsburgermonarchie (1867) gesichert wurde, näherten sich die politischen Bedingungen, unter denen Liberale (und auch andere politische Richtungen) in West-, Süd- und Mitteleuropa wirkten, stärker einander an, als dies zuvor der Fall gewesen war. Bei allen großen Unterschieden, die fortbestanden, rückten nun überall nationale Parlamente mit weitgehenden Kompetenzen in den Brennpunkt der Politik. Und Politik bedeutete jetzt anderes als zuvor. Urbanisierung und Industrialisierung, verbunden mit steigenden Lebensansprüchen einer stark anschwellenden Bevölkerung, stellten die Politik vor neue Aufgaben der Daseinsvorsorge; der neuartige »politische Massenmarkt« (H. Rosenberg), der entstand, trieb die durchgreifende Organisierung der Gesellschaft voran. Die Zeit der Honoratiorenpolitik lief aus, Parteien und Interessenverbände traten an ihre Stelle.

Den Liberalen bereitete es überall große Schwierigkeiten, sich auf diese Formveränderungen der Politik einzustellen. Gleichwohl wird man trotz dieser europäischen Gemeinsamkeiten von einer deutschen Sonderentwick­lung sprechen können, die mit Blick auf die politischen Handlungsbedin­gungen des Liberalismus in der Reichsgründungsära einsetzte: Nur die deutschen Liberalen wurden auf nationaler Ebene mit der vollen Demokrati­sierung des (Männer-) Wahlrechts bei gleichzeitig vorenthaltener Parlamen­tarisierung konfrontiert. Diese Verbindung gab es in keinem der europäi­schen Vergleichsstaaten. Entweder blieb das Wahlrecht eingeschränkt oder­im Falle Frankreichs - das demokratische Wahlrecht wurde ergänzt durch die Parlamentarisierung der Herrschaftsordnung. Im Deutschen Reich trat bei­des auseinander, was die politischen Gestaltungschancen der Liberalen aus verständlichen Gründen nachhaltig schwächte. Die europäischen Liberalen hatten stets das demokratische Wahlrecht abgelehnt. Politischer Vollbürger

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sollte nur sein, wer die liberalen Kriterien des Staatsbürgers erfüllte: ein gewisses Maß an Bildung und wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Auf den geistig und materiell unabhängigen Bürger waren die liberalen Leitbilder zugeschnitten, politisch, sozial, wirtschaftlich und auch kulturell. Wo dieser sozial begrenzte liberale Typus des Staatsbürgers über das eingeschränkte Wahlrecht die Parlamentspolitik bestimmte, konnten die liberalen Parteien sich länger gegen ihre Konkurrenten von links und rechts behaupten. Am wenigsten gelang dies dort, wo die Liberalen früh auf den »politischen Massenmarkt« angewiesen waren, ohne ihn aus der Regierung heraus beein­flussen zu können. Abgeschnitten von der Regierungsverantwortung und in den Wahlen angewiesen auf die Zustimmung von Bevölkerungskreisen, denen das liberale Bürgerideal unerreichbar schien - diese Mischung aus blockierter Parlamentarisierung und gesellschaftlicher Fundamentalpoliti­sierung gab es nur im deutschen Kaiserreich. Sie begrenzte offensichtlich die Durchsetzungschancen der Liberalen wirksam.

Weitere Probleme kommen hinzu, die den deutschen Liberalismus seit der Reichsgründungsära deutlich vom Liberalismus der europäischen Ver­gleichsstaaten abheben:

2. Bis zur Gründung des Nationalstaats bildeten die deutschen Liberalen keine Parteien neben anderen Parteien. Sie standen vielmehr an der Spitze einer breiten nationalen Bewegung, die durchtränkt war von liberalen Ide­en, aber sozial und politisch weit über den Liberalismus hinausreichte. Vergleichbare Verhältnisse gab es in Ungarn, mit Abstrichen auch in Italien - aber nur solange, wie die Gründung des Nationalstaates (Italien) bzw. die Sicherung seiner Autonomie (Ungarn) noch nicht verwirklicht waren. Als dieses zentrale Ziel erreicht wurde, liefen die Entwicklungspfade auseinan­der. In Ungarn und in Italien gelang es den Liberalen, das parlamentarische Regierungssystem nach westeuropäischem Vorbild durchzusetzen. In Deutschland hingegen scheiterte der Liberalismus in der sog. »zweiten« oder »inneren« Reichsgründung um 1878 bei seinem Versuch, die 1867 (Norddeutscher Bund) und erneut 1871 mißlungene Parlamentarisierung des Nationalstaats nachzuholen. Der Grund für diesen Mißerfolg ist aber nicht in einem Machtverzicht des deutschen liberalen Bürgertums zu sehen, wie so oft behauptet wurde. Im europäischen Vergleich treten andere Grün­de für die deutsche Sonderentwicklung hervor.

Ein zentraler Grund ist darin zu sehen, daß der kleindeutsche National­staat so überraschend schnell von der deutschen Gesellschaft akzeptiert worden ist - und zwar auch von denen, die ihn zunächst abgelehnt hatten: die Konservativen, der großdeutsche Katholizismus und auch die Sozia­listen. Sie wollten den Nationalstaat verändern, aber seine Existenz begrüß­ten sie oder fanden sich mit ihr ab. Diese schnelle Billigung des deutschen Nationalstaats auch durch die ursprünglichen Gegner der Reichsgründung schwächte den Liberalismus, die eigentliche Reichsgründungspartei. Das

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mag paradox klingen, verdeutlicht sich aber im Vergleich mit den beiden anderen Nationen, die in den 1860er Jahren ihre Staatlichkeit erreichten bzw. sicherten. In Ungarn wurde die Politik beherrscht durch die permanente Aufgabe, die nationale Autonomie gegen Österreich zu behaupten; in Italien entstand eine katholische Opposition, die den Nationalstaat grundsätzlich in Frage stellte. Die nationalpolitischen Konflikte der nationalstaatlichen Gründungsära wurden also verstetigt. Das festigte die politische Position der Liberalen als Anwälte der nationalen Existenzsicherung. Im Deutschen Reich konnten die Liberalen eine solche Position nicht behaupten, da die preußischen Konservativen sich ab Mitte der 1870er Jahre mit dem Natio­nalstaat abfanden und wenige Jahre später der Abbau des Kulturkampfes einsetzte. Indem die Konkurrenten um die bürgerlichen Wahlstimmen sich mit dem Nationalstaat arrangierten, stießen sie die deutschen Liberalen aus ihrer Ausnahmeposition, in die sie während der Reichsgründungsära hinein­gewachsen waren. Auch die Gegnerschaft zur Sozialdemokratie, die zu »Reichsfeinden« stigmatisiert wurden, stärkte nicht die politische Position der Liberalen. Denn wer glaubte, das Reich nach links verteidigen zu müs­sen, fand in den Konservativen Bündnispartner, die weit weniger als die Liberalen ihren Kampfwillen rechtsstaatlich zügelten.

3. In Deutschland war der Streit um den »richtigen« Weg zum Nationalstaat verbunden mit der konfessionellen Trennlinie zwischen Protestanten und Katholiken. Die Ablehnung eines kirchlichen Weltdeutungsmonopols ge­hörte zwar überall zum Glaubenskern des Liberalismus, doch in Deutsch­land wirkte sich dieser Konflikt politisch anders aus als in den europäischen Vergleichsstaaten. In den katholischen Staaten Belgien, Frankreich und Ita­lien stabilisierte der Laizismus der Liberalen deren politische Position, da hier Opposition zu kirchlichen Ansprüchen nicht mit dem Konflikt zwi­schen rivalisierenden Kirchen verquickt war. In Deutschland dagegen hieß liberaler Widerspruch zum Katholizismus stets Bekenntnis zum Protestan­tismus, und die protestantisch-kleindeutsche Reichsgründung wurde von den Liberalen gar zur politischen Vollendung der Reformation stilisiert. Den deutschen Liberalen gelang es zwar nicht, den Katholiken dauerhaft den Stempel der »Reichsfeinde« aufzudrücken, aber der konfessionelle Gegen­satz war stark genug, um den Liberalen den Zugang zur katholischen Bevölkerung zu verstellen. Ein Drittel aller Deutschen schied also von vornherein als mögliche Wähler und Mitglieder liberaler Parteien aus. Der deutsche Liberalismus wurde mit der Reichsgründung zu einem rein prote­stantischen Phänomen, aber der Protestantismus wurde nicht liberal. Er war vielmehr zu allen politischen Richtungen offen: Liberale und Konservative konkurrierten gemeinsam um die Stimmen des protestantischen Bürger­tums; die protestantischen Arbeiter wählten zunehmend die Sozialdemokra­tie, gegen die sich die Liberalen unter den Bedingungen des demokratischen Wahlrechts in der Konkurrenz um die Stimmen der Arbeiter nicht behaup­

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ten konnten. In Großbritannien dagegen besaßen die Liberalen einen festen Rückhalt in den nonkonformistischen Kirchen und auch bei den Katholiken, während die Konservativen im Anglikanismus ihre konfessionelle Haupt­stütze fanden. Und das begrenzte Wahlrecht trug dazu bei, die Gründung einer eigenständigen Arbeiterpartei zu verzögern. All dies schuf dem briti­schen Liberalismus Handlungsspielräume, die dem deutschen Liberalismus nicht offenstanden.

4. Im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte der Sozialliberalismus eine Re­naissance. Vergleichende Studien dieser gemeineuropäischen Entwicklung, zu der die Beiträge einige Hinweise bieten, fehlen bislang. Sie wären nötig, um der Frage vertieft nachzugehen, ob es einen »Sonderweg« der deutschen Liberalen gegeben hat. Es scheint, daß der deutsche Sozialliberalismus auf zentralstaatlicher Ebene stärker als in anderen europäischen Staaten mit imperialistischen Zielen verbunden gewesen ist. Einbezogen werden müßte jedoch der kommunale Strang sozialliberaler Politik - ein bislang weitestge­hend unerforschter Bereich, der auch in den folgenden Beiträgen nicht berücksichtigt wird. Der kommunale Liberalismus sollte künftig vorrangig erforscht werden, weil in den Städten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­derts der moderne Daseinsvorsorgestaat entstanden ist. Eine vergleichende Analyse wird vermutlich die soziale Innovationskraft des deutschen Libera­lismus weit stärker betonen als dies bislang üblich ist. Auch die hohe Bedeutung des Wahlrechts für die Wirkungschancen der Liberalen würde erneut bestätigt. Denn die deutschen Liberalen behaupteten sich in den Städten, den Zentren der Industrie und der Industriearbeiter, länger als in den Parlamenten auf Länder- und Reichsebene: Das undemokratische Kom­munalwahlrecht schuf den Liberalen einen politischen Schutzraum, in dem sie bemerkenswerte soziale Leistungen vollbrachten.

5. Die Bedeutung, die in diesem Band dem Adel fur die Geschichte des europäischen Liberalismus im 19. Jahrhundert zugemessen wird, mag man­che Leser überraschen. Damit soll nicht etwa bestritten werden, daß der Liberalismus eine bürgerliche Bewegung gewesen ist. Aber es wird erneut zweierlei deutlich: Erstens, das liberale Ideal des Staatsbürgers zielte auf den Citoyen, nicht auf den Bourgeois. Darauf beruhte die klassen- und schich­tenübergreifende Attraktivität des Liberalismus, die in dem Maße zurück­ging, in dem das frühliberale Wunschbild der Mittelstandsgescllschaft ange­sichts der industriekapitalistischen Klassengesellschaft seine Glaubwürdig­keit einbüßte. Und zweitens verweist die hohe Bedeutung des Adels für den europäischen Liberalismus auf dessen Fähigkeit, sich flexibel den verschie­denartigen Handlungsbedingungen in den europäischen Gesellschaften an­zupassen. Wo der Adel seine politische, soziale und ökonomische Bedeutung behauptet hatte, fand er Zugangschancen zum Liberalismus. Voraussetzung dafür war allerdings eine Innovationsbereitschaft, die sowohl politische wie

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ökonomische Wurzeln haben konnte. Die Beiträge zu Italien und Ungarn machen dies deutlich. Hier wurde der Adel zu einem Kernelement der nationalen Bewegung, da deren antiösterreichische Ausrichtung den Inter­essen des Adels entsprach. In Deutschland dagegen lagen die Bedingungen anders. Hier fehlte dieser gemeinsame äußere Gegner, so daß die inneren Konfliktlinien zwischen Adel und Bürgertum in den Vordergrund traten. Das gilt zumindest für die erste Jahrhunderthälfte. Danach wurde die Mög­lichkeit zur politischen Zusammenarbeit von Bürgertum und Adel aufgrund der steckengebliebenen Parlamentarisierung begrenzt. Denn die Parlamen­te, der zentrale politische Wirkungsort der Liberalen, besaßen in Deutsch­land zu wenig Macht, um sich für die Interessendurchsetzung des Adels anzubieten - ein markanter Unterschied zu Großbritannien. Der deutsche Adel suchte Hilfe bei den Monarchen, nicht beim Parlament.

6. In der deutschen Geschichte haben die staatlichen Bürokratien in Re­formphasen eine wichtige, zum Teil sogar eine zentrale Rolle gespielt. Dies scheint sich in dem hohen Anteil der Beamten in den Führungsgremien des deutschen Liberalismus widerzuspiegeln. Staatliche Modernisierung konnte liberale Gestaltungschancen erhöhen oder diese erst schaffen, wie vor allem die Beiträge zu Deutschland, Österreich und Rußland verdeutlichen. Sie zeigen jedoch zugleich, wie wichtig es ist, zwischen Modernisierung und Liberalisierung zu unterscheiden. Beides mußte nicht verknüpft sein. Da der gesellschaftliche Liberalismus die Selbstverantwortung des Einzelnen er­weitern wollte, ist es fraglich, ob der gouvernmentale Liberalismus über­haupt zur liberalen Bewegung gezählt werden kann. Diese Frage blieb auch in der Diskussion unter den Tagungsteilnehmern strittig. Zu beantworten ist sie wohl nur, wenn die Liberalität von staatlicher Modernisierungspolitik jeweils im konkreten Fall geprüft wird.

7. Für eine vergleichende Betrachtung von Liberalismus und Bürgerlichkeit fehlen bislang offensichtlich die notwendigen Vorarbeiten. Liberalismus wurde ganz überwiegend als politisch wirkungsmächtiges Ideenensemble oder als politische Organisation und Bewegung untersucht. Es gibt jedoch kaum Studien, die sich mit der Frage beschäftigen, in welcher Weise der Liberalismus bürgerliche Verhaltensnormen bis in das Alltagsleben hinein geprägt hat und selber durch diese Normen geprägt worden ist. Bedeuteten »bürgerliche Tugenden« für einen liberalen Bürger etwas anderes als für einen konservativen? Auch die These einer Feudalisierung des Bürgertums ließe sich nur angemessen prüfen, wenn wir mehr über bürgerliche Verhal­tensmuster in den europäischen Staaten wüßten.

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Die Beiträge und die Tagungsdiskussionen sprechen nach Meinung des Herausgebers keineswegs dafür, aus der Perspektive des europäischen Libe­ralismus die Annahme eines »deutschen Sonderwegs« zu den Akten zu legen. Der Weg des deutschen Liberalismus läßt vielmehr seit der Reichs­gründungsära bemerkenswerte Besonderheiten erkennen. Und zwar nicht nur im Vergleich mit der westeuropäischen Entwicklung. Auch wenn man, wie es der Konzeption dieses Bandes entspricht, süd- und osteuropäische Staaten einbezieht, um Deutschland nicht im Vorgriff auf die Rolle der »verspäteten Nation« festzulegen, heben sich die Handlungsspielräume der deutschen Liberalen deutlich von denen in anderen europäischen Staaten ab.

Dies festzustellen, bedeutet jedoch nicht, den verbreiteten Vorstellungen vom »Sonderweg« des liberalen Bürgertums in Deutschland zuzustimmen­sofern diese, wie es meist der Fall ist, von einem Machtverzicht des deut­schen Bürgertums oder, so die DDR-marxistischen Studien, von einem »Verrat« des Bürgertums an seiner historischen Mission ausgehen. Dieser Sicht liegt ein Kontrastbild zugrunde, das sich nicht aufrecht erhalten läßt. Denn es ist eine Illusion zu glauben, man könne einen macht- und klassenbe­wußten bürgerlichen Liberalismus in Westeuropa abheben von einem schwachen liberalen Bürgertum in Deutschland, das seine Machtträume ohnmächtig, in freiwilliger Resignation oder aus welchen Gründen auch immer, aufgegeben habe. Diese Korrektur einer verbreiteten Fehleinschät­zung ist ein Ergebnis, zu dem sich die Beiträge des Bandes runden. Ein anderes jedoch heißt: Eine Sonderentwicklung des deutschen Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts läßt sich auch dann erkennen, wenn man auf dieses Kontrastbild verzichtet, das ohnehin mehr aus morali­schen Wertungen als aus empirischen Vergleichsstudien entstanden ist.

Künftig sollten weitere Staaten in den europäischen Vergleich einbezogen werden, vor allem die Niederlande und die Schweiz. Denn in den Niederlan­den vollzog sich eine »Versäulung« der Politik, die Ähnlichkeiten mit der Bindung deutscher Parteien an »sozialmoralische Milieus« (M. R. Lepsius) aufzuweisen scheint. Und mit der Schweiz würde der Vergleich um einen föderativen Staat mit konfessionell gemischter Gesellschaft erweitert.

Anmerkung

1 Auf Anmerkungen wird verzichtet, da die Beiträge die einschlägige Literatur nennen. Ein umfangreicheres Resümee- mit anderer Fragestellung und weitere Vergleichsstaaten einbezie­hend - bietet mein Beitrag: Liberalismus und Bürgertum in Europa, in: J . Kocka (Hg.), Das Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Band 3, München 1988. In der Wertung des deutschen Liberalismus folge ich meinem Buch: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988 (mit Quellen- und Literaturangaben).

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I. Liberalismus im innerdeutschen und

deutsch-österreichischen Vergleich

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LOTHAR GALL

Einführung

Das Generalthema der Tagung wie auch das Thema ihrer ersten Sektion vermeiden die Formulierung »deutscher Liberalismus«. Das mag man dis­kussionsstrategisch verstehen, als Pointierung der Frage: Welche Gemein­samkeiten erlauben es, vor 1871 von einem deutschen Liberalismus zu spre­chen. Es hat aber auch von der Sache her und nicht zuletzt in methodischer Hinsicht seinen guten Grund: Der Begriff »deutscher Liberalismus« läßt, da ihm zunächst keine reale Einheit in den handelnden Personen, in einer gemeinsamen Partei oder »Bewegung«, im Publikum, in der Gesellschaft, auf der staatlichen oder auf der wirtschaftlichen Ebene korrespondiert, gleichsam automatisch die Gemeinsamkeit des Werte- und Überzeugungs­katalogs ins Zentrum treten - mit der Gefahr, daß diese Gemeinsamkeit dann zwar noch differenziert, aber kaum mehr grundsätzlich in Frage ge­stellt wird. Denn das Ergebnis wäre dann ja, zugespitzt gesagt, daß es den Gegenstand, über den man handelt, gar nicht gibt.

Die übergreifende Frage, die sich aus der Themenstellung - »Liberalismus in Mitteleuropa« ergibt und die sich an die im Folgenden abgedruckten Einzelreferate stellen läßt, lautet also zunächst einmal: Was ist das Verbin­dende, was ist das von Staat zu Staat, von Region zu Region Trennende? Auf welchen Ebenen liegen die Gemeinsamkeiten? Gibt es jeweils verwandte Typen von Liberalismus - die unter Umständen mit Typen außerhalb Mit­teleuropas mehr Ähnlichkeit haben als mit anderen mitteleuropäischen? Was sind schließlich die tieferen Gründe für das Trennende und für das Gemein­same auf der politischen, auf der gesellschaftlichen, auf der wirtschaftlichen, auch auf der kulturellen Ebene?

Vor dem Vergleich, vor den übergreifenden Fragen hat aber auch hier zunächst einmal der Befund zu stehen, der Befund im jeweiligen einzelstaat­lichen bzw. regionalen Rahmen, ausgehend von einem bestimmten perso­nellen Zusammenhang innerhalb der dortigen liberalen Bewegung und späteren Partei. Dieser Rahmen und Zusammenhang bildet den Ausgangs­punkt aller in dem folgenden Abschnitt zusammengefaßten Beiträge, bis auf zwei, deren Gegenstand - das Problem des Adelsliberalismus und die Frage der Krise des deutschen Liberalismus - sie von vornherein auf den überre­gionalen Bereich verwies. Natürlich steckt in allen dabei zugleich das Sub­strat eines allgemeinen Liberalismusverständnisses. Aber dominierend ist

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doch jeweils der konkrete Zusammenhang mit Akzentuierung ganz be­stimmter Probleme.

Aus ihnen seien hier einleitend einige herausgegriffen und hervorgeho­ben, die immer wieder auftauchen, offenbar wiederholt eine zentrale Rolle spielten und sich so vielleicht am ehesten zu einer - das je Besondere wie das Übergreifende klärenden - vergleichenden Betrachtung eignen.

Da ist einmal, als ein offenkundig zentrales Thema der frühen Zeit des Liberalismus und der liberalen Bewegung in Mitteleuropa, das Verhältnis zwischen aufgeklärtem Absolutismus, Reformbürokratie und Liberalismus. Es spielt vor allem in den Beiträgen von Barbara Vogel, Herbert Obenaus und Klaus Koch eine zentrale Rolle, aber auch in den Ausführungen von Harm­Hinrich Brandt. Barbara Vogel entwickelt dazu die dezidierte These, »daß sich in den bürokratischen Apparaten der Einzelstaaten ein früher, originärer Liberalismus etablierte« in Gestalt einer liberalen Beamtenfraktion, die an die Nation appellierte und ein ganz spezifisches nachständisches, aber zu­gleich vorrevolutionäres Gesellschaftsmodell entwickelte. Während Harm­Hinrich Brandt speziell mit Blick auf Österreich und die österreichische Reformbürokratie ganz ähnlich argumentiert, betont Herbert Obenaus, daß die Reformen, weitgehend ohne Bezug auf die real vorhandenen gesell­schaftlichen Kräfte konzipiert, in der Praxis auch im wesentlichen ohne Appell an sie und an die Öffentlichkeit durchgesetzt worden seien und daß dies die liberale Bewegung zunächst eher geschwächt habe. Diese habe sich in Preußen denn auch bezeichnenderweise nicht im Zusammenwirken mit dem Staat und seiner Bürokratie, sondern in Opposition zu ihnen vor allem auf der regionalen Ebene entwickelt, insbesondere in der Rheinprovinz und in Ost- und Westpreußen, der späteren Provinz Preußen. Ähnlich hebt auch Klaus Koch hervor, daß für den österreichischen Liberalismus der Josephi­nismus zwar eine, aber durchaus nicht, wie man mit Winter lange Zeit gemeint hatte, die alleinige Wurzel gewesen sei. Eine mindestens ebenso wichtige Rolle habe - hier liefert sein Beitrag wie der von Harm-Hinrich Brandt zugleich eine gewichtige Ergänzung zu dem Referat von Christof Dipper - der an England orientierte freisinnige Adel auf der einen, die vom Wirtschaftsbürgertum und der Intelligenz getragene bürgerlich-liberale Be­wegung im engeren Sinne auf der anderen Seite gespielt, die sich vor allem Frankreich und den französischen Liberalismus zum Vorbild nahm.

Hiermit ist schon ein weiteres zentrales Thema angeschnitten, das in praktisch allen Beiträgen eine hervorgehobene Rolle spielt: die Frage nach dem Charakter der bürgerlich-liberalen Bewegung in politischer und vor allem in sozialer Hinsicht. Alle Autoren verstehen die liberale Bewegung in erster Linie als eine politische Bewegung, genauer gesagt als Verfassungsbewe­gung mit dem Ziel zunächst der Etablierung einer modernen rechtsstaatlich­parlamentarischen Verfassung und dann der inneren Umgestaltung der jeweiligen Staaten in ihrem Sinne. Dabei war die Trägerschicht offenbar von Region zu Region eine sehr unterschiedliche. Neben dem freisinnigen Adel,

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der in Österreich und in den östlichen Provinzen Preußens, aber auch, wie Christof Dipper zeigt, in den süddeutschen Staaten eine erhebliche Rolle spielte, waren es zunächst vor allem Juristen und Publizisten, dann in zuneh­mendem Maße Vertreter des Wirtschaftsbürgertums, die die liberale Bewe­gung trugen. Charakteristisch war fast überall ihr dezidiert überständischer Charakter, und zwar eben nicht nur in programmatischer Hinsicht, sondern auch ganz konkret, in ihrer sozialen Zusammensetzung. Allerdings weist Wolfgang Kaschuba mit Recht darauf hin, daß dieser Befund zwar in der Grundtendenz sehr eindeutig ist, daß jedoch im einzelnen hier noch vieles im Dunkeln liegt und es - nicht zuletzt angesichts einer eher disparaten Quellen­lage - noch einiger Anstrengungen bedarf, um in dieser Beziehung auf festen Grund zu gelangen. Wie Toni Offermann warnt er in diesem Zusammen­hang davor, allzu rasch von den Repräsentanten auf die Repräsentierten zu schließen: Daß etwa die Vertreter der liberalen Bewegung auf der einen Seite und die der demokratischen auf der anderen, was ihre Herkunft, ihren Beruf und ihre soziale Stellung anging, ganz dem gleichen Milieu entstammten, läßt erkennen, daß hier andere Faktoren, vor allem das Prinzip der Ab­kömmlichkeit, eine entscheidende Rolle spielten.

Auf scheinbar sichereren Boden gelangt man in dieser Hinsicht von dem Zeitpunkt an, von dem an die bürgerlich-liberale Bewegung sich, vor allem nach 1848, organisatorisch zur Partei verfestigte. Toni Offermann zeigt jedoch, wie auch in anderen Zusammenhängen und unter etwas anderen Aspekten Harm-Hinrich Brandt und Lothar Höbelt, daß sowohl die spezifi­sche politische Zielsetzung als auch die jeweilige soziale Struktur der Anhän­gerschaft ganz entscheidend von dem politischen und sozialen Kontext abhingen und abhängig blieben, in dem die liberale Partei und Bewegung jeweils agierte. So hat etwa in Köln im Vergleich zu Berlin die Konkurrenz der katholischen Bewegung für die Liberalen den zunächst noch durchaus offenen Zugang zur Handwerkerschaft und auch zur Arbeiterschaft verengt. Lothar Höbelt glaubt mit Blick auf Österreich in dieser von Land zu Land bzw. auch von Region zu Region und Stadt zu Stadt unterschiedlichen Konkurrenzsituation mit anderen politischen Kräften sogar ein entscheiden­des typenbildendes Element des Liberalismus und der liberalen Parteien zu erkennen: Wo die Liberalen hauptsächlich in Konkurrenz zu konservativen Kräften standen, habe sich der Typus der Fortschrittspartei gebildet. Wo der Hauptrivale die katholische Bewegung in ihren verschiedenen Spielarten und mit ihrer sehr weitreichenden Integrationskraft gewesen sei, habe sich der spezielle Typus der freisinnigen Partei herausgeformt.

Das fuhrt unmittelbar zu einem dritten Komplex, der für den Liberalis­mus vor allem seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Schlüssel­rolle spielte: das Verhältnis des Liberalismus zur »Demokratie« und zu den »Massen«. Einigkeit besteht weitgehend darüber, daß dies eine Schicksals­frage für den Liberalismus gewesen sei, aber auch darüber, daß hier unser Wissensstand noch besonders fragmentarisch ist, insbesondere was die Frage

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der sozialen Basis angeht. Auch stellt sich die Relation zwischen Basis und Programm offenbar komplizierter dar, als man zunächst annehmen möchte. So zeigt Toni Offermann, daß gerade dort, wo, wie in Köln, die soziale Basis aufgrund der Konkurrenzsituation mit der katholischen Bewegung eher eingeengt war, der Liberalismus besonders nachdrücklich an Öffentlichkeit und Volk als entscheidende Instanzen appellierte, dezidiert linksliberal-de­mokratische Positionen vertrat und sich eindeutig zu der Forderung nach dem parlamentarischen Regierungssystem bekannte. Man wird von daher bei der Analyse wohl immer auch die Möglichkeit einer Art Flucht nach vorne in Rechnung stellen müssen, speziell dort, wo die eigene Basis rebus sie stantibus noch kein entsprechend breites Fundament bot.

Von daher ergibt sich, ein weiterer wichtiger Punkt, bei der Betrachtung der Stellung des Liberalismus, der liberalen Bewegung zur Machtfrage ein sehr ambivalentes Bild. Harm-Hinrich Brandt vertritt hier im Hinblick auf Österreich noch einmal die schon öfter formulierte These, die Liberalen hätten, bei »schmaler sozialer Basis des parlamentarischen Liberalismus«, zunehmend die Anlehnung an den Staat gesucht. Demgegenüber zieht Toni Offermann aus seiner vergleichenden Analyse der Verhältnisse in Berlin und Köln den Schluß, die Tendenz zur Anlehnung an den Staat in seiner beste­henden Form stehe nicht in direkter Relation zur Breite der sozialen Basis des Liberalismus. Lothar Höbelt schließlich betont, daß zumindest der öster­reichische Liberalismus konsequent an dem Aufbau einer eigenständigen Machtposition als Partei der gesellschaftlichen Integration auf nationaler Basis gearbeitet, sich also als die eigentliche nationale Partei präsentiert habe.

In der Tat ist wohl das Verhältnis zum nationalen Gedanken und zur National­staatsidee speziell für den mitteleuropäischen Liberalismus das kardinale The­ma gewesen, das seinen Charakter und seine Entwicklung entscheidend bestimmt hat und für seinen Erfolg und seinen Mißerfolg von zentraler Bedeutung gewesen ist. Die liberalen Parteien wurden hier durchgehend zu nationalen Parteien, jedenfalls zu national fundierten Parteien. Das gilt für die preußische Fortschrittspartei ebenso wie für den österreichischen Libera­lismus und die süddeutschen Liberalen. Auf diesem Gebiet waren sie zudem zunächst fast ohne Konkurrenten, denn weder die konservativen noch die katholischen Parteien waren anfangs nationale Parteien. Während also auf fast allen anderen Feldern des politischen und gesellschaftlichen Lebens die jeweilige Konkurrenz die spezifische Ausrichtung der betreffenden liberalen Gruppierung in Stadt, Region und Land bestimmt hat und damit ganz unterschiedliche Typen und Typengruppen entstehen ließ - mit den Ober­gruppen, nach Lothar Höbelts Vorschlag, der »Fortschrittsparteien« hier und der »freisinnigen Parteien« dort-, vereinigte der nationale Gedanke alle liberalen Gruppen und Richtungen in dem Typus der »nationalen Partei«. Und alle gerieten sie in eine tiefe Krise, als sich seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts der nationale Gedanke von einem Prinzip, das den Wunsch nach politischer und gesellschaftlicher Veränderung bündelte, zu einer Idco-

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logic des Status quo wandelte, also jene vielbeschriebene Entwicklung »vom linken zum rechten Nationalismus« (Η. Α. Winkler) in Gang kam.

Diese Krise löste im gesamten liberalen Lager schärfste Auseinanderset­zungen über den künftigen Kurs aus. Neben der vielbeschworenen Rechts­wendung stand dabei auch eine sehr entschiedene Linkswendung eines Teils der Liberalen, im Deutschen Reich ebenso wie in der Habsburger Monar­chie, wo sich diese Richtung, wie Lothar Höbelt zeigt, in den neunziger Jahren sogar weitgehend durchsetzte. Durchgehend kann man in diesem Zusammenhang von einem liberalen Revisionismus mit sehr unterschiedli­chen Ergebnissen sprechen.

Dieser Revisionismus war zugleich, wie vor allem Gangolf Hübinger in dem abschließenden Beitrag dieser Sektion betont, Teil und Ausdruck einer Modernisierungskrise, die jene politische und gesellschaftliche Bewegung, die sich lange Zeit hindurch als Speerspitze des Fortschritts, als Agent des politischen und gesellschaftlichen Wandels verstanden hatte, naturgemäß am härtesten traf. Die »neue liberale Grundfrage«, so Hübinger, habe nun nicht mehr wie im Vormärz und auch noch in den unmittelbar folgenden Jahrzehnten gelautet, »wie kann ›Persönlichkcit‹ aus traditionalen Ord­nungen entbunden werden, sondern neuformuliert, wie kann im Zeitalter der industriellen Riesenbetriebe und des allgewaltigen bürokratischen Machtstaates ›Persönlichkeit‹ erhalten werden«. Eine solche Frage konnte, etwa bei Friedrich Naumann und bei den entschieden linksliberal-demokra­tischen Kräften, zu einer Öffnung gegenüber ganz neuen Ideen, zur Propa­gierung ganz neuer Formen des politischen und gesellschaftlichen Zusam­menlebens fuhren. Im Kern aber steckte in ihr mit der darin enthaltenen Neigung zur »Entkoppelung von Wirtschafts- und Kulturfortschritt« und zur Betonung der kulturellen anstelle der sozialen Frage doch vor allem die Tendenz, sich rückwärts zu orientieren, das Erbe vergangener »Bürgerlich­keit« zu beschwören. Sic signalisierte zugleich, auf einem gewissen Höhe­punkt des Einflusses des Bürgertums in Wirtschaft und Gesellschaft, in Kultur und Wissenschaft und zunehmend auch in der Politik, eine tiefe Krise dieses Bürgertums. Die Frage nach ihren Gründen, nach ihrem Verlauf und ihrem Ausgang speziell in Mitteleuropa öffnet dabei auch hier wieder, wie in vielen früheren Phasen, den Blick auf den engen Zusammenhang, in dem die Geschichte des Liberalismus als politisch-soziale Bewegung und die Sozial­geschichte des Bürgertums stehen, ein Zusammenhang, der, wie die Beiträ­ge gerade dieser Sektion zeigen, immer mehr ins Zentrum der gegenwärti­gen Liberalismusforschung rückt.

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JAMES J . SHEEHAN

Wie bürgerlich war der deutsche Liberalismus?*

»The nature of a political struggle is to divide a nation into two sides. There is no incompatibility between accepting the existence of this simple political dicho­tomy and finding underneath the political struggle a much more complex social and economic nexus. The error [lies] .. . in taking the political division as the basis for social history.«

Alfred Cobban1

Diese Warnung von Cobban beschäftigt mich, seit ich mich mit dem Ver­hältnis zwischen Liberalismus und Bürgerlichkeit auseinandersetze, genauer gesagt: mit der Frage, wie bürgerlich die liberale Bewegung war. Sie stim­men mir sicher zu, wenn ich feststelle, daß die Beschäftigung mit dieser Frage auf einigen wenigen Seiten keine leichte Aufgabe ist. Vielleicht kann ich nicht mehr tun als klären, um was es eigentlich geht und was uns dabei helfen könnte, Antworten zu erkennen, die sich vielleicht im Verlauf der Tagung ergeben. Dies erfordert eine ausführliche Definition, den Versuch, die Konturen von Bürgerlichkeit und Liberalismus innerhalb des geschicht­lichen Rahmens herauszuarbeiten. Es sollte uns jedoch nicht überraschen, wenn sich keines der beiden Phänomene mit einer engmaschigen Definition fassen läßt. Denn beide Konzepte entstanden zu einer Zeit, als die gesell­schaftlichen, politischen und kulturellen Grenzen neu gezogen wurden, als die gewohnten Unterschiede verschwanden und die neuen noch nicht greif­bar waren. Die Schwierigkeiten, denen wir bei der Definition von Bürger­lichkeit und Liberalismus begegnen, reflektieren auch die Unsicherheiten der damaligen Zeitgenossen; ihre historischen Probleme geben uns historio­graphische Rätsel auf. Bei einem Thema wie dem vorliegenden sollten wir uns vor Vereinfachungen hüten. Ich glaube, es war Einstein, der einmal sagte, daß es die Aufgabe der Wissenschaft sei, die Dinge so einfach wie möglich darzustellen - aber auch nicht einfacher.

Mein Beitrag gliedert sich in drei Teile: Zunächst werde ich die Entwick­lung von Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert skizzieren, die ich als ein Bündel von Werten und Einstellungen sehe, geschaffen von Gruppen, die noch zur

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traditionellen ständischen Ordnung gehörten, aber nicht mehr ein fester Bestandteil von ihr waren; zweitens werde ich untersuchen, wie die liberale Bewegung das Phänomen Bürgerlichkeit verinnerlichte und erweiterte, um den gesellschaftlichen und politischen Forderungen des neuen Jahrhunderts gerecht zu werden; zum Schluß werde ich mich kurz mit dem Schicksal von Bürgerlichkeit und Liberalismus nach 1871 beschäftigen. Diese Gliederung entspricht meiner Überzeugung, daß die Definition dieser Phänomene nicht nach normativen bzw. universellen, sondern vielmehr nach deskriptiven und spezifischen Maßstäben erfolgen sollte. Wenn wir herausfinden wollen, ob der deutsche Liberalismus bürgerlich war oder nicht, besteht unsere Aufgabe darin, die Bedeutung dieser Begriffe zunächst innerhalb ihres spezi­fischen Kontexts auszuloten, und nicht, sie mit vermeintlich »ausgereifte­ren« Beispielen in anderen Gesellschaften zu vergleichen. Trotz der mir bekannten Einwände gegen ein solches historisierendes Vorgehen, halte ich es für richtig, daß wir unsere Betrachtungen in dieser Form beginnen sollten, sie aber nicht notwendigerweise so beschließen müssen.

1. Bürgerlichkeit

Als Lessing 1755 dem Stück »Miss Sara Sampson« den Untertitel »Ein bürgerliches Trauerspiel« gab, was meinte er da mit bürgerlich? Weder die handelnden Personen (ein Adliger, seine Tochter, Geliebte sowie verschie­dene Gefolgsleute), noch der Schauplatz (eine einfache Herberge), noch die Handlung (Liebe, Verrat, Tod) scheinen etwas mit dem zu tun zu haben, was wir mit Bürgertum verbinden. Aber das zeitgenössische Publikum dachte nicht so: für sie repräsentierte Lessings Stück eine Denkweise und ein Empfinden, die sie sofort als bürgerlich erkannten. Das bürgerliche Trauer­spiel wurde schon bald zu einem etablierten Genre: als Lessing 1772 eine neue Ausgabe von Sara Sampson veröffentlichte, hielt er einen Untertitel nicht mehr für nötig. Der gesellschaftliche Standort und der moralische Zweck des Stückes bedurfte nun keiner näheren Erläuterung mehr.

Den Zeitgenossen offenbarte sich die bürgerliche Qualität von Lessings Stück im wesentlichen durch das, was es nicht war. Man konnte »Sara Sampson« nicht mit einer jener barocken Tragödien, französischen Komö­dien oder volkstümlichen Farcen verwechseln, die einst die deutschen Thea­ter beherrscht hatten. Der Schauplatz war weniger großartig als vielmehr alltäglich, die Akteure, eher gewöhnlich als heroisch, die Tonart eher maß­voll als blumig oder einfach vulgär. Bei »Sara Sampson« geht es, wie in den meisten bürgerlichen Dramen, um die Suche des Individuums nach Glück im persönlichen, häuslichen und beruflichen Bereich. Die Figuren solcher Dramen streben nach emotionaler Zufriedenheit und sozialer Sicherheit -was häufig eine gute Heirat bzw. einen angesehenen Beruf bedeutete oder

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erst das eine, gefolgt vom anderen. Es ist bezeichnend, daß die Handlung jeweils auf einen moralischen Konflikt zwischen Echtheit und Erfindung, Aufrichtigkeit und Verrat - in Schillers klassischer Version zwischen Liebe und Intrige - hinausläuft. Weder Autor noch Publikum betrachteten diese Konflikte unter ausschließlich gesellschaftlichen Vorzeichen, und doch iden­tifizierten sie sich eindeutig mit der von den Charakteren repräsentierten moralischen Ordnung. Das Publikum, das für Miss Sara Sampson weinte, reagierte damit auf umkämpfte Tugenden, die zugleich universelle Gültig­keit besaßen, aber vor allem seine ureigenen waren.

Lessing stellte moralische Ordnung aristokratischer Korruption gegen­über, über die er eine der handelnden Personen folgendes sagen läßt: »nicht­würdigste Gesellschaft von Spielern und Landstreichern«, und »ich nenne sie, was sie waren, und kehre mich an ihre Titel, Ritter, und dergleichen nicht.«2 Aber das bürgerliche Drama bildete auch einen Gegenpol zur plebe­jischen Roheit. So bemerkte der Autor eines Aufsatzes über das bürgerliche Trauerspiel, der auch 1755 veröffentlicht wurde, daß solche Stücke nicht vom Pöbel handeln könnten, und zwar aus »Mangel der Erziehung und des Umgangs«. Die Akteure sollten nach Ansicht dieses Autors stattdessen aus einem »gewissen Mittelstand zwischen dem Pöbel und den Großen« kom­men. Hierzu gehörten »der Kaufmann, der Gelehrte, der Adel, kurz, jedwe­der, der Gelegenheit gehabt hat, sein Herz zu verbessern, oder seinen Ver­stand aufzuklären...«. Zugehörigkeit zum Mittelstand ist nicht für jeden möglich - dazu gehört ein gewisses Maß an Besitz und Bildung. Aber von jenen, die nicht zum Pöbel gehören, wird eine ganz bestimmte Art von Sensibilität und Intellekt gefordert. Wir begegnen hier einem Verständnis von Gesellschaft, das für Bürgerlichkeit wie auch Liberalismus typisch ist: mittels dieser Definition wird Bürgerlichkeit zugleich zu einer gesellschaftli­chen und moralischen Kategorie erhoben, oder genauer gesagt, Bürgerlich­keit hat gesellschaftliche Voraussetzungen, manifestiert sich jedoch auf einer moralischen Ebene.3

Bevor ich jedoch auf die gesellschaftliche Grundlage von Bürgerlichkeit eingehe, möchte ich kurz deren moralische Ordnung betrachten - jene Werte und Überzeugungen, die die Verbindung zwischen bürgerlicher Kul­tur und liberaler Politik am deutlichsten manifestieren.

Ein Kernaspekt von Bürgerlichkeit war das Verhältnis des Individuums zur gesellschaftlichen Welt. In der Kultur des 18. Jahrhunderts begegnen wir diesem Problem in der einen oder anderen Form immer wieder - in Episte­mologie und Ethik, ökonomischer Theorie und Pädagogik, Rechtswissen­schaft und Literaturwissenschaft. Um dieses Problem drehen sich zum Beispiel die autobiographischen Reflexionen von Jung Stilling und vielen anderen. Es war Antrieb für Kants heroische Bemühungen, den Fesseln der Subjektivität zu entkommen, und für Goethes Versuch, uns die Bildung des Charakters vor Augen zu fuhren. Und dieses Problem ist es ganz offensicht­lich, für das der Liberalismus - vor einem andersgearteten historischen

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