lfrd Döbln
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Alfred Döblins <Schicksalsreise< ist nur vordergründig ein Bericht
über eine qual- und gefahrvolle Flucht aus Nazideutschland über
Frankreich, Spanien und Portugal nach Amerika. Nicht nur über die
äußere Reise, über Angst und Entbehrungen erfährt der Leser Inter-
essantes, sondern mehr noch über des Dichters Innenleben: «Es war
keine Reise von einem Ort zum anderen, sondern eine Reise zwi-
schen Himmel und Erde.»
Die Bekenntnisse bestehen aus drei Teilen: Döblin bewegt sich weg
von der Heimat — <Europa, ich muß dich lassen> —, dann nach <Ame-
rika> (wo er zeitweise als writer bei MGM in Hollywood arbeitete),
und später auch <Wieder zurück>. Am Ende von Döblins intensiven
Reflexionen und Schilderungen, als Quintessenz all der Erfahrun-
gen von Vergänglichkeit, Verlust und Trauer, steht die Maxime:
Nimm von der Gegenwart, was sie hergibt.
Döblins Reise-Bekenntnisse in dieser erstmals im Taschenbuch
vorliegenden kommentierten Ausgabe lesen sich wie ein Roman,
sind intime Begegnung mit einem großen Dichter und gleichzeitig
beispielhaftes Zeugnis für das Schicksal deutsch jüdischer Exilanten
während des Nazi-Regimes.
Alfred Döblin, geboren am io. August 1878 als Sohn einer jüdischen
Kaufmannsfamilie, war Nervenarzt in Berlin; dort Mitbegründer
der expressionistischen Zeitschrift <Der Sturm>.1933 Emigration nach Paris, 1940 Flucht nach Amerika und Kon-
version zum Katholizismus.
Nach dem Krieg Rückkehr als französischer Offizier nach Deutsch-
land. Herausgeber der Literaturzeitschrift <Das goldene Tor<
(1946-1951) und Mitbegründer der Mainzer Akademie (1949). Aus
Enttäuschung über das Nachkriegsdeutschland 1953 Rückkehr
nach Paris. Er starb am 26. Juni 1957 in Emmendingen bei Freiburg.
Alfred Döblin
Werkausgabe in Einzelbänden
Jagende Rosse/Der schwarze Vorhang und andere
frühe Erzählwerke (2421)
Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman (2423)
Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine. Roman (2424)
Wallenstein. Roman (2425)
Der deutsche Maskenball von Linke Poot/Wissen und
Verändern (2426)
Reise in Polen (2428)
Manas. Epische Dichtung (2429)
Unser Dasein (2431)
Pardon wird nicht gegeben. Roman (2433)
Amazonas. Romantrilogie ( 2434)Der Oberst und der Dichter oder Das menschliche Herz/
Die Pilgerin Aetheria. Zwei Erzählungen ( 2439)Der unsterbliche Mensch/Der Kampf mit dem Engel (2440)
Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende. Roman (2442)
Drama, Hörspiel, Film (2443)Briefe ( 2444)
Zwei Seelen in einer Brust (2445)
Alle Bände sind einzeln erhältlich
Diese Werkausgabe Döblins ist textidentisch mit der von Walter
Muschg begründeten und von Anthony W. Riley — in Verbindung
mit den Söhnen des Dichters — herausgegebenen Ausgabe des
Walter-Verlags, Solothurn (früher Olten).
Alfred Döblin
SCHICKSALSREISE
BERICHT UND BEKENNTNIS
In Verbindung mit den Söhnen des Dichters
herausgegeben von Anthony W. Riley
Deutscher Taschenbuch Verlag
Von Alfred Döblin
sind außerdem im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:
Berlin Alexanderplatz ( 295)
Die Ermordung einer Butterblume (I5;2)
Ein Kerl muß eine Meinung haben (1694)
Der Überfall auf Chao-lao-sü (10005)
Babylonische Wandrung oder Hochmut
kommt vor dem Fall (1003 5)
November 1918
(Kassettenausgabe in 4 Bänden, S9030)
Vollständige AusgabeSeptember 1996
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
© 1 993 Walter-Verlag AG, Solothurn und DüsseldorfGestaltungskonzept: Max Bartholl, Christoph KrämerUmschlagbild: <Heimkehr> (1941) von Max Beckmann
Satz: Jung Satzcentrum GmbH, LahnauGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier
Druck und Bindung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, NördlingenPrinted in Germany • ISBN 3-423-12225 -0
INHALT
SCHICKSALSREISE
BERICHT UND BEKENNTNIS
7
ANHANGI
37 1
ANHANGII
375
ABBILDUNGEN
3 8 3
EDITORISCHE NACHWEISE
UND ANMERKUNGEN
3 8 9
NACHWORT DES HERAUSGEBERS
4 8 3
PERSONENREGISTER
5 07
ORTSREGISTER
5,5
DIESE SCHRIFT WIDME ICH
MEINER FRAU ERNA,
DIE DEN SCHIFFBRÜCHIGEN ROBINSON,
WIE MAN LESEN WIRD,
AM STRAND AUFHOB UND IHN,
DAZU SICH SELBST
UND UNSERN JÜNGSTEN RETTETE.
ES WAR UNSER SCHMERZ,
DASS WIR NICHT NOCH ANDERE,
DIE UNS AM HERZEN LAGEN,
MITNEHMEN KONNTEN.
Erstes Buch der Schicksalsreise geschrieben 1940-1941 in Hollywood inKalifornien, zweites und drittes Buch 1948 in Baden-Baden
INHALT
Erstes Buch
Europa, ich muß dich lassen
Teil I
DIE FAHRT INS UNBEKANNTE
i. Kapitel: Paris in Erwartung des Schlages 17
Das Radio meldet .. 17
Die letzten Pariser Tage .. zo
Aufbruch aus Paris .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. z4
2. Kapitel: Flucht durch Frankreich .................... 292,9
Nach Tours .. .. z9
In Tours 3 IMoulins .. 3 7Mein erster Ausbruch.......................... 42 .. .. 4z
Die Viehwagen .. .. .. .. .. 44In einem Zug sitzen ist gut ........................ 46 .. .. 46
Im Viehwagen 48
Cahors — Rette sich, wer kann .. S 8
3. Kapitel: Auf der Suche nach meiner Familie 65
Die ersten Zwischenfälle 6S
Ich will es zwingen .. .. .. .. .. .. 73
Kampf gegen Dämonen .. .. .. .. 77Das Flüchtlingslager .. .. 83
Die letzten Anstrengungen.. .. .. .. .. 86
Das Haupt der Gorgonen .. .. .. .. 88
Le Puy.. .. go
Der gestrandete Robinson
............................................... 95Zurück 9S
II
Teil II
GESTRANDET
4. Kapitel: Im Flüchtlingslager .. 99Vornotiz über Beziehungswahn .. 99Tage der Trauer Io3Der Trommler 1 o3
Das Kruzifix iosAuf der Suche nach dem Koffer .. io9
s. Kapitel: Bilder aus den Baracken i i i
Kinderszenen .. i 19Das ist die Zeit der Beraubung 123
6. Kapitel: Ich prüfe und befrage mich 125
7. Kapitel: Ein Zeitungsartikel und anderes.. 136
Überraschungen .. 139Wachträume und Gedanken 143Abermals ein Einspruch 146
Zufälle, Winke und Zeichen .. 147
Ein Gottesdienst .. .. .. .. .. 1 soDas Telegramm I S2
B. Kapitel: Der Bann löst sich I 5 3Eine Stunde im Café I S 3Revolte um die schlechte Abendsuppe.. I 5 5Die Schuld an der Niederlage 157Mühsel ige und Glückliche im Lager 1 S8Kuriositäten im Lager .. i6o
Eine angenehme Serie 164
Kirche und Nationalversammlung .. .. .. .. .. .. .. .. .. 167
9. Kapitel: Und dies war das Lager 169
Die letzten Tage im Lager.. .. 169
Toulouse — Wiedersehen . .. 171Wiedersehen .. .. r 74
I2
io. Kapitel: Eine andere Flucht 175
Die Stille vor dem Sturm 175
Panik .. .. 177
Vorbereitung der Flucht 178
Reise nach Bordeaux .. .. .. 18o
Bordeaux — Waffenstillstand .. .. .. .. .. .. .. 184
Ratlosigkeit 1 88
Die Deutschen sind da .. 194Nach Toulouse .... 197
Toulouse .. .. .. i 99
Teil III
RETTUNG
ii. Kapitel: In Toulouse 203
Flüchtlinge .. Zos
Wartezeit 207
Das Telegramm aus Amerika z 11
Eine dramatische Szene z 13
12. Kapitel: Marseille oder die Jagd nach Visen .. z 17
Das Damoklesschwert .. z2 t
Wunderbare Hilfe Zas
13. Kapitel: Liebliches Spanien 230
Barcelona z 3 a
Durch das glühende Land 234Madrid .. 236
14. Kapitel: Portugal .............................. 2392 39Lissabon z4a
Die tragische Poste restante-Stelle
....................
246
Durcheinander mit Schiffskarten .. .. 248z48
Hitze und Lärm in Lissabon .. .. .. .. 2,52
Aus französischen Zeitungen 259Ein Brief aus Frankreich 263
Auf Schiff 265
Die Überfahrt .. z67
Zweites Buch
Amerika
rs. Kapitel: Wie es uns in Hollywood erging 273
16. Kapitel: Es ruht nicht in mir .. 276
17. Kapitel: Kirche und Religion von innen 281
18. Kapitel: Nachher .. 285
i9. Kapitel: Kriegsende und eine Nachricht 290
20. Kapitel: Das Abfahrtssignal 294
Drittes Buch
Wieder zurück
2!. Kapitel: Europa 30522. Kapitel: In Baden-Baden 309
23. Kapitel: Wie das Land 1946 aussieht 31 a
.24. Kapitel: Sie hätten Chancen gehabt 3 az
25. Kapitel: Kleine Fahrt nach Mainz 326
26. Kapitel: Wiedersehen mit Berlin 33427. Kapitel: Gang vom Bahnhof Friedrichstraße
nach den Linden .. 340
28. Kapitel: Am Alexanderplatz .. 343Rede und Gegenrede 348
29. Kapitel: 1 94 8 3 5330. Kapitel: Ende des Berichtsund Ausklang .. 357
Das Vergehen der Bäume ..
.....................
3 S 8
Das Vergehen der Menschen .. 359Der Wille aller Zeitlichkeit 360
Glück, Schönheit, Liebe in diesem Leben 363
Einer neuen besseren Aufklärung entgegen .. .. .. .. .. .. 365
t4
Teil I
DIE FAHRT INS UNBEKANNTE
i. Kapitel
Paris in Erwartung des Schlages
Das Radio meldet
Am 16. Mai 1940, einem Donnerstag, schloß ich vormittags eine
Arbeit ab, die mich lange Monate beschäftigt hatte. Das Radio tönte
aus dem Nebenzimmer. Der Ansager meldete: die «Tasche» an der
Nordfront der französischen Armee hätte nicht geschlossen werden
können. Die Meldung sagte nichts von einem Durchbruch, von
einem Zerreißen der Front, aber wer Ohren hatte zu hören, hörte.
Die Feder wurde mir aus der Hand geschlagen
Ich war nicht unvorbereitet. Tagelang vorher hatten sich schon selt-
same Gestalten durch unsern Wohnort, St-Germain bei Paris, be-
wegt. Der herrliche Park stand in sommerlicher Blüte, die Wege
waren voller Ausflügler und Spaziergänger, die Kinder spielten aufden Plätzen. Aber auf den breiten Chausseen, die den Park und die
kleine Stadt durchzogen, rollten merkwürdige, unheimliche Wa-
gen, nicht Tanks, nicht Kanonen, sondern — Autos, sonderbar be-
packt und verschnürt, mit Betten und Matratzen auf den Dächern,
mit Hausrat behangen. Und im Innern, zusammengedrängt, ganze
Familien.
Das waren Flüchtlinge aus Belgien und Nordfrankreich. Sie trugen
den Schrecken in unsere friedliche Landschaft. Zwischen den Ma-
tratzenautos fuhren langsame Bauernwagen, mit Pferden und mit
Ochsen bespannt. Darauf lagen und saßen im Heu die Alten und die
kleinen Kinder, und voran und hinterher marschierten die kräftigen
Männer und Frauen mit großen Schritten. Offenbar waren ganze
Dörfer in Bewegung. Viele Männer und Frauen, Bauern in Schaft-
stiefeln, schoben Karren vor sich mit ihren kleinen Kindern und
dem Arbeitsgerät. Das alles hielt vor dem Bahnhofsplatz und wurde
verpflegt.
Und einmal hielten auf dem Bahnhofsplatz am späten Abend auch
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militärische Kraftwagen. Oben hockten junge Soldaten und rauch-
ten. Sie sprachen nicht und sangen nicht. Sie blickten stumm und
trübe auf uns herunter. Es hieß, sie kamen von der Front und gingen
in Ruhestellung. Aus einem siegreichen Kampf kamen sie offen-
sichtlich nicht.
Als nun am 16. Mai der Speaker mit verschleierter Stimme den
schrecklichen Durchbruch im Norden meldete und im Heeresbe-
richt der verhängnisvolle Name «Sedan» auftauchte, fuhr ich nach
Paris und setzte mich mit einem Freund in Verbindung, der bei einer
Behörde arbeitete, mit der ich selbst in loser Verbindung stand. Wir
berieten zusammen, was tun. Er hatte einen hohen Offizier zum
Verwandten und war immer gut orientiert. Sein eigener Fall lag ein-
fach. Im Ernstfall würde er mit den Behörden abtransportiert wer-
den.
Mir riet der sehr ernste, kluge Mann, jedenfalls das Schlimmmste
ins Auge zu fassen und die Abreise von Paris nicht zu lange hin-
auszuziehen. Denn Paris könne von einem Tag zum andern
«Kriegsgebiet» und evakuiert werden. Und wie im letzten Augen-
blick der Abtransport von Hunderttausenden aussehen werde, das
könnte ich mir ausmalen, nach den Erlebnissen des letzten Jahres.
Als mein Freund mich so drängte, mit meiner Familie sofort abzu-
reisen und ich mich nicht geneigt zeigte, kamen wir zu folgendem
.Abkommen: Er würde mich sofort benachrichtigen, sobald ihm
etwas Schlimmes zu Ohren käme. Alsdann sollten meine Frau und
das Kind unter allen Umständen abreisen. Mir selbst schlug er vor,
dazubleiben und mit der Behörde im letzten Augenblick abzufah-
ren. Die Behörden waren damals angewiesen, ihren Platz nur im äu-
13ersten Fall und nur auf Befehl der Regierung zu räumen.
Dabei verblieben wir. Und so wartete ich unruhig und mit wach-
sender Spannung in St-Germain, bis am 25. abends der verabredete
Anruf kam. Wir rüsteten uns schon zum Schlafengehen. Mein
Freund trieb mich mit erregter Stimme, sofort den letzten Zug in die
Stadt hinein zu nehmen. Es könnte passieren bei der ungeheuren
Geschwindigkeit der feindlichen Panzerwagen, daß wir schon mor-
gen von der Stadt abgeschnitten seien. Aber — wir blieben noch die
Nacht über. Wir setzten uns am frühen Morgen in Bewegung, zu
dritt, zur Flucht aus unserm Zufluchtsort. Einen schweren Koffer
hatten wir vorausgeschickt, wir hofften, daß er ankam. Wir selbst
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gingen jeder mit einem Handkoffer bewaffnet, der Junge mit Ruck-
sack und mit einer Decke für die Nacht.
So sah auf dieser Flucht unsere Habe aus: ein großer Koffer, zwei
kleine und der Rucksack. Wie ein Tier, das sich häutet, hatten wir
seit Kriegsbeginn alles von uns geworfen: zuerst die Möbel einer
ganzen Wohnung mit der Bibliothek — sie lagerten irgendwo — dann
die Wäsche, Kleidungsstücke, einen restlichen Bücherbestand; sie
blieben in St-Germain. Wir schrumpften immer mehr auf das direkt
von uns Tragbare ein. — Aber wir trugen noch zuviel.
Wir sind vormittags in Paris angekommen, in dem alten heiteren
Paris. Die wunderbare Stadt nahm uns mit dem gleichen Lächeln
wie immer auf. Sie schien noch nicht zu bemerken, was vorging —
und ihr bevorstand. Die Menschen saßen auf den Terrassen der Ca-
fés und beobachteten verwundert einige schwer bepackte Matrat-
zenautos, die sich unter die anderen mischten.
Es werden aber nicht zwei Wochen vergehen, da wird die prächtige
und glänzende Stadt von einem Todeshauch berührt werden. Aus
zahllosen Garagen werden sich ähnlich beladene Fahrzeuge lösen.
Und nach drei Wochen wird sich eine schwere Menschenwelle aus
der Stadt erheben und sich über dieselben Chauseen werfen, die jetzt
die Belgier ziehen.
Wir hielten uns an diesem Tage in einer Wohnung im Zentrum der
Stadt auf, wo mein Freund Möbel abgestellt hatte. Dann spät abends
begleitete ich meine Frau und den Jungen zur Bahn.
Unheimlich der Anblick des Riesenbahnhofs bei Nacht. Er lag in
Kriegsverdunklung scheinbar verlassen. Bei seinem Betreten aberwurden wir hineingerissen in ein wildes Menschengetriebe. Das
waren hier fast alles Familien. Es sah aus, als drängten sie zu Ferien-
zügen. Aber hier gab es keine Spur von Fröhlichkeit. Man hatte im
Innern der Stadt den Eindruck haben können: es ist ja alles nicht so
schlimm, die Zeitungen übertreiben, der Krieg ist noch weit ent-
fernt. Hier — sah es anders aus.
Jeder Zug nach dem Süden lief mit einem Vor- und Nachzug. Die
Menschen stürzten in die Wagen, saßen und standen mit ihren Kin-
dern auf den Korridoren. Familien, die sich sonst mit der billigsten
Klasse begnügten, hatten ihr Geld für die erste und zweite hinge-
worfen, um noch mitzukommen.
Die Schaffner rannten den Bahnsteig entlang. Sie riefen «en voi-
i9
ture». Ich nahm herzlich Abschied von meiner Frau. Das Kind
weinte an meinem Gesicht. Es hielt mich fest und sagte: «In einer
Woche kommen wir wieder.» Es wollte gar nicht weg, es dachte an
seine Spielgefährten in St-Germain und an seinen lieben Hund, die
Zita. Wir beiden Erwachsenen dachten: Die Reise ist nur eine Vor-
sichtsmaßnahme. Man tut es des Kindes wegen, vielleicht sind wir
zu ängstlich.
Aber ein dunkles Vorgefühl, eine Ahnung überfiel mich, als ich
dann allein aus dem Bahnhof wieder auf die finstere Straße trat: «Es
ist Krieg, man kann bei einem Krieg nie wissen, was geschieht, man
sollte sich eigentlich in solchen Zeiten nicht trennen.»
Aber sie fuhren schon, nach dem Süden.
Die letzten Pariser Tage
Ich habe dann mehr als zwei Wochen in jener Wohnung gehaust, die
mein Freund als Möbelspeicher benutzte. Er hatte da noch einen sei-
ner Bekannten untergebracht, einen Lehrer, der in Paris als Soldat
irgendeinen Dienst versah. Da saß ich in der staubigen Stube, ohne
Teppich, ohne Gardinen, las wenig, schrieb wenig, besuchte die und
jene Bibliothek.
Und wie ich eines Morgens das Fenster aufmachte, um den Laut-
sprecher des Concierge unten auf dem Hof zu hören, tönte aus dem
Apparat die Stimme Paul Reynauds, des Ministerpräsidenten. Seine
Worte konnte ich im zweiten Stock nicht gut verstehen. Aber Rey-
nauds Stimme, die sonst so jugendlich scharf, ironisch und angriffs-
lustig klirrte, tönte diesmal dumpf und erregt.
l[eh laufe Hals über Kopf die Treppe herunter. Die Conciergeloge ist
von Menschen umlagert. Ich komme gerade recht, um zu verneh-
men, was sich gestern ereignet hat, was uns geschehen ist, in Bel-
gien. Der junge König, der Sohn des tapferen «Roi-Chevalier»
Albert des Ersten, hat seiner Armee, 900000 Mann, befohlen, die
Waffen niederzulegen. Er hat das getan, hören wir, ohne seine ver-
antwortlichen Minister zu befragen, er hat nicht einmal seine Ver-
bündeten, die Fanzosen und Engländer, verständigt, die er noch vor
kurzem flehentlich um Beistand angegangen ist. Er hat seine Ver-
bündeten von gestern in eine furchtbare, ja verzweifelte Lage ge-
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