Lehrmeister Ratte || Emotionale Resilienz

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Vor einigen Jahren schrieben mein Kollege Craig Kinsley und ich ein Lehrbuch über die neurobiologischen Faktoren, die bei verschiedenen Geisteskrankheiten beteiligt sind. Unsere umfangreiche Recherche in der biomedizinischen Literatur führte uns zu dem Schluss, dass Stress die größte Gefahr für unsere geistige Gesundheit darstellt. Zwar spie- len auch genetische und andere physiologische Faktoren eine Rolle, doch geht beispielsweise dem ersten Auftreten von Schizophreniesymptomen oft ein belastendes Erlebnis voraus, steht chronischer Stress eindeutig im Zusammen- hang mit Depressionen und legen Stresssituationen den Grundstein für das Auftreten von Angststörungen wie Pho- bien und posttraumatischer Belastungsstörung. Anderer- seits besteht kein Zweifel daran, dass unsere Stressreaktio- nen eine überlebenswichtige Funktion erfüllen, denn nur so können wir die nötige Energie aufbringen, um etwa beiseite zu springen, wenn ein Auto auf uns zusteuert. Die Stresso- ren, mit denen wir es heute zu tun haben, sind jedoch an- dere als zu Zeiten unserer frühesten Vorfahren. Heutzutage müssen wir eher selten vor einem Löwen davonlaufen oder um unser Essen kämpfen. Oft können wir Stresssituationen 5 Emotionale Resilienz K. G. Lambert, Lehrmeister Ratte, DOI 10.1007/978-3-642-37341-1_5 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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Vor einigen Jahren schrieben mein Kollege Craig Kinsley und ich ein Lehrbuch über die neurobiologischen Faktoren, die bei verschiedenen Geisteskrankheiten beteiligt sind. Unsere umfangreiche Recherche in der biomedizinischen Literatur führte uns zu dem Schluss, dass Stress die größte Gefahr für unsere geistige Gesundheit darstellt. Zwar spie-len auch genetische und andere physiologische Faktoren eine Rolle, doch geht beispielsweise dem ersten Auftreten von Schizophreniesymptomen oft ein belastendes Erlebnis voraus, steht chronischer Stress eindeutig im Zusammen-hang mit Depressionen und legen Stresssituationen den Grundstein für das Auftreten von Angststörungen wie Pho-bien und posttraumatischer Belastungsstörung. Anderer-seits besteht kein Zweifel daran, dass unsere Stressreaktio-nen eine überlebenswichtige Funktion erfüllen, denn nur so können wir die nötige Energie aufbringen, um etwa beiseite zu springen, wenn ein Auto auf uns zusteuert. Die Stresso-ren, mit denen wir es heute zu tun haben, sind jedoch an-dere als zu Zeiten unserer frühesten Vorfahren. Heutzutage müssen wir eher selten vor einem Löwen davonlaufen oder um unser Essen kämpfen. Oft können wir Stresssituationen

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K. G. Lambert, Lehrmeister Ratte, DOI 10.1007/978-3-642-37341-1_5© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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überstehen, ohne von unserem Bürostuhl auch nur aufzu-stehen, doch die physiologischen Effekte sind dieselben.

Die Stressreaktion ist komplex und führt offenbar ein Doppelleben, denn sie gilt gleichzeitig als lebensrettend und lebensbedrohlich. Sie begleitet unsere schönsten Mo-mente ebenso wie unsere absoluten Tiefpunkte. Ich be-schäftige mich seit meinen höheren Studiensemestern mit den Auswirkungen von Stress auf Verhalten, Gehirn und Körper und finde das Thema so fesselnd wie eh und je. Wie der Titel dieses Kapitels schon erkennen lässt, gilt meine Aufmerksamkeit nicht mehr in erster Linie der Dokumen-tation schädlicher Auswirkungen von Stress. Vielmehr will ich herausbekommen, wie man emotionale Puffer aufbau-en kann, die uns in Stresssituationen helfen und vor den schädlichen Folgen von chronischem Stress schützen. Resi-lienz ist daher in meinem Labor das wichtigste Schlagwort.

Die Ratten haben uns viel zu diesem Thema beigebracht, und allmählich fügen sich die schwer fassbaren Puzzleteile zu einem sinnvollen Ganzen zusammen. Dabei wird deutlich, dass sich die Auswirkungen von Stress nutzen und zügeln lassen, damit unsere Reaktionen nicht mit uns durchgehen und unsere Emotionen durcheinanderbringen. Besonders hilfreich sind dabei Erkenntnisse über Bewältigungsstrate-gien (Coping), auf die ich in diesem Kapitel besonders einge-he. Ratten wie Menschen erleben immer wieder Stress, und es wird immer deutlicher, dass sich die Schadwirkung auch danach bemisst, wie Stressoren wahrgenommen werden. Je-der Plan zur allgemeinen Gesundheitsvorsorge – Thema des vorigen Kapitels – sollte daher unbedingt auch vorsehen, die Bevölkerung über Stress und Bewältigungsstrategien zu informieren. In den USA verursachen Erkrankungen im

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Zusammenhang mit Stress alljährlich Kosten von mehr als 200 Mrd. $. Stress führt zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen, Angststörungen, Diabetes, Magen-Darm-Erkrankungen, und er schwächt das Immunsystem. Diese Liste ließe sich noch lange fortführen – mit den entspre-chend steigenden Kosten.

Betrachten wir einmal eine Stresssituation, die wir alle kennen: eine Angst einflößende Behandlung beim Zahn-arzt. Wussten Sie, dass Ihr Zahnarzt die Stärke und Dauer der Schmerzen, die man während bestimmter Zahnbehand-lungen empfindet, verringern kann, einfach indem er Sie vorher genau darüber informiert, was er tun wird, bevor er Spritzen und Bohrer auspackt? Forscher haben herausgefun-den, dass die Fähigkeit des Zahnarztes, mit seinen Patienten zu reden, womöglich noch wichtiger ist als seine chirurgi-schen Fähigkeiten. In diesem Fall nämlich ist Unkenntnis kein Segen. Wenn Ihr Zahnarzt einfach ohne jede Erklärung in Ihrem Mund loslegt, spielt das Hippocampussystem ver-rückt und spielt schon einmal alle Worst-case-Szenarien und Fluchtpläne durch, falls der Schmerz unerträglich werden sollte. Sämtliche Gehirnaktivitäten verstärken die Schmerz-wahrnehmung und stellen so sicher, dass die neuronalen Netzwerke alarmbereit sind. Verläuft dagegen alles nach dem Plan, den Ihr Zahnarzt Ihnen zuvor geschildert hat, mag die Behandlung zwar auch schmerzhaft sein, doch Ihr Hippocampus bleibt ruhig und der Schmerz ist erträglicher.

Warum dieser Exkurs über Zahnschmerzen? Zunächst einmal will ich damit deutlich machen, welche Rolle der Kontext für das Ausmaß einer Stressreaktion spielt. Außer-dem halte ich das Thema Stress für ungemein wichtig und kann mir einen Mini-Vortrag über die Ursprünge

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der Stressforschung einfach nicht verkneifen. Bei der Be-schreibung unserer jüngsten Forschungen, die wertvolle Er-kenntnisse über die Entwicklung von Resilienz brachten, ist zudem ein gewisses Maß an Genauigkeit erforderlich, um die Bedeutung unserer Ergebnisse klarzumachen. Stress ist ein so komplexes Phänomen, dass er keine verwässerten Erläuterungen gestattet – und ich will es meinen Lesern nicht zumuten, eine der faszinierendsten Reaktionen unse-res Gehirns in Phrasen abzuhandeln. Ähnlich dem freund-lichen Zahnarzt, der Sie angemessen vor dem warnt, was Sie erwartet, um Ihr Leiden zu minimieren, warne ich Sie hiermit ein bisschen davor, dass ich im Folgenden die um-fangreiche Literatur zum Thema Stress beschreiben werde. Aber ich verspreche Ihnen, dass jegliches Unbehagen im Zusammenhang mit einem akademischen Umweg mini-mal und vorübergehend sein wird, und ich frage den Stoff hinterher auch nicht ab (es sei denn, Sie besuchen einen meiner Hochschulkurse). Interessante Rattengeschichten – von mutig tauchenden bis hin zu völlig verzogenen Nagern – geben Aufschluss über die effektivsten Bewältigungsstra-tegien. Wir beginnen mit einem kanadischen Forscher, der im Umgang mit seinen Ratten etwas unbeholfen war. Aber ein weniger aufmerksamer Wissenschaftler hätte dieses For-schungsgebiet vielleicht gar nicht erkannt!

Geburtsstunde eines Konzepts: Stress

Wohl kaum ein Forscher war auf dem Gebiet der Medizin einflussreicher und produktiver als Hans Selye. Er arbeitete in den 1940er-Jahren an der McGill University in Montreal

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und stieß zufällig auf eine Kaskade physiologischer Vorgän-ge, die typischerweise bei belastenden Situationen ablau-fen. Allerdings begann er seine Forschung mit einem ganz anderen Thema. Selye wollte unbedingt die Wirkung eines bestimmten Hormonextrakts auf Ratten untersuchen. Eif-rig injizierte er jeder Ratte die Substanz und dokumentierte die physiologische Wirkung. Er konnte kaum an sich hal-ten, nachdem er die Beobachtung der Experimentalgruppe – also die Tiere, die den Hormonextrakt erhalten hatten – abgeschlossen hatte. Die Tiere waren eindeutig krank. Ihre Nebennieren waren vergrößert, die Thymusdrüsen (die Teil des Immunsystems sind) waren geschrumpft, und im Magen fanden sich Geschwüre. Selye wähnte sich kurz vor einem medizinischen Durchbruch, doch seine Hoffnungen zerschlugen sich nach einem Durchlauf mit einer Kontroll-gruppe, die kein Medikament erhielt. Bei dieser fand er exakt dieselben Symptome. Wie konnte die Injektion von einfacher Kochsalzlösung, physiologisch gesehen also von gar nichts, den Körper so schädigen? Was ging bei dieser verrückten Studie vor sich?

Diese Befunde lieferten ungeheuer wichtige Hinweise zur Stressreaktion – würde Selye den Code knacken und seine Ergebnisse richtig interpretieren können? Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er bei der Beobachtung der Ratten und der Auswertung der Daten gründlich vorging und schließ-lich zu einer vernünftigen Erklärung der verwirrenden Ergebnisse gelangte. Er musste sich nämlich eingestehen, dass er im Umgang mit den Ratten nicht der Geschickteste war. Bei den Injektionen packte er sie manchmal zu fest. Aus Unsicherheit ließ er sie manchmal fallen und muss-te sie dann mit einem Besen quer durch den Raum jagen,

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um sein Experiment abschließen zu können. Die Ratten in seinem Labor bekamen also nicht nur eine Dosis Hor-monextrakt, sondern obendrein noch eine ziemlich große Portion Angst und Schrecken verabreicht. Die Kontrolltie-re litten unter denselben unangenehmen Bedingungen wie die Experimentaltiere, was erklärte, warum alle Ratten un-abhängig von der injizierten Substanz dieselben Symptome zeigten.

Angesichts dieser faszinierenden Ergebnisse erkannte Se-lye die Bedeutung schädlicher Stimuli und beschloss (gegen den Rat seines Mentors), das Thema Hormonextrakt fallen zu lassen. Er entwarf auf dem sprichwörtlichen Reißbrett weitere Studien, die sich auf die Wirkung schädlicher oder negativer Erlebnisse konzentrierten. Wenn er die Ratten in eine kalte, heiße, laute oder instabile Umgebung setzte, registrierte er ähnliche Ergebnisse – dieselbe Trias an Reak-tionen, wie sie die Ratten der Injektionsstudie gezeigt hat-ten. Selye dokumentierte quantifizierbare Auswirkungen von Notsituationen, eine vor dem Hintergrund der damals eher traditionellen medizinischen Forschung sehr schwieri-ge Aufgabe. Diese Forschung war so ungewöhnlich, dass er nicht einmal wusste, wie er sie eingrenzen oder benennen sollte. Bei seiner ersten Publikation zum Thema im ange-sehenen Fachjournal Nature umging er es, das neue Kon-zept bei einem Namen zu nennen. Sie erschien unter dem Titel „A Syndrome Produced by Diverse Nocuous Agents“ („Über ein durch verschiedene schädliche Agenzien hervor-gerufenes Syndrom“). Darin lieferte er eine kurze Darstel-lung dessen, was er als die grundlegendste Form der Re-aktion auf verschiedene bedrohliche Situationen ansah und als „allgemeines Anpassungssyndrom“ bezeichnete.

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Auf der Suche nach einem prägnanten Begriff, den er in seinen Artikeln verwenden konnte, konsultierte Selye die technische Literatur. Dort fiel ihm die Feststellung auf, dass ansonsten starke Materialien durch Abnutzung an-fällig werden. In diesem geschwächten Zustand barst das Material mit größerer Wahrscheinlichkeit bei der nächsten größeren Belastung. Selye sah Ähnlichkeiten mit seinen Beobachtungen bei Ratten. Obwohl der von ihm gelesene Text eigentlich von einem als strain (deutsch etwa Druck, Überlastung) bezeichneten Prozess handelte, tauchte in der Diskussion auch der verwandte Terminus stress (deutsch etwa Belastung, Spannung) auf. Die meisten Fachleute auf dem Gebiet meinen, dass Selye seine neue Reaktion strain nennen wollte, aber wegen mangelnder Sprachkenntnisse (er war ursprünglich österreichisch-ungarischer Herkunft) verstand er die englischen Beschreibungen nicht hundert-prozentig und wählte das Wort stress.

Der Begriff Stress sorgte anschließend für Verwirrung, weil die Naturwissenschaftler durch die Analogie zum tech-nischen Begriff irritiert waren. War mit Stress nun die Ursa-che oder die Wirkung der von Selye beschriebenen Reaktion gemeint? Selye benutzte den Begriff Stressor, um deutlicher auf den schädlich wirkenden Stimulus Bezug zu nehmen. Exakter wäre es jedoch gewesen, von Stress als Ursache und Strain als Wirkung oder körperliche Reaktion zu sprechen. Wie auch immer, Selye beschrieb unbeirrt sein allgemeines Anpassungssyndrom (heute auch Selye-Syndrom genannt), wobei er den immer gleichen Ablauf der Stressreaktion her-vorhob. Er betonte auch die Bedeutung einer Hormonkas-kade und insbesondere die entscheidende Rolle, die dem Stresshormon Corticosteron zukommt.

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Selye leistete auf diesem Gebiet zwar unschätzbare Arbeit, allerdings haben manche Aspekte seiner Theorien im Laufe der Jahre notwendige Veränderungen und Anpassungen er-fahren. Für unsere Belange ist vor allem interessant, dass Stressreaktionen variabel sein können und nicht immer auf die gleiche Weise ablaufen. Biologische Prädispositionen und Lebenserfahrungen können die Reaktionen des Kör-pers auf Stress verändern. Aus einem Flugzeug zu springen, würde beispielsweise bei mir (auch mit Fallschirm) eine ex-treme Stressreaktion auslösen, von der ich mich nicht so schnell erholen würde. Für meine Assistentin Catherine Franssen aber ist Fallschirmspringen die bevorzugte Me-thode, den Unistress zu bewältigen. Zwei Menschen – zwei vollkommen unterschiedliche Reaktionen auf denselben Stimulus. Wenn Sie vermuten, dass Stressreaktionen auf einer bestimmten Ebene leichter vorhersagbar sind, dann haben Sie recht. Reaktionen auf drohende Gefahren (etwa die, von einem Gebäude gestoßen zu werden), bei denen wir wenig Kontrolle haben, stehen auf dieser Liste ganz weit oben.

Peter Sterling, Neurowissenschaftler an der University of Pennsylvania School of Medicine, leistete unlängst seinen Beitrag zur Entwicklung des Stresskonzepts, indem er den Wert eines anderen im Zusammenhang mit Gesundheit be-nutzten Begriffs infrage stellte, nämlich den der Homöosta-se. Wahrscheinlich erinnern Sie sich noch aus der Schulzeit an diesen Terminus als Bezeichnung für das Gleichgewicht der physiologischen Systeme im Körper. Im 19. Jahrhun-dert führte der Physiologe Claude Bernard den Begriff im Zusammenhang mit der Bewahrung eines konstanten, konsistenten inneren Milieus zum Erhalt der Gesundheit

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ein. Der Physiologe Walter Cannon von der Harvard Uni-versity bezeichnete mit dem Begriff in den 1930er-Jahren dann ausdrücklich das optimale stabile, konsistente innere Milieu des Körpers selbst.

Wie Sterling und andere Wissenschaftler überzeugend darlegten, resultieren gesunde Reaktionen meist nicht aus dem Bewahren von Gleichförmigkeit. Ganz im Gegenteil folgt Gesundheit aus der Aufrechterhaltung optimaler Re-aktionen durch angemessene Veränderung unserer physiolo-gischen Systeme. Wenn Sie einen Marathon laufen, werden Sie das nur überleben, wenn sich Ihr Herz-Kreislauf-System in verschiedenen Phasen des Laufs dem variablen Durch-blutungsbedarf anpasst. Wenn Sie Ihr Lieblingsdessert ver-speisen, hängt Ihre Gesundheit davon ab, dass Ihr Körper die Insulinproduktion verändert, um die aufgenommene Zuckermenge abzubauen. Und wenn Sie ein Kind auf die Straße laufen sehen, müssen Ihre Stresshormone in höherer Menge freigesetzt werden, damit Sie die mentale und phy-sische Energie haben, um den Verkehr zu stoppen und das Kind zu schnappen. Bei gesunden Reaktionen geht es nicht darum, Konstanz zu bewahren, sondern darum, unsere Re-aktionen den Ansprüchen der Umgebung entsprechend zu verändern. Sterling und andere haben vorgeschlagen, den veralteten Begriff der Homöostase durch den Terminus Allostase, definiert als das „Bewahren von Stabilität durch Veränderung“ zu ersetzen. Wiederum im Rückgriff auf eine Analogie aus der Technik führte der Neurowissenschaftler Bruce McEwen vom Rockefeller Institute den Begriff allo-statische Last (allostatic load) ein, um die Überlastung von Gehirn und Körper zu beschreiben, die auftritt, wenn nach belastenden Erlebnissen die notwendigen Veränderungen

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nicht rechtzeitig erfolgen. Wenn das Herz-Kreislauf-System lange braucht, um nach einer Belastung (etwa dem Schlep-pen von schwerem Gepäck) wieder zum Normalzustand zurückzukehren, kann die allostatische Last auf lange Sicht zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen.

Die schädlichen Auswirkungen von Stress, wahrschein-lich eine der wichtigsten biomedizinischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, wurden also erstmals bei Laborratten entdeckt, und zwar von aufmerksamen Wissenschaftlern, die bereit waren, das wissenschaftliche Dogma über körper-liche Selbstkontrolle und Gleichgewichte neu zu überden-ken. Was genau lehren uns die Nager über die komplexe Stressreaktion? McEwens Ratten vom Rockefeller Institute enthüllten wertvolle Informationen über die Wirkung der allostatischen Last auf das Gehirn.

Neurone, die schrumpfen

McEwens Experiment hatte eine klare Linie: Man injiziere den Ratten drei Wochen lang das Stresshormon Corticoste-ron und überprüfe dann die Größe der Neuronen im Hip-pocampus, einem Gehirnteil, der an der entscheidenden Aufgabe des räumlichen Lernens beteiligt ist. Warum der Blick in diesen Teil des Gehirns? Weil er voller Glucocor-ticoidrezeptoren steckt, ist er der erste Ort, an dem neu-gierige Neurowissenschaftler nach stressbedingten Hirn-veränderungen suchen. Vielleicht hat die Natur eine an Lernen und Erinnerung beteiligte Region des Gehirns als Stützpunkt für diese neurologisch wirksame Substanz ge-wählt, weil es zweifellos von Vorteil ist, sich an gefährliche

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Stressoren in der Umgebung (inklusive traumatische Zahn-arztbesuche) zu erinnern. In vielen Fällen entscheidet un-mittelbares Lernen (One-Trial Learning) über Leben und Tod. Die Natur ist wenig tolerant gegenüber Tieren, die mehrmals einem Löwen begegnen, von einer Klippe fallen oder sich mit einem Alphamännchen anlegen, um ihre Lek-tion zu lernen.

McEwens Team spürte den zahllosen dünnen Fortsätzen der Hippocampusneurone geduldig auf voller Länge nach. Mit welchem Ergebnis? Das Stresshormon hatte die Neuro-ne eindeutig beeinflusst. Die Fortsätze waren kürzer und verzweigten sich weniger. Beeinträchtigte dieser neuronale Stellenabbau womöglich die Gedächtnisleistung der Tiere, ihre Fähigkeit, neue Aufgaben zu erlernen, und ihre Ein-schätzung künftiger Stresssituationen?

Als nächstes untersuchte McEwen, ob echter psychischer Stress bei den Neuronen des Hippocampus dasselbe Chaos anrichten würde. Statt den Tieren ein Stresshormon zu in-jizieren, setzte er sie hilflos einem Stressor aus – er steckte sie etwa drei Wochen lang jeden Tag einige Stunden lang in eine enge Plexiglasröhre. Die Tiere erlitten dabei keinen körperlichen Schaden, sondern wurden ausschließlich dem psychischen Stress ausgesetzt, sich nicht bewegen zu kön-nen. Ganz ähnlich fühlt es sich an, im Stau festzustecken – weder Ratten noch Menschen mögen solche Situationen. Die Hippocampi der betroffenen Ratten sahen ganz ähn-lich aus wie die der Ratten, denen man zuvor Stresshormo-ne injiziert hatte. Egal, aus welcher Quelle sie stammten, Stresshormone schwächten, wenn sie über drei Wochen hinweg dauerhaft einwirkten, die Nervenzellen in wichti-gen Hirngebieten.

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Drei Wochen sind eine recht lange Zeit. Wie viel Stress ist notwendig, um unser Gehirn schrumpfen zu lassen? Um darauf eine Antwort zu finden, erzeugten meine Studenten und ich auf andere Weise Stress, nämlich indem wir die Ratten in Käfigen mit Laufrädern unterbrachten. Verän-dert man dann noch das Fütterungsschema so, dass man den Tieren nur eine Stunde am Tag Zugang zum Futter gewährt, entwickeln sie ein ziemlich seltsames Verhalten. Obwohl sie nur begrenzt Futter erhalten, laufen sie immer mehr und zeigen alle Symptome von Selyes ursprünglich beschriebenem Stresssyndrom: vergrößerte Nebennieren, geschrumpfte Thymusdrüsen und etliche stressbeding-te Magengeschwüre. Nach nur fünf Tagen unter solchem Stress fanden wir bei ihren Hippocampusneuronen zudem vergleichbare Schrumpfeffekte.

Bevor Sie nun darüber nachdenken, wie Sie die Ihnen verbliebenen Neurone am besten konservieren, bringe ich Ihnen doch noch gute Nachrichten. Erstens spricht wenig dafür, dass die betroffenen Nervenzellen tatsächlich abster-ben, zumindest tun sie dies nicht sofort. Die Schädigung oder Umstrukturierung scheint reversibel zu sein. Lässt der Stress nach, blühen die neuronalen Prozesse offenbar wieder auf. Auch wenn schrumpfende Neurone zunächst erschreckend wirken, könnte es sich um eine effiziente Energiesparmaßnahme handeln. Da das Gehirn so viel Energie verschlingt (bis zu zwanzig Prozent der dem Kör-per zur Verfügung stehenden Energie), könnte eine gewisse neuronale Verkleinerung kurzfristig notwendig sein, um in belastenden Situationen zu überleben. Das Übermaß an Stresshormonen erfordert vielleicht eine gewisse Schrump-fung, damit das System nicht überlastet wird. Ist die

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beanspruchende Bedrohung nicht mehr vorhanden, kön-nen die Neurone wieder mit voller Kapazität arbeiten. Und zweitens lässt sich dieser erschreckende Abbau der Neurone ganz vermeiden, wenn man der Stresssituation von vorn-herein in einer bestimmten adaptiven Weise begegnet – das jedenfalls vermitteln uns ein paar kluge Ratten.

Die Geschichte von den zwei Rattenbrüdern

Vor einigen Jahren fiel mir ein sehr aussagekräftiges Bild von zwei Ratten ins Auge, das die derzeit an der Pennsyl-vania State University arbeitende Neurowissenschaftlerin Sonia Cavigelli präsentierte. Cavigelli beschrieb die Aus-wirkungen unterschiedlicher Reaktionen auf den mäßi-gen Stress des Neuen (also der Konfrontation mit etwas Neuem) auf Ratten. Bei ihrer Studie, die sie gemeinsam mit Martha McClintock an der University of Chicago durchführte, charakterisierten die Forscherinnen junge Ratten als neophil (mutig, an Neuem interessiert) oder neophob (scheu, zögerlich). Wie machten sie das? Sie setzten die Tiere einzeln in einen offenen Raum, was für Ratten ziemlich beängstigend ist. Ein unbekanntes Objekt wurde in die Mitte dieser Arena platziert, und Cavigelli und McClintock dokumentierten einfach, wie viel Zeit verging, bis die Ratten Kontakt zu dem neuen Stimulus aufnahmen, und wie lange sie das Objekt untersuchten. Bei den Tieren – jeweils Brüder aus demselben Wurf, prak-tisch Klone aus ingezüchteten Laborrattenlinien – kristal-lisierten sich zwei sehr unterschiedliche Schemata heraus:

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Manche Ratten mieden den neuen Stimulus und drückten sich an die Wand der Arena, andere dagegen untersuchten die neuen Objekte. Die Wissenschaftlerinnen hatten zwei Rattenpersönlichkeiten identifiziert: scheu/neophob und mutig/neophil.

Die Überprüfung der Stresshormonspiegel ergab, dass sich die mutigen Ratten schneller erholten, also ihr Blut-spiegel schneller wieder den Normalwert erreichte als bei den scheuen Ratten. Die Folge: eine geringere allostatische Last bei den mutigen Ratten. Die Tiere wurden alle sechs Monate eingestuft, und die charakteristischen Profile blie-ben gleich. Die Rattenpersönlichkeiten waren demnach beständig, die scheuen Tiere blieben scheu, die mutigen mutig, und der anfangs festgestellte Verlauf des Stresshor-monspiegels blieb gleich. Zudem ließ man die Ratten ihr Leben im Labor bis zu ihrem natürlichen Tod weiterleben und stellte fest, dass die mutigen Ratten länger lebten. Die scheuen Ratten hatten ein rund zwanzig Prozent kürzeres Leben als die mutigen.

Es ist besser, mutig dahin zu gehen, wo noch keine Ratte

zuvor gewesen istUnd was hatte es mit dem oben erwähnten Rattenbild auf sich, das mich so ins Nachdenken brachte? Zwei Ratten wa-ren darauf abgebildet, die eine agil und munter wirkend, die andere dagegen krumm, alt und müde. Diese Ratten waren Brüder aus ein und demselben Wurf. Das jünger aus-sehende Individuum war als Jungtier als mutig charakteri-siert worden, das älter aussehende als scheu. Natürlich ist die mutige Herangehensweise in der wirklichen Welt nicht

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immer die gesündeste. Ich sage meinen Studenten oft, dass die mutige Ratte draußen in der Welt wahrscheinlich beim Motorradfahren ums Leben gekommen wäre. Bei ansons-ten gleichen Voraussetzungen aber ist es besser, mutig da-hin zu gehen, wo noch keine Ratte zuvor gewesen ist. So verhält es sich zumindest im Labor. Eine Nachfolgestudie konzentrierte sich auf Weibchen, die spontan Mamma-karzinome entwickelten. Hier starben die scheuen Ratten etwa sechs Monate früher als die mutigen. Wenn Ihr Leben nur etwa zwei Jahre währt, sind sechs Monate ziemlich viel – vergleichbar mit zehn oder fünfzehn Lebensjahren beim Menschen.

Die Forschungen deuten also darauf hin, dass Stressre-aktionen nicht bei allen gleich ablaufen. Eine Persönlich-keit, die mehr Sinn für Entdeckungen mit sich bringt, ist adaptiver, als wenn man zu schüchtern ist, eine neue Um-gebung zu erforschen. Für unser Leben können wir daraus ableiten, dass unsere alltäglichen Stressreaktionen – etwa auf eine neue Kollegin, ein neues Computerprogramm oder auf eine neue Verkehrsführung – signifikanten Einfluss auf unser Wohlbefinden und unsere Lebenserwartung haben. Selbstverständlich muss unsere Stressreaktion greifen, wenn wir den großen Stressoren im Leben gegenüberstehen, aber die Effizienz unserer Reaktionen auf die täglichen Unbil-den des Lebens lässt sich vielleicht mithilfe individueller Bewältigungsstrategien beeinflussen. Eines ist klar: Alles, was wir über effektive Bewältigungsstrategien herausfinden, kann große gesundheitsfördernde Auswirkungen entfalten. Halten die Ratten vielleicht noch andere adaptive Bewälti-gungsstrategien für uns bereit?

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Adaptive Bewältigung: die Slinky-Strategie

Richard James arbeitete 1943 als Mechaniker in einer Ma-rinewerft in Philadelphia, als er etwas beobachtete, was sein Leben verändern sollte. Eine Schraubenfeder fiel von einem Tisch und landete mit einer seltsam wackelnden Bewegung auf dem Boden. An jenem Abend sagte James zu seiner Frau, er könne wahrscheinlich ein Spielzeug aus so einer Feder machen. Nach zweijähriger Arbeit gelang es ihm, eine Feder zu bauen, die gerade die richtige Elastizität und Spannung hatte, um sogar Treppen „herunterzugehen“. Seine Frau suchte nach einem Namen für das neue Spiel-zeug und fand im Wörterbuch schließlich das Wort slinky, das so viel bedeutet wie „geschmeidig, trickreich, graziös“. Seit den 1960er-Jahren ist Slinky ein echter Dauerbrenner unter den bezahlbaren und einfallsreichen Spielzeugen.

Was kann Slinky zum Thema adaptive Bewältigungsstra-tegien beitragen? Das Faszinierende an diesem Spielzeug ist seine Fähigkeit, sich in seiner Bewegung scheinbar „klug“ der Umgebung anzupassen. Setzt man die Feder oben auf eine hohe Stufe, streckt sie sich zur nächsten Stufe hinunter und macht so immer weiter, bis sich das Umgebungsprofil ändert. Besteht dieses aus einer Neigung ohne Stufen, be-wegt sich Slinky in weniger großen „Schritten“. Am Ende der Strecke legt sich die Feder wieder zu ihrer Ursprungs-form zusammen, bereit, wieder zu reagieren, wenn ihr Be-sitzer sie erneut in Bewegung setzt. Besonders beeindru-ckend aber ist Slinkys Fähigkeit, sich auf maximale Länge auszudehnen und wieder ganz zusammenzuziehen, ohne irgendwelche Abnutzungsspuren zu zeigen.

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Slinky konnte allesAndere Spielzeuge, die es in den 1960er-Jahren gab, wa-ren da ganz anders. Spielzeuge zum Aufziehen etwa führ-ten stets dieselbe Bewegung aus, ganz gleich, ob sich die Umgebung veränderte. Stieß ein Aufziehsoldat gegen eine Wand, marschierte er trotzdem immer weiter dagegen an, bis er abgelaufen war. Die Bewegung von Spielzeugen zum Hinterherziehen oder mit Fernsteuerung ließ sich wech-selnden Umgebungsanforderungen anpassen, aber diese Anpassung erfolgte von außen. Slinky aber konnte alles – die Feder reagierte mithilfe ihr innewohnender Mecha-nismen auf wechselnde Umgebungen. Vielleicht gelang das nicht immer perfekt, doch ihre selbst regulierte An-passungsfähigkeit war beeindruckend. Säugetiere sind na-türlich kompliziertere Wesen als Slinkys, aber ich bin si-cher, dass wir von diesem Spielzeug etwas Wichtiges lernen können sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch natürlich bei den Ratten in meinem Labor. Zunächst zur Literatur.

Nachdem ich von den scheuen und mutigen Persön-lichkeiten bei Ratten gelesen hatte, wollte ich mehr über die adaptivsten Bewältigungsstrategien bei Säugern erfah-ren. Meine Studenten und ich waren zunächst einmal fas-ziniert von einigen einzigartigen, in den Niederlanden an Schweinen durchgeführten Studien. Die Forscher hatten festgestellt, dass nicht alle Ferkel gleich reagierten, wenn man sie eine Minute lang in Rückenlage hielt (ein auch als „Back-Test“ – englisch back, Rücken – bezeichneter Vor-gang). Manche zappelten und wanden sich, um sich zu be-freien, andere blieben ruhig. Die aktiven Tiere wurden als proaktiv, die passiveren als reaktiv bezeichnet. Die aktiven

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Tiere schienen ähnlich den Spielzeugen zum Aufziehen in ihren Reaktionen starrer zu sein, da sie stets in derselben Weise reagierten, während man bei den reaktiven Tieren variablere Bewältigungsstrategien sah – mal reagierten sie, mal nicht. Allerdings war ich mir nicht ganz sicher, ob die von den niederländischen Wissenschaftlern als reaktiv be-schriebenen Tiere den passiveren Spielzeugen zum Hinter-herziehen entsprachen oder dem adaptiven Slinky.

Richtig interessant wurde es, als die Forscher die Schwein-chen ein zweites Mal testeten und dabei eine befremdliche Beobachtung machten. Einige der Ferkel veränderten ihre Bewältigungsstrategie, manche als reaktiv eingestuften Fer-kel wurden also proaktiv und umgekehrt. Diese Wischi-waschi-Gruppe wurde von den Forschern als „zweifelhaft“ eingestuft und in einigen Studien nicht berücksichtigt. In uns keimte die Vermutung, dass die Schweine mit der re-aktiven, variablen Bewältigungsstrategie eigentlich zwei Gruppen repräsentierten, nämlich eine, die von sich aus eher passiv (vielleicht sogar scheu) war, und eine, die von sich aus eher flexibel und adaptiv war. Wir mussten mehr über diese Bewältigungsstrategien herausbekommen, doch konnte ich den Hochschulleiter beim besten Willen nicht dazu bewegen, mir zu erlauben, an unserer kleinen Univer-sität Forschungen an Schweinen durchzuführen. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als mich wie Slinky flexibel anzupassen, und so adaptierte ich den Back-Test für Ratten, um Antworten auf meine Fragen zu finden. Ich hoffte dar-auf, dass die Ratten mitspielten.

Kelly Tu war die erste meiner Studentinnen, die mit mir die Back-Test-Untersuchungen durchführte. Vorsichtig hielten wir gerade entwöhnte, etwa 21 Tage alte Jungratten

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in Rückenlage und zählten, wie oft sie sich wanden. Die Schweinchen hatten sich meist gar nicht bis dreimal ge-wunden, die Ratten allerdings wanden sich gar nicht bis vierzehn Mal. Wir stuften die am stärksten reagierenden Ratten als aktiv, die am schwächsten reagierenden als pas-siv ein und ließen eine Woche verstreichen, bis wir sie er-neut testeten. Wir gingen genauso vor wie beim ersten Mal und stellten fest, dass einige Ratten bei beiden Testläufen extrem aktiv, andere bei beiden extrem passiv waren, und dann war da eine Gruppe, die beim zweiten Durchlauf einer anderen Kategorie zuzuordnen war. In welche Rich-tung sie ihr Verhalten verändert hatten, interessierte uns zunächst gar nicht. Wir wollten etwas über die Ratten er-fahren, die ihr Verhalten besonders stark verändert hatten – diese stuften wir als variable oder flexible Bewältiger ein. Hatten die flexiblen Bewältiger aus dem ersten Back-Test etwas gelernt und ihr Verhalten beim zweiten Durchlauf dementsprechend verändert? Das wäre eine sehr adaptive, an Slinky erinnernde Herangehensweise an die wechseln-den Anforderungen des Lebens. Wir fragten uns, ob die flexiblen Bewältiger gegenüber den anderen beiden kon-sistenten Gruppen im Vorteil waren. Es wartete viel Arbeit auf uns.

Zunächst einmal erstellten wir Profile der drei Bewäl-tigergruppen und machten die Tiere mit dem Aktivitäts-Stress-Paradigma bekannt, das ich an früherer Stelle in die-sem Kapitel beschrieben habe, das heißt, wir brachten die Ratten in Käfigen mit Laufrädern unter und stellten ihnen pro Tag nur begrenzte Zeit Futter zur Verfügung. Sie konn-ten zwei Stunden am Tag fressen, so viel sie wollten, und nach Belieben laufen oder im Käfig ruhen. Wie zu erwarten,

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liefen die aktiven Bewältiger mehr als die passiven Tiere, und in diesem Fall liefen auch die flexiblen Tiere mehr als die passiven. Etwa in der Mitte des Versuchs sammelten wir Kotproben, um darin den Gehalt des Stresshormons Corti-costeron zu bestimmen. Wenn der Energieaufwand in Be-ziehung zum Ausmaß des Stress stand, sollten die aktiven und flexiblen Tiere die größten Mengen dieses Hormons aufweisen. Das war jedoch nicht der Fall. Die aktiven Tiere wiesen den höchsten Stresshormonspiegel auf, die flexiblen dagegen den niedrigsten – in Zahlen ausgedrückt, betrug ihr Hormonspiegel etwa die Hälfte desjenigen der passiven und vierzig Prozent desjenigen der aktiven Tiere. Diese ers-ten Ergebnisse verblüfften uns. Selbst wenn die flexiblen Ratten so viel liefen wie die aktiven, schienen sie nicht so gestresst zu sein. Nahmen diese Tiere ihre Situation viel-leicht aufgrund der von ihnen empfundenen Kontrolle da-rüber anders wahr als die Tiere aus den anderen Gruppen?

Wir führten weitere einfache Tests durch. Bei einem be-nutzte ich kleine Haarclips, wie sie meine Töchter haben (muschelförmige Spangen, die sich öffnen, wenn man eine Seite zusammendrückt), um einen Insektenbiss in den Rat-tenschwanz zu simulieren. Nachdem wir die Clips vorsich-tig auf die Schwänze der Ratten gesetzt hatten, versuchten die flexiblen Tiere länger als die Tiere der anderen Grup-pen, die kneifende Spange zu entfernen. Zudem interagier-ten die flexiblen Tiere häufiger mit einem neuen Stimulus als die passiven und die aktiven Ratten. Allerdings bestand hier kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den flexiblen und den aktiven Tieren. So wurde immer deut-licher, dass man sich am besten wie eine flexible Ratte ver-hält, wenn man die Wahl hat.

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Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch nicht die Hirnme-chanismen untersucht, die mit der flexiblen, slinky-artigen, vorteilhaften Bewältigungsstrategie einhergingen, und ge-nau das wollten wir nun tun. Darby Fleming Hawley, eine andere Studentin, leistete hier die maßgebliche Arbeit. Sie erstellte die Profile der Versuchstiere und ordnete sie den drei Gruppen zu. Dann setzte sie diese einer anderen Art von Stress aus, nämlich jenem, der unserem Gehirn wohl am meisten zusetzt: dauerhaftem, unvorhersehbarem Stress. Während ich dieses Kapitel hier schreibe, sind viele Men-schen in den USA und der ganzen Welt durch Verschulden der Wirtschaft solchem Stress ausgesetzt – sie haben ihre Arbeit verloren, sind langzeitarbeitslos und haben wenig Kontrolle darüber, ob sich diese Situation verändert. Sol-che Stresssituationen münden in vermehrten Stress, Über-lastung (strain) und eine erhöhte allostatische Last. Ganz gleich aber, wie man es nennt: Es ist schlecht.

Anstelle von Stressoren wie Arbeitslosigkeit und un-erwarteten Rechnungen triezten wir die Ratten mit un-angenehmen kleinen Überraschungen wie Essig in ihrem Trinkwasser, dem Geruch von Raubfeinden (Fuchsharn wird in Laboratorien gern verwendet), schräg gestellte Kä-fige und Stroboskoplicht. Die Stressoren und das Schema ihrer Einwirkung wechselten täglich, ähnlich wie im rich-tigen Leben.

Die interessanteste Verhaltensreaktion bei dieser Studie zeigte sich bei einem Test, der bei Fragen zur Depression besonders oft bei Ratten angewandt wird, der erzwungene Schwimmtest (forced swim test). Setzt man Ratten in ein steilwandiges Gefäß mit Wasser, haben sie zwei Möglich-keiten: schwimmen (struggling/swimming) oder sich treiben

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lassen (floating). Unter Wissenschaftlern gilt das Sich-trei-ben-Lassen traditionell als die schwache oder maladaptive Reaktion und wird manchmal auch als behavioral despair (deutsch etwa „Verzweiflungsverhalten“) bezeichnet. Die Gabe von Antidepressiva bewirkt, dass die Ratten sich nicht so schnell treiben lassen, sondern länger zu schwim-men versuchen. Darum geht man davon aus, dass das ak-tive Schwimmen und nicht das Sich-treiben-Lassen beim erzwungenen Schwimmtest die „gesunde“ Reaktion ist.

Sich-treiben-lassen war eine beeindruckende Demonstration

von Lockerbleiben bei NagernDa wir gegen den Wert des Schwimmtests gewisse Zweifel hegten, bogen wir ihn uns etwas zurecht. Wir benutzten größere Schwimmbehälter (normalerweise sind es recht schmale Glaszylinder) von den Ausmaßen eines kleinen Aquariums, sodass die Tiere tatsächlich schwimmen konn-ten. Wir waren uns nicht so sicher, welche die klügste Reak-tion beim ersten Durchlauf des Schwimmtests wäre, doch wenn die Tiere tatsächlich auf die Umgebung reagierten, sollten sie sich treiben lassen, sobald sie gelernt hatten, dass sie aus dem Wasserbehälter nicht entkommen konnten. Wie von uns vorausgesagt, zeigten die Ratten beim zweiten Test-durchlauf besonders interessante Reaktionen. Die flexiblen Bewältiger, die beim ersten Test die wenigste Zeit treibend zugebracht hatten, ließen sich nun am meisten von allen Versuchstieren treiben und steigerten somit im Vergleich zum ersten Durchlauf die Zeitdauer, während derer sie sich treiben ließen, um vierhundert Prozent. Die passiven und aktiven Bewältiger ließen sich ebenfalls länger treiben, aber

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nicht ganz so lange. Beim dritten Durchlauf aber waren die Tiere aus allen drei Gruppen geeint und ließen sich gleich lang treiben. Sie hatten offensichtlich gelernt, dass es kein Entrinnen gab und sie letztlich wieder aus dem Wasser he-rausgenommen würden – dass also kein Grund bestand, panisch herumzuschwimmen. Die Ratten schienen somit keineswegs verzweifelt zu sein, sondern zeigten uns, dass das Sich-treiben-Lassen eine adaptive, energiesparende Strategie darstellte, wenn ein Entkommen offensichtlich unmöglich war, sozusagen eine beeindruckende Demons-tration von Lockerbleiben bei Nagern.

Mit dieser Studie wollten wir in erster Linie herausbe-kommen, welche Mechanismen im Gehirn mit dem flexib-len Bewältigen einhergingen. Würden wir bei den Gehir-nen der Tiere aus den drei Gruppen Unterschiede finden? Wir konzentrierten uns auf eine im Gehirn häufig vorkom-mende Substanz, das Neuropeptid Y (NPY), das man – wie in Kap. 3 beschrieben – mit Resilienz in Verbindung bringt. Frühere Forschungen ergaben, dass das Einbringen dieser Substanz in bestimmte Gebiete des Nagergehirns die Stress- und Angstsymptome der Tiere verringerte. Wie schon er-wähnt, haben Soldaten von Spezialeinsatztruppen, die als die resilientesten Soldaten gelten, höhere Plasmaspiegel von NPY als andere Soldaten, was darauf hindeutet, dass die Substanz auch beim Menschen mit Resilienz verknüpft ist. Wir suchten in drei Gehirnregionen, die an Stress-, Furcht- und Angstreaktionen beteiligt sind, und fanden bei den flexiblen Tieren in zwei dieser Regionen höhere NPY-Spiegel. Diese Ergebnisse fand ich wirklich erstaunlich: Wir identifizierten eine Bewältigergruppe, die ohne Einsatz von Medikamenten oder gar intensives Training oder in-

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tensive Therapie einen erhöhten Spiegel einer neuroaktiven Substanz aufwies, die für die emotionale Resilienz eine Rol-le spielt. Wow.

Die Sache mit den Stresshormonen lag bei dieser Stu-die ganz anders. Wie schon beschrieben, arbeiteten wir in unserer ersten Studie mit einer konsistenten, vorhersagba-ren Form von Stress: Futter gab es jeden Tag einmal um dieselbe Zeit. Gleichzeitig hatten die Tiere sieben Tage die Woche vierundzwanzig Stunden lang Zugang zum Lauf-rad. Ein Tag war wie der andere. Bei der Studie mit dem chronischen, nicht vorhersagbaren Stress dagegen veränder-te sich alles immerzu. An keinem Tag wussten die Tiere, was sie erwartete. In diesem Fall hatten die flexiblen Bewältiger die höchsten Blutspiegel des Stresshormons Corticosteron, vermutlich, weil sie ständig in Bereitschaft waren, auf die nächste Herausforderung zu reagieren. Die Reaktivität der Stressreaktion variierte demnach je nach Art des Stressors und seiner Einwirkung.

Es lag auf der Hand, wie unsere nächste Studie beschaf-fen sein musste. Konnten wir mithilfe von aufwandbeding-ter Belohnung (jenem in Kap.  3 beschriebenen Training, das Ratten dazu brachte, Leckerbissen in Form von Froot Loops auszugraben, und ein Gefühl von Kontrolle ent-stehen ließ, weil es Assoziationen zwischen Aufwand und positiven Folgen stärkte) aus aktiven und passiven Bewäl-tigern flexible Bewältiger machen? Um das herauszufinden, konzipierten wir eine Studie, mit der wir ermitteln wollten, ob wir den anfälligen Ratten mit ein bisschen Verhaltens-therapie helfen konnten.

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Völlig verzogen: Wie Verwöhnen die Resilienz beeinträchtigt

Meine Studentin Alexandra Rhone leitete die folgende Stu-die. Nachdem sie die Bewältigungsstrategien der Ratten charakterisiert hatte, ordnete sie die Tiere einer Gruppe der aufwandbedingten Belohnungsgruppe (mit kontingentem Training, die Belohnung war also abhängig vom Aufwand) und einer Kontrollgruppe (Nicht-Kontingenzgruppe, siehe Kap. 3) zu.

Für mich stand nach unseren bisherigen Befunden und anhand der vorhandenen Literatur zum Thema fest, dass die interessante Gruppe bei dieser Studie die kontingent trainierte Versuchstiergruppe sein würde, also jene Tiere, die nach dem Prinzip der aufwandbedingten Belohnung nach ihren Froot Loops graben mussten. Ihr verstärktes Empfinden von Kontrolle über die Umwelt würde ausrei-chen, so dachte ich, um die passiven und aktiven Bewäl-tiger umzustimmen, sodass sich deren NPY-Spiegel erhöht und ihr Verhalten in adaptiver Weise verändert. Eine Rat-ten-Verhaltenstherapie! Die nicht-kontingente Gruppe der „Aktionäre“ war die Kontrollgruppe, nötig, um nachzuwei-sen, dass ohne Training keine Effekte zu beobachten waren. Doch wie ich gleich schildern werde, kam alles anders.

Nach vierwöchigem Training führten wir den ebenfalls in Kap. 3 beschriebenen Test mit dem Katzenquietschball durch, um zu prüfen, ob unsere trainierten Ratten unab-hängig von ihrer Bewältigungsstrategie weiterhin mehr da-für tun würden, die begehrte Belohnung (die Froot Loops) im Inneren des Balls zu erhalten. Genauso war es. Zudem

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hielten die flexiblen Tiere länger durch, was ebenfalls dafür sprach, dass diese Ratten eine Art emotionale Superhelden waren. Als Nächstes führten wir den Schwimmtest durch, und zwar mit drei Gruppen, um die Vergleichbarkeit mit der ursprünglichen Studie zu gewährleisten. Bei der Grup-pe der mit aufwandbedingter Belohnung trainierten Tiere punkteten wiederum vor allem die flexiblen Ratten: Sie lie-ßen sich in allen Durchläufen mehr treiben. Wieder schien es, als würden sie schnell erkennen, dass es kein Entkom-men aus dem Wasserbehälter gab. Allerdings brachte das Training – anders als erhofft – den aktiven und passiven Bewältigern keine Vorteile. Rückblickend ergibt das durch-aus Sinn: Die Tiere, die offenbar dafür prädisponiert waren, etwas über veränderliche Umweltanforderungen zu lernen, zeigten, dass sie (nach ihrem Verhaltenstraining) schneller etwas über die veränderliche Umwelt lernten, kurzum: Wir hatten ihre Stärke noch gefördert!

Die Gruppe der „Aktionäre“ hielt jedoch noch eine grö-ßere Überraschung für uns bereit. Wie schon erwähnt, gin-gen wir einfach davon aus, dass diese die langweilige Kont-rollgruppe wäre, bei der die Wirkung der angenehmen Be-handlung in Form von täglichen Froot-Loop-Gaben ganz ohne erbrachten Aufwand einfach nur festgestellt werden musste, um die Studie zu komplettieren. So wie Selyes Kochsalzlösung-Injektionen zur Bestätigung der negati-ven Auswirkungen des Hormonextrakts sahen wir auch die Aktionärsgruppe als Verhaltensäquivalent von gar nichts. So wie bei Selye hielt allerdings auch unsere vermeintliche Kontrollgruppe die eigentlich interessantesten Informatio-nen bereit. Irgendetwas war mit den flexiblen Bewältigern in der Aktionärsgruppe eindeutig anders – sie lernten im

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Verlauf der drei Schwimmtest-Durchläufe nicht mehr, sich länger treiben zu lassen. Alle drei Gruppen ließen sich unter diesen Bedingungen relativ wenig treiben. Keine Ratte lern-te aus ihren Erfahrungen und veränderte ihr Verhalten ent-sprechend. Was war bei diesen sich potenziell überanstren-genden Ratten anders?

Die an dieser Studie beteiligten Ratten zeigten uns, dass ihre Verhaltensstrategien in einer Welt kalibriert wurden, in der sie Energie aufwenden mussten, um dafür den wert-vollsten Lohn – in diesem Falle Froot Loops – zu erhalten. Wurde diese Regel gebrochen, geriet auch ihre emotiona-le Resilienz durcheinander. Die täglichen Gaben der Be-lohnungen, die keinen besonderen Aufwand erforderten und bei denen die Leckereien quasi vom Himmel zu fallen schienen, beeinträchtigten ihre etablierten Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen Aufwand und Wahrschein-lichkeit oder, anders gesagt, verringerten ihr Empfinden von Kontrolle. So büßten die flexiblen Ratten in der be-quemen Welt der Aktionäre ihren Vorteil ein. Zum zweiten Mal hatten wir also bei dieser Studie mit einer Hypothese danebengelegen: Statt keine Wirkung auf die Bewältigungs-strategien auszuüben, hoben die Aktionärsbedingungen den für die flexiblen Bewältiger sonst so typischen Vorteil auf. Da sie die süßesten Belohnungen ohne vorhersagbare Kontingenz einfach so bekamen, kalkulierten die Tiere ihr Verhalten neu und waren nicht mehr motiviert, für ihre Be-lohnung etwas zu tun. Sie zeichneten sich nun durch we-niger flexible Reaktionen und eine geringere Toleranz für Aufgaben aus, bei denen sie nicht sofort belohnt wurden. Hatten wir unsere Ratten systematisch verdorben? Wieder einmal waren die Tiere, die eine feinere Wahrnehmung für

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Zusammenhänge zwischen Aufwand und seinen Folgen hatten, eher von den nicht-kontingenten Aktionärsbedin-gungen beeinträchtigt. Im Nachhinein ergab das alles ganz selbstverständlich einen Sinn.

Interessanterweise war bei den trainierten flexiblen Rat-ten auch der Blutspiegel eines anderen mit Resilienz in Ver-bindung gebrachten Hormons erhöht, nämlich des DHEA (Dehydroepiandrosteron). Wie bereits in Kap. 3 erläutert, scheint es einige der schädlichen Wirkungen von Stresshor-monen abzumildern. Als Beispiel für Resilienz beim Men-schen zeigen Kampftaucher vom Militär, die erfolgreich schwierigste Tauchgänge absolvieren (vielleicht, weil sie bei der militärischen Ausbildung starke Assoziationen zwischen ihrem Handeln und dem Ergebnis gelernt und darum ein erhöhtes Empfinden von Kontrolle haben), ebenfalls einen hohen DHEA-Spiegel.

Unverdiente Belohnungen be-einträchtigen die emotionale

ResilienzDie Ergebnisse unserer Rattenstudie machten deutlich, dass unverdiente Belohnungen die Kalkulationen des Ge-hirns bezüglich Arbeit und Lohn durcheinanderbringen und damit auch die emotionale Resilienz beeinträchtigen. Als mir dies klar wurde, trat die Wissenschaftlerin in mir in den Hintergrund und die Mutter in den Vordergrund. Meines Erachtens ist eine der wichtigsten Lehren, die ich meinen Kindern mit auf den Weg geben muss, das Wissen, dass positiven Konsequenzen stets harte Arbeit vorausge-hen muss. Ich sage ihnen immer, dass sie sich nach jedem Fehlschlag wieder aufrappeln und weiter ihre Ziele verfol-

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gen sollen. Am Ende wird etwas Gutes dabei herauskom-men. Als Mutter frage ich mich stets, ob ich meine Töchter zu sehr verwöhne und ob ich ihnen genügend Gelegenheit gebe, ihre Froot Loops selbst auszugraben. Ich nehme die Lektionen meiner Rattenfreunde sehr ernst. Sie wollen mir weder ein Buch verkaufen noch sich in einer Talkshow pro-filieren – wenn ich ihnen nur genau zuhöre, werden sie mir wichtige Erkenntnisse über die Natur enthüllen.

Strapazierten wir die Resultate der Aktionärsrattenstudie womöglich über? Gibt es hinsichtlich Motivation und Ent-scheidungsfindung dokumentierte Ähnlichkeiten zwischen Ratten- und Menschengehirnen? Der Neurowissenschaftler Trevor Robbins von der University of Cambridge und seine Kollegen haben faszinierende Parallelen zwischen den be-eindruckenden exekutiven Funktionen von Cortexarealen bei Ratten und Menschen gefunden. Ihre Forschungen er-gaben, dass der Rattencortex ein valides Modell ist, um die Entscheidungsfindung beim Menschen zu erforschen. Das wiederum spricht sehr dafür, dass sich unsere Modelle zur Resilienz bei Ratten auch auf menschliche Emotionen an-wenden lassen. Wenn wir also unseren Kindern einfach so Belohnungen geben, ohne dass sie dafür etwas getan haben, schaffen wir damit in ihrem Gehirn neue verhaltensassozi-ierte Wahrscheinlichkeitsformeln, oder anders gesagt: Wir verziehen sie total. Unsere Ergebnisse zeigen, wie wichtig es ist, Kindern beizubringen, dass Ergebnisse auf Handlungen folgen. Wenn uns das gelingt, sind unsere Kinder wahr-scheinlich motivierter, sich angemessen zu verhalten, um ihre Belohnungen zu erhalten. Diese wertvolle Verknüpfung wird jedoch geschwächt, wenn auch ohne solches Verhalten ein Privileg gewährt wird. Nicht nur Ratten, auch Kinder

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sind schlau: Warum Energie verschwenden, wenn es nicht immer nottut? Natürlich können wir keine Welt erschaffen, in der Gutes stets in vorhersagbarer Weise geschieht, aber ich denke schon, dass wir zutreffendere Assoziationen zwi-schen Aufwand und Belohnung konstruieren können.

Ein weiterer wertvoller Befund aus dieser Studie leitet sich von etwas ab, das die Ratten taten, wenn wir sie in das größere Schwimmbecken setzten. Bei diesem Test konn-ten die Ratten im Prinzip zwischen zwei Verhaltensweisen wählen, schwimmen oder sich treiben lassen. Wie üblich aber unterschätzte ich ihr Verhaltenspotenzial, denn die Ratten in der Studie zeigten eine weitere Verhaltensweise. Einige Ratten hielten die Luft an und tauchten mit ele-ganten Schwimmstößen auf den Grund des Behälters, um dort nach möglichen Auswegen zu suchen. Wie konnten sie das? Sie waren nie zuvor im Wasser gewesen, hatten nie zuvor Schwimmunterricht gehabt und auch nie Unterwas-seraufnahmen im Fernsehen gesehen. Irgendetwas sagte ih-nen einfach, sie sollten tauchen. Und nun raten Sie bitte, welche der Tiere besonders ausgiebig tauchten. Genau: Es waren die aus der aufwandbedingten Belohnungsgruppe mit kontingentem Training. Sie hatten gelernt, dass ihr Handeln mit positiven Folgen assoziiert war, und zeigten darum diese mutige Reaktion. Es ginge vielleicht zu weit, ihnen mehr Zuversicht bei der Suche nach einem Aus-weg zu unterstellen, doch kann dieses Verhalten durchaus als Tiermodell für eine ebenso wunderbar komplexe Ver-haltensreaktion beim Menschen gelten. Im zweiten Test-durchlauf ließen die Tauchgänge erwartungsgemäß nach, weil die Tiere gelernt hatten, dass es keinen Ausweg gab.

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Doch wir alle beobachteten die tauchenden Nager voller Faszination.

Die wissenschaftliche Literatur ist uns bis jetzt einen Beweis dafür schuldig geblieben, dass ein Lotteriegewinn, das Erben eines Aktienvermögens oder der Eintritt in ein Familienunternehmen, ohne dass man dafür auch nur ein Vorstellungsgespräch hätte führen müssen, volle Befriedi-gung und emotionales Wohlbefinden bewirken. Sobald die nicht-kontingenten Belohnungen die kontingenten Erfol-ge zahlenmäßig übertreffen (was ungefähr der technischen Definition für „verziehen“ entspricht), verwirren wir unse-re Kinder. Frustration und Stress nehmen zu, wenn sie er-kennen, dass sie nicht mehr wissen, wie sie reagieren sollen, um zu bekommen, was sie sich wünschen oder brauchen. Diese Verwirrung mündet manchmal in einen guten, alt-modischen Wutanfall, der vielleicht ineffektivsten Bewälti-gungsstrategie überhaupt (abhängig von der elterlichen To-leranz gegenüber hochfrequenten Schreien!). Bei den Rat-ten konnte ich bislang (noch) keine Wutanfälle auslösen.

Superhelden, Emotionsregulation und die nötige Intelligenz, um etwas durchzuziehen

Geschichten über Superhelden haben mich schon immer fasziniert. Jeder Superheld hat eine bestimmte übermensch-liche Fähigkeit, die ihn zu etwas Besonderem macht … er (oder sie) kann fliegen, sich unglaublich verrenken, sich mit Spinnfäden an Wänden emporschwingen, ungeheure Kräfte entwickeln oder Dinge erkennen, die kein anderer

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wahrnehmen kann. Bei genauerem Hinsehen aber haben viele dieser Figuren eine Gemeinsamkeit, nämlich die Fä-higkeit, unter Druck gelassen zu bleiben. Der Psychologe James Gross von der Stanford University bezeichnet die-se beeindruckende Fähigkeit als Emotionsregulation. Diese Befähigung wird womöglich durch die Neigung verstärkt, Situationen im Nachhinein zu bewerten, etwa (als Ratte) nach einem ersten Erlebnis dieser Art zu beurteilen, welche Auswirkungen es hat, in Rückenlage festgehalten oder in ein Bassin mit Wasser gesetzt zu werden, oder sich (als Mensch) ins Gedächtnis zu rufen, dass das letzte Wochenende mit den Schwiegereltern doch eigentlich ganz nett war.

Während Normalsterbliche bei einem Sturz in tödliche Tiefen nur schreien würden, können die fiktiven Superhel-den dank ihres Gefühls von Kontrolle infolge ihrer beson-deren Fähigkeiten dabei geistreiche Sprüche von sich geben, mit denen sie die aussichtslose Situation aufheitern, und natürlich wissen sie ganz genau, wie sie sich retten können. Es ist schon ein sehr aktives exekutives corticales Zentrum notwendig, um die verrückt spielenden, panischen Hirn-zentren zur emotionalen Regulation in Schach zu halten – tolle Sache. Doch Emotionsregulation findet man nicht nur in Geschichten über Superhelden. Sie ist ein sehr realer Bestandteil unseres emotionalen Alltagslebens. Pokerspie-ler zeugen mit dem sprichwörtlichen Pokerface von beein-druckender Emotionsregulation. Diese emotionalen Über-flieger sind imstande, ihren Gesichtsausdruck selbst dann noch zu beherrschen, wenn sie kurz vor der Pleite stehen. Die emotionale Aufgewühltheit infolge eines unterirdisch schlechten oder fantastischen Blatts wird scheinbar mühe-los unterdrückt.

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In vielen Situationen wirkt sich diese regulatorische Kon-trolle für uns vorteilhaft aus, besonders wenn wir uns nicht in unmittelbarer Gefahr befinden. Bei den Herausforde-rungen des Alltags, die von uns nur die vernünftigste Ent-scheidung verlangen, kann sich unser Cortex der Wirkung der Stresshormone und neuronaler Alarmknöpfe entziehen und die Situation exakt beurteilen, wenn wir über ein gu-tes Maß an emotionaler Regulation und ein gesteigertes Empfinden von Kontrolle über unsere Umgebung verfü-gen. Dann ist es möglich, die Wahrscheinlichkeiten für be-stimmte Auswirkungen am genauesten einzuschätzen und die beste Entscheidung zu treffen.

Der kalkulierende Cortex ist eine Art kognitive und emotio-

nale WunderwaffeAuch wenn übernatürliche Kräfte und Röntgenblick ver-mutlich die Überlebenschancen erhöhen, ist der kalkulie-rende Cortex vielleicht das beeindruckendste Überlebens-werkzeug der Säugetiere, eine Art kognitive und emotionale Wunderwaffe. Diese Erkenntnis bringt allerdings auch die Verantwortung dafür mit sich, das Gehirn emotional ge-sund zu halten, indem man für ein realistisches Verhältnis von Handlung zu Ergebnis sorgt – darüber in Kap. 12 mehr. Aber ich greife vor. Im folgenden Kapitel werden wir uns mit einem anderen Geheimnis befassen, mit dem Ratten dem Leben mehr Leichtigkeit geben: dem therapeutischen Wert, wenn man die Hand ausstreckt und jemanden berührt.