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1 KULT – UR – MENSCH Kulturkonzepte für die Erforschung der Menschwerdung – ein Positionspapier Christine Hertler und Miriam Haidle Die von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften getragene Forschungsstelle „The Role of Culture in Early Expansions of Humans (ROCEEH)“ erforscht die Rolle der Kultur in frühen Expansionen der Menschheit. Das Projekt umfasst den Zeitraum zwischen drei Millionen und 20.000 Jahre vor heute und deckt den gesamten geographischen Raum von Afrika und Eurasien ab. Die Beschäftigung mit der tiefen Geschichte kultureller Entwicklungen, für die keine Schriftund nur in den letzten Jahrzehntausenden spärliche Bildquellen zur Verfügung stehen, bedarf einer Klärung der ihr zugrunde liegenden Kulturkonzepte. Das Forschungsfeld von ROCEEH – Fragestellung, Quellen, Grundannahmen Die menschliche Entwicklungsgeschichte lässt sich als eine Geschichte von Expansionen betrachten: Von Afrika ausgehend breitete sich die Gattung Homo in den letzten 2 Millionen Jahren in verschiedenen Wellen nach Asien und Europa aus; neue Arten entstanden, alte Taxa starben aus. Vor mehr als drei Millionen Jahren beschritten Homininen neue kulturelle Wege im Umgang mit ihrer spezifischen Umwelt. Schneidende Steingeräte, die mithilfe anderer Werkzeuge hergestellt wurden, eröffneten den Zugang zu neuen Ressourcen und stießen weitere körperliche, geistige und Verhaltensänderungen an. Die Umwelt der Menschen und ihre spezifischen, das Überleben und Entwicklung ermöglichenden Ressourcenräume wandelten sich. Diese Wandlungen wurden von einem Netzwerk von Ursachen ausgelöst, darunter natürliche Prozesse, aber auch kulturell geprägtes Handeln. ROCEEH erforscht eben diese Wechselwirkungen zwischen raumzeitlicher Ausbreitung, zunehmenden kulturellen Fähigkeiten und Umweltveränderungen und behält dabei die Entwicklung eines systemischen Verständnisses der Menschwerdung im Auge. Besonderes Augenmerk liegt auf der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten zu kulturellem Handeln, den Hintergründen, Ausprägungen und Wirkungen. Abb. 1. Anhand von Fossilfunden klassifizierte Menschenformen und ihre zeitliche Einordnung. Roter Pfeil: Belege für Werkzeugherstellung seit 3,3 Millionen Jahre vor heute.

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KULT – UR – MENSCH 

Kulturkonzepte für die Erforschung der Menschwerdung – ein Positionspapier  

Christine Hertler und Miriam Haidle 

 

 

Die von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften getragene Forschungsstelle „The Role of 

Culture in Early Expansions of Humans (ROCEEH)“ erforscht die Rolle der Kultur in frühen Expansio‐

nen der Menschheit. Das Projekt umfasst den Zeitraum zwischen drei Millionen und 20.000 Jahre vor 

heute und deckt den gesamten geographischen Raum von Afrika und Eurasien ab. Die Beschäftigung 

mit der tiefen Geschichte kultureller Entwicklungen, für die keine Schrift‐ und nur in den letzten Jahr‐

zehntausenden spärliche Bildquellen zur Verfügung stehen, bedarf einer Klärung der ihr zugrunde 

liegenden Kulturkonzepte. 

 

Das Forschungsfeld von ROCEEH – Fragestellung, Quellen, Grundannahmen  

Die menschliche Entwicklungsgeschichte lässt sich als eine Geschichte von Expansionen betrachten: 

Von Afrika ausgehend breitete sich die Gattung Homo in den letzten 2 Millionen Jahren in verschie‐

denen Wellen nach Asien und Europa aus; neue Arten entstanden, alte Taxa starben aus. Vor mehr 

als drei Millionen Jahren beschritten Homininen neue kulturelle Wege im Umgang mit ihrer spezifi‐

schen Umwelt. Schneidende Steingeräte, die mithilfe anderer Werkzeuge hergestellt wurden, eröff‐

neten den Zugang zu neuen Ressourcen und stießen weitere körperliche, geistige und Verhaltensän‐

derungen an. Die Umwelt der Menschen und ihre spezifischen, das Überleben und Entwicklung er‐

möglichenden Ressourcenräume wandelten sich. Diese Wandlungen wurden von einem Netzwerk 

von Ursachen ausgelöst, darunter natürliche Prozesse, aber auch kulturell geprägtes Handeln. RO‐

CEEH erforscht eben diese Wechselwirkungen zwischen raumzeitlicher Ausbreitung, zunehmenden 

kulturellen Fähigkeiten und Umweltveränderungen und behält dabei die Entwicklung eines systemi‐

schen Verständnisses der Menschwerdung im Auge. Besonderes Augenmerk liegt auf der Entwick‐

lung der menschlichen Fähigkeiten zu kulturellem Handeln, den Hintergründen, Ausprägungen und 

Wirkungen.  

 

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. 1. Anhand von Fossilfunden 

klassifizierte Menschenformen und 

ihre zeitliche Einordnung. Roter Pfeil: 

Belege für Werkzeugherstellung seit 

3,3 Millionen Jahre vor heute.  

 

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Bei den für den Forschungszeitraum zur Verfügung stehenden Quellen handelt es sich um Fossilien 

verschiedener Menschenformen, Artefakte und ihre Kontexte, und zwar sowohl die Funde selbst, 

(Abb. 1) als auch weitere Daten zu ihrer belebten und unbelebten Umwelt. Die Quellen bieten einzig‐

artige Einblicke in den Verlauf der Entwicklung der Menschen, ihre Ausbreitungen und Interaktionen 

miteinander sowie mit ihrer Umgebung. Sie sind aber in ihrer Art, Menge und Vielfalt begrenzt durch 

die für einen Fund notwendige Materialisierung, deren Einbettung und Erhaltung über Jahrtausende 

sowie deren Entdeckung und Rekonstruktion als Zeugnis der Menschheitsentwicklung. Anders als bei 

Begrüßungsritualen entstehen durch Werkzeugverhalten in der Regel materielle Hinterlassenschaf‐

ten; geschlagene Steingeräte überdauern besser unter verschiedensten Bedingungen und werden 

leichter als Artefakte erkannt als beispielsweise Blattschwämme oder entlaubte Zweige. Nicht zuletzt 

aus diesen Gründen stellen Steinwerkzeuge so wichtige Quellen für die frühe Menschheitsgeschichte 

dar. 

 

Die Funde geben empirische Hinweise, die jedoch im Hinblick auf das mit ihnen verknüpfte menschli‐

che Verhalten, die damit verbundenen körperlichen und geistigen Ausprägungen sowie die Wech‐

selwirkungen mit der spezifischen Umwelt untersucht und in mehrstufigen Prozessen mithilfe ver‐

schiedener Brückenargumente interpretiert werden müssen (Abb. 2; vgl. Haidle 2014). Empirische 

Daten sind als Fundament einer wissenschaftlichen Untersuchung der Entwicklungsgeschichte der 

menschlichen Kultur unverzichtbar; ohne sie könnten wir nur spekulieren. Die Rekonstruktion der 

menschlichen Entwicklungsgeschichte kann aber nur eingeschränkt empirisch sein. Ein neuer Fund 

einer neuen Art, aus einer unerwarteten Ecke oder mit einem unerwarteten Alter kann bisher vorge‐

legte Rekonstruktionen über den Haufen werfen, und es bedarf einer neuen Rekonstruktion – basie‐

rend auf aktuellen Perspektiven – um die gesamte Datenlage neu einzuordnen. Die Rekonstruktion 

der menschlichen Ausbreitungen und der Rolle der Kultur dabei muss sich auf die zur Verfügung ste‐

henden Quellen stützen, benötigt aber tragfähige Modelle zu ihrer Interpretation (Gutmann & Hert‐

ler 1999; Hertler et. al. 2003); sowohl Quellen als auch die Interpretationen bzw. Modelle müssen 

regelmäßig hinterfragt werden. 

  Abb. 2 Archäologische Funde bedürfen zahlreicher Interpretationsschritte mithilfe von Brückenargumenten, um Aussagen 

über das individuelle Verhalten und kulturelle, kognitive und ökologische Kontexte zu erlauben. 

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Im zeitlich und räumlich sehr weiten Kontext von ROCEEH verstehen wir unter ‚Menschen‘ zunächst 

alle heute lebenden Menschen sowie ihre Vorläufer im Pleistozän und späten Pliozän. Wir gebrau‐

chen den Ausdruck ‚Mensch‘ bewusst nicht einschränkend auf eine besondere Form, seien es gene‐

tisch, anatomisch oder kulturell moderne Menschen, sondern inklusiv. Wir betrachten alle Menschen 

– heutige und prähistorische – als Vertreter einer Kategorie kulturfähiger Lebewesen.  

 

Um die Entwicklung der Kulturfähigkeit erforschen zu können, lehnen wir es ab, in dem Kontinuum 

von Vorläufern nach welchen Kriterien auch immer mehr oder minder willkürlich eine Grenze zu zie‐

hen. Mit einem solchen Vorgehen wissen wir uns in guter Gesellschaft. So schreiben beispielsweise 

Clive Gamble, John Gowlett und Robin Dunbar (2016: 193f.): „Wissenschaftlich betrachtet, sind wir 

Richter und Geschworene, die darüber entscheiden, wer zum Club der Menschen gehört und wer 

nicht – in der Natur findet man eine solche Entscheidung nicht, sondern sie erwächst aus dem Ballast 

kultureller Vorurteile und historischer Interpretationen.“ Um als Untersuchungsgegenstand für RO‐

CEEH eine Rolle zu spielen, müssen diese Menschen jedoch kulturelle Besonderheiten in den Um‐

weltbeziehungen sowie in ihrer Entwicklung aufweisen. Empirische Hinweise für solche Merkmale 

bieten insbesondere in den frühen Phasen vor allem Steinwerkzeuge, die von uns als gruppenspezifi‐

sche Mittel in der Bewältigung von alltäglichen Herausforderungen angesehen werden und deren 

Herstellung und Gebrauch kulturell erlernt wurde. Ob jenseits des für ROCEEH relevanten Zeitab‐

schnitts eine solche Abgrenzung von ‚Menschen‘ vorgenommen werden kann oder soll, ist für Frage‐

stellungen in ROCEEH nicht relevant. 

 

Außerdem gebrauchen wir den Ausdruck ‚Menschen‘ bewusst im Plural, insbesondere dann, wenn 

wir über eine paläobiologische Kategorie von Lebewesen sprechen. Unserer Ansicht nach lassen sich 

Menschen nicht anhand von charakteristischen Merkmalen abgrenzen, und es ist auch für die Arbeit 

im Projekt nicht erforderlich. Darüber hinaus lässt sich heute eine große Vielfalt in den Formen fest‐

stellen, in denen verschiedene Menschen jeweils körperlich, geistig und im Handeln unterschiedlich 

ausgeprägte kulturelle Performanzen zeigen und damit ihre spezifischen Umweltbeziehungen ausge‐

stalten. Diese Diversität soll in ROCEEH nicht eingeebnet werden, sondern vielmehr einer differen‐

zierten Betrachtung zugeführt und hinführende Entwicklungswege mit einer hohen zeitlichen Tiefe 

rekonstruiert werden. 

 

 

These 1: Kultur ist – bei der Betrachtung der tiefen Geschichte menschlicher Entwicklung – in erster 

Linie Handlungskultur und dabei vordringlich Versorgungs‐ bzw. Subsistenzkultur. 

 

Lange Zeit galten Menschen als die einzigen heute lebenden kulturellen Wesen. In den letzten Jahr‐

zehnten sind jedoch insbesondere bei Schimpansen und Orang‐Utans, aber auch anderen Tierarten 

mehr und mehr gruppenspezifische und in sozialem Kontext erlernte Traditionen und Traditionsmu‐

ster dokumentiert worden. Die heutige Kulturfähigkeit der Menschen übersteigt die der Menschenaf‐

fen bei weitem; eng verknüpft mit sprachlichen Äußerungen und Selbstreflektion lässt sie sich in 

Normen und Gesetzen, Erzählungen und Gesängen, oft auch Niederschriften oder bildlichen Darstel‐

lungen fassen. Oft weniger beachtet zeigen sich kulturelle Fähigkeiten jedoch auch in vielen alltägli‐

chen Handlungen, wobei die in historisch‐sozialem Kontext erlernten Modi einen gruppenspezifi‐

schen Rahmen für individuelle Erfahrungen bieten im Umgang mit sich selbst, der jeweiligen sozialen 

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Gruppe sowie der weiteren Umgebung. Kultur ist für uns in erster Linie Handlungskultur. Einen gro‐

ßen und bedeutenden Teil nimmt hier die Befriedigung von grundlegenden Bedürfnissen ein, die 

Versorgung mit Nahrung, Schutz, gegenseitiger Unterstützung, Hilfsmitteln etc.  

 

Verschiedene Versorgungssysteme (Abb. 3; Hummel et al. 2004, 2008) beschreiben die Befriedigung 

bestimmter Bedürfnisfelder. Einige dieser Systeme, wie zum Beispiel die Nahrungsversorgung oder 

ein grundlegender Schutz und Ruhe, bedienen körperliche Grundbedürfnisse; ihre Basisbefriedigung 

ist überlebensnotwendig. Andere Systeme befriedigen soziale (z.B. gemeinschaftliches Zusammenle‐

ben in größeren Gruppen), kognitive (z.B. Zugang zu Wissen) oder handlungsorientierte Bedürfnisse 

(z.B. Fortbewegung/Mobilität). Die Unterscheidung einzelner Versorgungssysteme hat pragmatische 

Gründe. Wir können dadurch fokussieren und manche Aspekte zurückstellen. Es bedeutet aber nicht, 

dass einzelne Versorgungssysteme unabhängig voneinander seien und es keine Beziehungen zwi‐

schen ihnen gäbe. Grundlegende Versorgungsstrukturen weisen auch nicht‐menschliche Lebewesen 

auf. Wir können daher davon ausgehen, daß sie bereits vor drei Millionen Jahren existiert haben. Die 

Bedürfnisfelder der Menschen, die Form der jeweiligen Bedürfnisse und damit die Ausgestaltung 

ihrer Befriedigung sind jedoch spezifisch je nach Gruppe und deren spezifischer Umwelt. Damit wer‐

den Versorgungssysteme kulturell unterschiedlich ausgestaltet. 

 

   

Abb. 3: Struktur eines Versorgungssystems (vgl. Hummel et al. 2004) 

 

 

Versorgungssysteme vermitteln zwischen den Bedürfnissen der Menschen und entsprechenden Res‐

sourcenräumen. Mit Blick auf kulturell geprägte Versorgungssysteme liegt der von uns gewählte pri‐

märe Fokus bei den Nutzern auf Gruppen; sie lassen sich jedoch auch auf individueller Ebene formu‐

lieren. Was in einem Versorgungssystem als Ressource betrachtet wird, hängt von dem Bedürfnis ab, 

das damit befriedigt werden soll. Bei vielen Versorgungssystemen stehen materielle Ressourcen im 

Vordergrund; in anderen Versorgungssystemen wie ‚Bildung‘, ‚Hygiene‘ oder ‚Gesundheit‘ spielen 

materielle Ressourcen eine nur nachgeordnete Rolle. Dabei unterscheiden wir eine Reihe von Fakto‐

ren, die ein bestimmtes Verhältnis jeweils spezifisch ausgestalten: Kenntnisse, Praktiken, verfügbare 

Techniken sowie Regularien, die das Management eines Versorgungssystems gestatten. Die vier 

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vermittelnden Faktoren sind bei Menschen kulturell geprägt und eng miteinander verknüpft. Als 

Praktiken werden Handlungsweisen und Handlungskontexte bezeichnet. Sie beschreiben die Art und 

Weise, wie mit etwas umgegangen wird bzw. wie Werkzeuge als Mittel eingesetzt werden, um Ele‐

mente zu manipulieren, sowie den weiteren Zusammenhang, in dem Handlungen vorgenommen 

werden. Unter Techniken werden prinzipielle Fertigkeiten im Umgang mit Ressourcen bezeichnet. 

Bestandteile der Techniken sind Werkzeuge, Geräte und Apparate, die Prinzipien in ihrer Herstellung 

und ihre Verwendung in bestimmten Handlungskontexten des Umgangs mit Ressourcen. Wissen 

bezeichnet hier Kenntnisse und kognitive Leistungen, die für den Einsatz von Techniken und ein ziel‐

gerichtetes Handeln zur Erschließung bestimmter Ressourcen notwendig sind. Wissen stellt eine Pro‐

blemlösung‐Kompetenz dar. Als Management wird hier die gemeinschaftliche Organisation von indi‐

viduell unterschiedlichen Praktiken, Techniken bzw. Wissen bezeichnet, die bei der Erschließung ei‐

ner Ressource durch eine Gruppe zusammenwirken. Handlungen bzw. die mit ihnen verbundenen 

Praktiken, Techniken, Wissen und Management werden individuell erlernt, sie werden in historisch‐

sozialem Kontext reproduziert und werden dadurch über einen längeren Zeitraum Merkmale einer 

sich in ihren Mitgliedern wandelnden Gruppe. 

 

 

These 2: Werkzeuge und Artefakte sind ein wesentlicher Ausdruck kultureller Leistungen. 

 

Artefakte sind durch menschliche Einwirkung erzeugte oder veränderte Gegenstände. Sie sind zu‐

nächst absichtliche oder zufällige Produkte einer herstellenden Handlung. Bei Artefakten, die als 

Werkzeuge, Geräte und Apparate bezeichnet werden, handelt es sich um Mittel, die zur Erreichung 

bestimmter Zwecke verwendet werden. Solche Zwecke bestehen in der Veränderung von Zuständen 

des handelnden Subjekts selbst oder seiner Umgebung. Worin die Zwecke im einzelnen bestehen 

können, ist abhängig vom jeweils betrachteten Versorgungssystem. Sowohl die Herstellung als auch 

der Gebrauch von Werkzeugen und Artefakten sind eingebunden in Handlungskontexte, technische 

Prozesse, Wissenskontexte und Managementprozesse. Werden die Artefakte und Werkzeuge selbst 

oder ihre Verwendung in historisch‐sozialem Kontext erlernt und reproduziert, sind sie ein wesentli‐

cher Ausdruck kultureller Leistungen. 

 

Wie eingangs beschrieben lassen sich die mit Artefakten und Werkzeugen verbundenen Handlungs‐

kontexte, technischen Prozesse, Wissenskontexte und Managementprozesse von archäologischen 

Hinterlassenschaften nicht einfach ablesen, sondern müssen in mehrstufigen Interpretationsprozes‐

sen rekonstruiert werden (Abb. 2). Einen ersten Schritt stellen dabei die Beschreibung, Identifikation 

und Klassifikation der Funde dar (Beispiel: ein aus Feuerstein geschlagenes Werkzeug wird aufgrund 

bestimmter Merkmale als Artefakt > Werkzeug > Spitze klassifiziert), wobei hier die Perspektive der 

heute Untersuchenden gilt, die nicht zwingend der der ehemals Handelnden entspricht. Dieser Inter‐

pretationsschritt ist gegenstandszentriert. Auf der Grundlage weiterer Analysen und Interpretationen 

folgen in einem zweiten Schritt Rekonstruktionen der Herstellung und des Gebrauchs der Werkzeuge 

und Artefakte. Der Fokus in der wissenschaftlichen Untersuchung verschiebt sich damit vom bloßen 

Betrachten der Gegenstände hin zu deren Einbindung in Handlungskontexte. Diese können werk‐

stückzentriert sein und die Fundstücke selbst ins Zentrum der Rekonstruktionen stellen (Beispiel: das 

zuvor als Spitze klassifizierte Feuersteinwerkzeug wurde mit einer bestimmten Technik zugerichtet, 

weist Reste von Klebstoffen aus einer Schäftung auf und zeigt bestimmte Gebrauchsspuren). Oder es 

können kontext‐ und prozessorientierte Ansätze gewählt werden, die die Fundstücke in einen weite‐

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ren Handlungszusammenhang stellen (Beispiel: das zuvor als Spitze klassifizierte Feuersteinwerkzeug 

wurde mit einer bestimmten Technik zugerichtet; das Rohmaterial und der dafür verwendete Ham‐

merstein wurden von einem anderen Ort her transportiert und auch zur Herstellung anderer Geräte 

verwendet. Das steinerne Werkstück wurde mit Klebstoff und Schaft, die jeweils in weiteren Prozes‐

sen hergestellt wurden, zu einem Speer zusammengesetzt. Dieser diente nach den Gebrauchsspuren 

zur Jagd, u.a. wahrscheinlich auf Pferde, deren Überreste an der Fundstelle der Spitze entdeckt wur‐

den und Zerlegungsspuren aufweisen). Die einzelnen Elemente solcher Handlungsketten können 

ebenso wie der Kontext selbst in unterschiedlicher Weise kulturell geprägt sein. Anhaltspunkte zur 

kulturellen Prägung eines Handlungskontexts bzw. der Reproduktion in historisch‐sozialem Rahmen 

lassen sich aus Vergleichen mit anderen Fundstellen erschließen (vgl. Haidle et al. 2017). 

 

 

These 3: Die Umwelt einer Gruppe ist bestimmt durch ihre Kultur. Diese Ressourcenkulturen sind 

gruppenspezifisch, darin drückt sich kulturelle Vielfalt aus. 

   

Handlungen beschreiben Prozesse, die ein Subjekt in einer bestimmten Umgebung durchführt und 

die absichtlich oder zufällig künftige Zustände des Subjekts und/oder verschiedener Umweltelemen‐

te beeinflussen. Handlungen geschehen in einer Umwelt, beziehen sich oftmals auf bestimmte Ele‐

mente und verändern die jeweilige Umwelt; kulturelle Handlungen, die in historisch‐sozialem Kon‐

text reproduziert werden, nehmen in gruppenspezifischer Art und Weise Einfluss auf die Umwelt. Die 

spezifische Umwelt bzw. der Ressourcenraum einer Menschengruppe oder ‐art setzt sich zusammen 

aus Artgenossen, Agenten und Objekten, die in verschiedenen Beziehungen und in unterschiedlicher 

Zeittiefe mit den menschlichen Individuen interagieren (Haidle et al. 2015).  

 

Artgenossen, zu denen Beziehungen bestehen, sind Eltern und Fortpflanzungspartner, Teil eines Fa‐

miliennetzwerks, Freunde, Konkurrenten oder Feinde, Teil einer Altersgruppe oder kulturell definier‐

ter Gruppen. Daneben treten Menschen mit anderen Agenten und Objekten in Beziehung, wobei 

Agenten auf die Menschen wirken und Menschen auf Objekte wirken. Agenten/Objekte beinhalten 

andere Lebewesen und unbelebte Dinge, Konsumgüter und Konsumenten, Konkurrenten und Fress‐

feinde, Parasiten und Symbionten, Rohmaterialien und Artefakte, auch immaterielle Dinge wie be‐

stimmte Handlungsweisen, Normen und Werte. Daneben können auch weitere Faktoren wie Nieder‐

schlag und Temperatur und deren jahreszeitliche Schwankungen oder topographische Höhe und 

Reliefdynamik den spezifischen Ressourcenraum mitbestimmen, indem sie auf die Menschen selbst 

und deren Handlungs‐ und Entwicklungsfähigkeit sowie auf das Vorkommen und die Dynamik ande‐

rer Elemente und die Beziehungen Einfluss nehmen. Sowohl die Artgenossen als auch die andersarti‐

gen Agenten/Objekte können in vielfältigen und unterschiedlich kulturell geprägten, hemmenden 

und fördernden Beziehungen zu einem Individuum stehen: biologisch, sozial, emotional, ökonomisch, 

historisch oder als Beispiel. Ein Individuum kann zu einem Artgenossen bzw. Agenten/Objekt gleich‐

zeitig verschiedene wechselseitige und sich gegenseitig beeinflussende Beziehungen unterhalten, die 

sich ändern können. Die Beziehungen können eine unterschiedliche Zeittiefe haben und mehr oder 

weniger weit in die Vergangenheit und Zukunft wirken. Die Erweiterung der Zeittiefe bringt eine Er‐

weiterung der Handlungstiefe, aber auch der Problemtiefe mit sich.  

 

Die spezifische Umwelt bzw. der Ressourcenraum sind kulturell geprägt. Welche Elemente (Artge‐

nossen, Agenten und Objekte) mit einem Subjekt in Beziehung stehen und welche Formen diese Be‐

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ziehungen einnehmen wird von Menschen weitgehend in historisch‐sozialem Kontext erlernt. In wel‐

chem Maße z.B. biologische Verwandtschaft von der Wahl als Fortpflanzungspartner ausschließt, 

wird kulturell unterschiedlich gehandhabt. Traditionelle Präferenzen und Tabus bestimmen neben 

der generellen Verfügbarkeit über die Nutzung bestimmter Nahrungsquellen. Wie mit Fressfeinden 

und Konkurrenten umgegangen wird, ist gruppenspezifisch eingegrenzt. Der kulturbedingte Ge‐

brauch von Werkzeugen kann Elemente für den spezifischen Ressourcenraum erst erschließen, wie 

z.B. der Gebrauch von Feuer bestimmte Pflanzen durch Erhitzen erst genießbar macht. Der Gebrauch 

von Gefäßen kann die zeitliche und räumliche Tiefe verändern, in der Ressourcen wie Wasser, be‐

stimmte Nahrungsmittel oder Rohmaterialien zur Verfügung stehen, und dadurch die Zugänglichkeit 

zu weiteren Ressourcen eröffnen. Der spezifische Ressourcenraum wird auch als kulturell bedingte 

ökologische Nische beschrieben (z. B. Laland et al. 2001), ist jedoch, insbesondere aufgrund seiner 

Entwicklungsmöglichkeiten, besser als kulturspezifisches Netz von Umweltbeziehungen zu begreifen.  

 

 

These 4: Die kulturellen Kapazitäten der Menschen und ihre Ausprägungen sind dynamisch und 

entwickelten sich in drei miteinander und mit der spezifischen Umwelt interagierenden Dimensio‐

nen. 

   

Sowohl kulturelle Handlungen als auch das kulturspezifische Ressourcennetz sind dynamisch. Versor‐

gungskulturen wandeln sich im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Die Entwicklung der 

kulturellen Fähigkeiten ist vielschichtig und vollzieht sich auf drei unterschiedlichen Ebenen – der 

evolutionären, der individuellen und der historisch‐sozialen – in Wechselwirkung miteinander und 

mit der spezifischen Umwelt (Haidle et al. 2015). 

 

Auf der evolutionären Ebene wird durch Variation und Selektion ein Raum von physischen Möglich‐

keiten und Beschränkungen geschaffen, der sich in anatomischen und physiologischen Standards 

ausdrückt. Entwicklungen in dieser Dimension verändern Lebensäußerungen, indem sie sich entwe‐

der direkt auf ihre Ausgestaltung auswirken oder indem sie einen begrenzten Rahmen schaffen – 

zum Beispiel über den Spielraum an Möglichkeiten für ein Verhalten, bestimmt durch die Struktur 

unseres Körpers (bei Menschen u.a. Greifhand mit opponierbarem Daumen, aufrechter Gang, kleine‐

res und weniger spezialisiertes Gebiss), des Nervensystems und des Gehirns (bei Menschen u.a. Ver‐

änderungen der Hirnanatomie und des Hirnstoffwechsels) sowie die Fähigkeit zu handeln, sich aus‐

zudrücken, zu planen und nachzudenken. Die evolutionäre Dimension wirkt sich auf den grundlegen‐

den Ablauf der Lebensabschnitte aus sowie auf das physisch‐kognitive Potenzial wahrzunehmen, 

kreativ zu sein, zu lernen, zu erinnern und zu kommunizieren. 

 

Die Möglichkeiten und Beschränkungen bieten einen Ausgangsrahmen für die individuelle Entwick‐

lung. In der individuellen Dimension machen Menschen in einer ständigen Auseinandersetzung mit 

der Umwelt positive und negative Erfahrungen. Unterstützende Bedingungen oder Entbehrungen, 

Krankheit, günstiges Timing oder traumatische Unglücksfälle, der jeweilige Umgang damit und die 

weitere Reaktion der jeweiligen Umgebung darauf prägen die individuelle Entfaltung. Durch ihre 

Handlungen lernen Menschen, festigen alte und schaffen neue Umweltbeziehungen und können 

sogar die eigene Genexpression beeinflussen. Die evolutionäre Dimension stellt eine Art stammesge‐

schichtliches Gerüst für menschliche Lebensäußerungen bereit (eine Fledermaus kann fliegen und 

Echoortung verwenden, ein Mensch ohne technische Hilfsmittel nicht); in der individuellen Dimen‐

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sion werden die Lebensäußerungen unter vielfältigem und wechselndem Umwelteinfluss in unter‐

schiedlicher Weise ausgeführt und durch Erfahrung und Lernprozesse verändert. Individuelle Ent‐

wicklungsprozesse vollziehen sich im Vergleich zu evolutionären auf einer anderen Zeitachse.  

 

Die menschliche Umwelt zeichnet sich nicht nur durch eine große dingliche Vielfalt aus, sondern auch 

durch verschiedenartige Beziehungen und Austausch mit Artgenossen. Menschen sind eingebunden 

in soziale Netzwerke in ihrer Umgebung. Sie nutzen eine Umgebung, die von anderen Menschen 

geschaffen wurde, und folgen Handlungsschemata, die von anderen übernommen werden. Hier 

kommt mit der historisch‐sozialen eine weitere, kulturelle Entwicklungsdimension ins Spiel. Sie erwei‐

tert und verengt gleichzeitig den Pfad individueller Handlungsfähigkeit. Wenn man dem Handlungs‐

schema zur Herstellung eines Faustkeils folgt, sind die Chancen gut, dass seine Herstellung gelingt. 

Andererseits ist es weniger wahrscheinlich, dass andere Verfahren ausprobiert werden, wenn eine 

Technik über viele soziale Beispiele und darauf aufbauende eigene Praxis wohl eingeübt ist. Das Set 

aus historisch erworbenem Wissen und Fähigkeiten, Bräuchen, Ansichten und Meinungen stellt eine 

Handlungsgrundlage dar, die von den Erfahrungen anderer Gruppenmitglieder herrührt. Traditionelle 

Techniken bieten mit von anderen erworbenem Expertenwissen ein zuverlässiges Verhaltensgerüst 

für Neulinge. Diese werden zum Nachmachen angeregt, und der Kostenaufwand beim Erwerb der 

neuen Verhaltensweise sowie das Risiko zu scheitern verringern sich. Mit einer historisch‐sozialen 

Entwicklungsdimension können sich neue individuelle Verhaltensweisen, d.h. Erfindungen leichter in 

Gruppen verbreiten und so zu Innovationen werden. Andererseits behindern starke historisch‐soziale 

Traditionen Abweichungen durch zunehmenden Zwang zur Gruppenkonformität. Kulturelles Verhal‐

ten gründet auf Faktoren, die sich durch evolutionäre Prozesse herausgebildet haben, und es wird 

individuell erlernt und ausgeübt. Durch die historisch‐soziale Entwicklungsdimension werden Erfah‐

rungen anderer Individuen in die eigene Entwicklung mit einbezogen, es wird ein Lernpfad geebnet. 

Individuelle und historisch‐soziale Entwicklungen beeinflussen die spezifische Umwelt, die wiederum 

auf die evolutionäre Dimension zurück wirken kann.  

 

Ein Blick auf die verschiedenen Entwicklungsmechanismen, die unser Verhalten hervorgebracht ha‐

ben, zeigt, dass Menschen weder reine Spielbälle ihrer Gene sind, noch gänzlich selbstbestimmte 

Wege einschlagen. Viele Faktoren der spezifischen Umwelt spielen unterschiedliche Rollen. Wenn in 

einer der Entwicklungsdimensionen auf eine Situation reagiert wird, es aus dieser Perspektive zu 

einer Anpassung kommt, kann dies zum einen Veränderungen in anderen Entwicklungsdimensionen 

nach sich ziehen. Da wir uns zum anderen mit unseren Lebensäußerungen in einem ganzen Bezie‐

hungsgeflecht mit zahlreichen Artgenossen, Agenten und Objekten bewegen, kann diese Entwicklung 

im Hinblick auf andere Umweltfaktoren auch nachteilig sein. Was einerseits wie eine Optimierung 

erscheint, kann anderseits unerwartete, oft eben auch negative Auswirkungen haben.  

 

Evolution ist nicht zielgerichtet, und auch individuelle und kulturelle Entwicklung kann nur sehr be‐

grenzt vorausschauend sein: Viele Elemente der spezifischen Umgebung spielen eine Rolle, und diese 

entwickeln sich selbst und ihre Beziehungen zu ihren spezifischen Umweltelementen ständig weiter. 

Die Entwicklung kann als pfadabhängig beschrieben werden; der in der Vergangenheit eingeschlage‐

ne Entwicklungsweg eröffnet eine bestimmte Bandbreite an weiteren Wegen. Im Rückblick ist eine 

Entwicklung konsequent im Sinne von auf vorherigen Entwicklungsschritten aufbauend, aber im Aus‐

blick ist kein Weg zwingend. Im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte sind Menschen also nur scheinbar 

eine Fortschrittsleiter stetig emporgeklettert. Vielmehr haben sie über eine immer wieder veränder‐

te Route eine bergige Landschaft erwandert (Lombard 2016). 

9  

 

Diese Pfadabhängigkeit ist bereits vielfach beobachtet worden. Es sollte jedoch nicht vergessen wer‐

den, daß eine solche Asymmetrie in der Verursachung unter anderem auch aus der gewählten Me‐

thode resultiert. In der Rekonstruktion bestimmter Beziehungen, Verhältnisse und ihrer (natur‐) hi‐

storischen Entwicklung beginnen wir notwendigerweise immer im Vergleich mit uns selbst, und folg‐

lich mit dem Endpunkt dieser Entwicklung (Gutmann et al. 2010). Dieser Endpunkt der Entwicklung 

fungiert als methodischer Anfang. Im Bericht über solche Beziehungen und Entwicklungen wird die 

Erzählrichtung jedoch umgekehrt. Das Entwicklungsnarrativ beginnt an einem im Prozess der Rekon‐

struktion konstruierten Ausgangspunkt. Punkte, an denen ein bestimmter Entwicklungsprozess auch 

hätte anders verlaufen können, lassen sich damit stets erst im Rückblick feststellen. 

 

 

These 5: Geographische Expansionen sind der sichtbare Ausdruck ökologisch‐kultureller Entwick‐

lungsvorgänge.  

 

Ein Charakteristikum heutiger Menschen ist ihre weltweite Verbreitung; der Weg dahin über die frü‐

hen Ausbreitungen in den letzten drei Millionen Jahren ist ein zentraler Untersuchungsgegenstand 

der Forschungsstelle ROCEEH. Die Verbreitung früher Menschen sowie ihre Erweiterungen, die geo‐

graphische Expansion (oder: range expansions), werden anhand von morphologischen und geneti‐

schen Daten, die an menschlichen Fossilien gewonnen wurden, rekonstruiert und – je nach Zeittiefe 

– mithilfe unterschiedlicher Datierungsmethoden chronologisch eingeordnet. Eine der Kernfragen 

von ROCEEH ist, welche kulturellen Faktoren Gruppen früher Menschen, die bislang in einem be‐

stimmten Gebiet lebten, in die Lage versetzten, nötigten oder verleiteten, sich dort zu behaupten, 

sich neue Gebiete zu erschließen und ihre Verbreitung zu erweitern, zu verlagern oder einzuschrän‐

ken. Um diese Frage zu beantworten, haben wir das Konzept der Expansionen um zwei weitere Di‐

mensionen erweitert, die der ökologischen und kulturellen Expansionen. Sowohl die kulturellen als 

auch die ökologischen Bedingungen haben sich im Laufe der Evolution der Menschen in den letzten 

drei Millionen Jahren stark gewandelt und erweitert, so dass für ein tieferes Verständnis deren Ent‐

wicklungen bzw. Expansionen in Relation zu und in ihren Wechselwirkungen miteinander und mit 

den Expansionen der Verbreitung untersucht werden müssen.  

 

Kulturelle Expansionen bezeichnen hier in historisch‐sozialem Kontext erworbene Veränderungen 

bzw. Erweiterungen des Handlungsspektrums der Menschen unter bestimmten Umweltbedingungen 

(Haidle et al. 2015). Die Möglichkeiten zur Interaktion der Menschen mit ihrer jeweiligen spezifischen 

Umwelt erweiterten sich im Laufe der menschlichen Evolution in starkem Maße u.a. durch die Her‐

stellung und den Gebrauch von Werkzeugen. Intensivierte und neue Formen sozialer Beziehungen 

machten neue Formen der Weitergabe von Fertigkeiten und Wissen, die zunehmende Bildung von 

Traditionen und Innovationen möglich. Die Herausbildung und Entfaltung der menschlichen Fähigkei‐

ten zu kumulativer Kultur, geteilter Aufmerksamkeit, Kooperation, Spezialisierung und Hyperplastizi‐

tät sind eng mit der Erweiterung eines gemeinsamen Wissens‐ und Fertigkeitsspektrums verknüpft. 

Auf der Grundlage von gruppenspezifischen Verhaltenskonformitäten konnten sich im Laufe der 

Menschheitsgeschichte Normen, Werte sowie auf kulturellen Faktoren basierendes Gruppenbe‐

wusstsein herausbilden und eine absichtsvolle Gruppendifferenzierung durch bestimmtes kulturelles 

Verhalten aufscheinen.   

 

10  

 

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. 4: Das in ROCEEH verwendete Expan‐

sionskonzept 

 

Als ökologische Expansionen werden die Erweiterung bzw. Verschiebung des spezifischen Ressour‐

cenraums bezeichnet. Bei ökologischen Expansionen im Laufe der Menschheitsgeschichte verändern 

sich die Beziehungen zwischen den Menschen und dem von ihnen benötigten, gewünschten bzw. 

genutzten Spektrum an Ressourcen. Im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte nahm die 

Zahl der Artgenossen, zu denen Beziehungen bestanden, zu, ebenso wie die Bandbreite dieser Bezie‐

hungen durch zunehmende Spezialisierung, Kooperation und kulturell definierte Interaktionen. Neue 

Agenten und Objekte vergrößerten das Handlungsfeld: Steingeräte erlaubten es z.B. leichter an 

fleischliche Nahrung zu kommen, stellten aber neue Anforderungen der Rohmaterialbeschaffung und 

erweiterten gleichzeitig die Lernumwelt. Die zunehmende Beherrschung von Feuer bot nicht nur 

Licht, Wärme und Schutz, sondern erschloss auch durch Garen neue Nahrungsmittel bis hin zu neuen 

Werkstoffen wie Klebstoffe und Keramik, verbunden mit neuen Möglichkeiten und Problemen wie 

z.B. des Bedarfs an Brennmaterial. Sowohl die Menge der Bezugselemente als auch die Vielfalt der 

Beziehungen hat im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte durch kulturelle Handlun‐

gen/Praxen stark zugenommen; durch neue Beziehungen mit selbst in einer spezifischen Umwelt 

eingebundenen Organismen und Dingen haben die Menschen immer weitere Beziehungsnetzwerke 

ausgebildet, die außerdem immer tiefer in die Vergangenheit und Zukunft gereicht haben. Die ökolo‐

gischen Expansionen sind eng mit kulturellen Expansionen verknüpft. 

 

Zur Untersuchung der Bedingungen von geographischen Expansionen und möglicher Expansionsmu‐

ster müssen diese in Beziehung zu kulturellen und ökologischen Expansionen betrachtet werden. 

Erkennbar werden solche Expansionsmuster, wenn wir unterschiedliche Fälle miteinander verglei‐

chen, zum Beispiel Hominiden vor und nach einem postulierten geographischen Ausbreitungspro‐

zess, der (synchrone) Vergleich von Gruppen in unterschiedlichen Gebieten oder auch Veränderun‐

gen, die zwar dasselbe Habitat bzw. denselben Ort betreffen, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten 

ablaufen. 

 

Daraus folgt für uns: 

a) Wir haben es nicht nur mit einer einzelnen Form der Expansion zu tun, nämlich der geographi‐

schen Ausbreitung, sondern mit mindestens drei: geographisch („range“), kulturell („hominin per‐

formances“) und ökologisch („resource space“). 

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b) Diese drei Formen von Expansionen lassen sich zwar beschreibend voneinander abgrenzen, aber in 

einem beliebigen geographischen Expansionsprozess stehen sie in steter Wechselwirkung miteinan‐

der. Dieses systemische Zusammenspiel der drei Expansionsformen muss in unseren Rekonstruktio‐

nen und Erklärungsansätzen entsprechend berücksichtigt werden. 

c) Kulturelle Expansionen sind maßgebend für die Art und Weise, wie Menschen mit ihrer spezifi‐

schen Umwelt interagieren und sich mit Ressourcen versorgen konnten. Sie spielen deshalb eine 

zentrale Rolle.  

 

 

Abschließende Bemerkung 

 

Die Konzepte zur Untersuchung der Rolle der Kultur in den Expansionen früher Menschen, die wir in 

ROCEEH bislang entwickelt haben, bewegen sich im Spannungsfeld zeitgenössischer Debatten in den 

Humanwissenschaften. Sie müssen daher vielfältigen, interdisziplinären Ansprüchen genügen und 

sollen mindestens anschlußfähig an die Wissensbestände in den betroffenen Einzeldisziplinen sein. 

Wir sehen die daraus resultierenden Herausforderungen und sind uns den Problemstellungen unse‐

rer Konzepte durchaus bewußt.  

 

Von der bevorstehenden Konferenz erhoffen wir uns eine Weiterentwicklung der Kulturkonzepte, die 

für uns relevant sind, sowie neue Perspektiven für eine historische Anthropologie. Wir freuen uns auf 

konstruktive Diskussionen.  

 

 

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