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ROSS KING

Leonardound Das Letzte

Abendmahl

Aus dem Englischen von Michael Müller

Knaus

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Ver lags grup pe Ran dom House FSC® N001967Das FSC®-zer tifi zier te Pa pier EOS für dieses Buch

lie fert Salzer Papier, St. Pölten, Austria.

1. AuflageCopyright © 2012 by Ross King

First Published in 2012 by Bloomsbury USACopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: www.buerosued.deGesetzt aus der Stempel Garamond

von Buch-Werkstatt GmbH, Bad AiblingDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-8135-0342-5

www.knaus-verlag.de

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel»Leonardo and The Last Supper« bei Bloomsbury USA, New York

Für meinen Schwiegervater Sqn. Ldr. E. H. Harris RAF (Rtd)

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Inhalt

1. Das Bron ze pferd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Port rät des Künst lers als Mann mitt le ren Al ters . . . . . . . . . . 32 3. Das Abend mahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 4. Ein Abend mahl in Je ru sa lem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5. Leo nar dos Hof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6. Die Hei li ge Liga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 7. Ge heim re zep te . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 8. »Un heil von die ser Sei te und von je ner!« . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 9. Ogni pit to re dip in ge se

(Je der Ma ler malt sich selbst) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17710. Ein Ge spür für Pers pek ti ve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19911. Ein Ge spür für Pro por ti on . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22212. Der ge lieb te Jün ger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25113. Es sen und Trin ken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27814. Die Spra che der Hän de . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30515. »Nie mand liebt den Her zog« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335Epilog: »Sagt mir, ob ich je mals et was voll bracht habe« . . . . . . . 365Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

AN HANG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383Dra ma tis Pers onae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385An mer kun gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387Lis te der Ill ust ra ti o nen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424Auswahlbi blio gra fie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427Per so nen- und Werk re gis ter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

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0 50 100 km

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L i g u r i s c h e sM e e r

Comer See

T y r r h e n i s c h e sM e e r

I o n i s c h e sM e e r

A d r i a t i s c h e sM e e r

NovaraTrecate

Fornovo

Macalo

VercelliVigevano

Mordano

Florenz

Lucca

Pisa

Zagonara

PoggibonsiVolterra

Vinci

PaviaAsti

Mailand

Bologna

Rom

Hzm.Urbino

Hzm.Piombino

Dalmatien

Istrien

Lodi

PiacenzaMantua

Parma

Verona

Ferrara

Pesaro

AnconaUrbino

PerugiaAssisi

Orvieto

Viterbo

Spoleto

Benevent

Salerno

(unter spanischerHerrschaft)

(unter spanischerHerrschaft)

(unter HerrschaftGenuas)

Neapel

Capua Bari

BrindisiTarent

PalermoMessina Reggio

di Calabria

Siracusa

Siena

PaduaVenedig

Udine

ModenaGenua

HZM.MAILAND

HZM.SAVOYEN

KROATIEN

REP. GENUA

REP.SIENA

KIRCHENSTAAT

O S M A N I S C H E SR E I C H

KGR. NEAPEL

REP. FLORENZ

HZM. FERRARA

REP.SAN MARINOREP. LUCCA

HZM.MODENA

REP. VENEDIG

Elba

Capri

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Sardinien

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Es verlangt mich, Wun der zu voll brin gen.

Le o nar do da Vin ci

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k a p i t e l 1

Das Bron ze pferd

Die Stern deu ter und Wahr sa ger wa ren sich ei nig: Ein gro ßes Un-heil wür de über Ita li en he rein bre chen; die Vor zei chen wa ren

nicht zu ver ken nen. In Apu lien, un ten am Ab satz des Stie fels, stie-gen drei feu ri ge Son nen in den Him mel auf. Wei ter oben, im Nor den, ga lop pier ten Geis ter rei ter auf ge wal ti gen Rös sern zum Klang von Trom meln und Trom pe ten durch die Luft. In Flo renz hat te ein Do-mi ni ka ner mönch na mens Gi rol amo Savon arola Vi si o nen von Schwer-tern, die aus Wol ken her vor zuck ten, und von ei nem schwar zen Kreuz, das über Rom am Him mel hing. Über all in Ita li en schwitz ten Sta tu en Blut aus, und Frau en ge ba ren Mons ter.

Die se merk wür di gen und be un ru hi gen den Er eig nis se im Som mer 1494 kün dig ten gro ße Um wäl zun gen an. Wie der Chro nist France sco Gui cci ard ini spä ter be rich te te, hat ten die Be woh ner Ita li ens in je nem Jahr un ter »zahl lo sen schreck li chen Ka la mi tä ten« zu lei den.1 Savon-arola sag te das Ein tref fen ei nes grim mi gen Er o be rers von jen seits der Al pen vor her, der Ita li en ver wüs ten wür de. Sei ne düs te re Pro phe-zei ung soll te nur all zu bald in Er fül lung ge hen. Im Sep tem ber führ te Kö nig Charles VIII. von Frank reich ein Heer von mehr als drei ßig-tau send Mann über ei nen Al pen pass nach Ita li en, ent schlos sen, nach Sü den vor zu sto ßen, um den Thron des Kö nig reichs Ne a pel an sich zu brin gen. Die se Gei ßel Got tes zeich ne te sich durch kein im po san-tes Äu ße res aus: Der Vie rund zwan zig jäh ri ge war von klei ner Sta tur, kurz sich tig und so un pro por ti o niert, dass er – wie Gui cci ard ini es aus drück te – »eher ei nem Monst rum denn ei nem Men schen glich«.2

Sei ne plum pe Er schei nung und sein Bei na me »l’aff able«, der Leut se-li ge, täusch ten da rü ber hin weg, wel che Be dro hung von ihm aus ging: Er ge bot über das ge wal tigs te Ar se nal an Waf fen, das man je mals in Eu ro pa zu Ge sicht be kom men hat te.

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Den ers ten Halt leg te Charles VIII. in der lom bar di schen Stadt Asti ein, wo er, nach dem er ei ni ge Klein odien ver setzt hat te, um sei nen Män nern ih ren Sold zah len zu kön nen, von sei nem mäch ti gen ita li-e ni schen Ver bün de ten, Ludo vico Sfor za, dem Herr scher über Mai-land, will kom men ge hei ßen wur de. Savon arola mag den Feld zug des fran zö si schen Mo nar chen vor her ge sagt ha ben, aber Ludo vico war es ge we sen, der ihn ins Land ge holt hat te. Der Zwei und vier zig jäh ri ge, der we gen sei ner dunk len Ge sichts far be »il Moro«, der Mohr, ge nannt wur de, war so gut aus se hend, schlau und kraft voll, wie der fran zö-si sche Herr scher häss lich und schwach war. Er hat te Mai land – das Her zog tum, des sen Herr scher er seit 1481, nach dem er sei nen jun gen Nef fen Gian Gal eazzo ent mach tet hat te, de fac to war – in et was ver-wan delt, das von Kai ser Ma xi mi li an »das flo rie rend ste Reich in ganz Ita li en« ge nannt wur de.3 Doch Ludo vico konn te des Nachts nicht ru-hig schla fen. Der Schwie ger va ter des schwäch li chen Gian Gal eazzo war Al fonso II., der neue Kö nig von Ne a pel, des sen Toch ter schwer an der Ent mach tung ih res Gat ten trug und sich nicht scheu te, dem Va ter ihr Leid zu kla gen. Al fonso stand im Ruf, ein durch und durch wi der wär ti ger Mensch zu sein. »Nie hat es ei nen blut dürs ti ge ren, nie-der träch ti ge ren, un mensch li che ren, las zi ve ren oder fress gie ri ge ren Fürs ten ge ge ben als ihn«, hat te ein mal ein fran zö si scher Ge sand ter ge meint.4 Ludo vico wur de ge warnt, sich vor ge dun ge nen Mör dern in Acht zu neh men; übel be leu mun de te Ne a po li ta ner sei en nach Mai land ge schickt wor den, »mit schur ki schem Auf trag«.5

Doch wenn man Al fonso aus Ne a pel ver trei ben könn te, wenn man also Charles VIII. dazu be we gen könn te, sei nen – schwa chen – An-spruch auf den Thron (sein Groß va ter war ein Jahr hun dert zu vor Kö nig von Ne a pel ge we sen) mit Waf fen ge walt durch zu set zen, dann könn te Ludo vico in Ruhe und Frie den in Mai land re gie ren. Ei nem Be ob ach ter am fran zö si schen Hof zu fol ge hat te er da her be gon nen, »Kö nig Charles mit den fri vo len Ver gnü gun gen und den Herr lich kei-ten Ita li ens zu lo cken«.6

Das Her zog tum Mai land er streck te sich über hun dert zehn Ki lo-me ter von Nor den nach Sü den – von den Vor al pen bis zum Po – und über neun zig Ki lo me ter von Wes ten nach Osten. In sei nem Her zen

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Ludo vico Sfor za, ge nannt »Il Moro«

lag, von ei nem tie fen Wehr gra ben um ge ben, von Ka nä len durch zo gen und ei ner Ring mau er ge schützt, Lud ovi cos Re si denz stadt. Sei ne Ent-schluss kraft hat te im Ver ein mit sei nem Reich tum die an die hun dert-tau send Ein woh ner zäh len de Stadt zur präch tigs ten Ita li ens wer den las sen. Eine ge wal ti ge Fes tung mit zy lind ri schen Tür men rag te dro-hend an ih rem nord öst li chen Rand auf, wäh rend sich ge nau in ih rer Mit te die Mau ern ei ner neu en Ka thed ra le er ho ben, mit de ren Bau man 1386 be gon nen hat te, die aber ein Jahr hun dert spä ter kaum erst zur Hälf te voll en det war. Pa läs te, de ren Fas sa den mit Fres ken ge schmückt wa ren, säum ten die ge pflas ter ten Stra ßen. Ein Dich ter stimm te ei nen Lob ge sang auf Lud ovi cos Haupt stadt an: In Mai land habe das Gol-de ne Zeit al ter er neut be gon nen, und es sei vol ler be gab ter Künst ler, die von sei nem Hof an ge zo gen wür den wie »Bie nen vom Nek tar«.7

Der Dich ter woll te dem Her zog nicht bloß aus ir gend ei nem Kal-kül he raus mit solch über schwäng li chem Lob schmei cheln. Ludo-vico war tat säch lich ein pas si o nier ter Schirm herr der Schö nen Küns-te, seit dem er als Drei zehn jäh ri ger ein Bild sei nes Lieb lings pferds in Auf trag ge ge ben hat te.8 Un ter sei ner Äg ide ström ten füh ren de In tel-lek tu el le und Künst ler des Lan des nach Mai land: Po e ten und Ma ler, Mu si ker und Ar chi tek ten wie auch Ken ner des klas si schen grie chi-

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schen, la tei ni schen und heb rä i schen Schrift tums. Die Uni ver si tät in der Haupt stadt so wie die im nicht weit ent fern ten Pavia er leb ten ei-nen Auf schwung. Ju ris pru denz und Me di zin wa ren zwei Dis zip li nen, die be son ders flo rier ten. Präch ti ge neue Ge bäu de wur den in Mai land er rich tet; ele gan te Kup peln ho ben sich vor dem Him mel ab. Ei gen-hän dig leg te Ludo vico den Grund stein zu der präch ti gen Kir che Santa Ma ria dei Mi rac oli pres so San Celso.

Und doch fiel das Ur teil der Chro nis ten über den Herr scher ver-nich tend aus . Ita li en hat te vier zig Jah re re la ti ven Frie dens ge nos sen. Hin und wie der war es zu ver ein zel ten klei nen Ge fech ten ge kom men, etwa 1478, als Papst Six tus IV. Flo renz den Krieg er klärt hat te. Doch zu meist hat ten die Fürs ten des Lan des sich nicht ge gen sei tig auf dem Schlacht feld nie der zu rin gen ver sucht, son dern sich da rauf be schränkt, ei nan der durch die Raf fi nes se und die Voll en dung ih rer Leis tun gen auf ganz an de ren Ge bie ten aus zu ste chen. Jetzt aber soll te eine blu-ti ge Flut über das Land he rein bre chen. In dem er Charles VIII. dazu ver lock te, mit sei nen feu er spei en den Waf fen die Al pen zu über que-ren, hat te Ludo vico Sfor za, ohne es zu wol len, un zäh li gen schreck-li chen Ka tast ro phen den Weg be rei tet, ge nau wie die Ster ne es an ge-kün digt hat ten.

Zu den vie len he raus ra gen den Män nern am Hof Ludo vico Sfor zas zähl te auch ein Künst ler, der noch weit be rühm ter war als alle an de-ren. »Freue Dich, Mai land«, schrieb 1494 ein Dich ter, »dass sich in ner-halb Dei ner Mau ern solch über aus eh ren wer te Män ner auf hal ten wie Vin ci, an des sen Fä hig kei ten so wohl im Zeich nen als auch im Ma len kein an de rer Meis ter, we der ei ner der An ti ke noch ei ner der mo der-nen Zeit, he ran reicht.«9

Die ser Vir tu o se war Le o nar do da Vin ci, der mit zwei und vier zig Jah ren ge nau im glei chen Al ter wie Ludo vico stand. Der ge bür ti ge Tos ka ner war zwölf Jah re zu vor nach Nor den ge zo gen, um es in Mai-land zu Ruhm und Eh ren zu brin gen, und muss am Hof Lud ovi cos eine auf fäl li ge Er schei nung ab ge ge ben ha ben. Al len Be rich ten nach ging eine un ge wöhn li che Aus strah lung von ihm aus. Sei nen frü hes-ten Bi o gra fen zu fol ge war er nicht nur äu ßerst gut aus se hend, son-

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dern mach te auch ei nen ele gan ten Ein druck. »Nie ge nug ge rühm-te kör per li che Schön heit«, at tes tier te ihm ei ner von ih nen, wäh rend ein an de rer von sei nem »Zau ber« sprach und be rich te te: »Das Blen-den de sei ner An la gen, die frei ge bi ge Güte sei ner Na tur wa ren nicht ge rin ger als sei ne kör per li che Schön heit.« Als »von wohl pro por ti o-nier ter und an mu ti ger Ge stalt« cha rak te ri sier te ihn ein Drit ter.10 Er war auch ein mus ku lö ser, kräf ti ger Mann; man er zähl te sich, er kön-ne ein Huf ei sen mit den Hän den ge ra de bie gen, und hin und wie der abs entierte er sich vom Hof, um die un wirt li chen Gip fel nörd lich des Co mer Sees zu er klim men, wozu er auf al len vie ren über gro ße Fels bro cken krie chen und sich ge gen »schreck li che Bä ren« zur Wehr set zen muss te.11

Die ser In be griff männ li cher Schön heit trug den gran di o sen Ti tel ei nes pic tor et in ge narius duc alis, ei nes her zog li chen Ma lers und In-ge ni eurs.12 Er war mit drei ßig Jah ren nach Mai land ge kom men, in der ehr gei zi gen Hoff nung, für den dor ti gen Herr scher furcht ein-flö ßen de Kriegs ma schi nen ent wer fen und bau en zu kön nen, ge pan-zer te Kar ren, Ka ta pul te und Ka no nen, die, so ver sprach er Il Moro, den Feind »in Angst und Schre cken ver set zen« wür den. Die se Hoff-nung wur de zwei fels oh ne durch die Tat sa che ge nährt, dass Mai land mit Ve ne dig im Krieg lag und Ludo vico fast fünf und sieb zig Pro zent der – be trächt li chen – jähr li chen Steu er ein nah men für sei ne Streit kräf-te aus gab. Doch wäh rend in Leo nar dos Kopf Vi si o nen von Schlach-ten he rum spu ken moch ten, muss te er sich be schei de ne ren und fried-fer ti ge ren Auf ga ben wid men, wie zum Bei spiel dem Ent wer fen von Klei dern und Kos tü men für Hoch zei ten und Fest um zü ge so wie von auf wän di gen Ku lis sen für The a ter auf füh run gen bei Hof. Er trug zur Un ter hal tung der Höfl in ge bei, in dem er Zau ber kunst stück chen vor-führ te – wie zum Bei spiel wei ßen in ro ten Wein zu ver wan deln – oder eine Art We cker kons t ru ier te, der die Füße des Schlä fers in die Luft ka ta pul tier te. Ge le gent lich er füll te er auch ganz tri vi a le Auf ga ben; in ei nem sei ner No tiz bü cher hielt er fest: »Zum An wär men des Was sers im Ba de ofen der Her zo gin mußt du drei Tei le war men Was sers auf vier Tei le kal ten Was sers neh men.«13

Sei nen di ver sen, ge wis ser ma ßen »häus li chen« Pflich ten zum Trotz

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hat te Le o nar do sich in den zu rück lie gen den zehn Jah ren vor wie gend der Ar beit an ei nem be stimm ten Kunst werk ge wid met, ei nem, das den end gül ti gen Be weis da für er brin gen soll te, dass er zu Recht im Ruf stand, alle Meis ter des Al ter tums wie auch der Neu zeit zu über tref fen. Kurz be vor er nach Mai land über sie delt war, um das Jahr 1482 he rum, hat te er ein Be wer bungs schrei ben an Ludo vico auf ge setzt; es han del te sich um eine Art Le bens lauf, in dem er sei ne Fä hig kei ten leicht über-trieb und dem Ad res sa ten ver sprach, ihm all sei ne »Ge heim nis se an-zu ver trau en«. Bei läu fig ver si cher te er ihm auch: »Au ßer dem wer de ich an dem Bron ze pferd ar bei ten kön nen, das dem se li gen An den ken Eu res Va ters und dem glor rei chen Hau se Sfor za zu un sterb li chem Ruhm und im mer wäh ren der Ehre ge rei chen wird.«14

Mit die sem Bron ze pferd war das über le bens gro ße Rei ter stand-bild ge meint, mit dem Ludo vico die Ta ten sei nes ver stor be nen Va ters France sco ver herr li chen woll te. France sco, ein ge ris se ner Glücks rit ter (Nic colò Ma chi a vel li pries sei ne »gro ße Tüch tig keit« und sei ne »rüh-mens wer te Ver rucht heit«), hat te 1450 nach dem Sturz ei ner kurz le bi-gen re pub li ka ni schen Re gie rung den Thron des Her zog tums Mai land er klom men.15 Er war der Sohn ei nes Man nes na mens Mu zio At ten-dolo, der der Le gen de nach als Jüng ling ge ra de da mit be schäf tigt ge-we sen sein soll te, Holz zu ha cken, als ein Trupp Sol da ten vor bei ge-rit ten kam. Als die se sei ne kräf ti ge Sta tur sa hen, for der ten sie ihn auf, sich ih nen an zu schlie ßen. Mu zio schleu der te sei ne Axt in Rich tung auf ei nen Baum, wo bei er den Schwur tat: »Wenn sie ste cken bleibt, wer de ich mit euch zie hen.« Die Axt blieb ste cken, und Mu zio leb-te fort an als Söld ner, der im Lauf der Jah re von al len be deu ten de ren Fürs ten Ita li ens an ge heu ert wur de. Sei ne Bä ren stär ke und sein stür-mi sches Na tu rell tru gen ihm den Bei na men »Sfor za« ein (sforz are be deu tet so viel wie »zwin gen«, »er zwin gen«), wel cher haf ten blieb, ähn lich wie die Axt im Baum haf ten ge blie ben war.

France sco Sfor za hat te sich als eben so bril lan ter Stra te ge und mu-ti ger Krie ger er wie sen wie sein Va ter. Zum Her zog war er neun Jah re nach sei ner Hei rat mit der un e he li chen Toch ter ei nes sei ner Kli en ten, Fi lippo Ma ria Vis contis, auf ge stie gen. Mit glie der des Hau ses Vis conti hat ten seit 1277 über Mai land ge herrscht, von 1395 an als Her zö ge.

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Als Fi lippo Ma ria 1447 ge stor ben war, ohne ei nen männ li chen Er ben zu hin ter las sen, hat ten die Bür ger der Stadt das Her zog tum ab ge-schafft und die Re pub lik aus ge ru fen. Zwei Jah re spä ter hat te je doch France sco sei nen Herr schafts an spruch gel tend ge macht, Mai land be-la gert und vom Um land ab ge rie gelt, bis die aus ge hun ger ten Ein woh-ner sich schließ lich wie der von der re pub li ka ni schen Ver fas sung ver-ab schie de ten und den ehe ma li gen Söld ner im März 1450 als Her zog von Mai land in ihre Stadt ein zie hen lie ßen. France sco tat mehr als ge-nug da für, dass bei sei nem Ab le ben nicht sol che Nach fol ge prob le me auf tre ten wür den wie bei dem Tod des letz ten Vis conti-Herr schers: Er zeug te ins ge samt drei ßig Kin der, von de nen elf un e he lich wa ren. Nicht we ni ger als acht Söh ne ka men aber mit dem Se gen der Kir che zur Welt, und der äl tes te von die sen, Gal eazzo Ma ria – der äl te re Bru-der des »Moh ren« –, folg te France sco bei des sen Tod im Jahr 1466 auf den Thron nach.

Die Fa mi lie Vis conti blick te auf eine wech sel vol le, bun te Ge schich-te zu rück, die von Ket ze rei und Wahn sinn und mehr als ei nem Mord ge prägt war. Ei nes ih rer fas zi nie ren de ren weib li chen Mit glie der, eine Non ne na mens Mai fr eda, en de te 1300 auf dem Schei ter hau fen, weil sie ver kün det hat te, sie wer de dem da ma li gen Papst auf dem Thron Pe tri nach fol gen. Gio vanni Ma ria Vis conti, der äl te re Bru der Fi lippo Ma-ri as, rich te te sei ne Hun de dazu ab, Men schen zu Tode zu het zen und auf zu fres sen. Fi lippo Ma ria, ein feis ter Ir rer, trenn te sei ner Frau den Kopf ab. Doch der grau sa me und lüs ter ne Gal eazzo Ma ria rag te so-gar noch aus ei ner sol chen Schar von »Son der lin gen« he raus. Ma chi-a vel li zeig te sich spä ter über sein bar ba ri sches Ver hal ten ent setzt und hielt fest, dass er sich nicht da mit zu frie dengab, sei ne Fein de ein fach zu tö ten, son dern es sich zur Ge wohn heit mach te, »sie auf ir gend ei-ne grau sa me Wei se« ins Jen seits zu be för dern. Chro nis ten brach ten es nicht über sich, man che sei ner Ta ten zu schil dern.16 Er stand im Ver dacht, nicht nur sei ne Braut, son dern auch sei ne Mut ter er mor det zu ha ben. 1476 wur de er von At ten tä tern mit Dol chen nie der ge met-zelt. Er hin ter ließ ei nen acht Jah re al ten Er ben, Gian Gal eazzo, den Kind herr scher, der fünf Jah re spä ter von Ludo vico ent mach tet wur de. Il Moro sorg te da für, dass ihm von sei ten des Re gen ten, den man dem

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Kna ben an die Sei te ge stellt hat te, kein Au to ri täts pro blem er wach sen wür de, in dem er ihn ent haup ten ließ.

Lud ovi cos An spruch, die Herr schaft aus zu ü ben, stand auf recht tö ner nen Fü ßen, und de jure war er wei ter hin nur der Vor mund und Ver tre ter sei nes Nef fen, der den Ti tel ei nes Her zogs von Mai land von sei nem Va ter ge erbt hat te. Dass Lud ovi cos Stel lung der art an greif bar war, hat te zur Fol ge, dass er sich da rum be müh te, die Er in ne rung an sei nen ei ge nen Va ter, an France sco Sfor za also, le ben dig zu hal ten. Aus die sem Grund hat te er bei ei nem Ge lehr ten na mens Gio vanni Simo-netta eine Ge schich te der glanz vol len Kar ri e re Frances cos in Auf trag ge ge ben. Au ßer dem be ab sich tig te er, den Tanz saal der Mai län der Burg mit Fres ken aus ma len zu las sen, die ei ni ge der he ro i schen Ta ten sei nes Va ters zei gen soll ten. Die Er rich tung ei nes Rei ter stand bilds des gro-ßen Con dot tie re war be reits 1473 von Gal eazzo Ma ria in Er wä gung ge zo gen wor den, er hat te es vor dem Ca stello auf stel len las sen wol-len; sei ne Er mor dung hat te aber die Re a li sie rung die ses Plans ver hin-dert, der jetzt von Ludo vico wie der be lebt wur de: Von al len Wer ken, die sei nem Va ter Tri but zoll ten, soll te die ses Bron ze denk mal das auf-fal lends te und spek ta ku lärs te sein.

Söld ner füh rer wur den nach ih rem Tod oft von Ma lern oder Dich tern ver herr licht oder eben auch mit Denk mä lern ge ehrt. Der Flo ren ti ner Bild hau er Dona tello hat te ein bron ze nes Rei ter stand bild des ve ne zi-a ni schen Heer füh rers Era smo da Nani, bes ser be kannt als Gatta mel-ata (»ge fleck te Kat ze«), ge gos sen, das die Pi az za del San to in Pa dua schmück te. 1480 hat te ein Be rufs kol le ge von ihm, And rea del Ver roc-chio – eben falls aus Flo renz und der frü he re Leh rer Leo nar dos –, im Auf trag der Re pub lik Ve ne dig mit der Ar beit an ei ner Sta tue Bar to lo-meo Col leo nis be gon nen, die die sen eben falls hoch zu Ross zeig te. Für sei nen Va ter schweb te Ludo vico aber et was noch Gran di o se res vor. Wie ein Ge sand ter mel de te: »Sei ne Ex zel lenz wünscht et was von ge wal ti ger Grö ße, wie man es ähn lich noch nie zu vor ge se hen hat.« 17

Le o nar do da Vin ci schrieb ein mal, dass sei ne ers te Er in ne rung die an ei nen Vo gel war, und dass es sein »Schick sal zu sein schien«, Vö gel zu stu die ren und über sie zu schrei ben.18 Doch wa ren es Pfer de, die

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sein Schick sal be stimm ten. Ein Pferd soll ihn erst mals nach Mai land ge bracht ha ben – im über tra ge nen Sin ne. Ei ner Quel le zu fol ge hat te ihn näm lich Lo renzo de’ Me dici, der Herr scher von Flo renz, 1482 aus dip lo ma ti schen Grün den mit ei nem be son de ren Ge schenk für Ludo-vico Sfor za in die lom bar di sche Haupt stadt ge schickt, ei ner sil ber nen Lyra (oder Lei er), die Le o nar do ge stal tet hat te und auf der er sehr kunst fer tig zu spie len ver stand, wie ein frü her Bi o graf, der so ge nann te Ano nimo Gaddi ano, be rich te te.19 Die ses ein zig ar ti ge Ins tru ment hat te die Ge stalt ei nes Pfer de schä dels. Eine flüch ti ge Skiz ze Leo nar dos in sei nem No tiz buch zeigt, wie es aus ge se hen ha ben könn te: Die Zäh ne des Pfer des dien ten wohl als Wir bel für die Sai ten, wäh rend Wüls te im In ne ren des Mauls die Funk ti on von Bün den hat ten.

Da Lo renzo de’ Me dici die Ge wohn heit hat te, die Künst ler von Flo renz mit der Auf nah me und Pfle ge von dip lo ma ti schen Be zie-hun gen zu be trau en, kann an der Ge schich te von die sem Ins tru ment durch aus et was Wah res sein.20 Doch ob sie nun stimmt oder nicht, es ist so gut wie si cher, dass Le o nar do sich oh ne hin nach Mai land be ge-ben hät te, um für den Her zog Waf fen zu bau en oder das Rei ter stand-bild zu ent wer fen. Er muss zu dem Schluss ge kom men sein, dass sich ihm sol che Ge le gen hei ten in Flo renz wohl kaum so schnell bie ten wür den.

Den Auf trag für das Stand bild er hielt er ein paar Jah re nach sei ner An kunft in der Stadt. Das Pro jekt wur de von Ludo vico 1484 ernst-haft wie der be lebt, al ler dings war Le o nar do nicht sei ne ers te Wahl, was des sen Aus füh rung be traf. Ob wohl die ser ge wis ser ma ßen pa-rat stand, wand te Ludo vico sich im Früh jahr 1484 mit der Fra ge an Lo renzo de’ Me dici, ob er ir gend wel che Bild hau er ken ne, die in der Lage sei en, die Sta tue zu gie ßen. Die bei den be kann tes ten Bild hau er der Stadt, Ver roc chio und An to nio del Poll aiuolo, wa ren aber bei de mit an de ren Ar bei ten be fasst. »Ich ver mag hier kei nen Künst ler zu fin den, des sen Fä hig keit mich zu frie den stel len wür de«, schrieb der Me dici-Herr scher da her vol ler Be dau ern an Ludo vico zu rück, um ihm aber dann nicht etwa Le o nar do zu emp feh len, son dern le dig lich die auf mun tern de Ver si che rung an zu schlie ßen: »Ich bin ge wiss, dass es Eu rer Ex zel lenz an kei nem sol chen fehlt.«21

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Le o nar do er hielt den Auf trag also aus Man gel an an de ren Kan di-da ten, und zwar wahr schein lich schon bald, nach dem Lo ren zos Ant-wort in Mai land ein ge gan gen war. Er nahm das Pro jekt vol ler Ver ve in An griff, wenn es ihn auch ein deu tig mehr reiz te, die Ge stalt des Pfer des zu ent wer fen als die sei nes Rei ters. Er stu dier te ein ge hend die Ana to mie von Pfer den und ver fass te so gar eine – nicht er hal te-ne – mit Il lust ra ti o nen ver se he ne Ab hand lung über de ren Kör per bau. Vie le Stun den ver brach te er in den herzö gli chen Stäl len da mit, si zi-lia ni sche und spa ni sche Hengs te, die Ludo vico selbst oder sei nen be-vor zug ten Höfl in gen ge hör ten, zu be ob ach ten und zu zeich nen. Eine sei ner No ti zen lau te te: »Der Flo ren ti ner Rap pe von Mes ser Ma rio lo, ein statt li ches Pferd, hat ei nen schö nen Hals und ei nen sehr schö nen Kopf. Der Schim mel, der dem Falk ner ge hört, hat schö ne Han ken; er ist an der Porta Comas ina.«22

Leo nar dos Sta tue soll te nicht nur in ana to mi scher Hin sicht kor rekt sein; das Pferd soll te auch in kraft voll sich auf bäu men der Pose ge zeigt wer den. Dona tello hat te Gatta mel ata auf recht auf ei nem fried lich da-hin schrei ten den Pferd dar ge stellt, wäh rend Ver roc chio – an des sen Stand bild Le o nar do ver mut lich, be vor er Flo renz ver ließ, ein, zwei Jah re lang mit ge ar bei tet hat te – Col le oni auf ein mus ku lö ses Tier ge-setzt hat te, das den lin ken Vor der lauf an ge win kelt in der Schwe be hielt. Le o nar do hat te et was Be ein dru cken de res im Sinn: ein Pferd, das sich auf der Hin ter hand auf rich te te, wäh rend die Vor der hu fe über ei-nem nie der ge streck ten Feind dro hend in der Luft ru der ten. Au ßer-dem soll te die Sta tue rie sig sein. Dona tel los Denk mal war gut drei-ein halb Me ter hoch, Ver rocchios noch et was hö her – al lein das Pferd von Leo nar dos Stand bild soll te je doch fast sie ben Me ter hoch wer den, also von drei fa cher Le bens grö ße sein. Es wür de vom Ruhm Francesco Sfor zas kün den, vor al lem aber auch Zeug nis von den groß ar ti gen und un ver gleich li chen Fä hig kei ten des Künst lers ab le gen, der es ge-schaf fen hat te. Eine der art ko los sa le Bron ze sta tue hat te noch nie mand ent wor fen, ge schwei ge denn ge gos sen. Ein Zeit ge nos se schrieb denn auch, dass man das Pro jekt »all ge mein für un aus führ bar« er ach te-te.23 Le o nar do war aber kein Mensch, der sich von ei ner ge wal ti gen Auf ga be ent mu ti gen ließ. In sei nem No tiz buch rich te te er ein mal die

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Skiz ze Leo nar dos zu dem von Ludo vico in Auf trag ge ge be nen Rei ter stand bild

Mah nung an sich selbst: »Wir soll ten nicht nach dem Un mög li chen stre ben«, an an de rer Stel le heißt es aber: »Es ver langt mich, Wun der zu voll brin gen.«24

Wenn es auch viel leicht nicht un mög lich war, die ko los sa le Rei-ter sta tue zu schaf fen, so han del te es sich doch in je dem Fall um eine äu ßerst komp li zier te Auf ga be, eine, zu de ren Re a li sie rung wirk lich schon fast ein Wun der nö tig war. Das Vor ha ben stell te so gar Leo nar-dos Ge nie auf eine har te Pro be. Es gibt kei ne Auf zeich nun gen da-rü ber, bis zu wel chem Punkt er es in die sen frü hen Jah ren vor an zu-trei ben ver moch te, doch mit Si cher heit ging die Ar beit nicht schnell vo ran, und sie stand auch un ter kei nem glück li chen Stern. 1489 heg te Ludo vico Sfor za be reits Zwei fel, ob es klug ge we sen war, Le o nar do den Auf trag zu er tei len. Der Flo ren ti ner Ge sand te in Mai land schrieb an Lo renzo de’ Me dici: »Es scheint mir, [Ludo vico] ver traut, nach dem er Le o nar do den Auf trag ge ge ben hat, nicht mehr da rauf, dass die ser er folg reich ab ge schlos sen wer den wird.«25

Le o nar do re a gier te auf die se wach sen de Skep sis des Herr schers mit ei ner ent schlos se nen Wer be kam pag ne für sich selbst. 1489 bat er ei nen

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Freund, den Mai län der Ly ri ker Pia tto Piatt ini, um ein Ge dicht, das die Rei ter sta tue fei er te.26 Er woll te wohl zu ei ner Zeit, als Il Moro das Ver trau en in ihn als Bild hau er zu ver lie ren be gann und viel leicht auch von dem Vor ha ben selbst nicht mehr ganz über zeugt war, die Be geis-te rung für das Pro jekt und eben so den Glau ben an sei ne Fä hig kei ten neu ent fa chen. Piatt ini er füll te Le o nar do sei nen Wunsch: Er ver fass-te ein kur zes Ge dicht, in dem er France sco Sfor za rühm te und das Rei ter denk mal als »über die Na tur er ha ben« be sang. Er brach te auch noch ein paar Ver se zu Pa pier, in de nen er Le o nar do als »höchst voll-en de ten Bild hau er« fei er te und ihn mit grie chi schen Künst lern des Al ter tums wie Ly sip pos und Po ly klei tos ver glich.27

In ei nem Brief äu ßer te Piatt ini die Ver mu tung, dass Le o nar do die Bit te, ein Ge dicht für ihn zu schrei ben, auch noch »an vie le an de re« ge rich tet habe. Das mag wirk lich so ge we sen sein: Le o nar do kämpf te ein deu tig mit al len Mit teln da rum, dass man ihm den Auf trag nicht ent zog, und um die sel be Zeit he rum schrieb ein an de rer Dich ter, France sco Ar ri goni, ei nen Brief an Ludo vico, in dem er er wähn te, ge-be ten wor den zu sein, »das Rei ter stand bild mit ei ni gen Epi gram men zu rüh men«. Das Lob lied, in dem er dies tat, fiel we sent lich län ger aus als der Text von Piatt ini: Es han del te sich um eine Rei he von la tei ni-schen Epi gram men, die so wohl das bron ze ne Pferd über schwäng lich rühm ten als auch sei nen ehr gei zi gen Schöp fer in den Him mel ho ben, der er neut mit den größ ten Bild hau ern der An ti ke ver gli chen wur de. 28

Ob Il Moro sich von die ser ge schick ten Art der Ei gen wer bung be-ein dru cken ließ, wis sen wir nicht, doch Le o nar do blieb tat säch lich wei ter hin in sei nen Diens ten. Im Ap ril 1490 schrieb er, er habe »das Pferd wie der be gon nen«, wo mit er mein te, dass er ei nen neu en Ent-wurf in An griff ge nom men hat te, der eine we ni ger ge wag te, das heißt nicht so schwer zu re a li sie ren de Pose für das Tier vor sah: Es soll te sich nicht mehr wild auf bäu men, son dern in ru hi ge rer Hal tung dar-ge stellt wer den.29 Um die se Zeit he rum be gann Le o nar do auch da mit, ein Ton mo dell in vol ler Grö ße her zu stel len.

In der Fol ge zeit wur de er durch ver schie de ne Er eig nis se von der Ar beit ab ge lenkt und ab ge hal ten. Um eine Al li anz mit ei ner der mäch-tigs ten Fa mi li en des gan zen Lan des ein zu ge hen, trenn te Ludo vico

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sich schwe ren Her zens von sei ner schö nen, schwan ge ren Mät res se Ceci lia Gal ler ani (de ren Port rät Le o nar do kur ze Zeit zu vor ge malt hat te) und nahm Be a tri ce d’Este, die Toch ter des Her zogs von Ferr ara, zur Frau. Le o nar do wur de in ten siv in die Durch füh rung der Hoch-zeits fei er lich kei ten ein be zo gen: Er ent warf Fest ge wän der, schmück te den Tanz saal aus und half bei den Vor be rei tun gen zu ei nem Tur nier. Im Jahr da rauf schuf er ei nen Was ser fall für das au ßer halb Mai lands ge le gene Land haus der neu en Lan des her rin. Er ging aber auch pri va-ten In te res sen nach, die an de ren Leu ten am Hof des Her zogs ex zent-risch vor ka men. Ein Dich ter na mens Guid ot to Pre stin ari ver spot te te ihn in ei nem So nett da für, dass er sei ne Tage da mit ver brach te, in den be wal de ten Hü geln um Ber ga mo auf die Jagd nach »vie ler lei Monst-ren und tau send ab son der li chen Wür mern« zu ge hen.30

Ge gen Ende des Jah res 1493 war das gro ße Ton mo dell des Pfer des – al lem An schein nach ohne den Rei ter – so weit voll en det, dass es von an de ren Dich tern, sol chen, die Le o nar do ge wo ge ner wa ren als Pre-stin ari und viel leicht auch auf sein Drän gen hin zur Fe der ge grif fen hat ten, ge fei ert wer den konn te. Ei ner von ih nen rühm te das »sel te ne Ge nie« Leo nar dos und schwärm te da von, dass so gar die al ten Grie-chen und Rö mer nie et was zu Ge sicht be kom men hät ten, das von der schie ren Grö ße her die sem »ge wal ti gen Ko loss« gleich ge kom men sei. Ein an de rer stell te sich vor, wie France sco Sfor za aus dem Him mel he-rab schau te und Le o nar do mit Komp li men ten über häuf te.31

Das Mo dell war zwei fel los ein Wun der werk, doch blieb das Pro-blem zu lö sen, wie man eine sol che Monst ro si tät gie ßen soll te. Le o-nar do hat te wohl eine alt ehr wür di ge Me tho de des Bron ze gus ses zwei Jahr zehn te zu vor im Flo ren ti ner Ate li er Ver rocchios ken nen ge lernt. Ein Kern aus Ton, den man grob in die Form der Sta tue brach te, wur-de mit ei ner Schicht aus Wachs be deckt, in die dann die Fein hei ten skulp tiert wur den. Die ses mit Wachs über zo ge ne Mo dell wur de mit ei ner Form mas se (die aus ver schie de nen In gre dien zien, un ter an de rem auch aus Rin der mist be stand) um man telt, in die man Röh ren ein setz-te. Dann wur de das gan ze, an eine In sek ten pup pe er in nern de Ge bil de in ei ner Guss gru be dem Feu er aus ge setzt: Das ge schmol ze ne Wachs floss durch die Röh ren im un te ren Be reich ab und wur de durch flüs si ge

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Bron ze er setzt, die man durch oben ein ge setz te Röh ren in den ent stan-de nen Hohl raum rin nen ließ. Nach dem die Bron ze ab ge kühlt und er-starrt war, brach man die vom Feu er ver seng te äu ße re Hül le auf, um die Sta tue frei zu le gen. Der letz te Ar beits gang be stand in ei nem Glät ten und Po lie ren des Roh gus ses mit Mei ßel, Fei len und Bims stein.

Wäh rend Le o nar do sich Ge dan ken über den Pro zess des Gie ßens mach te, brach te er zahl rei che an sich selbst ge rich te te No ti zen zu Pa pier. Sehr da rum be müht, al les, was da mit zu sam men hing, ge heim zu hal ten, nahm er Zu flucht zu ei ner Ge heim schrift, al ler dings ei ner recht pri mi ti ven. Er ver tausch te ganz ein fach in ei ni gen Wör tern die Rei hen fol ge der Buch sta ben, schrieb zum Bei spiel statt cav allo (Pferd) olla vac.32 Er zog in Er wä gung, mit di ver sen »Re zep ten« zu ex pe ri-men tie ren, wie bei spiels wei se den Guss in ei nem Kas ten voll mit Es-sig ver misch tem Fluss sand aus zu füh ren, Guss for men in nen mit Lein-öl oder Ter pen tin zu be strei chen und aus Ei weiß, Zie gel staub und Haus halts ab fäl len eine Pas te für die Form hül le her zu stel len.33 Viel-leicht zog er so gar die Ver wen dung ei nes recht un or tho do xen Stof fes in Be tracht, denn ne ben ei ner sei ner Skiz zen zu dem Pferd fin den sich Be mer kun gen über den vor teil haf ten che mi schen Ef fekt, den aus ver-brann ten und kal zi nier ten mensch li chen Ex kre men ten ge won ne nes Salz er gab. Viel leicht war das aber gar nicht so ex zent risch, schließ lich wur de Rin der- und Pfer de dung häu fig von Bild hau ern ver wen det.34 Eine »Zu tat« aber stand fest: Für das Denk mal wa ren fünf und sieb zig Ton nen Bron ze vor ge se hen.

Ende 1493 hat te Le o nar do sich schon acht bis zehn Jah re mit dem Rei ter stand bild be schäf tigt. Er war da bei, dem Ton mo dell den letz ten Schliff zu ver lei hen und fest zu le gen, wie der Guss der Sta tue selbst von stat ten ge hen soll te, als im Ja nu ar 1494 weit un ten im Sü den, in Ne a pel, der sieb zig jäh ri ge Kö nig Fer di nand I. bei der Rück kehr von sei nem Land sitz, kaum dass er von sei nem Pferd ge stie gen war, tot zu-sam men brach. Sein Da hin schei den brach te sei nen Sohn Al fonso auf den Thron, den grau sa men und hab gie ri gen Va ter Isa bel las, der Ge-mah lin des glück lo sen Gian Gal eazzo, des recht mä ßi gen Herr schers über Mai land. Für Ludo vico Sfor za war es an der Zeit zu han deln.

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An fang Ok to ber 1494, als fran zö si sche Trup pen be reit stan den, weit nach Süd ita li en hi nein vor zu sto ßen, gab Ludo vico ein Fest für den Mann, von dem er hoff te, dass er ihm sei ne Herr schaft si chern wür-de: Charles VIII. von Frank reich. Er ver an stal te te dem Kö nig zu Eh-ren in der Nähe sei nes Land sit zes bei Vigev ano eine Wild schwein jagd und rich te te an schlie ßend ein üp pi ges Ban kett für ihn aus. Das Ver-hält nis zwi schen Ludo vico und Charles war herz lich, was auch da rauf zu rückzu füh ren ge we sen sein mag, dass Ludo vico da ran dach te, den fran zö si schen Herr scher groß zü gig mit Kur ti sa nen aus Mai land zu ver sor gen. Von den ita li e ni schen Wei nen war Charles al ler dings ent-täuscht, und er emp fand das Kli ma als un an ge nehm heiß.35 Ludo vico kam sein Gast sehr bald dumm, hoch mü tig und un ge ho belt vor. »Die-se Fran zo sen sind schlim me Men schen«, ver trau te er dem ve ne zi a ni-schen Ge sand ten an, »und wir dür fen nicht zu las sen, dass sie un se re Nach barn wer den.«36 Bald mach te sich im gan zen Her zog tum Ab nei-gung ge gen über den Fran zo sen breit. Ein fran zö si scher Dip lo mat aus der En tou ra ge des Kö nigs mein te spä ter reu mütig: »Als wir in Ita li en Ein zug hiel ten, er ach te te je der mann uns für die bes ten und auf rich tigs-ten Men schen in der Welt, die se Mei nung hielt aber nicht lan ge an.«37

Der wah re Cha rak ter der Fran zo sen und ihre Ab sich ten wur den tat säch lich erst nach ein paar Wo chen of fen bar, und zwar bei Mord-ano, rund vier zig Ki lo me ter süd öst lich von Bo log na. In den zu rück-lie gen den hun dert Jah ren wa ren mi li tä ri sche Feld zü ge in Ita li en in der Re gel ohne all zu gro ßes Blut ver gie ßen von stat ten ge gan gen, son dern mit Vor sicht und tak ti schem Kal kül so wie gro ßem Sä bel ge ras sel ge-führ te, pom pö se und auf Show wir kun gen be rech ne te An ge le gen hei-ten ge we sen, gi gan ti schen Schach par ti en nicht un ähn lich, bei de nen ein Söld ner füh rer, wenn er er kann te, dass sein Geg ner ihn hoff nungs-los in die Enge ge trie ben hat te, sei ne Un ter le gen heit ein ge stand und fried lich das Feld räum te. So hat ten zum Bei spiel bei Zagon ara, wo die Flo ren ti ner 1424 eine his to ri sche Nie der la ge hat ten hin neh men müs sen, nur drei Sol da ten das Le ben ver lo ren – und dies weil sie von ih ren Pfer den ge fal len und im Schlamm er stickt wa ren. 1427 wa ren in der Schlacht von Ma clo acht tau send in Mai län der Diens ten ste hen de Sol da ten von ei ner Streit macht Ve ne digs be zwun gen wor den – ohne

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dass ein ein zi ger Mensch da bei ums Le ben ge kom men wäre. Wie ein Flo ren ti ner Zeit ge nos se sar kas tisch kom men tiert hat te: »Un se re ita li-e ni schen Sol da ten schei nen sich an fol gen de Ver ein ba rung zu hal ten: ›Ihr plün dert dort, und wir wer den hier plün dern. Es be steht kei ne Not wen dig keit, dass wir ei nan der da bei zu nahe kom men.‹«38

Die fran zö si schen Heer füh rer, die 1494 in Ita li en ein dran gen, hat-ten eine an de re Auf fas sung von Kriegs füh rung. Sie wa ren mit Waf fen und Ge rät schaf ten zur Be la ge rung aus ge rüs tet, die auf dem See weg in die Küs ten stadt La Spe zia trans por tiert wor den wa ren. Die Roh re die ser Ka no nen wa ren aus Bron ze ge gos sen, im Un ter schied zu de-nen der ita li e ni schen Ge schüt ze, die nur aus kup fer nen Röh ren be-stan den, wel che mit Holz und Tier häu ten um man telt wa ren. Aus den fran zö si schen Ka no nen wur den aus Ei sen ge schmie de te Ku geln von der Grö ße ei nes Män ner kopfs ab ge feu ert, aus den ita li e ni schen le dig-lich klei ne, von Stein met zen zu recht ge hau e ne Ge steins bro cken (so gar die von Le o nar do ent wor fe nen Ka no nen wa ren nur zum »Schleu dern von klei nen Stei nen« vor ge se hen).39 Die fran zö si schen Ka no nie re hat-ten an spe zi el len Ar til le rie schu len eine Son der aus bil dung er hal ten, und sie ver stan den sich da rauf, ihre Ge schüt ze mit töd li cher Prä zi si on aus-zu rich ten. Wäh rend die Ita li e ner schwer fäl li ge Och sen ge span ne zum Zie hen ih rer Ka no nen ver wen de ten, spann ten die Fran zo sen Pfer de vor die La fet ten, mit de nen die Ge schüt ze sich viel schnel ler in Po si-ti on brin gen lie ßen. Da auch de ren Feu er ge schwin dig keit hö her war, konn ten sie leicht Bre schen in die Wäl le ei ner Stadt schie ßen oder in ei ner Schlacht schon vie le Fein de aus re la ti ver Ent fer nung nie der mä-hen. Die angst ein flö ßen den, furcht ba ren Waf fen, die Le o nar do sich im Geis te vor ge stellt hat te, wa ren plötz lich in Ita li en Re a li tät ge wor den.

Wenn man den Sü den Ita li ens be set zen woll te, muss te man zu-nächst eine Rei he von Fes tun gen un ter sei ne Kont rol le brin gen, die in der Tos ka na und in Mit tel ita li en den Zu gang zu den Apen ni nen ver-sperr ten. Mord ano war eine von ih nen. Sie be fand sich im Be sitz von Cater ina Sfor za, der Grä fin von Forli, ei ner au ßer e he li chen Toch ter von Lud ovi cos Bru der Gal eazzo Ma ria, die trotz des Sfor za-Blu tes in ih ren Adern auf der Sei te Ne a pels und nicht auf der Lud ovi cos und der Fran zo sen stand. Als die Sol da ten von Charles VIII. im Ok to ber

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Kö nig Charles VIII. von Frank reich

1494 vor den Wäl len von Mord ano auf zo gen, ver trau ten die Gar ni-sons sol da ten und Zi vi lis ten in de ren In ne rem auf die Fes tig keit der Ver tei di gungs an la gen und die ge wohn te Scheu von mi li tä ri schen Geg-nern da vor, wirk lich zum An griff über zu ge hen. Als sie aber die Auf-for de rung zur Über ga be der Stadt zu rück wie sen, schos sen die Fran-zo sen bin nen Kur zem Bre schen in die Mau ern.

Bei der Ein nah me ei ner Stadt kam es in Ita li en hin und wie der zu ei nem bru ta len Ge met zel, wenn den An grei fern statt feind li cher Sol-da ten nur Frau en und wehr lo se Zi vi lis ten vor die Spit zen ih rer Hel le-bar den lie fen. So hat ten sich grau en er re gen de Ge walt ta ten ab ge spielt, als der Con dot tie re Fede rigo de Monte fel tro 1472 Volt erra für die Flo-ren ti ner ein ge nom men hat te. »Ei nen ganzen Tag lang wur de ge raubt und miss han delt«, hielt Ma chi a vel li spä ter fest, »we der Frau en noch from me Orte ent gin gen die sem wüs ten Trei ben.«40 Der fran zö si sche An griff auf Mord ano, bei dem alle, die sich in der Be fes ti gungs an la ge auf hiel ten, Sol da ten wie Zi vi lis ten, ab ge schlach tet wur den, er schüt-ter te die Zeit ge nos sen noch mehr. Die Mel dun gen von dem Mas sa ker, das als »Schre cken von Mord ano« be kannt wur de, dran gen rasch in alle Win kel des Lan des. Und bald be gan nen die Fran zo sen so gar auf dem Ter ri to ri um ih rer of fi zi el len Ver bün de ten Ort schaf ten zu plün-

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dern und zu zer stö ren. Wie ein Chro nist aus Flo renz es aus drück te: Die fran zö si schen Inv aso ren wa ren »bes ti a li sche Men schen«.41

Be vor er das Her zog tum Mai land ver ließ, um sein Ex pe di ti on sheer Rich tung Sü den zu füh ren, hat te Charles VIII. Gian Gal eazzo Sfor za, dem recht mä ßi gen In ha ber des Mai län der Throns, im Kas tell von Pavia sei ne Auf war tung ge macht. Der jun ge Herr ge noss dort weit ge hen de Frei heit, mit der er aber nichts an zu fan gen wuss te. Ihn und den fran-zö si schen Herr scher, die Vet tern ers ten Gra des wa ren, ver band vie les, un ter an de rem ihr Ruf, Lüst lin ge zu sein. Ei ni ge Zeit genos sen ga ben Ludo vico die Schuld an den De fi zi ten, die sein Nef fe in in tel lek tu el-ler wie in mo ra li scher Hin sicht er ken nen ließ. Ei nem ve ne zi a ni schen Chro nis ten zu fol ge hat te Il Moro alle er denk li chen An stren gun gen un ter nom men, um si cher zu stel len, »dass aus dem Jun gen nie et was wer den wür de«. Er habe es be wusst un ter las sen, ihn in der Kriegs-kunst zu un ter wei sen oder ihm die für ei nen Herr scher not wen di gen Fä hig kei ten bei brin gen zu las sen. Ludo vico sei so gar so weit ge gan-gen, Leu te an zu stel len, da mit sie »sei ne kind li che Na tur kor rum pier-ten und ver dar ben« und da für sorg ten, dass der ju gend li che Her zog an »jeg li che Art von Mü ßig gang und Schwel ge rei« ge wöhnt wür de.42 Was auch im mer an sol chen An schul di gun gen wahr ge we sen sein mag, Gian Galeaz zos Zü gel lo sig keit be nö tig te we nig Er mun te rung. Das zehr te aber an sei ner Ge sund heit, und zur Zeit von Charles’ Be such war er be-reits schwer krank. Ei nen Tag nach dem Mas sa ker von Mord ano starb er – im Al ter von fünf und zwan zig. Ei ni ge mun kel ten, er sei ei nem »un-bän di gen Ko i tus« zum Op fer ge fal len; we sent lich hart nä cki ger hielt sich aber das Ge rücht, dass Ludo vico ihn habe ver gif ten las sen.43

Gian Galeaz zos Tod muss Ludo vico zwei fels oh ne sehr ge le gen ge-kom men sein. Er ig no rier te die An sprü che von des sen fünf jäh ri gem Sohn France sco, nahm zwei Tage da nach un ter Hin weis auf die all ge-gen wär ti gen Ge fah ren und die Not wen dig keit ei nes tat kräf ti gen Herr-schers den Ti tel ei nes Her zogs von Mai land an und leg te sich die ent-spre chen den In sig ni en zu. Doch ge nau in dem Mo ment, in dem ei ner von Lud ovi cos Ri va len um die Herr schaft das Le ben aus hauch te, er-schien ein an de rer auf der Büh ne. Il Mo ros Miss trau en ge gen über den fran zö si schen Ver bün de ten wur de durch die An we sen heit des Duc

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d’Or lé ans, des zwei und drei ßig jäh ri gen Vet ters und Schwa gers des Kö-nigs, ver schärft. Er war ge nau wie Ludo vico ein Ur en kel des al ler ers ten Her zogs von Mai land, ei nes 1402 ver stor be nen, ver rück ten und grau-sa men Ty ran nen, und als sol cher mach te er sein An recht auf die Herr-schaft über das Her zog tum gel tend. Der Mei nung ei ni ger Zeit ge nos sen zu fol ge wür de der von sei nem gu ten Aus se hen pro fi tie ren de und ein zü gel lo ses Le ben füh ren de Lou is dem schlau en Ludo vico wohl kaum ge wach sen sein. »Er hat ei nen klei nen Kopf mit nur we nig Platz für das Ge hirn«, schrieb der Flo ren ti ner Ge sand te aus Mai land nach Hau se und sag te dann vor her: »Ludo vico wird ihn bald aus ste chen.«44 Doch Ludo vico wür de gut da ran tun, sei nen fran zö si schen Na mens vet ter im Auge zu be hal ten, der zwar no mi nell sein Ver bün de ter war, aber ei-nen ge fähr li che ren Geg ner ab ge ben könn te als der Kö nig von Ne a pel.

Al fonso hat te in der Zwi schen zeit ein Heer auf ge stellt und Rich-tung Nor den mar schie ren las sen, um der Streit macht des fran zö si-schen Kö nigs Ein halt zu ge bie ten. Sein Ober be fehls ha ber war ein Mai län der Ad li ger na mens Gian gia como Tri vul zio, ein per sön li cher Feind Lud ovi cos, den die ser in die Ver ban nung ge schickt hat te. Als Tri vul zios Trup pen auf das rund 200 Ki lo me ter von Mai land ent fern-te Ferr ara zu rück ten, er kann te Ludo vico, dass es an der Zeit war, Pflug scha ren zu Schwer tern um zu schmie den, und be schlag nahm te die 75 Ton nen Bron ze, die Le o nar do für das Rei ter stand bild er hal-ten hat te. Er ließ das Me tall nach Ferr ara trans por tie ren, wo un ter der Ober auf sicht sei nes Schwie ger va ters, des dor ti gen Her zogs, ein ge wis ser Ma est ro Za nin drei Ka no nen da raus gie ßen soll te, da run ter eine »nach fran zö si scher Mach art«.45 Ferr ara war eine der we ni gen Städ te in Ita li en, wo man über die Fä hig kei ten und An la gen ver füg te, ein sol ches Ge schütz her zu stel len. Das dor ti ge Ca stel Vec chio konn-te sich nicht nur aus ge dehn ter Ker ker, ei ner Fol ter kam mer und ei nes be son de ren Raums zur Ent haup tung von Ge fan ge nen rüh men, son-dern auch ei ner Schmie de und An la ge zum Gie ßen von Ka no nen.46 In die se düs te re Fes tung schaff te man also Leo nar dos Bron ze.

Für den Bild hau er muss die se Ent wick lung et was bit ter Iro ni sches an sich ge habt ha ben. Er war ja nach Mai land ge kom men, weil er da von

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ge träumt hat te, dort fort schritt li che Kriegs ma schi nen kons t ru ie ren zu kön nen. In sei nen No tiz hef ten aus den ers ten Mai län der Jah ren wim melt es von Skiz zen ver schie de ner aus ge klü gel ter Ge rä te zur Ver-nich tung des Fein des. Ge treu sei ner Ver spre chung, dass sei ne Kriegs-ma schi nen nicht dem »ge wöhn li chen Typ« ent spre chen wür den, ar-bei te te er de tail lier te Plä ne für ein auf ei nen Dreh zap fen mon tier tes Prä zi si ons ge schütz aus, für eine Art mehr läu fi ges Ma schi nen ge wehr, ein ge pan zer tes, mit Ka no nen be waff ne tes Ge fährt und ei nen Kampf-wa gen, der mit Sta cheln be setz te Rä der be saß und der in Kopf hö he mit ro tie ren den Klin gen be stückt war. Ludo vico hat te sich nur we-nig für die se Mas sen ver nich tungs waf fen in te res siert. Die re la tiv ge-mäch li che Art, in der man in Ita li en Krieg führ te, und die Tat sa che, dass die be deu ten de ren Mäch te des Lan des meh re re Jahr zehn te lang Kon flik ten, die sich zu Flä chen brän den hät ten aus wei ten kön nen, aus dem Weg ge gan gen wa ren, hat ten ihm we nig An lass dazu ge ge ben, Le o nar do zur Ent wick lung von neu en Waf fen sys te men an zu spor nen. Als der Her zog er kann te, dass man schwe re Ar til le rie ge schüt ze be-nö tig te, er hiel ten je doch die Waf fen schmie den von Ferr ara und nicht Le o nar do den Auftrag, und die ser ging auch noch sei ner 75 Ton nen Bron ze ver lus tig – so grau sam konn te das Schick sal ei nem mit spie len.

Sei ner Chan ce, das Stand bild zu gie ßen, be raubt, setz te Le o nar do ei nen gleich zei tig ver zwei fel ten und ver är ger ten Brief an Ludo vico auf. Viel leicht wur de er nie ab ge schickt, es ist nur eine Sei te er hal ten und zwar un voll stän dig, da eine Hälf te ab ge trennt ist. Es ist mög-lich, dass Le o nar do das Blatt mit tendurch riss, nach dem er sich al les noch ein mal durch den Kopf hat te ge hen las sen. Viel leicht ist es aber auch ein Teil des Ent wurfs des Schrei bens, das er Il Moro über gab. Wie auch im mer: Wir be sit zen nur eine Rei he un voll stän di ger Sät ze, die uns ah nen las sen, das Le o nar do sei ner Wut und Em pö rung in ei-ner Art von un zu sam men hän gen dem Ge stot te re Luft ge macht ha ben muss. »Und wenn Sie mir noch ir gend ei nen an dern Auf trag ge ben zum Lohn für mei nen Dienst …«, so fängt der Text an. Und dann be-gann, so weit man das aus den er hal te nen Satz fet zen re kons t ru ie ren kann, eine re gel rech te Kla ge li ta nei:

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… denn ich bin nicht in der Lage …… weil sie Ein künf te ha ben aus …… so dass sie sich bes ser ein rich ten kön nen als ich …… nicht mei ne Kunst, die ich um ge stal ten will …

Ein we nig wei ter un ten auf der Sei te gab Le o nar do an, dass er sein Le-ben im Diens te Lud ovi cos ver bracht habe, dass er im mer be reit ste-he, um des sen Be feh len zu ge hor chen, und dass ihm be wusst sei, dass das Den ken sei nes Herrn von an de ren Din gen in An spruch ge nom-men wer de. »Von dem Pferd will ich nicht spre chen, denn ich ken ne die Zei ten«, schrieb er, vo rü ber ge hend ei nen ver söhn li chen Ton an-schla gend, be vor er dann wei ter aufl is te te, was ihm in Be zug auf die-sen be son de ren Auf trag an Un recht wi der fah ren sei: seit zwei Jah ren kei nen Sold mehr be kom men, ge zwun gen ge we sen, den Hand wer ker, der ihm as sis tier te, aus ei ge ner Ta sche zu be zah len, in sei ner Hoff nung ent täuscht wor den, »rühm li che Wer ke« zu schaf fen, und ge nö tigt ge-we sen, sich un ter gro ßen Mü hen mit all sei ner Kunst sei nen »Un ter-halt zu ver die nen«. Das Brie ffrag ment en det mit: »… brach te ich Ew. Gna den … und bat nur da rum …«. 47

Was für eine Bit te ge nau Le o nar do dem Her zog un ter brei te te, ist un be kannt. Eine der frag men ta ri schen Zei len – »Sie er in nern sich an den Auf trag, die Ge mä cher aus zu ma len« – spielt auf die An wei-sung an, Räu me im Mai län der Kas tell oder in Lud ovi cos Land sitz in Vigev ano mit Ge mäl den aus zu schmü cken. Für Letz te ren scheint Le o nar do Fres ken vor ge se hen zu ha ben, die Sze nen aus der rö mi-schen Ge schich te zeig ten und auch Port räts von Phi lo so phen des Alter tums ein schlos sen.

Doch Ludo vico hat te, wie sehr ihn auch an de re An ge le gen hei ten in An spruch neh men moch ten, für sei nen Hof ma ler eine an de re Ar-beit im Sinn. Die In va si on der Fran zo sen be raub te Le o nar do zwar der Chan ce, sein bron ze nes Pferd zu gie ßen, ver schaff te ihm aber die Ge le gen heit, ein ganz an de res Werk zu schaf fen, ei nes, auf dem sein Ruhm zu ei nem sehr gro ßen Teil grün den wür de.

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K a p i t e l 2

Port rät des Künst lers als Mann mitt le ren Al ters

Das Bron ze pferd war nicht die ers te Auf trags ar beit, die Le o nar do aus dem ei nen oder an de ren Grund nicht hat te voll en den kön-

nen. Er war je mand, der viel ver sprach, der da von träum te, Un mög li-ches, ja Wun der voll brin gen zu kön nen, doch bis zu je nem Zeit punkt hat te er nur Wer ke ge schaf fen, die zwar ein drucks voll wa ren, aber sei-nem au ßer ge wöhn li chen Ta lent nicht wirk lich ge recht wur den. Trotz des gro ßen Ru fes, den er in Mai land ge noss, hat te er sein vier zigs tes Le bens jahr er reicht, ohne ein ech tes Meis ter werk vor wei sen zu kön-nen, ei nes, das al les er füll te, was sei ne er staun li chen Ga ben ver hie ßen. Im Lauf sei ner bis he ri gen Kar ri e re als Künst ler hat te er – so wohl in Flo renz als auch in Mai land – meh re re be deu ten de Auf trä ge nicht ab-schlie ßen kön nen, was Un zu frie den heit bei sei nen Kun den aus ge löst und in ei nem Fall auch zu ei nem hand fes ten Streit ge führt hat te. Er konn te sich nur we ni ger fer tig ge stell ter Wer ke rüh men – ab ge se hen von ei nem die Ver kün di gung zei gen den Al tar bild in ei nem Klos ter vor den To ren von Flo renz, meh re ren für pri va te Käu fer aus ge führ-te Dar stel lun gen der Ma don na mit dem Kinde und ei ner Rei he von eben falls für pri va te Auf trag ge ber ge mal te Port räts. An schei nend hat-te er auch ein Ge mäl de ge schaf fen, ei nem frü hen Bio gra fen zu fol ge »ei nes der schöns ten und un ge wöhn lichs ten Wer ke, das man in der Ma le rei fin den kann«, das Ludo vico dem deut schen Kai ser Ma xi mi-li an als Hoch zeits ge schenk über sand te.1

Alle die se Ge mäl de, vor al lem die Port räts, wa ren in sti lis ti scher Hin sicht fort schritt lich und in äs the ti scher Hin sicht voll en det aus-ge führt. Ein Hof dich ter ver fass te ei ni ge Ver se, um die »Be gna dung und Ge schick lich keit« zu prei sen, mit de nen Le o nar do das Aus se hen Ce ci li as, der Mät res se des Her zogs, »für alle Zei ten« auf Lein wand fest ge hal ten hat te. Ce ci lia selbst, der ihr Port rät of fen sicht lich Freu de

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mach te, nann te Le o nar do den »Meis ter, der, so glau be ich, wirk lich nicht Sei nes glei chen hat«.2

Der Künst ler hat te auch eine Hei li ge ge malt, der art er staun lich le-bens echt und hin rei ßend, dass der Be sit zer des Bil des »sich in es ver-lieb te« – wie Le o nar do spä ter be haup te te – und ihn bat, das gan ze re-li gi ö se Bei werk zu ent fer nen, so dass er das Ge sicht der Ge stalt »ohne Be den ken« küs sen kön ne.3

Die se Wer ke wa ren aber ir gend wo in pri va ten Wohn räu men ver-bor gen, wo sie au ßer Fürs ten und Höfl in gen nie mand zu Ge sicht be-kam, und das Ma xi mi li an über reich te Port rät be fand sich ver mut lich im fer nen Inns bruck. Le o nar do hat te bis lang nichts ge schaf fen, das ihm ei nen solch gro ßen öf fent li chen Ruhm hät te ein brin gen kön nen, wie die le gen dä ren und von al len ge schätz ten Künst ler der Ver gan-gen heit ihn ge nos sen: ein Werk, dem in ei ner Ka thed ra le oder auf ei-ner Pi az za ein Eh ren platz zu ge wie sen wor den wäre und das alle mit ei ge nen Au gen hät ten be trach ten kön nen wie Dona tel los Stand bild von Gatta mel ata in Pa dua, Gi ot tos Fres ken in der Ba si li ka von As si si oder Bru nel le schis Kup pel des Doms von Flo renz. Sein Bron ze pferd hät te zwei fels oh ne Stau nen und Be geis te rung aus ge löst, doch die se Ge le gen heit, sich un sterb lich zu ma chen wie die al ten Meis ter, be-stand jetzt nicht mehr.

Im Al ter von zwei und vier zig – die durch schnitt li che Le bens er war-tung lag in je ner Zeit nur bei un ge fähr vier zig Jah ren – konn te Le o nar-do le dig lich ein paar Ge mäl de vor wei sen – die hier und da ver streut hin gen –, ein bi zarr aus se hen des Mu sik ins tru ment, eine Hand voll ephe me rer Aus stat tun gen für Mas ken bäl le und Fes te sowie vie le Hun-der te von Sei ten vol ler No ti zen zu Ab hand lun gen, die er nicht pub-li ziert, und Skiz zen zu Er fin dun gen, die er nicht kons t ru iert hat te.4

Die Kluft, die zwi schen sei nen Am bi ti o nen und sei nen Leis tun gen be stand, war nicht zu über se hen. Je der, der ihn ken nen lern te oder ei-nes sei ner Bil der sah, war von sei ner un ver kenn ba ren Bril lanz über-wäl tigt, doch all zu oft hat te er bei der Re a li sie rung ei nes ehr gei zi gen Pla nes Ab stri che ma chen müs sen, oder er hat te ganz und gar auf sie ver zich ten müs sen. Er hoff te, als Ar chi tekt be schäf tigt zu wer den, doch 1490 wur den auch sei ne dies be züg li chen Be stre bun gen zu nichte

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ge macht, als näm lich sein höl zer nes Mo dell ei nes von ei ner Kup pel ge krön ten Turms für den halb voll en de ten Mai län der Dom ab ge lehnt wur de. Er ver such te mit al len Mit teln, den Auf trag für den Ent wurf und den Guss der Bron ze pfor ten der Ka thed ra le von Pia cenza zu er-hal ten, und ging bei die sen Be mü hun gen so gar so weit, den Zu stän-di gen ei nen ano ny men Brief zu schrei ben, in dem er sei ne ei ge nen Fä hig kei ten rühm te: »Es gibt kei nen Mann – und das könnt Ihr mir glau ben –, der dazu in der Lage wäre au ßer Le o nar do, dem Flo ren-ti ner.«5 Doch nie mand rief ihn nach Pia cenza. Er fer tig te de tail lier-te Plä ne zu ei ner Um ge stal tung Mai lands an, die eine Auf tei lung des be wohn ten Ge biets in zehn je weils 5000 Ge bäu de um fas sen de Dist-rik te und die Ein rich tung und An la ge von sol chen An nehm lich kei ten wie Fla nier mei len, künst lich be wäs ser ten Gär ten und gut be lüf te ten Lat ri nen vor sa hen. Nichts da von wur de je mals gutge hei ßen oder gar aus ge führt.

Manch mal mach te die Tat sa che, dass er so we nig wirk lich »Voll en-de tes« – in dop pel tem Sinn des Wor tes – vor wei sen konn te, Le o nar-do zu schaf fen. Schon als jun ger Mann scheint er im Ruf ei nes Me-lan cho li kers ge stan den zu ha ben. »Le o nar do«, schrieb ein Freund an ihn, »wa rum so be küm mert?« Durch sei ne No tiz bü cher zieht sich ein trau ri ger Ref rain: »Sag mir, ob je mals et was voll bracht wur de«, seufzt er im mer wie der. Und an an de rer Stel le heißt es: »Sag mir, ob ich je-mals et was voll bracht habe.«6

Le o nar do wur de 1452 ge bo ren, in ei nem Bau ern haus mit wuch ti gen stei ner nen Mau ern in der Nähe von Vin ci, ei nem »un be deu ten den Dorfe« – wie ei ner sei ner ers ten Bi o gra fen es nennt –, fünf und zwan-zig Ki lo me ter west lich von Flo renz.7 Sein acht zig jäh ri ger Groß va ter hielt die An kunft des neu en Er den bür gers vol ler Stolz in ei nem in Le-der ge bun de nen Stamm buch der Fa mi lie fest: »Am 15. Ap ril, Sams-tag, nachts um 3 Uhr wur de mein En kel, Sohn des Ser Pi ero, mei nes Sohns, ge bo ren. Er er hielt den Na men Lion ardo.«8 Sein voll stän di-ger Name wür de Le o nar do di Ser Pi ero da Vin ci lau ten, und un ter ihm ließ er sich zwan zig Jah re spä ter bei der Comp ag nia di San Luca, der Bru der schaft der Ma ler in Flo renz, ein tra gen. Am Hof der Sfor za

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wür de man ihn manch mal »Le o nar do Fio rent ino« nen nen oder auch als »Leo nar dus de Flo ren tia« be zeich nen. So je den falls be zog Ludo-vico sich in Do ku men ten auf ihn.9 Der Ma ler und In ge ni eur des Her-zogs wur de durch die se ein we nig schwüls ti ge La ti ni sie rung nicht mit ei nem obs ku ren tos ka ni schen Wei ler iden ti fi ziert, son dern mit Flo-renz und sei ner gan zen Pracht und Herr lich keit.

Der zur Zeit von Leo nar dos Ge burt sech sund zwan zig jäh ri ge Va-ter war, wie sein Eh ren ti tel »Ser« imp li ziert, von Be ruf No tar, der Tes ta men te und Ver trä ge auf setz te so wie für an de re den Schrift ver-kehr kom mer zi el ler und ju ris ti scher Art er le dig te. Die Fa mi lie hat te seit min des tens fünf Ge ne ra ti o nen im mer wie der No ta re her vor ge-bracht, mit Le o nar do soll te die se Ket te aber ab rei ßen. Er war, wie ein paar Jah re spä ter von sei nem Groß va ter in sei ner Steu er er klä rung an-ge ge ben, »non le git timo« – von un e he li cher Ge burt – und da mit (wie auch Pries ter und über führ te Ver bre cher) von der Mit glied schaft in der Gil de der Rich ter und No ta re aus ge schlos sen. Leo nar dos Mut-ter war ein sech zehn jäh ri ges Mäd chen na mens Cater ina, an schei nend von nied ri ge rem so zi a len Sta tus als der auf ge weck te und auf stre ben-de Pi ero, der sie aus die sem Grund nicht hei ra te te.

Man weiß so gut wie nichts über die se Cater ina; viel leicht war sie ein Dienst mäd chen der Fa mi lie. In ei nem 2008 er schie ne nen Buch stellt der Au tor, France sco Cian chi, die The se auf, dass sie wie vie le an de re, die da mals in der Tos ka na im Haus halt ei ner Fa mi lie ar bei te-ten, aus ei nem frem den Land als Skla vin nach Ita li en ge bracht wor-den sein könn te. Ein Jahr hun dert zu vor hat ten die Stadt vä ter von Flo-renz per Er lass die Ein fuhr von Skla ven er laubt, vo raus ge setzt, dass es sich nicht um Chris ten, son dern um Hei den han del te, die al ler dings nach ih rem Ein tref fen in Flo renz un ver züg lich ge tauft wur den und ei nen christ li chen Na men er hiel ten (Cater ina war ei ner der po pu-lärs ten). Wohl ha ben de Flo ren ti ner hat ten die Mög lich keit, Skla vin-nen zu er wer ben, die aus Ge bie ten am Schwar zen Meer (Tür kin nen, Tata rin nen, Zir kas sie rin nen) oder aus Nord af ri ka stamm ten. Sie kos-te ten zwar von 30 bis zu 50 Gold fior ini, was dem hal ben Jah res ver-dienst ei nes Hand wer kers ent sprach, im 15. Jahr hun dert gab es aber den noch so vie le von ih nen, dass in ei nem Volks lied der An blick von

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»rei zen den klei nen Skla ven mäd chen« ge schil dert wur de, die sich »des Mor gens Klei der aus schüt telnd / frisch und fröh lich wie Weiß dorn-knos pen« aus den Fens tern beu gen.10 Cian chi fand in te res san ter wei se he raus, dass ein be gü ter ter Freund von Ser Pi ero, ein Flo ren ti ner Ban-ki er na mens Van ni di Nic colò, eine Skla vin mit Na men Cater ina sein Ei gen nann te und dass Leo nar dos Va ter nach dem Tod die ses Freun-des des sen Haus in Flo renz erb te und als sein Nach lass ver wal ter fun-gier te. Sei ne Freund schaft mit Van ni und sei ne Stel lung als Nach lass-ver wal ter ha ben ihm – Cian chi zu fol ge – die Mög lich keit ver schafft, sich Cater ina se xu ell zu nä hern. Das ist eine Hy po the se, die mög li-cher wei se Licht auf eine Ent de ckung von Lui gi Capa sso, ei nem An-thro po lo gie pro fes sor von der Uni ver si tät Chi eti, wirft. Capa sso und sei ne Mit ar bei ter fan den näm lich he raus, dass Fin ger ab drü cke, die als von Le o nar do stam mend iden ti fi ziert wur den, die glei che derm ato-gly phi sche Struk tur – das heißt das glei che Mus ter von Schlin gen und Wir beln – auf wei sen wie die von Men schen aus dem Na hen Osten. Auf die Be kannt ga be die ses Fak tums re a gier te die Pres se mit Schlag-zei len wie »Le o nar do war Ara ber« und ähn li chen. Skep ti ker wand-ten je doch ein, dass es schwie rig sei, die eth ni sche Zu ge hö rig keit ei-nes Men schen an hand sei ner Fin ger ab drü cke zu be stim men, und man auch nicht si cher sein kön ne, dass die Ab drü cke in Leo nar dos No tiz-bü chern tat säch lich von ihm selbst her rühr ten.11

Als ge si chert hin ge gen kann gel ten, dass Le o nar do im Haus sei nes Va ters und Groß va ters auf wuchs und sei ne Mut ter mehr oder we ni-ger aus sei nem Le ben ver schwand. Kin der von Skla vin nen wur den im mer frei ge bo ren, und die Kir che ge stat te te es, dass ihre Vä ter sie adop tier ten und ih nen da mit den Sta tus von le gi ti men Söh nen oder Töch tern ver lie hen. Die Müt ter er hiel ten oft eine klei ne Mit gift und wur den je mand an de rem zur Ehe frau ge ge ben. Was Cater ina be trifft, so hei ra te te sie kur ze Zeit nach Leo nar dos Ge burt Pi ero del Vac cha, ei nen lo ka len Töp fe rei be sit zer, den man all ge mein Ac cat tab ri ga nann-te. Die ser Spitz na me, der so viel wie Un ru he stif ter be deu te te, lässt da rauf schlie ßen, dass sie mit die sem Mann kei nen be son ders gu ten Fang ge macht hat te. Sie ge bar noch fünf wei te re Kin der – vier Töch ter und ei nen Sohn – und leb te in be schei de nen Ver hält nis sen in Campo

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Zep pi in der Nähe von Vin ci. Über die Sip pe Ac cat tab ri gas weiß man we nig, au ßer dass ir gend wann in den 1480er Jah ren der Sohn, Leo-nar dos Halb bru der, viel leicht ein Quer trei ber und Hitz kopf wie sein Va ter, in Pisa durch ei nen Schuss aus ei ner Arm brust ge tö tet wur de.12

Nicht lan ge nach Leo nar dos Ge burt hei ra te te Pi ero; sei ne Aus er-wähl te war eben falls ein sech zehn jäh ri ges Mäd chen. Sie hieß Albi era und stand in der ge sell schaft li chen Hie rar chie we sent lich hö her als Cater ina, da sie ei ner wohl ha ben den Flo ren ti ner No tars fa milie ent-stamm te. Auch das ließ sie wohl in den Au gen des am bi ti o nier ten jun-gen Ser Pi ero zu ei ner be geh rens wer te ren Par tie wer den. Sie starb, als Le o nar do zwölf war, ohne ih rem Mann Kin der ge schenkt zu ha ben. Des sen zwei te Ge mah lin, France sca, starb 1473, eben falls kin der los. Le o nar do blieb ein Ein zel kind, bis die drit te Ehe frau sei nes Va ters 1476 ei nen Sohn ge bar. Da war Le o nar do aber be reits vier und zwan zig und leb te nicht mehr zu Hau se. Ser Pi ero wür de im An schluss da ran mehr als ein Dut zend Kin der in die Welt set zen; ei ner neu e ren Stu die zu fol ge soll er nicht we ni ger als ein und zwan zig Söh ne und Töch ter ge zeugt ha ben.13

Le o nar do scheint sehr ge liebt wor den zu sein. Als Erst ge bo re ner wur de er mit Freu den im Heim sei nes Va ters und Groß va ters will-kom men ge hei ßen. Nicht we ni ger als zehn Pa ten und Pa tin nen wa-ren bei sei ner Tau fe zu ge gen, ein deut li ches In diz da für, dass sei ne Fa mi lie sich des Neu an kömm lings in kei ner Wei se schäm te. Wenn ihm auch der Zu gang zur Uni ver si tät ver sperrt war und er nicht den Be ruf ei nes Ju ris ten er grei fen konn te, schei nen ihm aus sei ner un ehe-li chen Ge burt sonst nur we ni ge ne ga ti ve Fol gen oder Hin der nis se er wach sen zu sein. Im Ita li en des 15. Jahr hun derts ver band sich mit ei ner sol chen il le gi ti men Ab stam mung kaum ein so zi a les Stig ma. Die Dich ter Petr arca und Boc ca ccio, der Ar chi tekt Leon Bat ti sta Al berti, der Ma ler Fi lippo Lippi und des sen Sohn Fi lipp ino und so gar ein spä te rer Papst, Cle mens VII., wa ren alle ohne den Se gen der Kir che ge zeugt wor den. Ad li ge mach ten es sich zur Ge wohn heit, ihre un-ehe li chen Kin der in den Schoß der Fa mi lie auf zu neh men. Als Papst Pius II. 1459 durch Ferr ara kam, zähl ten zu sei nem Be grü ßungs komi-tee nicht we ni ger als acht »Bas tar de« aus der Herr scher fa mi lie der

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Este, un ter de nen auch der re gie ren de Her zog selbst, Borso d’Este, war. Pius kann da ran in kei nem Fall An stoß ge nom men ha ben, denn vor sei ner Wei he zum Geist li chen hat te er selbst meh re re Kin der in die Welt ge setzt. An sei nen Va ter schrieb er, um ihm den Kum mer da rü ber zu neh men, dass sei ne En kel in Sün de ge zeugt wor den wa ren: »Was kann sü ßer sein für ei nen Men schen, als sei ne Blut li nie fort ge setzt zu se hen, und für Dich, als Nach kom men zu hin ter las sen? … Mir be rei-tet es wirk lich un ge heu re Freu de, dass mein Same frucht bar war.«14

Ser Pi ero scheint ge nau so ent zückt über die An kunft ei nes Stamm-hal ters ge we sen zu sein, ob wohl er ihm aus un be kann ten Grün den nie durch Adop ti on den Sta tus ei nes le gi ti men Soh nes ver lieh. Doch letzt lich wirk te Leo nar dos au ßer e he li che Ge burt sich vor teil haft für ihn aus. In dem sie ihn da ran hin der te, eine ju ris ti sche Lauf bahn ein-zu schla gen wie sei ne Vor fah ren, ver schaff te sie ihm die Frei heit, kre-a ti ve ren und um fas sen de ren Ak ti vi tä ten nach zu ge hen.

An Leo nar dos Aus bil dung war ver mut lich nichts Au ßer ge wöhn li-ches, das heißt, dass sie kaum dazu an ge tan war, ihn zu dem Po ly hi stor zu ma chen, der er im Lauf der Zeit wur de. Von sei nem sechs ten bis zu sei nem elf ten Le bens jahr wird er wohl eine Grund schu le be sucht ha ben, eine Ein rich tung, die die Flo ren ti ner una bott eghuzza nann-ten, weil ihr Haupt zweck da rin be stand, die Ele ven auf die Ar beit in ei ner bott ega, ei ner Werk statt, vor zu be rei ten. Un ter rich tet wur den sie ent we der von ei nem Pries ter oder ei nem No tar, der ih nen Le sen und Schrei ben bei brach te, und zwar in der Haupt sa che in dem in der Tos ka na ge spro che nen Ita li e nisch. Le o nar do wird auch mit hil fe ei nes Gram ma tik buchs, das als Dona dello be kannt war, ein we nig La tein bei ge bracht be kom men ha ben. In spä te ren Jah ren be saß er nicht we-ni ger als sechs die ser Lehr bü cher, wo run ter viel leicht noch sein al-tes Schul buch war. Die ses eif ri ge Sam meln deu tet da rauf hin, dass er Latein zwar in seinen Grund zü gen be herrsch te, sich aber kei nes wegs gut in ihm aus kann te und sich schon gar nicht flie ßend in der Sprache aus zu drü cken ver moch te. Sei nen ener gischs ten Ver such, sie sich wirk-lich an zu eig nen, wür de er mit Ende drei ßig in Mai land un ter neh men, in dem er Pas sa gen aus Nic colò Per ottis ver brei te tem Lehr buch Ru di-m enta Gram mat ices ab schrieb, um sie zu me mo rie ren. Dass ei ner der

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größ ten Köp fe der Mensch heits ge schich te sich mit amo, amas, amat ab plag te, soll te je dem zum Trost ge rei chen, der sich je mals be müht hat, eine Fremd spra che zu er ler nen.

Vom elf ten Le bens jahr an be such ten die Schü ler ent we der eine La-tein schu le, auf der sie sich mit der Li te ra tur der An ti ke be fass ten, um sich auf ei nen aka de mi schen Be ruf vor zu be rei ten, oder eine Re chen-schu le, in der das Schwer ge wicht auf ma the ma ti schen Fä chern lag. In ei ner sol chen Ins ti tu ti on wur den die Schü ler eben falls ein we nig mit der Li te ra tur be kannt ge macht, mit Au to ren wie Äsop und Dan-te, doch soll ten sie vor al lem ler nen, mit Zah len um zu ge hen, da mit sie es spä ter als Händ ler oder Kaufl eu te zu et was brin gen könn ten. Der von dem Ma ler Pi ero del la France sca ver fass te Tratt ato d’abaco, der dem Au tor zu fol ge »die Kaufl eu ten un ent behr li chen Kennt nis-se in Arithme tik« ver mit teln soll te, gibt eine gute Vor stel lung da-von, wie der Lehr stoff an ei ner sol chen Schu le aus sah. Un ter den vie len Auf ga ben ist auch eine, die zeigt, was für komp le xe Trans ak-ti o nen im Ita li en des 15. Jahr hun derts üb lich wa ren: »Zwei Per so nen trei ben Tausch han del; der eine mit Wachs und der an de re mit Wol-le. Das Wachs ist neu nein vier tel Du ka ten wert, die Um rech nungs-quo te be trägt zehn und zwei Drit tel; der an de re hat Wol le, und ich weiß nicht, was das Tau send da von wert ist, die Um rech nungs quo te be trägt 34 Du ka ten, und der Han del war ge recht. Wie viel war die Wol le in ba rem Geld wert?«15

Ei ner der frü hes ten Bi o gra fen Leo nar dos, der Ma ler und Ar chi tekt Gior gio Va sa ri, be haup te te, dass die ser »in der Re chen kunst in we-ni gen Mo na ten glän zen de Fort schrit te« mach te und »sei nem Meis ter dau ernd Zwei fel und Ein wen dun gen vor[trug], so daß er ihn oft in Ver le gen heit brach te«.16 Va sa ri kann te Le o nar do nicht per sön lich (er wur de 1511 ge bo ren), und man muss den Wahr heits ge halt von vie lem, das er er zählt, an zwei feln. Man kann aber wohl da von aus ge hen, dass Le o nar do ein wiss be gie ri ger und be gab ter Schü ler war, der sich vor al lem in Ge o met rie und im Zeich nen her vor tat. In Arith me tik war er aber nicht son der lich be wan dert, und Al geb ra, also das Rech nen mit Un be kann ten, war für ihn ein Buch mit sie ben Sie geln. Und man kann auch mit ei ni ger Si cher heit an neh men, dass er sich auf Ita li e-

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nisch und erst recht auf La tein nicht be son ders gut schrift lich aus zu-drü cken ver moch te. Er be zeich ne te sich selbst ein mal als uomo san-za lett ere, wört lich ge nom men also als Mann ohne Buch sta ben, was eine Über trei bung war und sich wahr schein lich auf sei ne man geln-den La tein kennt nis se be zog. Den noch ge ben sei ne No tiz bü cher eine gan ze Rei he von Schwä chen zu er ken nen: gram ma ti sche In kon sis-ten zen, Ver schrei bun gen, aus ge las se ne Wör ter und ei nen ge ne rel len Man gel an sprach li cher Dis zip lin. Ei ni ge sei ner Feh ler mu ten merk-wür dig an, selbst wenn man da von aus geht, dass er die be tref fen den No ti zen wo mög lich in gro ßer Hast zu Pa pier brach te. Als er zum Bei spiel eine Lis te der Bü cher in sei nem Be sitz an fer tig te, schrieb er »an tica glie« statt »an ti quar ie«. Auf der sel ben Sei te ist »Mar gha ri ta« in »Marche ri ta« ver dreht. An an de rer Stel le ver stüm mel te er den Na-men des per si schen Phi lo so phen Avi cenna zu »Avin ega«. Aus Ve ne dig wur de »Vin ega«.17 Man muss ihm aber zu gu te hal ten, dass man zu sei-ner Zeit aus ge spro chen to le rant war, was die Schreib wei se von Wör-tern be traf. Man hat te in die ser Hin sicht eine ähn lich li be ra le Ein stel-lung wie ge gen über au ßer e he lich ge zeug ten Kin dern.

Leo nar dos Stief mut ter und sein Groß va ter star ben bei de 1464, als er zwölf Jah re alt war. Um die se Zeit he rum oder zu ei nem nicht nä her be stimm ba ren Zeit punkt in den vier da rauf fol gen den Jah ren, in kei-nem Fall aber spä ter als 1469, zog er nach Flo renz, um bei sei nem Va-ter zu woh nen. Ser Pi ero hat te be rufl ich Er folg ge habt; 1462 be klei-de te er die Po si ti on des per sön li chen No tars von Co simo de’ Me dici, und 1469 fun gier te er als of fi zi el ler No tar des Po destà, des höchs ten Jus tiz be am ten der Stadt. Zu den Kli en ten sei ner flo rie ren den Kanz-lei zähl ten die Non nen und Mön che von min des tens elf Klös tern und Kon ven ten, und er war auch der No tar, an den sich die Mit glie der der jü di schen Ge mein de von Flo renz mit ih ren An lie gen wand ten. »Wenn das Schick sal dich zwingt, wäh le den bes ten Mann des Ge set zes«, schrieb ein Flo ren ti ner Dich ter na mens Bern ardo Camb ini, »nimm da Vin ci, Pi ero, du kannst da rauf ver zich ten, dich wei ter um zu schau-en.«18 Ihm war eine Dienst woh nung im Pa laz zo del Po destà zu ge wie-sen, und von 1470 an be wohn te er mit sei ner Fa mi lie ein Haus in der

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Via del le Pre stan ze (der heu ti gen Via de’ Gondi), ei ner Gas se, die auf die Nord sei te des Pa laz zo Vec chio zu läuft.

Mit sei nen 50 000 Ein woh nern muss Flo renz ei nem jun gen Mann, der vom Lan de kam, ei nen be ein dru cken den An blick ge bo ten ha ben. Um 1402 hat te der Ge lehr te Le o nar do Bruni ver kün det: »Nir gends auf der Welt kann man Schö ne res oder Präch ti ge res fin den als in Flo-renz.« Fünf zig Jah re spä ter kam ein Kauf mann nach ei ner Art Be-stands auf nah me der At trak ti o nen sei ner Hei mat stadt zu dem Schluss, dass sie noch präch ti ger sei als zu Brunis Zei ten: Es gab wun der schö ne neue Kir chen, Spi tä ler und Pa läs te, und ihre Bür ger schlen der ten in »teu ren und ele gan ten Ge wän dern« durch die Stra ßen – Zei chen für ih ren Wohl stand. Zu je ner Zeit konn te Flo renz sich nicht we ni ger als vie rund fünf zig E del stein händ ler, vie rund sieb zig Gold schmie de- und drei und acht zig Sei den we ber werk stät ten rüh men. Und noch et was an-de res ge reich te der Stadt dem Kauf mann zu fol ge zum Ruh me: Die er-staun lich gro ße Schar von Ar chi tek ten, Bild hau ern und Ma lern, die sie her vor ge bracht hat te.19 Als Le o nar do nach Flo renz über sie del te, müs-sen ihm wie je dem an de ren die groß ar ti gen Fres ken, Sta tu en und Bau-ten ins Auge ge fal len sein, die von Künst lern wie Gi ot to, Bru nel le schi, Masa ccio, Dona tello und Lo renzo Ghi berti ge schaf fen wor den wa ren.

Le o nar do mag zwar auf dem Land eine Re chen schu le be sucht ha-ben, doch sei ne wah re Aus bil dung be gann erst in Flo renz, als er schon das drei zehn te oder vier zehn te Le bens jahr er reicht hat te, und zwar in der Werk statt ei nes Gold schmieds. Er dürf te nur we nig oder gar kei ne Ge le gen heit ge habt haben, auf der Re chen schu le, wo man sich be müh-te, die Zög lin ge in die Ge heim nis se von Han del und Kom merz ein-zu wei hen, sei nen künst le ri schen Nei gun gen nach zu ge hen, doch war sein Va ter auf die Skiz zen auf merk sam ge wor den, die der Kna be in sei-ner frei en Zeit zu sei nem Ver gnü gen an ge fer tigt hat te. Ser Pi ero war auch der No tar des Flo ren ti ner Gold schmieds und Ma lers And rea del Ver roc chio, dem er, wie Va sa ri schreibt, vol ler Stolz ei nen Stoß Zeich-nun gen sei nes Soh nes zeig te.20 Er schick te Le o nar do zu Ver roc chio in die Leh re, an schei nend war es ihm gleich gül tig, dass sein Sohn da mit zu je man dem wer den wür de, der im Grun de als Hand wer ker galt. Ser Pi ero war Mit glied der mäch ti gen und an ge se he nen Gil de der Rich ter

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Ross King

Leonardo und Das Letzte Abendmahl

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 448 Seiten, 15,0 x 22,7 cm43 s/w AbbildungenISBN: 978-3-8135-0342-5

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Erscheinungstermin: März 2014

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