Kann das ‚konstruktivistische’ Entwicklungsmodell von ... · 3 3. Das Entwicklungsmodell von...
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Kann das ‚konstruktivistische’ Entwicklungsmodell von Robert Kegan für
die systemisch-konstruktivistische Beratung bzw. Therapie nützlich sein?
Ein Diskussionsbeitrag auch zu einem gleichnamigen Forum im September 2014 im ISS
von Helmut Brutscher
1. Einleitung: Mit dem Fragezeichen soll auch verdeutlich werden, ob ein Persönlichkeitsmodell angesichts
systemischer Theoriebildung der letzten Jahre sinnvoll ist. Erscheint in der Tradition der
tiefenpsychologischer Ansätze ein Verständnis über die Entwicklung von Menschen in Stufen
bzw. Abschnitten doch hilfreich? Wenn Fuchs in der Nachfolge von Luhmann doch wieder
‚ontologisch’ den Mensch als Person einführt, lohnt sich dann doch über ein
Persönlichkeitsmodell nachzudenken?
Das Entwicklungsmodell von Robert Kegan entstand aus seinen primär klinischen
Erfahrungen und den zahlreichen Gesprächen mit Kolleg_innen an der Harvard Universität.
Neben den Psychoanalytikern Erik Erikson und Donald Winnicott knüpft er ausdrücklich an
den ‚Konstruktivisten’ Jean Piaget an und kommt zu seinem Modell der Entwicklung des
Selbst. In einschlägigen Entwicklungspsychologiebüchern wird Kegan in letzter Zeit mehr
und mehr aufgenommen. (vgl. Flammer 2009 4. Auflage) Sehe dazu Anmerkung: (1)
Mit dem Begriff ‚Entwicklung’ wird eine Unterscheidung vorgenommen. Wenn von
Entwicklung gesprochen wird, so in der Erkenntnis von ‚Nicht-Entwicklung’?
Der Literat Musil schreibt dazu Bemerkenswertes:
„Und eines Tages ist das stürmische Bedürfnis da: Aussteigen! Abspringen! Ein
Heimweh nach Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben,
Zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt.“ Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften - Roman/I. Erstes und zweites Buch”.
Alltagstheorien von Psychotherapeuten?
Leiten uns Psychotherapeuten nicht auch historisch, sozial und kulturell vermittelte Ansichten
über die Entwicklung von Menschen, die in die Psychotherapie einfließen? Vereinfacht in
Vorstellungen wie ‚kein Wunder bei diesen Eltern’, ‚schon als Kind trotzig’, ‚nicht
erwachsen’, ‚Regression’. Werden dadurch unsere impliziten Wertvorstellungen über
Menschsein bzw. deren Entwicklung ausgedrückt? {Wirken Wertvorstellungen seitens
Therapeuten trotz strikter ‚Kundenorientierung’?}
Nach Kegan bewegt die Menschen in die Therapie: „...hinter der außerordentlichen mutigen
Entscheidung eines Menschen, einen Fremden aufzusuchen, um mit ihm über intime
Einzelheiten seines Lebens zusprechen, steht letzten Endes immer die Erfahrung einer Krise
in seiner Entwicklung. Gewöhnlich handelt es sich um einen Zusammenbruch der Basis, die
unser Gleichgewicht gehalten und kultiviert hat, oder wir finden eine Situation, in der wir
selbst von dem Gleichgewicht, das unser ‚Ich’ gewesen ist, Abschied nehmen, während dieses
Gleichgewicht teilweise versucht, seinen Status aufrechtzuerhalten. Etwas ist nicht ganz in
Ordnung mit dem Gleichgewicht, in dem ‚ich’ schwebe.“ 267
Gliederung:
Ich will einige Aspekte zur Entwicklungspsychologie darstellen.
Dann den Ansatz von Robert Kegan etwas ausführen und seine psychotherapeutische
Überlegungen zu Suizid und Depression.
Fragen aufwerfen, die vielleicht eine Relevanz für systemisch-konstruktivistische
Therapeut_innen und Berater_innen haben könnten.
Weiterführende Gedanken bzw. Assoziationen stelle ich in diese {Klammern}.
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2. Aspekte zur Entwicklungspsychologie Die Entwicklungspsychologie hat sich immer auch stets diesen Bereichen gewidmet:
Anlage/Umwelt – Lebensspanne - Entwicklung von Geburt bis zum Tod. Darüber hinaus
werden die einzelnen Kompetenzbereiche wie Denken, Fühlen und Handeln zudem (meist
getrennt) untersucht. Die Entwicklungspsychologie ist auch immer eine ‚Adultologie’ aus der
Sicht (Konstruktion?) von Erwachsenen. {Daniel Stern unternimmt den Versuch mit seinem
Tagebuch eines Babys die ersten 4 Jahre aus der ‚Perspektive’ des Kindes zu beschreiben.}
In älteren entwicklungspsychologischen Ausgaben finden wir exakte Angaben über den
altersmäßigen Entwicklungsverlauf (z.B. 2,4). Heute operiert man eher mit der Ungleichung:
EA ≠ LA
Entwicklungsalter ist ungleich Lebensalter.
In der Vergangenheit wurde viel Aufwand betrieben, den Anteil von Anlage bzw. Umwelt zu
bestimmen. Es bedurfte wohl einer Frau (Anne Anastasie), die diese Diskussion als
überflüssig in Frage stellte, weil es von Beginn an, eine untrennbare Wechselbeziehung gibt.
(weiter Anmerkung 2)
Individuum/Umwelt-Modell - Menschenbilder
Die unterschiedlichen Ansätze können überblicksartig hinsichtlich Person / Umwelt und den
Unterkategorien passiv/aktiv dargestellt werden. {Hinweis: heutige Psychotherapieformen
lassen sich auch nicht mehr einfach klassifizieren. Zu ausdifferenziert sind sie, vielleicht mag
jeder seine eigene Therapieform ‚schnitzen’.}
Modelle helfen im Sinne von Luhmann, die Komplexität zu reduzieren und dann wiederum
mit dieser Entkomplexisierung den komplexen Dingen zu begegnen.
I N D I V I D U U M
PASSIV AKTIV
U
M
PASSIV
W
endogenistisch
Reifungsprozesse
u.a. Rousseau; Jensen
Zeitfenster u.a von Hirnforscher
Singer?
Konstruktivistisch
Entwicklung als Konstruktion: Piaget
Radikaler Konstruktivismus
v. Glasersfeld; v. Foerster
Kelly (persönliche Konstrukte)
E
L AKTIV
T
exogenistisch
engl. Empiristen - Locke ‚tabula rasa‘
Behaviorismus –Lerntheorien um
Pawlow, Watson, Skinner,
Vygo
interaktionistisch bzw. relational Mensch und Umwelt bilden ein Gesamtsystem.
Riegel: Dialektische Psychologie
Gergen: sozialer Konstruktionismus
tzkij
Obige Theorieansätze sind immer auch im historischen, sozialen und kulturellen Kontext zu
verstehen. Sind sie somit in der Tendenz ‚westlich’ und ‚wachstumsorientiert’ worin sich
auch die Idee der Entwicklung im Sinne von Stufen widerspiegelt?
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3. Das Entwicklungsmodell von Robert Kegan
Wenn ich nun für systemisch-konstruktivistische Therapeuten Robert Kegan ‚Die
Entwicklung des Selbst’ vorstelle, dann deshalb, weil es sich zwar noch einem Selbst
verpflichtet fühlt, aber doch Menschsein als permanenten Prozess zwischen Ich und den
Anderen versteht. Der Ansatz wird von dem Hypnotherapeuten Holtz als hilfreich für
Psychotherapeuten eingeschätzt.
Kegan wie auch Kelly (3) sind Entwicklungs- bzw. Therapieansätze, die stärker nun die
Gegenwart und Zukunft sowie Interaktion fokussieren.
Das Buch ist in den USA 1982 unter dem Tiltel Evolving Self erschienen. Die Übersetzung
1986. In Deutschland sah man sich wohl noch zu sehr von dem Begriff Stufen behaftet, so
dass der Titel Entwicklungsstufen des Selbst entstand.
Was sind nun seine Grundannahmen.
Bedeutungsbildung (m. E. zentrales konstruktivistisches Element): Der Mensch ist ein
Wesen mit der Suche nach dem Sinn: macht das einen Sinn für mich. Kegan: Was wir vor
allen mit dem, was uns begegnet, machen, ist Bedeutung zu organisieren. Wir geben ihm
Sinn, wie wir wörtlich sagen. Menschsein heißt Bedeutung schaffen. Dazu gehört natürlich
auch, dass wir manchmal unfähig sind, eine Bedeutung zu fassen, was uns dann oft selbst aus
der Fassung bringt. Spannende Frage ist also: wie konstruieren die Menschen ihre Welt - aber
auch: wie konstruiert die Welt den Menschen? Wir müssen Menschen verstehen, wie sie ihre
Bedeutung bilden. Anders ausgedrückt: Menschen haben gute Gründe, sich so zu verhalten,
wie sie das augenblicklich tun. „Dem persönlichen Prozess der Bedeutungsbildung begegnen wir
eigentlich überall: beim Erwachsen, der im Gewirr widersprüchlicher und veränderlicher Gefühle
versucht, sich selbst zu finden, genauso wie bei dem kleinen Mädchen, das ein Wort zu finden sucht;
beim Jugendlichen, der sich bemüht, seine Selbstbezogenheit mit dem neu aufkeimenden Interesse an
wechselseitigen Beziehungen in der Waage zu halten, wie bei einem Einjährigen, der bei seinen ersten
Gehversuchen den Körper im Gleichgewicht zu halten sucht. Bedeutungsbildung spielt eine Rolle bei
der lähmenden Depression des Erwachsenen, der Nahrungsverweigerung des Jugendlichen und der
Unfähigkeit des Sechsjährigen, das Haus zu verlassen und zur Schule zu gehen. Die Schwierigkeiten
des Mannes, sich sein Bedürfnis nach Nähe und Bindung einzugestehen, und die Schwierigkeit der
Frau, ihrem Wunsch nach persönlicher Auszeichnung und Macht zu akzeptieren., haben ebenso mit
Bedeutungsbildung zu tun wie das Verlangen des Zehnjährigen, allein zu sein und über sich selbst zu
bestimmen, und wie der Anspruch der Dreijährigen, für seine Anhänglichkeit an Bezugspersonen
Verständnis und Entgegenkommen zu finden. Mit einer Person zusammen zu sein, die gerade so
ernsthaft in eine erstaunlich persönliche Beschäftigung vertieft ist – nämlich das Schaffen von
Bedeutung-, ist irgendwie sehr bewegend.“ “ Robert Kegan 1994 3. Auflage S. 38 f
Bedeutung für jemanden: Andere Personen haben für mich Bedeutung. (Nachahmung -
Spiegelneuronen). Wenn ich Bedeutung für andere habe, dann geht es um Zugehörigkeit.
Salopp ausgedrückt: Sehen und gesehen werden. Ich bin nur der aus diesen Verbindungen.
{In der japanischen Naikan-Therapie geht es um den Aspekt: Wem habe ich es zu verdanken,
dass ich so geworden bin.}
Entwicklung als Prozess: Wenn Mensch-Sein eine Aktivität bedeutet (Bedeutungsbildung),
dann geht es für Kegan um fortschreitende Bewegungen, die ständig einer neuen Gestalt
entgegenstrebt. Der Mensch ist also eine Aktivität, ein ständiger Prozess und das Ergebnis
eines Prozesses. Was in unserer Sprache schwer auszudrücken ist. „Aus den Verbindungen
(Beziehungen) zu anderen habe ich nicht nur neue Erfahrungen entnommen, sondern ich
spreche aus diesen Verbindungen heraus.“ Ich bin somit nach einer Beziehung immer auch
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ein anderer bzw. anderer Organismus. {Schon Martin Buber hat das m.E. ähnlich
ausgedrückt: ‚Nur durch Dich – bin ich Ich’}
Entwicklung als Verlust und Gewinn bzw. Finden und Verlieren: Die pränatale
‚Nahrungs-Standleitung’ und das wohltemperierte Ammoniakbad aufzugeben und ein
abgenabelter selbstorganisierter Mensch zu werden. Oder: mit dem Einsetzen der Sprache
verliere ich Mimik- und Gestikausdrücke. Mit dem Eintritt in die Schule und damit das
erlernende emanzipierende Zeichensystem der Erwachsenwelt überlagert sich meine
Impulsivität und Kreativität. Das ließe sich beliebig fortführen. Die Gesellschaft hat ja auch
dazu mildernde Übergangsformen entwickelt wie z.B. das Kuscheltuch als Übergangsobjekt
oder den Polterabend.
Zu jedem neuen Abschnitt wird das, was bisher gültig war, relativiert. Ein gefestigtes Selbst
muss zurückgelassen werden. Der neue Abschnitt bringt immer auch neue positive
Erfahrungen: Das Nachlassen unserer angespannten Aufmerksamkeit, ein Gefühl des Fließens
und der Unmittelbarkeit, größere Freiheit in unserem Innenleben, Offenheit und Leichtigkeit
im Umgang mit uns selbst.
{Möglicherweise fällt uns der Gedanke schwer, dass etwas Neues auch mit dem Verlust von
etwas Altem einhergeht. Wollen wir nichts ‚aufgeben’ und weiterhin alles ‚behalten’?}
Gleichgewicht und Ungleichgewicht: Kegan übernimmt das Konzept von Piaget:
Assimilation Akkommodation –: Beispiel: Ein Kleinkind erlebt eine Kuh und benennt alle
Wesen mit vier Beinen ‚Muh’ (assimiliert). Wenn es einen Zoo besucht und ein Löwe es von
einem Löwen anbrüllt wird, akkommodiert es möglicherweise seine bisherige Konstruktion
von gutmütigen Vierbeinern und gelangt in einen neuen Gleichgewichtszustand
(Äquilibrierung), dass es gutmütige und nichtgutmütige Vierbeiner gibt..
Kegan als Wissenschaftler denkt in der Tradition von Piaget (und Kelly), dass Menschen
stets auch systematisch ‚wissenschaftlich’ vorgehen. {Doch gibt es als kritische Übererlegung
zu Piaget die Vorstellung, dass Menschen in Ganzheiten denken, so auch unsystematisch,
chaotisch vorgehen.}
Das ‚Alte‘ greift nicht mehr recht, das ‚Neue‘ ist noch nicht stabil vorhanden. Es ergeben sich
Momente des Umkippens. Wenn Kegan von Prozess spricht, dann ist es die Frage, ob er noch
an dem piagetschen Konzept der Stufen und damit des Gleichgewichts festhalten muss.
Permanenter Wechsel zwischen Gleichgewicht und Ungleichgewicht, z.B. Gehen ist nichts
anderes als aufgefangenes Fallen. Eine dauernde Entwicklung, die nie etwas Vollkommens
darstellt. (Systemiker wie Dell bezweifelnd generell einen Zustand des Gleichgewichts.)
Subjekt-Objekt-Prinzip: was vorher ‚außen’ war, wird jetzt ‚innen’. Im Jugendalter sind
Beziehungen meine Bedürfnisse. Später im Erwachsenenalter kann ich Beziehungen
reflektieren und benennen, welche Kriterien ich an Beziehungen habe und somit werden sie
jetzt zu meinen ‚Inneren’.
Dialektik zwischen Zugehörigkeit und Selbstständigkeit: Oder anders ausgedrückt: Ich
und die Anderen wohl auch als zentrales Thema der Psychologie. {Verweis auf Helm
Stierlin: Ich und die Anderen} Weitere Begriffspaare: Autonomie und Anpassung –
Differenzierung und Integration – Lösung und Bindung
In diesem Dialektikprozess löst sich - so Kegan - der Mensch immer mehr von der Umwelt
und integriert dabei zunehmend Aspekte aus der Umwelt. (Verträgt sich diese Vorstellung mit
der systemtheoretischen Unterscheidung von Umwelt und Person?)
Krisen bedeuten Gefahr und Gelegenheit.
Wachstumsprozesse sind für Kegan kein Vergnügungspark aber auch keine Katastrophe.
Denn dadurch entsteht für ihn eine größere Freiheit in unserem Innenleben.
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„Besteht eine Krise im Verlust eines geliebten Menschen oder darin, dass dieser Verlust
deutlicht macht, wie ich den Dingen Bedeutung gebe? Stellt eine Krise Gelegenheit zum
Wachstum dar, oder bietet Wachstum Gelegenheiten für Krisen? Während unserer Krisen und
Schwierigkeiten können wir auch noch eine andere Stimme hören: ‚Ich bin einfach nicht ich
selbst’; Ich kann nicht glauben, dass ich so bin.’ Wenn meine Freunde mich so sehen würden,
würden sie ihren Augen nicht trauen.’ Diese Stimme sagt: ‚Ich kann mich nicht wieder
erkennen’ – und das, so meine ich, beschreibt genau was passiert: Man ist nicht fähig, sich
selbst und die Welt wieder-zu erkennen oder wieder-zu-versehen; man macht die Erfahrung,
im wörtlichen Sinne außer sich zu sein.“ 244
Menschen verstehen, bedeutet die zugrunde liegenden psychologischen Strukturen der
Bedeutungsbildung zu erkennen. Wir (Therapeuten und Pädagogen) müssen ihre
Erfahrungen so verstehen, wie sie sie erleben.
aus Jürgen Hargens: Systemische Therapie ..und gut; verlag modernes lernen dortmund 2006
Aber kann ich Menschen überhaupt verstehen? Nehme ich das auf, was auch meinen
Konstruktionen entspricht. Also bilde ich die Bedeutung der Informationen des Anderen
lediglich aufgrund meiner Konstruktionen?
Entwicklung symbolisiert als Spirale:
Kegan 1986 S. 152
Die Spirale benennt 5 Entwicklungsabschnitte, das ‚Einverleibende’ setzt er in die Mitte und
beschreibt diesen Abschnitt zusammenfassend auf der Reflexebene. (Die neue
Säuglingsforschung würde da eine andere Einschätzung vornehmen).
Impulsives Selbst ‚Ich bin die Impulse – ich bin meine Wahrnehmung’
Souveränes Selbst ‚Ich habe Bedürfnisse’ ‚ich habe Wahrnehmung und Impulse’
Zwischenmenschliches Selbst ‚Ich bin meine Beziehungen’
Institutionelles Selbst ‚ich bin meine Autorität, Identität und psych. Verwaltung’
‚Ich habe Beziehungen’
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Überindividuelles Selbst ‚ich bin überindividuell und im Austausch zwischen meinen
Selbstsystemen’
In der Spirale 2 habe ich die Skizze von Kegan nachstehend erweitert und mir erlaubt
aufgrund der Bedürfnissen von Studierenden nach Orientierung, ganz grobe Altersangaben
vorzunehmen, die mit Vorsicht zu lesen sind. Außerdem habe ich die Abfolge von Verlust
und Wachstum eingezeichnet Es ist kennzeichnend, dass er in seinem Buch Wachstum und
Verlust wesentlich mehr ausgeführt, als über die Gleichgewichts-Stadien des Selbst. Die Pole
habe ich mit unterschiedlichen Begriffen in ihrem dialektischen Bezug aufgeführt. Man
könnte auch von einem Zylindermodell sprechen
Was ergibt sich nun aus einem Spiralenmodell?
Auf einer ‚höheren‘ Ebene treten auf einem anderen Komplexitätsniveau ähnliche
Probleme auf (z.B. Loslösung {Schule/Auszug/Beruf}– Großeltern/Jugendliche
verstehen sich besser mit Kleinkindern)
Streben nach Unabhängigkeit und Zugehörigkeit sind gleichermaßen für die
Identitätsentwicklung bedeutsam.
Entwicklung als Prozess lässt sich damit eher darstellen.
Streben nach Gleichgewicht beinhaltet stets auch Ungleichgewicht. (Moment des
Umkippens.)
Anmerkung: Spirale nach oben verweist auf eine wachstumsorientiert höhergestellte
Ordnung. ‚Benimm Dich nicht mehr so wie ein Kind.’ Was wäre, wenn man die
Spirale flach, also horizontal legen würde?
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Abschnitte: Das einverleibende Selbst (0-2 Jahre) ‚Ich bin die Reflexe‘
Der vorgeburtliche Zustand ist eine Art Nirwana: Bedürfnisse werden vollkommen befriedigt.
Das Geburtserlebnis ist ein Verlassen dieses Zustandes. Nun hört die Harmonie auf. Der
Organismus sucht aber nicht Rückkehr zu einer alten Realität, sondern er bemüht sich diese
Realität zu verstehen.
Die ganze Welt ist in diesem Selbst einverleibt. (Der Mund das Tor zur Welt) . Es gibt nichts
außer diesem. Das Neugeborene lebt ‚in einer objektlosen Welt’. Zunehmend geht es dann
darum, Objekte und Personen zu erkennen. Das Kind muss (anfangs schmerzhaft) die
Differenzierung zwischen Selbst und der Welt vollziehen. {Hier wird auf diesen Abschnitt
nicht näher eingegangen, weil die Säuglingsforschung in den letzten Jahren umfangreiche
Forschungsergebnisse vorgelegt hat, die auf die Kompetenz von Säuglingen fokussiert.
Forschungsergebnisse hängen auch von den eingesetzten Instrumenten ab. So konnte auch
durch Videoanalysen festgestellt werden, dass Säuglinge auch ihre Eltern/Umwelt steuern, so
dass man heute eher von resonanten als von symbiotischen Beziehungen spricht.}
Das impulsive Selbst (Stufe 1): 'ich bin meine Bedürfnisse’ (ab 2 -5/7 Jahre)
Bestimmende Themen: Bindung, Befriedigung der Impulse/Bedürfnisse
Das Alter zeichnet sich durch starke Schwankungen im kognitiven und emotionalen Bereich
aus. Das Kind ist ständig in Bewegung und neugierig. Es ist sehr eingebunden und bezogen
auf Andere, d.h. auch dass Lernen durch Nachahmung eine zentrale Bedeutung hat. Es bedarf
daher einer deutlichen Unterstützung durch Familie bzw. KiTa.
Das Kind in diesem Alter ist noch sehr seinen Wahrnehmungen unterworfen. Ich gebe
sinngemäß dazu folgendes Beispiel von Kegan wider: Die Mutter saß mit ihrem 9- und 5-
jährigen Söhnen am Tisch und hat dem Ältesten zwei Stücke Kuchen und dem Jüngeren ein
Stück gegeben. Der 5-jährige fing lauthals an zu protestieren, worauf die Mutter sein Stück in
zwei Teile schnitt und der Junge schlagartig aufhörte zu protestieren.
Das Kind auf diesem Entwicklungsabschnitt hat auch Schwierigkeiten, zwei sich auf das
gleiche Ding beziehende Gefühle zusammenzubringen. Der Wurtanfall ist die klassische
Äußerung von Kummer. Belohnung muss unmittelbar und sinnlich erfolgen.
Das Leben ist mit Phantasien und mit Phantasien über das Phantastische (Superman zu sein)
gefüllt. Diese Phantasien gehen auch in kreative Theoriebildungen ein, was diese Zeit auch
auszeichnet.
Da Kinder keine Einsicht in ihr Verhalten haben, also noch nicht über ihre Bedürfnisse
reflektieren können, erübrigt sich die Frage: Warum hast du das gemacht?
Anmerkung: Es bleibt abzuwarten, was aus Menschen wird, die in diesem Abschnitt von
Erwachsenen ‚zugetextet’ werden bzw. ihre Impulse und Bedürfnisse nur gezügelt in
Einvernehmen der Erwachsenen leben können.
Mit Vorliebe identifizieren sich Kinder – so Kegan – im Abschnitt des impulsiven Selbst mit
dem Krümelmonster.
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Das souveräne Selbst (6/7 -12/14) ‘Ich habe Bedürfnisse’ (kann sie kontrollieren,
reflektieren und mit anderen koordinieren)
Nun entwickelt sich ein Rollenverständnis. Also ich habe eine Rolle z.B. als Schulkind. Das
Kind kann nun eine Rolle eines anderen Menschen übernehmen und den Eltern
gegenübertreten. (‚..aber meine Lehrerin hat gesagt...). Eltern verlieren oft ihre alleinige
Bedeutung. Kennzeichnet ist weiterhin, dass sich das Kind ‚abkapselt’, sich zurückzieht und
somit auch signalisiert, ich habe jetzt eine private Welt. Damit geht auch einher, dass das
Kind einen Begriff von sich selbst hat: Es weiß, was es ist. Das Kind entwickelt ein (ich
würde aufgrund der Kleinkindforschung sagen: differenziertes) Selbstkonzept. Damit entsteht
ein neues Gefühl von Freiheit, von Macht, Unabhängigkeit und vor allem von
Einflussvermögen. Im Zuge eines Selbstkonzeptes festigt sich das Gewissen, das sich befreit
von ständiger Kontrolle über die Welt und von der Abhängigkeit von Anderen: Die eigene
Integrität bildet sich vermehrt aus. Nun werden die Dinge und die Menschen als etwas über
den Augenblick hinaus Beständiges erlebt. Wenn nun das Kind die Kontrolle und die
Autorität übernimmt, dann entsteht zugleich auch Verantwortung. Wettbewerb und
Kompromiss treten in das Leben ein. Die Erkenntnis, andere zum Zuge kommen zu lassen,
kann zum eigenen Vorteil werden.
Das Kind – so Kegan – entwickelt Rituale und sorgt für Ordnung (was im Jugendalter wieder
abhanden kommt?). Deutlich ist die Freude am Tauschen (Sammelbilder) und am Herstellen
von Dingen. Das Kind will es ganz gut machen und somit stellen sich auch Versagensängste
ein. Das Kind vergewissert sich in diesem Abschnitt, ob sein Verhalten richtig, erfolgreich
oder lobenswert ist {worüber Lehrer_innen in der Grundschule mitunter genervt sind}. Für
die Erwachsenen erscheinen Abmachungen völlig sinnlos, haben aber für die Kinder eine
zentrale Bedeutungsbildung.
Nun gehören Gleichaltrige zur einbindenden, haltenden Umgebung und die Erwachsenen
müssen ‚Loslassen’ können bzw. ‚in der Nähe bleiben’. Die sinkende Bedeutung ist für
manche Eltern schmerzhaft; andere freuen sich über die Erweiterung und Bereicherung durch
andere Personen für ihr Kind.
Kegan 204 (eigene Übersetzung)
„Ein 8jähriger Junge war eines späten Nachmittags zur der Überzeugung gelangt, er habe von seinen
Eltern genug, und verkündete seine Absicht, von zu Hause fort zu gehen. Die Eltern zeigten
Verständnis und sahen zu, wie er einige Sachen in seine Tasche packte. Sie sagten, sie würden ihn sehr
vermissen, und verabschiedeten sich von ihm. Heimlich beobachteten sie vom Fenster aus, wie der
Sohn das Haus verließ, sich dann einigen Freunden aus der Nachbarschaft anschloss und mit ihnen
spielte.
Es wurde bald dunkel, Zeit zum Abendessen, und die Freunde des Jungen machten sich auf den
Nachhauseweg. Die Eltern sahen, wie ihr Sohn für eine Weile alleine blieb, wie er dann eine lange
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Zeit neben seinem kleinen Koffer stand und schließlich langsam und niedergeschlagen den Heimweg
an.“
Lesestopp: Wie würden Sie an Stelle der Eltern reagieren?
„Die Eltern machten sich Gedanken darüber, was beim Wiedersehen geschehen würde. Sie sahen die
Scham im Gesicht ihres Sohnes und wollten ihn nicht weiter demütigen; sie entschieden sich
schließlich für eine Lösung, die besonders dann angemessen ist, wenn man nicht genau weiß, was man
tun soll. Als ihr Sohn zurückkam, blieben sie sitzen, sagten kein Wort und zeigten ihm nur eine stille
Aufmerksamkeit, ohne Forderungen zu stellen. Sie sahen, wie er sich ihnen gegenübersetzte und dann
auch eine stille, nachdenkliche, selbst versunkene Haltung annahm. Keiner sprach ein Wort. Plötzlich
lief die Katze der Familie durch den Raum. Der Junge sah auf und sagte zu seinen Eltern. ‚Wie ich
sehe, habt ihr noch immer diese alte Katze.’...
Sein Versuch, von zu Hause fortzulaufen, war fehlgeschlagen sein Schritt auf eine neue Entwicklung
war jedoch gelungen. Es war, als würde er sagen: ‚Gut ich bin zurückgekommen: aber nicht, damit ihr
euch wieder auf mich stürzen und mich umsorgen könnt, nicht um wieder abhängig von euch zu sein.
Ich bin immer noch für mich selbstverantwortlich. Ich bin eine ziemlich lange Zeit fortgewesen und
nun bin ich zurück.’ ‚Wie ich sehe, habt ihr noch immer diese alte Katze’, sagte er.
Jahre der Entwicklung und hart erkämpfte Differenzierung standen hinter diesem ‚ihr’ in diesem
Satz.“
Robert Kegan 1994 213f
aus Phoenix: Der etwas andere Weg zur Pädagogik
Die haltenden Kulturen (Eltern, Umgebung) sollten u.a. den Krämergeist akzeptieren, auch
Verständnis aufbringen für Unsinniges wie Verabredungen.
Zwischenmenschliches Selbst (11 – um die 20): ‚Ich bin meine Beziehungen’ „Wenn alle
zustimmen, widerspreche ich nicht“ ‚Ich habe Bedürfnisse, Interessen und Wünsche‘
Nun wechseln die Bedürfnisse von der Seite des Selbst zur Seite der Anderen. Wir brauchen
den anderen, damit dieses Selbst überhaupt existieren kann. Dabei ‚zerfällt’ das Selbst in eine
Vielzahl wechselseitiger Beziehungen und somit entwickelt sich die Stärke im Umgang mit
anderen. Nun werden die Gefühle zunehmend mit anderen geteilt, ein 'Anderer' gehört nun
dazu. Anstelle von Ärger über Andere reagiert man mit Trauer und Verletztheitsgefühlen,
weil man Beziehungen nicht gefährden will. Kegan meint, dass die Beziehungen noch keine
‚intimen’ sind, denn dazu gehört auch die Reflexion über die Beziehung also Verinnerlichung
der Beziehung. Die einbindende Kultur (Umfeld) erwartet die Fähigkeit, mit anderen
zusammenzuarbeiten. Darauf sollte in Ausbildung bzw. Berufsvorbereitung geachtet werden.
Eltern müssen loslassen können, aber auch noch Halt anbieten und das mitunter in ‚double-
bind’–Form {Jugendliche wollen keine Küsse mehr – aber zugleich doch noch auf den Schoß.
Alles, was Erwachsene tun, scheint falsch zu sein.}
Vorsicht: Jugendlichen nicht ihre Freunde ausreden.
Dieses
Comic soll
das Beispiel
illustrieren,
doch es
umfasst m.E.
nicht den
primären
Sinn des
Beispiels.
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Noch im souveränen Selbst: Eine 16-jährige – in einem Behandlungsprogramm während
einer Gruppensitzung - sagt folgendes: ‚Meine Probleme sind nicht psychischer Natur; sie
hängen damit zusammen, dass ich mich nicht mit meiner Familie verstehe:’ Das Personal
monierte, dass T. nicht über sich selbst sprechen kann und schließlich entließ man sie, weil sie
sich nicht an Vereinbarungen halten konnte und Vereinbarungen über Drogengebrauch
gebrochen hatte. Das Team fühlte sich von T. manipuliert.
Für Kegan ist es ein Ausdruck des allen Organismen gemeinsamen Bemühens, die eigenen
Beziehungen zur Umwelt zu ordnen und zu regulieren. Andere kann sie noch nicht
verinnerlichen oder in ihrer Vorstellung festhalten (eine gemeinsame Wirklichkeit zu schaffen
– das wesentliche Kennzeichen wechselseitiger Beziehungen), sie kann daher nur versuchen,
den andern äußerlich festzuhalten und zu kontrollieren. Übertretungen der Gruppenregeln
sind kein Zeichen des Widerstandes und der Feindseligkeit (was voraussetzt, dass sie die
Berechtigung dieser Regeln in gewissem Grade anerkennt und sich ihnen dann widersetzt).
Ihr ist nicht einsichtig, wieso es hilfreich und nützlich sein kann, die Erwartungen anderer zu
erfüllen, wenn dadurch die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse behindert wird. Die Form,
ihre Schwierigkeiten nach außen hin zu orten, beschreibt doch den Schauplatz ihres
‚geistigen’ oder ‚psychischen’ Lebens: Ihr Eingebundenseins in die Bedürfnisse und die
Unfähigkeit des Selbst, die Koordination der Bedürfnisse zu übernehmen und einen auf
Wechselseitigkeit und Gemeinsamkeit beruhenden Bezugsrahmen zu schaffen.
Institutionelles Selbst ‚Ich bin meine Autorität, Identität und psych. Verwaltung’ - kann
meine Beziehungen reflektieren’
Unterschiedliche Partner-Beziehungen
zwischenmenschliches und institutionelles Selbst
Der zwischenmenschliche Partner sucht eher einen Gefährten, durch den er zu seiner
Selbstdefinition gelangen kann; sucht seinen Platz innerhalb der Ehe und den Beziehungen zu
Anderen im Rahmen der Ehe (Freunde, Haus, Kinder) - eher gebunden -
Der institutionelle Partner dagegen wird eher eine Beziehung wünschen, die seine
Selbstbestimmung bestätigt, sicherstellt und sogar verehrt. Der Ehe weist er ihren Platz in
seinem eigenen selbstbestimmten System zu. - eher unabhängig -
Das Spannungsfeld für diese Beziehung muss nicht verhängnisvoll sein.
Wir haben nun ein Selbstempfinden, wir besitzen Selbständigkeit, wir gehören uns selbst.
Jetzt lautet die Frage nicht mehr: ‚Magst Du mich noch?’ sondern ‚Ist meine Regierung noch
intakt? ’ Wir verlieren die Anderen nicht; sie bekommen einen neuen Platz beim
Aufrechterhalten unseres Selbstsystems. Unser Gefühlsleben scheint überwiegend der
inneren Kontrolle zu unterliegen. Gefahr der übertriebenen starker Kontrolle. Es gibt noch
keinen übergeordneten Bezugsrahmen zur Begründung und Rechtfertigung. Es ist eine Sorge
um das Selbst zu verzeichnen: Eine Bedrohung des Gefühls der Unabhängigkeit,
Verschiedenheit, Einflussmöglichkeit und der Wunsch nach dem zwischenmenschlichen
Selbst, illustriert folgende Zeichnung aus der Hamburger Lehrerzeitung (hlz);
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Überindividuelles Selbst (ab 55 ?) ‚Ich bin überindividuell und im Austausch zwischen
meinen Selbstsystemen’ ‚Ich habe meine Autorität, Identität und psychische Verwaltung’
Es sind nun Beziehungen, in denen die Partner ihre Identität wahren können. Das neue Selbst
koordiniert die psychischen Institutionen. Damit wird eine Revolution in der 'Liebe' und in
der 'Arbeit‘ verursacht. Man hat eher eine Laufbahn, als die Laufbahn zu sein. Leistungen
sind nicht mehr einzig ausschlaggebend. Das Selbst ist geringerem Maße von den
vernichtenden Demütigungen bedroht. Das Selbst kann nun negative Aussagen, die seine
Aktivität betreffen, tatsächlich 'hören‘. 'Individualität' fördert nicht Abgeschlossenheit und
Selbstkontrolle. Wir können uns anderen ‚hingeben‘, 'Kontrapunkte von Identitäten' bilden.
Durch die intime Form der Anteilnahme ist es möglich, dass Gefühle und Impulse in
verschiedenen, sich überschneidenden Teilsystemen leben und zwischen diesen
verschiedenen Systemen 'gelöst' werden können. {Hier kommt Kegans Lehrer Kohlberg
‚durch’ – der die Orientierung am universalen ethischen Prinzip bzw. Stufe 7
Transzendentalität formuliert hat}
Fest verankert im institutionellen Selbst (seine eigene Psychologie schützen) aber schon eine
Stimme, deutet sich die Entwicklung zum überindividuellen Selbst an.
‚ „Mir ist wirklich klarer geworden, was bei mir in diesem Moment geschieht, wenn ich mir sage,
diese Frau ist nicht die Richtige für mich’. Das Ganze dauert vielleicht nur drei Sekunden, aber es
breitet sich vor mir aus, und ich kann es sehen. Es kann die kleinste Kleinigkeit sein. Zum Beispiel,
dass ich beim Kaffeetrinken merke, dass sie nicht versteht, was ich sage, und schon passiert’s..... Ich
habe das Gefühl, dass ich etwas brauche, dass ich enttäuscht bin, dass ich etwas möchte, was ich nicht
bekomme. Und das ist ein Gefühl, das ich absolut hasse, wenn es aufkommt. Es ist das Schlimmste.
Wenn ich dieses Gefühl habe, so merke ich jetzt, entferne ich mich einfach von dem anderen. Ich sage
es ihr nicht, oder ich versuche auch nicht, von ihr das zu bekommen, was ich möchte. Ich gestehe es
mir noch nicht einmal selber gerne ein, dass ich mich nicht ganz vollständig fühle, geschweige denn
einem anderen. Ich mag nicht bitten. Ich entferne mich einfach von dem anderen und ziehe mich in
mich selbst zurück. .... Ich glaube, ich fühle mich gedemütigt, wenn ich etwas von jemand anderem
brauche, auch wenn das lächerlich klingt. Und ich glaube – warum soll es mir so schwer fallen, Hilfe
zu wünschen, oder gar darum zu bitten?“’ 295
Für Kegan ist an diesem Beispiel die Stärke und Komplexität des selbstregulierenden Systems
abzulesen sowie sein Widerstand gegen Weiterentwicklung. Aber auch erste Anzeichen einer
Relativierung sind zu entdecken, einer beginnenden Einsicht in die Funktionsweise dieses Systems
und eines Infragestellen des Preises, den es verlangt. „Am interessantesten erscheint mir, dass noch
während das System funktioniert ein Gefühl der Einsamkeit und Unzufriedenheit sichtbar wird (und
weniger Besorgnis über das Versagen des Systems). Was zeigt, dass das System nicht mehr
vollkommen Michael ist. (Wenn das System alles ist, was ich habe, habe ich damit noch nicht alles
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von mir selbst; mir fehlt etwas.) Es ist die Stimme eines beginnenden Entwicklungsprozesse, eines
Prozesses, der vielleicht genau den Grund dafür liefert, dass Michael zur Therapie kommt.“ 295
Haltende Kulturen – Aufgabe des Umfeldes
(Kegan misst den Erwachsen wichtige prophylaktische Funktionen zu. Psychotherapie hat für
ihn nur nachrangige Bedeutung.)
Festhalten
Loslassen und
In-der-Nähe-Bleiben sind von größter Bedeutung für die Entwicklung des Subjekts. Bei rückblickender
Betrachtung von Lebensgeschichten lässt es Rückschlüsse zu auf etwaige unbefriedigende
Leistungen dieser einbindenden Kultur und deren Wirkung in der Ausprägung von
Bedeutungsentwicklung und Selbstwerdung des einzelnen.
Holtz: „Die Analyse der einbindenden Kulturen in ihrer Stützfunktion ist ein wesentlicher
Aspekt von Prävention und Therapie, wobei Kegan die therapeutische Praxis definiert 'als
eine einbindende Kultur..., die einem in Schwierigkeit geratenen Menschen die Entwicklung
erleichtert.'“
Zusammenfassung: Entwicklung vom Sein zum Haben (vgl. Flammer 2009) (Pfeile,
Hervorhebung und grobe Altersangaben von H.B. eingefügt)
Das einverleibende Selbst 0 - 2
hingebungs- und vertrauenswoll
‚ich bin die Reflexe’
Das impulsive Selbst 2 – 5/7
impulsiv und abgrenzend
‚ich bin meine Wahrnehmungen
und Impulse’
‚ich habe Reflexe’
Das souveräne Selbst 6 – 11/12
die Außenwelt erobernd
‚ich bin meine Bedürfnisse,
Interessen und Wünsche’
‚ich habe Wahr-
nehmungen und Impulse
Das zwischenmenschliche Selbst 11/12 – Ende 20
leidenschaftlich in Beziehungen
‚ich bin meine Beziehungen’ ‚ich habe Bedürfnisse,
Interessen und Wünsche’
Das institutionelle Selbst ab 25/30
stolz auf Beruf und Familie
‚ich bin meine Autorität,
Identität und psych. Verwaltung’
‚ich habe Beziehungen’
Das überindividuelle Selbst ab 55 losgelöst von Verpflichtungen
– wohlwollend und eingehend
‚ich bin überindividuell und im
Austausch zwischen meinen
Selbstsystemen’
‚ich habe meine
Autorität, Identität und
psych. Verwaltung’
Zu jedem neuen Abschnitt wird was bisher gültig war relativiert. Ein gefestigtes Selbst muss
- so Kegan - zurückgelassen werden. Der neue Abschnitt bringt immer auch neue positive
Erfahrungen: Das Nachlassen unserer angespannten Aufmerksamkeit, ein Gefühl des Fließens
und der Unmittelbarkeit, größere Freiheit in unserem Innenleben, Offenheit und Leichtigkeit
im Umgang mit uns selbst, tritt ein.
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4. Kegans Bezüge zur Psychotherapie Beispiel: Wie unterschiedlich das Weltverständnis von Personen z.B. beim Suicid-Versuch
ist. „Eine Person der Übergangsphase 2-3 nahm eine Überdosis von Tabletten, ‚nicht, um
mich umzubringen, sondern um einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen’; am nächsten
Tag war sie wütend auf ihren Bruder, der sie zur Notaufnahme gebracht hatte, und griff ihn
gewaltsam an.
Eine weibliche Person der Übergansphase 3-4 nahm eine Überdosis, um ‚sich zu befreien’,
und zwar von ihrer doppelten Abhängigkeit von ihm und von ihrer Mutter; ihre Abhängigkeit
von ihrer Mutter hatte sie dazu gebracht, ‚die Kritik der Mutter an ihrem Mann zu
übernehmen und ihn schließlich selber zu kritisieren.’
Eine Person der Übergangsphase 4-5 wollte sich die Pulsadern aufschneiden, weil er
‚bösartig’ war (er war ‚jenseits von gut und böse’); er schien aber ebenso daran interessiert zu
sein, die Personen, die gekommen waren, um ihn zu hindern, in lange Gespräche zu
verwirklichen, in denen es um das Recht des Menschen ging, sich das Leben zu nehmen und
um das Recht von anderen, ihn daran gegen seine ausdrücklichen Willen zu hindern.
Bedeutungsbildung und Depression Kegans Verständnis zur Depression: „Mein Verständnis der Depression läuft darauf hinaus,
sie als eine Art grundsätzlichen Zweifel zu begreifen, der uns mit der Möglichkeit
konfrontiert, ‚nicht zu wissen’, wie die Antwort auf die letztlich entscheidende Frage lautet:
Welche Beziehung besteht zwischen der Welt und mir? Was ist Subjekt und was ist Objekt?“
S.348
Depressions-Klassifizierung von Kegan:
Typ A: „Im Mittelpunkt schien der Verlust der eigenen Bedürfnisse zu stehen oder die
Unzufriedenheit über die zunehmenden persönlichen Opfer, die der Versuch, die eigenen
Bedürfnisse zu befriedigen, verlangt... Starker Zusammenhang zum souveränes Selbst oder
Übergang zum zwischenmenschlichen Selbst.
Typ B: Im Mittelpunkt schien der Verlust oder die Beschädigung einer
zwischenmenschlichen Beziehung zu stehen.... Starker Zusammenhang zum
zwischenmenschliches Selbst und Übergang zum institutionellen Selbst.
Typ C: Im Mittelpunkt schien ein Schock für das eignen Selbstkonzept zu stehen, die
Unfähigkeit, den eigenen Maßstäben zu genügen, den eigenen Erwartungen entsprechende
Leistungen zu vollbringen und Kontrolle auszuüben... Starker Zusammenhang zum
institutionellen Selbst bzw. Übergang zum überindividuellen Selbst.“346f
Gemeinsam ist ihnen, dass im Mittelpunkt die Erfahrung eines Angriffs auf das Selbst steht,
entweder eines Angriffs von außen (‚Bedrohung für’), bei dem das Selbst eine Niederlage
befürchtet, oder eines Angriffs von innen (‚Infragestellen’), wobei die vom eigenen Selbst
abgedrängte Person in einem Ungleichgewicht zwischen der Ablehnung des alten Selbst (als
Subjekt) und seiner Zurückgewinnung (als neuem Objekt) schwebt.
Generell geht es so Kegan in der Depressions-Theorie im Kern um den Verlust (Verlust des
Selbst, des Objektes, der Bedeutung).
In einer Tabelle S 350f (Siehe Anmerkung 4) versucht er, das Verständnis von Depression
noch genauer darzustellen. Es geht immer darum, dass ein bestimmtes Weltverständnis im
Mittelpunkt steht. Für Kegan ist die Depression ein Zustand des Ungleichgewichts sowie der
Prozess der Herstellung des Gleichgewichts. Weitere Ausführung in Anmerkung 4
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5. Welchen Nutzen könnte das Modell von Kegan haben bzw. welche
Fragen können für systemisch-konstruktivistisch Orientierte entstehen?
Entsteht ein veränderter Zugang über die Entwicklung von Menschen in der zentralen
Kategorie der Bedeutungsbildung? Bzw. verstärkt das Modell mein Bemühen von den
Konstruktionsbildungen meiner Klienten auszugehen?
Dient das Modell für die Reflexion der eigenen Entwicklung und dem Verständnis,
dass ich mich mit meinem (z.B. institutionellen) Selbst dem souveränen Selbst (dem
Kind in den ersten Schuljahren) näher fühle?
Entspricht der Gedanke von Kegan (der Mensch ist der Prozess und im stetigen
Wandel) den Vorstellungen zur Verflüssigung eines ‚Selbst’?
Entsteht – wenn auch auf der Basis von Diagnosen – ein etwas veränderter Zugang zu
Menschen mit den Attributen Suizid und Depression?
Wäre das Modell mit einer Ressourcenorientierung kompatibel?
Könnte mit diesem Modell die Vergangenheitsperspektive mit Lösungsorientierung
(z.B. mit einem neuen Abschnitt sind strukturell ähnliche Probleme zu bewältigen
aber stets auf einem höheren Niveau) in Einklang gebrach werden?
......
......
Anmerkungen: (1) Piaget bzw. deren Nachfolger hat bei ihm eine große Bedeutung. Neben Handlungs- und
Selbstentwicklungsmodellen stellt August Flammer auch neuroentwicklungspsychologische
Ansätze vor und behandelt im Kapitel: Ansätze zu einer systemischen Entwicklungstheorie
die Aspekte Gleichgewicht; Dissipative Strukturen, Autopoiese, Chaos als Metapher für
Entwicklungsprozesse und somit ohne die Beobachter-Theorie 2. Ordnung aufzunehmen; im
Kapitel Familientherapie als Heuristik für eine Entwicklungstheorie stellt er die klassischen
Aspekte wie Koalitionen, perverses Dreieck, Delegation und Kollusion, Doppelbindung,
Interpunktion dar und führt die Methoden der Deblockierung als ‚Fenster zum
Entwicklungsgeschehen auf: u.a. Joining, Umdeutung, Paradoxe Instruktion, So-tun-als-ob-
Spiele.
(2) Geht es nicht vielmehr um die Frage, welche Auswirkungen eine bestimmte Theorie hat?
Also wenn ich von 75 % Anlage bei Intelligenz spreche, dann können doch Förderprogramme
eingespart werden.
Ein zeitlich differenzierendes Modell bezüglich des Zusammenspiels von ‚Anlage/Umwelt
legen Scarr & McCartney vor:
Das passive Beziehungsmuster (Individuum der Umwelt ausgeliefert und entwickelt sich
entsprechend des Anstoßes und der Gelegenheit aus der Umwelt – kommt in den ersten
Jahren zum Tragen.)
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Das evokative Beziehungsmuster (Genotyp des Individuums löst in der Umgebung selektive
Reaktionen aus, die zu Entwicklungsanlässen oder –gelegenheiten werden. Z.B. entspannte
Mutter; emotional ausgeglichenes Baby – soll ein Leben lang gleich bleiben).
Aktive Beziehungsmuster (Individuum sucht bzw. baut auf die Umweltanregungen und –ge-
legenheiten, die ihm entsprechen – wenn einem das Klettern zusagt, wird man alle
Gelegenheit dafür suchen und nutzen – kommt nach den Autoren ab 20 Jahren zum Tragen)
Entwicklung als multikausaler und multipler rückgekoppelter Prozess stellt Gibsons
Affordance-Konzept (spezifische und individuelle Entsprechung von aktuellen subjektiven
und objektiven Gegebenheiten) dar. Woraus sich Erfahrungen als niedergeschlagene
Kompetenzen ergeben und individuelle Ähnlichkeiten deshalb entstehen, weil menschliche
Konstitution und Umweltgegebenheiten sich einander ähneln.
(3) Von Georg A. Kelly ist im Jahre 1955 sein Buch ‚The Psychology of Personal Constructs’
in den USA erschienen und wie auch Kegan bemerkenswert auch 1986 ins Deutsche
übersetzt. Kegan hat sich auch in seinen Literaturangaben nicht auf ihn bezogen, wobei sich
für mich Parallelen ergeben, wenn es u.a. darum geht, die individuelle Weltsicht des
Menschen zu verstehen.
Kelly stellt die Frage im Gegensatz zu psychoanalytischen Vorstellungen wie
Bedürfnisspannung etc., ob es nicht eher sein könnte, „dass der Mensch eine ganz andere
starke Neigung hat? „Könnte es nicht eher sein, dass sich der einzelne Mensch, jeder auf seine
persönliche Weise, eher wie ein Wissenschaftler verhält, der immer den Lauf der Dinge, in
die er verwickelt ist, vorherzusagen und zu kontrollieren sucht?“ S.19 Kelly grundlegendes Postulat (Ad-interim-Aussage):
‚Die Prozesse eines Menschen werden psychologisch durch die Mittel und Wege
kanalisiert, mit deren Hilfe er Ereignisse antizipiert.’
Die Begriffe führt er dezidiert aus, z.B. Ereignisse: „Der Mensch versucht letztlich, reale
Ereignisse zu antizipieren. An diesem Punkt findet die Anbindung psychologischer Prozesse
an die Realität statt. Die Vorhersage wird nicht um ihrer selbst willen getroffen, sondern sie
wird getroffen, damit die zukünftige Realität besser abgebildet werden kann. Es ist die
Zukunft, die den Menschen quält, nicht die Vergangenheit. Fortwährend greift er nach der
Zukunft durch das Fenster der Gegenwart.“ S. 62
(4)„Bei jedem Typ kann das für ihn charakteristische Weltverständnis entweder bedroht sein, oder es
kann in Frage gestellt werden. Im Fall der Bedrohung bewegt sich der jeweilige Mensch noch
innerhalb dieses Weltverständnisses, während er im Falle einer Infragestellung innerhalb wie
außerhalb steht. Beide Fälle lösen beim Menschen Zweifel aus. Zweifel erleben wir dann, wenn wir
gleichzeitig erkennen, dass eine bestimmte Vorstellung möglicherweise gültig und ungültig sein kann.
Könnten wir eine dieser Möglichkeiten verwerfen, gäbe es auch keinen Zweifel; wenn wir sie aber
beide sehen, müssen wir zweifeln.
Bei den durch ‚Bedrohung für’ gekennzeichneten Formen der Depression steht der Mensch auf jeweils
einer Seite der widersprüchlichen Möglichkeiten. Damit wird der Zweifel nicht beseitigt, sondern er
wird in die Welt verlegt. Die Welt ist zweifelhaft geworden; was ich bezweifle, ist meine Fähigkeit, in
solch einer Welt weiterleben zu können. Ich bezweifle, ob ich es unter den gegebenen Umständen
schaffen würde. Ich habe das Gefühl, dass mein Selbst schrumpft oder kleiner wird; was aber
eindeutig bleibt – was ich am wenigsten in Zweifel ziehen möchte – ist, wer die Zweifel hat, wer ‚ich’
bin. ‚Ich’ sehe die Dinge so, dass ‚ich’ bezweifle, ob ‚ich’ angesichts der eingetretenen Veränderungen
in der Welt mich selbst, mein Selbst, aufrechterhalten kann. In Begriffen unseres Paradigmas sagt das
‚Ich’: Ich zweifle, ob ich es, dieses Gleichgewicht, aufrechterhalten kann. Was vom Standpunkt
unseres Ansatzes aus damit eigentlich bezweifelt wird, ist die Fähigkeit die Welt weiterhin zu
verstehen, phänomenologisch, vom Standpunkt des Selbst aus gesehen, hängt davon die Fähigkeit ab,
weiterhin zu sein.
Bei den durch ‚Infragestellen’ gekennzeichneten Form der Depression wird das eigne Selbst
grundsätzlich in Zweifel gezogen; die Welt, das Selbst und sogar der zwischen ihnen bestehende
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Unterschied werden zweifelhaft. Es ist nicht mehr ganz klar, wer ‚ich’ bin, obwohl durchaus deutlich
sein kann, wer ‚ich’ nicht bin. Ich bezweifle nicht, ob ich die Welt weiterhin verstehen werde, sondern
ob ich sie wieder verstehen werde . Ich könnte sagen, dass ich nicht weiß, ob ich mich jemals wieder
‚zusammenfinden’ werden; von unserem Standpunkt aus bedeutet diese Aussage, dass bezweifelt
wird, ob ein Subjekt-Objekt-Gleichgewicht jemals wieder erreicht werden kann.
Diese beiden Formen der Depression sind nur zwei Stadien einer fortlaufenden dynamischen Aktivität.
Wir können erkennen, dass zwischen diesen beiden Orientierungen eine Phase liegen kann, in der das
Selbst angegriffen wird, in der man versucht, den Zweifel zu bewältigen, indem man ihn nicht ‚in die
Welt’ verlegt, sondern das eignen Selbst damit belangt. Damit wird die Welt in Ordnung gebracht, so
dass wir, zumindest theoretisch, wieder in ihr leben können. Diese beiden ’Orientierungen’ sind, wie
gesagt, nicht stabil, sondern sie stellen Stadien eines Prozesses dar. Stabil ist während einer
depressiven Phase nur das Thema, das für den jeweiligen Typ charakteristisch ist. Der Grund dafür
liegt natürlich darin, dass Depression, wie ich sie verstehe, einen Zustand des Ungleichgewichts sowie
die Prozesse der Wiederherstellung des Gleichgewichts widerspiegelt. Menschen, die ihre Depression
hauptsächlich als Reaktion auf eine bedrohliche, verwirrende oder problematische Umwelt erleben,
verteidigen ein bedrohtes Gleichgewicht; Menschen, die ihre Depression eher als Ausdruck der
Selbstkritik erleben, haben bereits mit Ablösung von ihrem alten Selbst begonnen und sind daher in
der Lage, es zu kritisieren. (Das heißt, ihre Ablösung ist gleichzeitig ihre Kritik; ich meine damit nicht
einem bewusst oder planvoll ablaufenden Prozess.) Menschen, die zum Beispiel das souveräne Selbst
übermäßig stark verteidigen, suchen die Ursachen ihrer Schwierigkeiten vor allem in anderen, die das
‚Selbst’ bedrängen und einschränken, während Menschen der Übergangsphase 2-3 die Gründe eher in
ihrer eigenen Unfähigkeit sehen, das zu tun, was zu Wachstum notwendig ist. Menschen, die das
zwischenmenschliche Selbst übermäßig stark verteidigen, haben häufig den Eindruck, dass anderes sie
zum Wachstum drängen wollen oder von anderen verlangen, ihre Beziehung aufzugeben, ohne dass
Ersatz vorhanden ist; Menschen der Übergangsphase 3-4 dagegen scheinen eher zu verstehen, dass sie
nicht ihre Beziehungen aufgeben müssen, sondern die Abhängigkeit von ihren Beziehungen.
Menschen, die übermäßig das institutionelle Selbst stark verteidigen, entwickeln eher das Gefühl, die
Welt würde sich nicht an ihre Abmachungen halten, sie würde ihr wahres Gesicht zeigen und damit
offenbaren, dass sie nicht das ist, was sie vorgegeben hat, zu sein; Menschen der Übergangsphase 4-5
dagegen sprechen eher von ihrer eignen Minderwertigkeit, Leere und Bedeutungslosigkeit, oder von
ihrem Bedürfnis, sich über die bisherigen Vereinbarungen irgendwie hinwegzusetzen.
Zusammengenomen könnte man sagen, dass Menschen, die das Gefühl haben, dass sie ‚einfach nicht
funktionieren’, Menschen in einer Übergangsphase sind, während diejenigen, die das Gefühl haben,
bei ihnen wäre alles in Ordnung, wenn sich nur die andern entsprechend verhalten würden, Menschen
sind, die ein bestimmtes Gleichgewicht verteidigen.“349ff
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