Jolles Andre: Einfache Formen 1968

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André Jollen Einfache Formen

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Einfache Formen

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André Jollen Einfache Formen

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ANDRÉ JOLLES • EINFACHE FORMEN

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ANDRE JOLLES

EINFACHE FORMEN

LEGENDE • SAGE • MYTHE

RÄTSEL • SPRUCH • KASUS • MEMORABILE

MÄRCHEN • WITZ

Vierte, unveränderte Auflage

I/

MAX N I E M EYE R VERLAG TÜBINGEN

1968

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1. Auflage 1930

2. Auflage 1958

3. Auflage 1965

© Max Niemeyer Verlag 1950

Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany

Druck: Fotokop Darmstadt

Einband von Heinr. Koch Tübingen

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GELEITWORT

An André Jolles

... Da diese Anstalten ihren Zweck indes nur erreichenkönnen, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Ideeder Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Frei-heit die in ihrem Kreise vorwaltenden Prinzipien. Da aberauch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammen

-wirken gedeiht, und zwar nicht bloß, damit e i n e r ersetze, wasdem andern mangelt, sondern damit die gelingende Tätigkeitdes e i n e n den anderen begeistere und allen die allgemeine,ursprüngliche, in den einzelnen nur einzeln oder abgeleitethervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muß die innereOrganisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immerselbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichts-loses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten . .

Wilhelm von HumboldtAus Einsamkeit und Freiheit finden hier ein neues Denken

über den Geist und eine neue Besinnung über das Reich derLitteratur den Weg in die Öffentlichkeit, und dieses Buch istletzte Station und Weg zugleich, Weg, den es, allmählich sicherweiternd, angetreten hat vom Forscher und Gründer zumkleinsten Kreis der Schüler und Freunde, zum größeren derakademischen Kollegien, nunmehr zum größten der wissen

-schaftlichen Öffentlichkeit.Die „Einfachen Formen" sind leicht zu lesen in ihrer

Art zu unterweisen, zu überzeugen und sie sind schwer zustudieren, weil mit jedem Begriff, jeder Definition, jedem Ge-dankengang, aber auch von jedem Beispiel aus appelliert wirdan das Weiterdenken, das erst zu völligem Durchschauenführen kann. Von den beiden Möglichkeiten, die es gibt, in ein

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Neues einzuführen, der des geschlossenen S y s t e m s und derdes demonstrierenden propädeutischen Sprechens , ist dieletztere gewählt, weil sie lebendiger und weniger abgezogen ist,weil sich aber auch von der Reihe der gerundeten Einzelab-handlungen aus viel klarer eine Verbindung herstellen läßt zuall den Einzelproblemen, zu den bisher geübten und erprobtenMethoden, die tangiert und geschnitten werden müssen. Sowird überall an die Punkte herangeführt, von denen aus dieeigentliche Weiterarbeit im Einzelnen erst einzusetzen hat wieauch das sich Besprechen und Diskutieren mit andern Lagernund Schulen.

In- und nebeneinander stehen hier Denken und Bild, Ver-dichtung und Beispiel, Frage, die der Antwort vorausläuft, Er-

gebnis, das sich begründet, und a7roßzpogvi wird pädagogischund stilistisch Führerin und Figur.

Schließlich soll eines zu betonen nicht unterlassen sein:daß über jedem neuen wissenschaftlich ernsten Weg, der nichtfür immer bei den Einzelheiten stehen bleibt, ein Irrationalesimmerhin, aber ein Wägbares bleibt, das über den Geist hinaus

-reicht und das Gesinnung ist.Somit meinen wir, die das gesprochene Wort aufgezeichnet

und geholfen haben, es zu Abhandlung und Buch weiterzu-führen, mit diesen Vorworten ein nochmaliges Fragen um Be-lehrtwerden und empfangen und geben das Ganze als Antwortund Lehre, als Vortrag und endgültige Abhandlung aAl',aced ee ye xai zJLta Énn pavas, xai 'rotco ir4avov.

Am 7. August 1929

Dr. Elisabeth Kutzer. Dr. Otto Görner.

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EINFÜHRUNG

I.Die Litteraturwissenschaft ist dreifach gerichtet. In einer

etwas abgegriffenen Terminologie heißt das : sie besitzt eineästhetische, eine historische und eine morphologische Aufgabe.Wollen wir uns deutlicher ausdrücken, so sagen wir : die Litte

-raturwissenschaft versucht eine litterarische Erscheinung ihrerSchönheit, ihremSinn und ihrerGestalt nachzudeuten.

Obwohl nun diese drei bestimmt sind, eine Dreieinheit zubilden, so gilt doch auch hier der Spruch : getrennt mar-schieren und vereint schlagen. Anders gesagt : so sehr diesedrei bestimmt sind, zusammen d i e litterarische Erscheinung inihrer Totalität zu erfassen, so arbeitet doch jede nach einereigenen Methode.

Auch scheint es, wenn wir die Geschichte der Litteratur-wissenschaft überschauen, als ob jede dieser Methoden zeit-weise geneigt ist, die Hegemonie an sich zu reißen.

Ein Teil der Litteraturwissenschaft des 18. Jahrhundertswar hauptsächlich ästhetisch eingestellt ; sie macht von ChristianWolff bis Kant in allen Gegenden Europas die Strömungen undGegenströmungen mit, die die „Lehre von dem Schönen" injener Epoche bewegen. Sehen wir von ihren allgemeinen Be-trachtungen über das Wesen des S c h ö n e n selbst ab und be-schränken wir uns auf das, was über dessen Erfindung, Be-urteilung und Anordnung ausgesagt wurde, so hat uns die ästlhe-tische Richtung, oder da ein Plural hier am Platze scheint, sohaben uns die ästhetischen Schulen die Lehre von den Gat-t.ungen beschert. Ihre Vertreter haben mit Fleiß und Scharf-

inn die Gattungen des Lyrischen, Epischen, Dramatischen undDidaktischen auf ihre ästhetische Gesetzmäßigkeit und auf ihre

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ästhetische Wirkung hin erforscht; sie haben innerhalb dieserHauptgattungen die Untergattungen von Elegie und Ode, Eposund Roman, Lustspiel und Trauerspiel, Lehrgedicht und Epi-gramm et alia talia wiederum vom ästhetischen Stand-punkt aus abzugrenzen und zu bestimmen versucht. An Vor

-würfen gegen ihre Methode hat es nicht gefehlt. Hier heißt es,sie wäre deduktiv vorgegangen : anstatt von den Kunstwerkenselbst auszugehen und aus deren Betrachtung zur Einsicht indas Wesen der Kunst zu gelangen, hätte sie ihre Sätze reinspekulativ aufgestellt, um sie erst später auf die Tatsachen an-zuwenden. Bei andern wird ihr „Aufklärertum" getadelt : siehätten das Irrationale in der Kunst verkannt, indem sie auch„dichterisches Schaffen" als eine Modifikation des Denkens be-trachteten und der „Vernunft" die höchste Richterstelle ein-räumten.

Inwieweit solche Vorwürfe die Methode selbst treffen, in-wieweit sie auf einem Mißverstehen beruhen, das bei Ver-tretern einer andern Richtung, bei Anhängern einer andern Me-thode unvermeidlich erscheint, bleibe dahingestellt. Frucht-barer ist es, darauf hinzuweisen, daß die Ästhetiker des18. Jahrhunderts trotz gegenseitiger Polemik in ihrer Gesamt-heit einen beachtenswerten Versuch gemacht haben, das, wasseit dem Altertum an Theorie der Kunst überliefert wordenwar, der Denkart einer neuen Zeit anzupassen, und daß sie,indem sie sich bemühten, gewisse Gattungsbegriffe zu be-stimmen und zu der ästhetischen Bedeutung jener Gattungenselbst durchzudringen, nicht nur die Litteraturwissenschaftsondern auch die Litteratur einen Schritt weiter gebracht haben.

Denn noch Eines darf nicht vergessen werden : die ästhe-tische Litteraturwissenschaft des 18. Jahrhunderts ist in allenihren Schulen fest überzeugt gewesen, durch ihre Theorie einentätigen Einfluß auf das Leben in casu auf die gleichzeitigeKunst ausüben zu können und zu müssen. Was Gottschedund die Schweizer, was die Schotten und Engländer, was Mar-montel und die Enzyklopädisten in Frankreich, und was inDeutschland Johann Adolf und Johann Elias Schlegel, Mendels-sohn, Lessing, Sulzer und viele andere, jeder in seiner Weise,suchten, war letzten Endes immer wieder eine leistungsfähige

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Poetik, ein bündiges System der Dichtkunst, das, wie auch ab-geleitet, jedenfalls für die Entwicklung der zeitgenössischenNationalpoesie Gültigkeit beanspruchte.

Neben dieser pragmatischen Ästhetik finden wir eben-falls schon im 18. Jahrhundert eine Litteraturwissenschaft,die den S i n n des Kunstwerks deutet; und zwar geht sie beiihrer Deutung bekanntlich von dem Begriff G e n i e aus. Liegenauch die Anfänge dieser Richtung schon in der Renaissance,so kommt sie doch erst in der Frühromantik zur vollen Blüte.Sie stellt der ars poetica eine ars poetae, oder der Poetik einenPoeten gegenüber. „Dichter" ist der Inbegriff von Genie, Dich-tung heißt Schöpfung des Genies. Genie ist „eine das Normaleallerseits überragende, urwüchsige, angeborene geistige Be-gabung, weder zu erlernen noch zu erwerben". Im Genie findensich erfinderische Phantasie und originelle Gestaltungskraft ineiner Weise und in einem Maße zusammen, daß für das Schaf-fen des Genies nur der Ausdruck S c h ö p f e r im tiefsten Sinneadäquat erscheint. Gewiß die Ausarbeitung des intuitiv-schöpferisch Erzeugten erfordert Reflexion, Planmäßigkeit,Übung, aber das Erste, das Wesentliche ist und bleibt die Voll-kommenheit der Geistesanlage. Das Kunstwerk erhält seinenSinn durch die Tat des Genies, nicht anders als wie die Weltihren Sinn durch die Tat ihres Schöpfers erhält.

Es ist hier nicht der Ort, die Entwicklung des Geniebegriffszu verfolgen. Wir wollen aber, da es für den Werdeganglitteraturwissenschaftlicher Methodik nicht ohne Wichtigkeitist, erwähnen, daß, wo wir in Deutschland geneigt sind zu glau-ben, dieser Begriff habe in der mit Recht oder mit Unrecht sogenannten Periode des „Sturm und Drang" seine stärkste Aus

-prägung gefunden, tatsächlich England das Land ist, in demwir ihn in seiner einheitlichen und ununterbrochenen Entfaltungam besten beobachten können, und zwar auf einer Linie, dievon Shaftesbury bis Shelley führt. Von England über Frank-reich hat der Geniebegriff dann im 19. Jahrhundert auf die euro-päische Geistesverfassung und damit auf die Litteratur-wissenschaft eingewirkt, und diese Einwirkung hat auch im20. Jahrhundert noch keineswegs aufgehört. Shelleys Behaup-

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tung, der Dichter sei „the happiest, the best, the wisest andthe most illustrious of men", hat länger vorgehalten als vieleBehauptungen aus der Zeit des jungen Goethe, die der alteGoethe selbst längst überholt hatte.

Wie dem auch sei wenn wir aus dem Geniebegriff einemethodische Folgerung ziehen, so ergibt sich für die I.itteratur-wissenschaft die Aufgabe, zunächst die Reihe jener Menschenmit ihrer allerseits überragenden urwüchsigen Begabung mit-samt ihren einmaligen Leistungen, jener Schöpfer mit ihrenSchöpfungen, historisch zu ordnen. Daß die Litteratur-geschichte des 19. Jahrhunderts diese Folgerung wirklich ge-zogen hat, dürfte bekannt sein. Wir brauchen nur ein beliebigesHandbuch der Litteraturgeschichte aufzuschlagen, um zu sehen,daß wir da eine Geschichte der Dichter und ihrer Dichtungen,ein historisches Nacheinander von Dichterbiographien, in denendie poetischen Leistungen wiederum historisch angeordnet sind,vor uns haben.

Der Gefahr einer Verflachung entging diese Methode durchihren engen Zusammenhang mit den sich allerseits vertiefendenübrigen historischen und kulturhistorischen Disziplinen. Zu-gleich aber wurde ihre ursprüngliche Grundthese : der Dichterist das Genie, das heißt der allein verantwortliche Schöpfereines einmaligen Kunstwerks, in diesem Zusammenhang aufge-lockert. Mehr und mehr wurde der historische Dichter ein Menschunter Menschen und gerade die Frage nach dem Verhältnisdes Menschen und seiner Verantwortung ist eines der meist -beängstigenden Probleme des Positivismus gewesen. Es ist einmerkwürdiges Schauspiel, zu beobachten, wie eine sich indivi-dualistisch gebärdende Zeit zugleich dem Individuum die wesent-lichen Elemente seiner Individualität raubt und dieses Schau-spiel können wir bei unserem „Dichter als Menschen" in vollemUmfang genießen. Die Kurve, die von Shaftesbury bis zumSturm und Drang oder bis zu Shelley ansteigt, schlängelt sichvon Shelley bis Hippolyte Taine in wunderlichen Windungenherunter. Wir verzichten darauf, ihre Schnörkel im einzelnenzu beschreiben. Sagen wir, daß jene Zeit bestrebt war, einlitterarisches Kunstwerk historisch, soziologisch und psycho-logisch zu bestimmen, aber fügen wir hinzu, daß der Weg dieser

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Bestimmung immer noch über den Urheber des Kunstwerksging. Der Dichter war als Mensch ein Produkt von Rasse, vonMilieu, von Zeit und Abstammung, von ökonomischen und son-ostigen Umständen ... tausend Strömungen der Vergangenheitund der Gegenwart wirkten auf ihn ein, modelten ihn um, zer-setzten ihn, und in der allseitigen Bedingtheit seines mensch-lichen Wesens waren demzufolge die Bedingungen alles dessen,was er hervorbrachte, zu suchen. Erklären wir so hieß es —den Menschen, betrachten wir ihn als Sohn seiner Eltern, alsEnkel seiner Ahnen, als Kind seiner Zeit, hervorgebracht durchein Milieu, dem Einfluß der Umstände ausgesetzt ; zergliedernwir ihn obendrein psychologisch und beobachten wir, wie erin seiner krausen und bedingten Zusammensetzung auf äußeresGeschehen reagiert, so haben wir damit die Entstehung seinerKunstwerke erklärt. Der Sinn dieser Kunstwerke selbst aberschien demnach zeitweise kein anderer zu sein, als daß sie -

einen durch hervorragende Begabung geschaffenen Ausdruckaller in eine Individualität zusammengeflossenen historischenund kulturhistorischen Bedingungen boten.

Indessen, die Überzeugung, daß ein Kunstwerk, eine großeDichtung, wenn auch alles dieses, darüber hinaus geistig nochetwas mehr und etwas anderes darstellen sollte, machte sichwieder geltend. „Phänomenologie des Geistes" hatte Einer ge-rufen, dessen Stimme nicht die eines Rufenden in der Wüstewar. Die Philosophie des Geistes, die Wissenschaft von denPrinzipien des Geisteslebens, vom Wesen des Geistes undseiner Gebilde, vom geistigen Schaffen, von den geistigen Wertenund Zwecken sie machte sich auch bei der Betrachtung desKunstwerkes bemerkbar. Eine verständnisvolle Deutung dereinzelnen Dichtung im Sinne eines geistigen Prozesses wurdeversucht, die Dichtung als Ganzheit der Geistesgeschichte ein

-gefügt. Auch diese Methode führte jedoch nicht zur getrenntenBeobachtung des Kunstwerkes und seines Urhebers, wohl aberzu jener eigentümlichen Umstellung, bei der Leben und Persondes Künstlers nicht länger zur Erklärung seiner Leistungenherangezogen, sondern wo vielmehr aus der geistigen Bedeutungder Dichtungen Person und Leben des Künstlers abgeleitet underklärt wurden. In gewissem Sinne ist hier das entgegengesetzte

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Endziel alles dessen, was im Geniebegriff vorgesehen war, er-reicht, aber es wurde erreicht in einer Weise, daß dennoch einemethodische Umwandlung keineswegs einzutreten brauchte.Sei es, daß die sinndeutende Methode von dem Künstler undseinem Kunstwerk, sei es daß sie von dem Kunstwerk und seinemKünstler ausgeht, sie betrachtet in beiden Fällen diese zusammen-gehörige Zweiheit als den „historischen" Gegenstand ihrerForschung. Von der pragmatischen Ästhetik unterscheidet siesich auch dadurch, daß sie vom Anfang bis zum Ende inso-weit sie nicht in Dilettantismus entartete „rein wissenschaft-lich" blieb; ihre Vertreter haben, im Gegensatz zu den Ästhe -tikern des 18. Jahrhunderts, bei aller Verschiedenheit der Auf-fassung nie geglaubt, Einfluß auf die Entwicklung der leben

-digen Kunst ausüben zu können; sie haben derartiges auch nieversucht.

Langsam wurde sich neben diesen zwei Richtungen diedritte ihrer Aufgabe bewußt und suchte sich ihre Methode zuerobern.

„Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eineswirklichen Wesens das Wort G e s t a 1 t. Er abstrahiert beidiesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, daß einZusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinemCharakter fixiert sei."

Diesen Satz Goethes können wir als Grundlage einer morpho-logischen Aufgabe auch in der Litteraturwissenschaft aufstellen.Auch für die Totalität aller litterarischen Erscheinungen gilt,daß die hervorzubringende Gestalt, die „typisch bestimmtemorphologische Erscheinung der Dinge, die wirksame Potenzin allem Geschehen" sei.

Mit Ausschaltung alles dessen, was zeitlich bedingt oderindividuell beweglich ist, können wir auch in der Dichtung -im weitesten Sinne die Gestalt feststellen, abschließen undin ihrem fixierten Charakter erkennen. Bei der einzelnen Dich

-tung können wir fragen, inwieweit die gestaltbildenden, form-begrenzenden Kräfte hier zu einem erkennbaren und unter

-scheidbaren Gebilde geführt haben, inwieweit sich eine Gestalthier bündig verwirklicht hat. Der Gesamtheit aller Dichtung

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gegenüber erheben wir die Frage, inwieweit die Summe allererkannten und unterschiedenen Gestalten ein einheitliches,grundsätzlich angeordnetes, innerlich zusammenhängendes undgegliedertes Ganzes ein System bildet.

Formbestimmung, Gestaltdeutung heißt für diese Richtungdie Aufgabe.

Diese Aufgabe für einen besonderen Teil der litterarischenErscheinungen versuchsweise durchzuführen, soll die Absichtder hier vorzutragenden Abhandlungen sein.

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II.

Wir haben schon erfahren, daß sowohl die ästhetische wiedie sinndeutende Methode bei ihren Untersuchungen zunächstund in der Hauptsache von dem vollendeten litterarischen Kunst-werk als solchem ausgingen, daß sie „Dichtung" meist nur dorterkannten und anerkannten, wo diese im „Gedicht", im Poema,einen einmaligen und endgültigen Abschluß bekommen hatte,oder daß, um es noch einmal zu wiederholen, Dichter und Dich-tung oder Dichtung und Dichter ihre eigentlichen Forschungs-objekte bildeten.

Selbstverständlich ! Wer sollte es einer „Lehre des Schönen"verübeln, daß sie die Schönheit dort greift, wo sie in höchsterAusprägung vorliegt, und wie sollte man Einfluß auf das Lebender Litteratur gewinnen, wenn man sie nicht als „Kunst" be-griffe. Andererseits ist bei einer „historischen" Richtung, dieein litterarisches Erzeugnis stets in unmittelbarer Beziehungzu seinem Urheber betrachtet, - dieser Ausgangspunkt wiederumvon vornherein gegeben.

Bei einem Versuch jedoch, die Gestalt der litterarischenErscheinung zu erkennen und zu erklären, liegt die Sache anders.Gerade wo wir bestrebt sind, „von der Beweglichkeit zu ab-strahieren", bildet das vollendete Kunstwerk oder die einmaligeund individuelle Schöpfung eines Dichters nicht den Anfang,sondern den Abschluß unserer Forschung. Wir erfassen die„Dichtung" nicht in ihrer künstlerischen Verendgültigung, son-dern dort wo sie einsetzt, das heißt in der S p r a c h e.

Wollten wir die Geschichte einer gestaltdeutenden Methodegeben, so würden wir sehen, daß auch der Versuch eines Auf-baus der Litteraturwissenschaft von der Sprache aus bereitsim 18. Jahrhundert erwogen wurde. Schon wenn wir den oftzitierten Satz Hamanns aus der Aesthetica in nute, „ P o e s i eist die Muttersprache des menschlichen Ge-

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s c h 1 e c h t s ", noch einmal wiederholen, finden wir hierin denAnfang einer solchen Betrachtungsweise. Zweifellos gehörtauch hierher die große Doppelarbeit aus Herders Frühzeit, woer sich einesteils in seiner berühmten Abhandlung mit dem Ur-sprung der Sprache als solcher beschäftigt, andernteils in seinen„Alten Volksliedern" die Beispiele einer Sprache vorführt, die,ihrem Ursprung noch nahe, eine „Sammlung von Elementen derPoesie" bildet oder ein „Wörterbuch der Seele was zugleichMythologie und eine wunderbare Epopee von den Handlungenund Reden aller Wesen ist". Schließlich liegt wir werdenspäter darauf zurückkommen in Jacob Grimms Begriff N a -t u r p o e s i e wiederum Ähnliches vor.

Zu bindender Formbestimmung ist es jedoch damals nichtgekommen. Wollen wir unsererseits die dort angefangene Ar-beit folgerichtig fortführen, so muß es unsre erste Bemühungsein, mit allen Mitteln, die uns Sprachwissenschaft und Litteratur-wissenschaft an die Hand geben, in Einzelheiten den Weg fest-zustellen, der von Sprache zu Litteratur führt, oder um es ge-nauer und in der Ausdrucksweise der Theorie des objektivenGeistes zu sagen: zu beobachten, wann, wo und wie Sprache,ohne aufzuhören Z e i c h e n zu sein, zu gleicher Zeit G e b i l d ewerden kann und wird.

Methodisch ergeben sich daraus eine Reihe von Aufgaben.Wir müssen, ausgehend von den Einheiten und Gliede-

rungen der Sprache, wie sie in Grammatik, Syntax und Be-deutungslehre gegeben sind, vermittels der Disziplinen Stilistjk,Rhetorik und Poetik systematisch zu den höchsten Kunstwerkenansteigen, indem wir vergleichend beobachten, wie eine selbeErscheinung sich auf einer andern Stufe sich anreichernd wieder-holt, wie eine gleiche gestaltbildende, formbegrenzende Kraft,jedesmal sich erhöhend, das System als Ganzheit beherrscht.So ließe sich, um ein Beispiel zu nennen, ausgehend von densprachlich syntaktischen Gestalten der Weg zur künstlerischenKomposition finden, oder von der Wortbedeutung aus der Sinnder Trope bestimmen.

Kämen wir so zur Erkenntnis dessen, was innerhalb desgroßen Gebietes von Sprache und Litteratur von Stufe zu Stufefest und immer fester sich vollzieht, bis es in einer letzten Voll-

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zogenheit als endgültige individuelle Einheit uns erscheint, soliegt es uns andrerseits ob, uns mit jenen Formen zu beschäf-tigen, die ebenfalls aus der Sprache hervorgegangen sind, dieseVerfestigung aber zu entbehren scheinen, die sich, bildlich ge-sprochen, auf die Dauer in einem andern Aggregatzustand be-finden : mit jenen Formen, die weder von der Stilistik, noch vonder Rhetorik, noch von der Poetik, ja, vielleicht nicht einmalvoll der „Schrift" erfaßt werden, die, obwohl sie zur Kunst ge-hören, nicht eigentlich zum Kunstwerk werden, die, wenn auchDichtung, so doch keine Gedichte darstellen, kurz mit jenenFormen, die man als Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch,Kasus, Memorabile, Märchen oder Witz zu bezeichnen pflegt.

Wenn wir uns, ohne die erste zu vernachlässigen, zuerstdieser zweiten Aufgabe zuwenden, so erklärt sich das daraus,daß diese Formen sowohl von der ästhetischen wie von derhistorischen Richtung der Litteraturwissenschaft stiefmütter-lich behandelt worden sind. Zwar spürte die Litteraturgeschichte,daß diese Formen irgendwie im Kunstwerk vorhanden seinkönnen, daß man konkret gesprochen nicht vom Nibelungen-lied reden kann, ohne auch eine Nibelungensage zu berühren,trotzdem aber versäumte es ihre sinndeutende Methode, denSinn dieser Gestalten zu ergründen. Man überließ es der Volks-k unde oder andern nicht ganz zur Litteraturwissenschaft ge-hörigen Disziplinen, sich mit ihnen zu befassen.

Wir haben also etwas nachzuholen. Und wir wollen uns,und wäre es nur, um eine Lücke auszufüllen, in diesem Buche,dem ersten Kapitel unserer Litteraturwissenschaft, jenen Formenzuwenden, die sich, sozusagen ohne Zutun eines Dichters, inder Sprache selbst ereignen, aus der Sprache selbst erarbeiten.

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III.

Wie stellen wir uns Sprache als Arbeit vor?Sofort erhebt sich das Bild einer menschlichen Arbeits-

gemeinschaft und damit das Bild derer, die innerhalb dieserGemeinschaft in verschiedener Art die Arbeit vollziehen : Bauer.Handwerker, Priester der Erzeugende, der Schaffende. derDeutende.

Erzeugen, Schaffen, Deuten sind die Tätig-keiten, die eine Gemeinschaft zu einer Arbeitsgemeinschaftzusammenschweißen.

Ich brauche wohl kaum darauf hinzuweisen, daß, wenn wirhier Bauer, Handwerker, Priester sagen, wir keineswegs eiiieethnologische Theorie, eine Einteilung der WirtschaftsforIneuim Sinne haben und daß wir ebensowenig die drei als Ent-wicklungsstufen in einem kulturhistorischen Nacheinander be-trachten. Was wir mit diesen drei Figuren meinen, ist. dieTeilung der Arbeit, wie sie in der We 1 t als Arbeit und in derS p r a c h e als Arbeit sichtbar auftritt.

Sehen wir sie in ihrer Tätigkeit an.Der B a u e r erzeugt seine Arbeit besteht darin, daß

er in der Natur Gegebenes ordnet in einer Weise. daß es siehuni den Menschen als Mittelpunkt gruppiert. Die Natur, dasin sich Bleibende, wird in das Leben des Menschen aufge-nommen und da Leben Erneuerung heißt, wird auch dieNatur in diesem Leben erneuert, aber so, daß die natürlichenVorgänge unbehindert ihren Weg gehen. Indem der Bauer er-zeugt, wird aus Oder zeugenden Natur Zucht. Er streut dieSaat. in die geordneten Furchen und es wächst ein Getreide -feld ; er pflanzt (lie Keimlinge des Waldes in feiner Baumschuleund es wächst Oder Forst; er bringt den Stier zur Kuli. denHengst zur Stute und es wachsen Kalb und Fohlen. Indem erzüchtet., or(lnet die zuchtlose Natur sich ihm an. Es gehört zu

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einem Bauernhof noch mehr als Kuhstall, Getreideacker, Forst,Weide, Obst- oder Gemüsegarten. Die Tiere laufen dem Bauernzu. Nicht nur der Hund, der in der Zucht vielleicht Bedeutunghat, sondern auch die Katze. Die Schwalbe nistet unter seinemüberragenden Dachgiebel, der Storch auf dem First; die Spinnehaust auf dem Boden. Die Pflanzensamen werden angeweht;nicht nur Heil- und Zierkräuter, sondern auch solche, die sichscheinbar ziellos und nutzlos an den Menschen anklammern undihn überall, wo er hintritt, begleiten, wie Wegwarte und Wege-rich. Selbst das, was er nicht gebrauchen kann: Schmarotzer,Unkraut und Ungeziefer, gesellen sich zu ihm, nützen die neuerzeugten Verhältnisse aus, stellen sich in gewissem Sinneunter seine Zucht, gehen von der Natur aus in das Leben ein.

Das in der Natur räumlich Gebundene wird beweglich.Bäume und Stauden wandern von einem Weltteil zum andernund was wir Landschaft zu nennen pflegen, ist letzten Endesnichts anderes als Natur, die sich dem Erzeuger angeordnet,die sich um einen Erzeuger gruppiert hat.

Der H a n d w e r k e r schafft seine Arbeit besteht darin,(laß er das in der Natur Gegebene umordnet in einer Weise, daßes aufhört natürlich zu sein. Die natürlichen Vorgänge werdenvon ihm dauernd unterbrochen, gestört. Was er erneuert, wirdwahrhaft neu. Schon das Erzeugte ergreift er. Die Getreide-samen werden nicht mehr dazu benutzt, daß neues Getreideaus ihnen wachse, sie werden zerstoßen, zerrieben, zermahlen,aufgeweicht, erhitzt, und aus dem Zeugungsunfähigen wird dasBrot. Die in der Baumschule gewachsenen Stämme werdengefällt, zerhackt, zersägt zu Balken, Brettern, Sparren undes entsteht die Wohnung, der Wagen. Aber er geht über dasErzeugte hinaus, er nimmt die großen Steine und türmt sie auf

-einander zu einer Mauer, die kleinen schlägt er aneinander, bisder Funken springt und das Feuer loht. Knochen und Fisch-gräte werden zu- Dolch und Pfeil oder Haarnadel, aus einemRinderhorn wird ein Trink- oder Blashorn, ein Schafsdarm wirdBogensehne oder Saite. Pflanzen und Metalle werden zer-quetscht und ergeben Farbe; Nahrung wird in Gärung versetztund wird Rauschtrank. Bei dem gegenständlich in der NaturGegebenen bleibt er nicht stehen, er erfaßt auch die unsicht-

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baren Mächte, zerlegt sie, ordnet sie um, benutzt sie : Wasserund Luft müssen ihre Kraft hergeben, werden Bewegung undLicht.

Wie aber wäre diese ganze Arbeit des Erzeugens undSchaffens möglich, wenn nicht die dritte Arbeit des D e u t e n ssie unentwegt lenkte, wenn nicht jeder Arbeit ein Sinn inne-wohnte, der sie bindend macht, und nicht das Begreifen diesesSinnes erst die Arbeit als solche zur Vollendung brächte. Oderum bei unserer Terminologie zu bleiben : wenn nicht zur Arbeit,die anordnet, und Arbeit, die umordnet, die Arbeit käme, dieverordnet. Erst wenn die Art und Weise, wie etwas gezeugtund geschaffen wird, und erst, dann, wenn das Erzeugte und dasGeschaffene selbst gedeutet worden sind, können wir die Ge-meinschaft der Arbeit vollständig nennen.

Es gesellt sich zu dem Bauern und dem Handwerker derP r i e s t e r. Nur indem der Priester die Arbeit deutet, kannder Bauer die Natur in ihrem natürlichen Vorgehen in seinLeben aufnehmen, kann der. Handwerker die Natur und dasNatürliche unterbrechen und Neues aus ihnen hervorbringen -indem er sie deutet von ihren ersten Anfängen bis zu ihrenäußersten und letzten Folgen im weitesten Sinne.

Wie verbinde ich Balken und Steine so, daß sie Mich, dieMeinigen, das Meinige gegen die Natur schützen, von der Naturabschließen, daß sie eine Gestalt bilden, einen Wohnort, einHaus? Aber darüber hinaus : was bedeutet ein Haus, ein Heim,das eine Familie, das Leben einer Familie, den Besitz einerFamilie umschließt von den Vätern bis zu den Enkeln? Undwiederum und noch einmal darüber hinaus : was bedeutet jenesHaus im weiteren Sinne dort, wo es sich widerspiegelt inHeimen anderer Art: im Heime des Gottes, im Heim der Toten,im Tempel, 'im Grab? Oder will man die Vereinzelung wasbedeutet die Schwalbe, die unter dem Dach 'des Hauses nistet,was der Storch, der auf dem First wohnt, was geben sie, wasbringen sie den Bewohnern? Oder was sagen uns Rose, Myrteund Lilie im Garten?

Durch die deutende Arbeit des Priesters wird die Arbeitüberhaupt erst vollständig, wird sie ganze Arbeit. Wir habenfür die Begriffe ,,vollständig" oder „ganz" im Althochdeutschen

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ein Wort, das im Mittelhochdeutschen seine Bedeutung etwasgeändert hat und nur im Niederdeutschen und im Nieder

-ländischen noch so gebraucht wird, das Wort hei 1. Besserals durch dieses hei 1 läßt sich die Arbeit des Priesters nichtbezeichnen denn damit ist zugleich seine weitere Tätigkeitangegeben. Indem er die Welt deutet, macht er sie heil, dasheißt vollständig, ganz, gesund, sanus. Aber indem er sie heilmacht, tritt er vermittelnd von der Arbeitsgemeinschaft in eineandere über : er macht sie nicht nur heil, er macht sie h e i 1 i g.Alles was Bestand haben soll, muß in seinen Anfängen heiliggedeutet werden. Heilig ist der erste Tag des neuen Jahres,heilig der erste Schultag. Heilig, ist die erste Furche, die derPflug durch Ödland zieht wie heil, heilig und heilen, sohängen colere, cultus und Kultur zusammen. Diese erste Furchebedeutet alle nachfolgenden in ihrer Gesamtheit, sie bedeutetdie künftige Ernte, sie bedeutet die Fruchtbarkeit im Erzeugten.Wenn das Haus geschaffen werden soll, wird der Grundsteingelegt; diese Handlung bedeutet und heiligt alle folgendenHandlungen, dieser Grundstein faßt die ganze Bedeutung desHauses in sich zusammen. So wie er gelegt ist, sollen dieanderen gelegt werden, so wie er fest ist, sollen die anderenfest sein, auf ihm ruht das Haus und alles was im Hause ge-schieht von der Ruhe der Bewohner bis zu der bei dem Familien-vater beruhenden Autorität. Alles was Verordnung ist, liegt indiesem Stein. Feierlich mit Festen oder mit Fasten werdensolche Handlungen begangen, und wiederum wird damit ihreeinstmalige Ganzheit bekundet und ' werden sie bis in ihre Ver

-vollständigung gedeutet. Alles was in der Kultur tätig odergegenständlich ist, alles was in ihr Gestalt annimmt oder Formergreift, muß, um heil zu werden, durch Deutung geheiligt seinund kann von dieser Deutung aus jeden Augenblick von neuemheilig werden; jede Kulturhandlung ist letzten Endes Kult-handlung, jeder Kulturgegenstand Kuitgegenstand.

Es ist klar aber ich muß es, da heutzutage Wissen-schaften einander falsch zu verstehen pflegen, noch einmalwiederholen —, wir treiben hier keine Kulturgeschichte imSinne von Entwicklungsgeschichte. Wir dürfen nicht sagen:erst hat der Mensch erzeugt, danach geschaffen, endlich ge-

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EINFÜHRUNG 15

deutet. Es wäre sinnlos, zu suchen, ob irgendwo in einer ver-stohlenen Erdecke ein Volk beim Erzeugen stehengeblieben ist,in seiner Bäuerlichkeit beharrt hat. So etwas gibt es nicht,kann es nicht geben. Daß die Entwicklung der menschlichenWirtschaft verschiedene Stufen durchläuft, ist mir nicht un

-bekannt hier aber gilt es, die Arbeit zwar in ihren Einzel-formen zu sehen, aber sie in ihrer Gesamtheit zu verstehen

und in diesem Sinne gibt es nichts, was der Mensch sich er-arbeitet hat, worin wir ihn nicht als Bauer, als Handwerker,als Priester erkennen.

Es war auch nötig dies noch einmal zu sagen, nun wirdie Kreise dieser drei noch einmal untereinander vergleichenwollen. Sie sind konzentrisch, jedesmal erweitert sich ihre Peri-pherie. Wir sahen schon, daß der Handwerker in größeremUmfange schafft als in den Erzeugnissen des Bauern gegebenwar. Er hat nicht nur aus dem auf dem Acker gewachsenenGetreide Brot gemacht, er hat weit über das Erzeugte hinausalles, was ihm auch in der nicht erzeugten Natur erreichbar undbrauchbar schien, in seine Arbeit einbezogen. Und wiederumvergrößert sich der Kreis bei dem Priester : er begnügt sichkeineswegs damit, das Erzeugte und das Geschaffene zu deuten,sondern seine Deutungsarbeit erstreckt sich auch auf alles wasnicht erzeugt und nicht geschaffen ist oder werden kann, erdeutet Sonne, Mond und Sterne seine Deutungen gehen überdas Sichtbare und Faßbare hinaus zum Unsichtbaren und Un-faßbaren.

So sehen wir denn unsere drei Figuren vor uns so sehenwir sie in ihrer räumlichen Begrenzung, in ihrer räumlichen Be-wegung. Der Bauer gehört zur Scholle, befindet sich in derLandschaft verläßt er sie, so hört er auf Bauer zu sein;der Handwerker durchstreift als Handwerksbursche die Welt,und dann läßt er sich dort nieder, wo die Landschaft aufhört,wo alles umgeordnet, alles der Natur entzogen ist und wo dienatürlichen Vorgänge im Leben verändert sind er zieht indie Siedlung, in die Stadt. Der Bauer bleibt in gewissem Sinneeinsam mit seiner Familie tut er sich mit anderen zusammen,so ist es meist aus handwerklichen Gründen; der Handwerkervereinigt sich mit anderen Handwerkern zur Zunft, zur Gewerk-

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16 EINFT IIRUNG

schaft. Der Priester endlich ist zugleich standhaft und beweg-lich er durchstreift die Welt nicht, sondern er sucht sicheinen Punkt, von dem aus er sie überschauen kann er ist ein-sam, insoweit er sich nicht mit seinesgleichen zusammentut,aber er bildet zugleich Mittelpunkt einer Menge, einer Ge-meinde, die sich um ihn sammelt. Und in den drei AusdrückenFamilie, Zunft, Gemeinde sehen wir noch einmal unsere Figurendeutlich und bedeutsam vor uns.

Die ganze Arbeit, die sich in Bauer, Handwerker undPriester vollzieht, vollzieht sich nun in der Sprache nocheinmal.

Alles, was Bauer, Handwerker, Priester bisher an Arbeitgeleistet haben, gehört zum Leben, zergeht mit dem Leben, er-neuert sich im Leben oder hat nur mit dem Leben Bestand.Durch die Arbeit der Sprache aber bekommt es in der Spracheselbst eine neue Beständigkeit.

In doppelter Weise : Erstens wird alles Erzeugte, Ge-schaffene, Gedeutete von der Sprache benannt. Zweitens aber

und hier greifen wir tiefer ist Sprache selbst ein Er-zeugendes, Schaffendes, Deutendes, etwas, worin sich An-ordnung, Umordnung, Verordnung eigenst ereignen.

Was B e n e n n e n heißt, wie es eine „Luft" gibt, die allesumfängt, alles durchdringt, in der alles eingebettet liegt; wieder Mensch diese Luft einatmet und mit ihr alles einatmet, wassie umgibt, wie beim Ausatmen der Atem tönend geworden ist,und wie diese Töne die Namen der Dinge enthalten, hat Ipsenin seiner „Erläuterung" zu den „Schallanalytischen Versuchen"(Heidelberg 1928) gezeigt.

In ihrer benennenden Arbeit ist die Sprache so unentwegtwie das Ein- und Ausgehen des Atems, so allgegenwärtig wiedie „Luft" von der wir redeten.

Jedoch: nomen est omen! Aus der Sprache geht etwashervor, sie ist ein Samen, der aufgehen kann, und als solcherist sie e r z e u g e n d. Wir wissen das und spüren es ganz be-sonders nach der naiven und instinktiven Seite hin in Augen-blicken, wo wir uns fürchten, durch das Wort etwas Un-erwünschtes erzeugt zu haben. „Unberufen" oder „Unbe-

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EINFI`HRUNG 17

schrien" pflegen wir zu sagen und versuchen durch irgendeineHandlung die erzeugende Kraft des Wortes zu hemmen. Wirnennen es Aberglauben, aber wir müssen uns darüber klar sein,daß in diesem sogenannten Aberglauben ein Wissen davonsteckt, daß ein Wort in Erfüllung gehen kann. Wenn wir dieBedeutungsgeschichte von Worten wie loben, geloben, glauben,erlauben und allen jenen, die aus der Basis * leubh abgeleitetwerden können, untersuchen, so werden wir überall spüren, wiesie auf die Möglichkeit hinweisen, durch Sprache sich etwaszu eigen zu machen oder zu erzeugen. V e r sprechen ist nochviel mehr als die bindende Kundgebung einer Absicht. Es be-deutet : so sprechen, daß etwas zustande kommt so wie man ingewissen Teilen Deutschlands einen Geist versprechen, herauf

-beschwören kann. Genau so lassen sich durch die SpracheFeuer und Wasser binden, wenn man sie bespricht. )4yos aà

e,, yezo wir wissen, wie ein Wort Fleisch werden undunter uns wohnen kann. Was man mit einem vom Positivismusübel verstandenen und noch übler mißbrauchten AusdruckMagie zu nennen gewohnt war darunter haben wir an dieserStelle die erzeugende Arbeit der Sprache, die Sprache als Er-zeugerin zu verstehen. Und wiederum ist hier Erzeugen eineAnordnung , die den natürlichen Lauf der Dinge nicht be-hindert, aber sie in das Leben des Menschen eingehen läßt undaufnimmt.

Wie nun die Sprache erzeugt, so s c h a f f t sie auch ; wieein Wort in Erfüllung gehen kann, so kann es u m o r d n e n dNeues hervorbringen. Sprache schafft Gestalt, indem Sprachewir benützen das Wort in der eigentlichen Bedeutungd i c h t e t. Was die Sprache geschaffen hat, steht ebenso festda wie das, was im Bereiche des Lebens der Handwerker schuf.Wir kennen Odysseus, Don Quijote, Herrn Pickwick, wir kennendiese Gestalten der Sprache besser als viele Menschen unsererpersönlichen Umgebung. Der Pakt, den Faust mit dem Teufelabgeschlossen hat, ist von bekannten Juristen juristisch ge-prüft und auf seine Gültigkeit hin untersucht worden. DiesePersonen und Tatsachen mögen wieder zu sehr an bestimmteDichter erinnern, als daß man ganz zugeben würde, daß sievon der Sprache geschaffen wurden. Dann nenne ich Serenissi-

J o l l e s, Einfache Formen 2

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18 EINFÜHRUNG

mus, der mit keiner Dichterfigur in Verbindung gebracht wird,und ich weise hin auf die Ereignisse beim Rathausbau derSchildbürger, die wohl manchen gegenwärtiger sind als selbstpolitisches Tagesgeschehen.

Da, wo Sprache dichtet, pflegen wir zu sagen, daß Littera-tur entsteht. Damit haben wir einen Übergang gefunden, denwir anfangs suchten. Und wir wissen, daß Sprache als um-ordnende Arbeit hier unmittelbar zur Litteratur führt, auchwenn diese Litteratur nicht von einem bestimmten Dichterstammt oder in einem bestimmten Kunstwerk festgelegt ist.Und dann sehen wir zugleich, wie durch die Sprache oder durchdie Litteratur etwas ergriffen, verändert und erneuert wird,was um ein kühnes Wort zu gebrauchen in der Natur ge-geben war.

Ein lebender Mensch, der in seiner Zeit weithin sichtbarist, ist im Grunde in doppelter Weise vorhanden. Wir kenneneinen Mussolini aus Berichten, Erzählungen, Anekdoten -aber wir wissen nicht, inwieweit er sich mit dem „wirklichen"Mussolini, dem Mussolini in natura, deckt. Dieser zweite ver-hält sich zu dem litterarischen Mussolini wie das Getreide zumBrot, er ist von der Sprache zerstoßen, zermahlen, aufgeweicht,erhitzt er ist gedichtet, geschaffen. Er sehnt sich danach,gedeutet zu werden, denn nur durch Deutung läßt sich das Ver-hältnis von Mussolini I zu Mussolini II feststellen.

Und so sind wir zu der dritten Arbeit der Sprache ge-kommen. Wir haben, entsprechend dem Zeugen und Schaffenvom Erfüllen und Dichten der Sprache gesprochen. In diesemdritten Fall, dem der deutenden Arbeit der Sprache, gebrauchenwir die Worte Erkennen und Denken.

Irgendeine Vielheit von Erscheinungen liegt dem Menschenvor, er entdeckt Ähnlichkeiten, er sucht in ihnen eine Gemein-samkeit zu erkennen. Nehmen wir ein Beispiel, indem wirauf die Untersuchungen von Porzig (BedeutungsgeschichtlicheStudien. Indogermanische Forschungen, Bd. 10, 2) und Ipsen(Besinnung der Sprachwissenschaft. Indogermanisches Jahr-buch, Bd. 11) hinweisen.

Der Mensch beachtet die Phasen eines H i m m e 1 s -k ö r p e r s, der, von schmaler Sichel zur Scheibe sich rundend,

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EINFÜHRUNG 19

ihm die Erfüllung einer Form zeigt, und die Erfüllung zur Formwird ihm Maßstab bei der Beobachtung, wie auch die Zeit sicherfüllt. Er trägt in sich ein G e f ü h 1, das nach Vollendungdrängt, und ein Streben , Gedankliches zur Form abzu-runden. Zugleich erkennt er, wie er selbst als Lebewesenwiederum im Laufe dieses Lebens seine Kräfte entfaltet. Aberwie, von wo aus soll er das Gemeinsame in diesen Verschieden-heiten, die ihm eine Welt der Entfaltung und Erfüllung be-deuten, einheitlich fassen? Hier setzt die Sprache ein; deutendbegreift sie alles dieses in einem Zeichen; und dieses Zeichen,beweglich wie die Erscheinungen und dennoch die ganze Zu-sammengehörigkeit der Erscheinungen in sich enthaltend, wirdnun der verordnende Mittelpunkt, von dem jene Erfüllung aus-geht und zu dem sie zurückkehrt. Wir nennen ein solchesZeichen eine Wurzel.

Wurzel ist ein Wort, das wir werden es später sehenauf eine bestimmte Geisteshaltung hinweist, aber das der

zentralen Lagerung des Zeichens zu wenig gerecht wird.Immerhin, wir wollen die Terminologie nicht abändern, wo esnicht unbedingt nötig ist; jedenfalls beweist uns W u r z e 1,wie tief in der Sprache die deutende Tätigkeit liegt.

Die unserem Beispiel zugrunde liegende Wurzel heißt --wir befinden uns hier im Kreise des indogermanischen Er-kennens und Denkens * men. Und von dieser Verordnungaus muß der Himmelskörper m o n d , der abgeleitete Zeit-abschnitt m o n a t , das Gefühl minne, das gedanklicheStreben meinen , das Lebewesen mann oder m e n s c hheißen. Wollten wir andere indogermanische Sprachen heran-ziehen, so würden wir anzufangen mit dem lateinischenmens oder dem griechischen µaivo^uat, yávzts undM a e n a d e noch viel mehr finden.

Wir würden dann auch sehen, wie dieses * men nicht nurals Stamm bildet, sondern wie es auch Weiterstehendes formalergreift und in seinen Kreis zwingt, wie es als Formans sehrVerschiedenes, sowohl Natürliches wie Geräte, deutet: als Dinge,die durch Formung mit Kraft erfüllt werden, so daßum nur ein einziges Beispiel zu nennen .. das lateinisches e m e n, das etymologisch den soeben erwähnten Worten fern

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20 E.NFUHRUNG

steht, nun durch die Endung mit zu den Sachen gedeutet wird,die, wie der Mond, sich runden und, indem sie vollwerden, ihreKraft entfalten.

Ich erinnere an den Grundstein, in dem jede Handlung desBauens, aber auch alles, was dem Menschen Haus heißt, ver

-ordnet ist und vorliegt, und wir werden verstehen, wie von demaus, was wir Wurzel genannt haben, die Sprache sowohlstrahlenförmig Gleichartiges andeutet als auch das, was sichin anderer Weise zeigt, wie Figuren auf dem Schachbrett undTruppen in einem Schlachtgelände in ein Feld eindeutet.

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IV.

Vielleicht erscheint manchem das Bild der Welt, die er-zeugend, schaffend, deutend aufgebaut wird, in der sich Bauer,

Handwerker und Priester befinden und in der die Sprache derenArbeit noch einmal leistet, zu sehr als eine Welt von Arbeits-produkten, eine Welt von besäten Äckern, gemahlenem Ge-'treide, gebackenem Brot, gebauten Häusern, gelegten Grund-steinen, kurz als eine Welt von Gegenständen, als eine Weltder Einzelheiten.

Wenn das so ist, so brauchen wir nur einen Augenblicknachzudenken, um einzusehen, daß die Welt dem Menschen imallgemeinen nicht ' so vorkommt. Sie ist ihm, als Ganzes ge-nommen, in ihrer verschwimmenden Verschiedenheit, in ihremGetümmel, in ihrer Brandung, vielmehr eine Wildnis und einWirrsal. Um die Welt zu verstehen, muß er sich in sie ver-tiefen, muß er die endlose Zahl ihrer Erscheinungen in irgend-einer Weise verringern, muß er sondernd in sie eingreifen.Mensch und Welt erinnern an das Mädchen im Märchen, dasvor einen wüsten Haufen von Samen aller Art gestellt wird undnun die Aufgabe bekommt, sie in einer Nacht richtig zu sichten.Wir kennen den Verlauf dieser Geschichte : freundliche Vögeloder Kerbtiere kommen zu Hilfe. Die Arbeit geht an und indemaus dem unerkennbaren Haufen erkennbare Häuflein werden,kommt auch das, was sich auf diesen Häuflein befindet, zuseinem Recht und zur Geltung. Was nur verwirrter Teil einergroßen Verwirrung war, bekommt, wo Gleiches sich zu Gleichemgesellt, erst seine Eigenheit, wird es selbst. Wenn der Zaubererbei Sonnenaufgang erscheint, ist das Chaos Kosmos geworden.

Der Mensch greift ein in das Wirrsal der Welt; vertiefend,verringernd, vereinigend faßt er das Zusammengehörige zu-sammen, trennt, teilt, zerlegt und sammelt auf die Häuflein dasWesentliche. Die Unterschiede verbreitern sich, das Viel-

2

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22 EINFÜHRUNG

deutige wird ausgeschieden oder es wird zur Eindeutigkeit be-stimmt und zurückgebracht. Auslegend und einengend dringter zu den Grundformen durch.

Indessen, was hier geschieht, ist wie wir später sehenwerden kein Märchen. Das, was in dem Wirrsal der Weltgehäuft liegt, besitzt nicht in dem Sinne wie die verschiedenenSamen, eine Erbse oder eine Bohne, schon von vornherein eigeneForm, sondern, was hier unterscheidend geschieden wird, ' nimmterst, während es in der Zerlegung sich zusammenfindet, eigeneForm an. Und gerade dieser Vorgang ist es, den wir zu beob-achten haben. Gleiches gesellt sich zu Gleichem, aber es bildethier keinen Haufen von Einzelheiten, sondern eine Mannigfaltig-keit, deren Teile ineinander eindringen, sich vereinigen, ver-innigen, und so eine Gestalt, eine Fo r m ergeben eine Form,die als solche gegenständlich erfaßt werden kann, die, wie wirsagen, eigene Gültigkeit , eigene Bündigkeit besitzt.

Wo nun die Sprache bei der Bildung einer solchenF o r m beteiligt ist, wo sie anordnend, umordnend in eine solcheForm eingreift, sie von sich aus noch einmal gestaltet dakönnen wir von litterarischen Formen sprechen.

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LEGENDE

I.Ich habe als erste von diesen Formen die L e g e n d e ge-

wählt, weil sie in einem bestimmten Abschnitt der abend-ländischen Kultur als abgeschlossenes Ganzes vor uns liegt;ich meine die christliche Legende, wie sie sich in der katho-lischen Kirche seit den ersten nachchristlichen Jahrhundertenherausgebildet und bis heute erhalten hat. An dieser Stellebeobachten wir sie zwar nicht in ihrer umfassendsten Gestalt-möglichkeit, ihrer größten Verallgemeinerung, dafür aber ineiner vollkommen ausgeprägten Besonderung.

Es ist ein Vorteil, wenn wir eine Form an einer Stellegreifen können, an der sie wirklich zu sich gekommen, wirk-lich sie selbst ist, das heißt in unserem Fall, wenn wir dieLegende in dem Kreise und in der Zeit untersuchen, wo sie miteiner gewissen Ausschließlichkeit gelesen wurde, wo ihre Geltungnicht hinwegzudenken ist, wo sie eine der Himmelsrichtungenist, in die man sah, ja vielleicht sogar die einzige, nach derman sich bewegen konnte.

Freilich hat dieser Vorteil auch seine Gefahr; wir dürfennicht so ohne weiteres die mittelalterliche Legende als Para-digma hinnehmen und müssen uns hüten, das Bild, das wir vonihr gewinnen, allzuschnell begrifflich so auszuwerten, daß wirmeinten, wir hätten die Legende damit in ihrer Gesamtmöglich

-keit umrissen. Vergleichen wird schwer, wenn wir uns miteiner besonderen Erscheinung zu sehr identifiziert haben. Aller

-dings ist die Gefahr in diesem Falle nicht allzu groß, dennvieles in unserem eigenen und heutigen Leben trennt uns vonder katholischen Legende und wir sehen sie gerade von unsaus in einer gewissen Entfernung.

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24 LEGENDE

Wir betrachten die Welt der mittelalterlichen Legende zu-nächst oberflächlich, wie sie uns quellenmäßig faßbar ist.

Zusammenfassungen von Geschichten mit den Zeugnissenüber Leben und Taten der Heiligen liegen uns in kleinerenund größeren Sammlungen seit den ersten Jahrhunderten desChristentums vor. Acta Martyrum oder Acta Sanctorum findenwir das ganze Mittelalter hindurch und nicht nur als Bücher,die man gelesen hat, sondern auch in starker Wirksamkeit aufbildende Kunst und Litteratur. Da ist als ganz besonders maß

-gebend die Legendae sanctorum oder Legenda aurea hiertreffen wir das Wort Legende zum ersten Mal — des BischofsJacobus von Varazzo zu nennen, die um die Mitte des 13. Jahr-hunderts zusammengestellt wurde und jahrhundertelang einerbesonderen Art kunstgemäßer Ausformung der Legende dieWege gewiesen, sowie einen starken Einfluß auf die italienischeNovelle ausgeübt hat.

Die eigentliche große Sammlung der Viten aller von derkatholischen Kirche anerkannten Heiligen beginnt in einer Zeit,die auch sonst noch für die Begriffsbestimmung der Heiligenvon Wichtigkeit 'ist, im 17. Jahrhundert. Sie wurde angefangenvon einem Jesuiten, Pater Heribertus Rosweidus aus Flandern,und nach seinem Tode fortgesetzt von einem Ordensgenossen,dessen Namen sie trägt, von Johannes Bollandus. Wir nennen sieim allgemeinen Acta Sanctorum oder die Bollandisten. Das Werkist auch heute noch nicht vollendet. Im strengen Sinne kannes auch nicht vollendet werden,denn die Zahl der Heiligen istkeineswegs historisch beschränkt : es können sozusagen jedenTag neue hinzukommen, und sie kommen hinzu. Da die Ver

-ehrung der Heiligen mit dem Tagesritus der katholischen Kirchezusammenhängt, sind die Viten und Acta nach den Tagen deschristlichen Jahres geordnet. Die beiden von Bollandus be-arbeiteten Bände für Januar sind 1643 erschienen. 1902 wardie Originalausgabe bis auf 63 Bände gediehen. Seitdem sindnoch mehrere hinzugekommen; das ganze Unternehmen wirdjetzt von einer Kommission ausgeführt, die auch seit 1882 eineZeitschrift, die Analecta Bollandiana, herausgibt. Im ganzenenthält die Sammlung schätzungsweise 25 000 Heiligenleben;dabei ist zu berücksichtigen, daß in zahlreichen Fällen mehrere

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LEGENDE 25

Viten desselben Heiligen überliefert sind, die sämtlich von denBollandisten ediert werden.

Damit haben wir genügend Material beisammen nach-dem zuerst das Mittelalter, das, sagen wir vorläufig, den Hei-ligen und seine Legende als Weltanschauung in sich trug, seineViten gesammelt hatte und danach eine beginnende wissen-schaftliche Besinnung es unternahm, ihn in seinem ganzen Um-fang und seiner Vielfältigkeit, natürlich immer noch innerhalbder Kirche, zu kompilieren.

Hei t i g e r und heilig liegen hier in einer Sonderweltvor; von diesem Bereich her ist diesen Worten eine Bedeutunggegeben, die abgeschlossener ist als jene, die wir gewöhnlichmit ihnen verbinden, abgeschlossener auch als die Bedeutung,in der wir heil und heilig in unserer Einführung erwähnt haben.

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II.

Was ist der Heilige, was sind die Heiligen, deren Lebenin den genannten Quellen in einer bestimmten Weise dargestelltist? Obwohl sie als Personen für sich allein genommen werdenkönnen, auf sich selbst stehen, bilden sie zusammen eine Ge-meinschaft kraft einer inneren Zusammengehörigkeit, zudemaber auch dadurch, daß sie in ihrer Gesamtheit das Kirchenjahrvertreten.

Der Heilige ist also an die Institution Kirche gebunden;und so verwandelt sich die Frage : was ist der Heilige ?, weilsie nur von dieser Bindung aus zu beantworten ist, in eineweitere, tieferstoßende, die methodisch erste : wie wird manein Heiliger? Damit ist die Frage gestellt nicht von der Personsondern von der Institution aus, durch die der Heilige aner-kannt wird.

Diese Anerkennung vollzieht sich in einer historisch ge-wordenen und festgelegten Form, der Form der Heiligsprechung(canonisatio), die von dem Papst Urban VIII. (1623 1637,der Entstehungszeit der Acta Sanctorum) endgültig geregeltworden ist.

Canonisatio heißt declaratio pro sancto eines „Seligen"(beatus) ; canonisare heißt : „in das Verzeichnis (canon) derHeiligen eintragen" und dem Heiligen den ihm gebührendenKultus zuerkennen, wozu auch die Erwähnung in dem Gebetegehört, das der Priester im Meßkanon bei der Konsekrationder Elemente des heiligen Abendmahls zu sprechen hat.

Betrachten wir das Verfahren der Heiligsprechung, wiees seit Urban VIII. üblich ist.

Es geschieht durch die congregatio rituum, in der einigeKardinäle und andere Würdenträger der Kirche Sitz haben, undwird eröffnet auf Veranlassung irgendwelcher Menschen, dievon der Heiligkeit der betreffenden Person überzeugt sind,

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LEGENDE 27

meist vermittelt durch die Ortsgeistlichkeit. In der Regel sollzwischen dem Tode des designierten Heiligen und der Eröffnungdes Verfahrens eine längere Zeit (50 Jahre) liegen. Das Ver

-fahren selbst hat die Form eines Prozesses und zwar eines Pro-zesses in Instanzen. Es muß zunächst und zwar durch Zeugenerwiesen werden, daß der Betreffende, der, sobald das Ver

-fahren eröffnet ist, servus Dei heißt, erstens heroische Tugen-den bewährt und zweitens Wunder getan hat. Die Unter-suchung findet zuerst durch den Bischof des Ortes, an dem derservus Dei gelebt hat, statt und wird danach von der Congre-gatio rituum geprüft. Ist diese Prüfung bestanden, so kann zurSeligsprechung (beatificatio) geschritten werden.

Nach vollzogener beatificatio rückt die Angelegenheit voreine höhere Instanz es müssen aber, damit dies möglich ist,neue Wunder geschehen. Sie werden von neuem geprüft,erneut wird das Verfahren eingeleitet, Zeugen werden ver-nommen, Gegengründe vorgebracht, bis schließlich, wenn dasalles durchgeführt ist, der Papst ex cathedra den beatus fürsanctus erklärt: „decernimus et definimus N. sanctum esse etsanctorum catalogo adscribendum ipsumque catalogo hujusmodiadscribimus statuentes ut ab universali ecclesia . . . festumipsius et officium devote et solenniter celebretur."

Hinzuzufügen ist noch, daß die der prozessualen Unter-suchung unterworfenen Tugenden des beatus die theo-logischen: spes, fides, caritas und die moralischen: justitia,prudentia, fortitudo, temperantia scholastischer Systematikund scholastischer Begriffgebung entsprechen. Auch der Be-griff Wunder, der zweite zu behandelnde Hauptpunkt, gilt ge-mäß der scholastischen Definition : „illa, quae a Deo fiuntpraeter causas nobis notas miracula dicuntur."

Es wird in den Abhandlungen, die die beatificatio und diecanonisatio besprechen, ausdrücklich auf die P r o z e ß f o r mdes Verfahrens hingewiesen. Die Gründe der Seligsprechungund der Heiligsprechung, heißt es, müssen ebenso streng be-handelt werden wie in einem Kriminalverfahren, die Tatsachenebenso genau bewiesen wie bei der Bestrafung eines Ver

-brechens. Auch det• Staatsanwalt ist bei der Congregatio rituum

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28 LEGENDE

vertreten, er heißt zwar nicht offiziell aber doch allgemein --advocatus diaboli.

So verhält es sich mit der Schaffung, der Anerkennungeines Heiligen seit Urban VIII. Gab es aber vorher keine Hei

-ligen? Im Gegenteil: was im 17. Jahrhundert unter Einfluß derGegenreformation, des Tridentinums, des Jesuitenordens ge

-schieht, ist nur eine letzte, feste und vielleicht äußerlicheRegelung eines Vorgangs, der sich in der christlichen Kirchebis zur Reformation von innen heraus und von selbst vollzogenhat. Die scharfe, juristisch angelegte Prozeßform ist der Ab

-schluß eines Kulturprozesses. Was eine geistliche Behördehier kraft ihres Amtes dekretiert, ist die Formel einer Form,und diese Formel ist so gefaßt, daß wir in ihr die Form nocherkennen und sie aus ihr ableiten können.

Zunächst können wir wieder Äußerliches aus ihr ableiten.

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III.

In einem kleinen, örtlich begrenzten Kreise lebt ein Mensch,der seinen Mitmenschen durch seine besondere Art auffällt.Seine Lebenshaltung, seine Lebensweise sind anders als dieder andern; er ist tugendhafter als andere Menschen, aber seineTugend ist nicht nur quantitativ, sondern qualitativ von jenerder anderen verschieden. Wie das gemeint ist, erhellt aus derTatsache, daß die Würdigung eines Heiligen aus der Prozeß-form heraus und durch sie geschieht, und wir fangen schon hieran, die Bedeutung der Prozeßform, den Vergleich mit demStrafrecht, zu verstehen.

Ein Mensch kann sehr viel böser sein als sein Nachbar, unddennoch bietet sich dem Strafrecht nicht der geringste Anlaß,sich mit diesem Menschen und seiner „Bösheit" zu beschäftigen.Erst wenn diese seine ß o**sheit" sich in einer bestimmten Hand-lung zeigt, sich in eine Tat umsetzt, sagen wir t ä t i g w i r d,dann erst wird er durch diese Handlung und in dieser Handlungstrafbar : wir nennen diese Handlung V e r b r e c h e n und de-finieren im weiteren Sinne Verbrechen als : strafbares Unrecht.Im Verbrechen unterscheidet sich der Verbrecher q u a 1 i -t a t i v von den anderen Bösen. Das Verbrechen ist es, wasbestraft wird, und wenn wir den Verbrecher bestrafen, so ge

-schieht• das, weil unsere Justiz ihn als Individuum mit seinemcrimen identifiziert.

Der Strafprozeß hat demzufolge nicht zu untersuchen, obder Angeklagte böse ist, sondern ob ein Verbrechen, ein crimen,vorliegt.

Kehren wir nun die Sache um, dann haben wir den Kanoni-sationsprozeß. Nur stoßen wir hier auf die Schwierigkeit, daßwir ein Wort, daß das Gegenteil von Verbrechen ausdrückt,nicht besitzen und daß wir auch die Definition st r a f b a r e sU n r e c h t nicht in ihr Gegenteil verwandeln können. Wir

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30 LEGENDE

müssen uns hier mit dem Ausdruck t ä t i g e Tu g e n d oderaktivierte Tugend begnügen. Und wir definieren dieHaltung des eingangs geschilderten Menschen, dessen Tugendsich qualitativ von der seiner Mitmenschen unterscheidet als:tätige Tugend.

Nun gibt es aber in unserem Strafgesetz eine grundlegendeBestimmung „nulluur crimen sine lege" : das geschriebene Ge-setz ist die Norm der zu bestrafenden Handlung, so wie in derFortsetzung „nulla poena sine lege" das Gesetz Norm der Be-strafung wird. Eine solche Lex kann es in der geistlichen Um-kehrung ebenfalls nicht geben, und so muß hier eine andereNorm gesucht werden. Das geschieht in doppelter Weise:

Der Kanonisationsprozeß stützt sich erstens vergleichbardem Strafprozeß auf Zeugen. Während aber im Strafprozeßdie Zeugen sich nur über Sachverhalte zu äußern haben unddie Feststellung des Verbrechens dem Richterkollegium --wie dieses nun auch zusammengestellt sein mag vorbehaltenbleibt, haben im Kanonisationsprozeß die Zeugen, die ingewissem Sinne zugleich Sachverständige sind, auch darüberauszusagen, inwieweit nach ihrer Überzeugung bei dem servusDei tätige Tugend vorliegt.

Dazu kommt zweitens und das ist viel wichtigereine höhere Norm. Die Tugend in ihrer tätigen Eigenheit wirdvon oben herab bestätigt sie wird bestätigt durch dasWunder, durch das „quod a deo fit praeter causas nobisnotas". Und wiederum sind es Zeugen, die nicht nur über denSachverhalt auszusagen haben, sondern die ihre Überzeugungkund tun müssen, daß hier wirklich Wunder geschehen sind.Die letzte Entscheidung, ob Wunderkraft, ob Heiligkeit vor

-liegt, steht dann allerdings wieder den geistlichen Richtern zu.

Damit haben wir den Prozeß des Heiligen in seinem erstenAbschnitt verfolgt: bis zur B e a t if i k a t i o n. Wie wir schongesagt haben, müssen eine ganze Anzahl Jahre vom Tode desservus Dei bis zu seiner Beatifikation, erst recht aber bis zudem Termin verstrichen sein, an dem der Prozeß des beatus voneiner zweiten Instanz als Kanonisationsprozeß wieder auf

-genommen wird. Auch in dieser Zeit muß sich unabhängig von

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LEGENDE 31

dem beatus als Individuum die göttliche Bestätigung noch ein-mal offensichtlich, im Wunder, wiederholen.

Wie und wo geschehen diese p o s t h u m e n Wunder, überdie auch dieses Mal Zeugen aus der nächsten Umgebung desbeatus zu berichten haben? An seinem Grabe, an dem Orte,wo er gewohnt hat, durch Kleider, die er getragen, durch Gegen-stände, die er berührt oder die ihn berührt hatten, durch seinBlut, durch Teile seines Körpers.

Und was bedeuten sie? Es ist einmal mit einer gewissenNaivität gesagt worden, „ein echt katholisches Volk hält nochmehr auf tote als auf lebendige Heilige". Manche Erzählungaus dem Mittelalter bestätigt diesen Satz. Wir lesen beiPetrus Damianus in seiner Vita des heiligen Romuald, daß dieBewohner Kataloniens den dort weilenden Italiener, den sieschon zu seinen Lebzeiten als Heiligen betrachteten, zu ver-anlassen suchten, in ihrem Lande zu bleiben, und als das nichtgelang, Mörder ausschickten, ihn zu töten, damit sie den, densie lebend nicht zurückhalten konnten, wenigstens als Leichebei sich behielten: „pro patrocinio terrae". Aus dieser undähnlichen Geschichten geht die Bedeutung des posthumen Wun-ders hervor.

Die tätige Tugend muß sich vollenden, sie ist nicht nurlosgelöst vom lebendigen Menschen, sondern losgelöst vomLeben überhaupt denkbar; erst wenn sie nach dem Tode desMenschen selbständig geworden ist, steht sie auch wirklich aufsich selbst, gelangt sie zu ihrer völligen Eigenkraft. Die tätigeTugend hat sich vergegenständlicht.

Unser Strafgesetz kennt eine Verjährungsfrist : nach einerbestimmten Zeit kann der Verbrecher für das Verbrechen nichtmehr bestraft werden, das Verbrechen ist gelöscht an dieserStelle zeigt sich erneut, wie unsere Strafgesetzgebung letztenEndes davon ausgeht, Verbrechen und Verbrecher zu identi-fizieren. Es hat aber andere Zeiten gegeben, da man die Leichedes Mörders, der zeitlebens seiner Strafe entronnen war, aus

-grub und sie an den Galgen hing, auf das Rad flocht wo dasVerbrechen fortlebte und bestraft werden konnte und mußte,selbst wenn der Verbrecher nicht mehr unter den Lebendenweilte. So haben wir uns die Tugend des Heiligen nach seinem

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32 LEGENDE

Tode vorzustellen. Sie besteht, sie lebt nun erst recht, sie wirderst recht bestätigt, nicht im Individuum, sondern an sich. DerVerjährungsfrist unseres Strafgesetzbuches können wir dieVe r e w i g u n g s f r i s t des Kanonisationsprozesses gegenüber

-stellen.Nach der Bestätigungsfrist, in der die tätige Tugend be-

gann ihr Eigenleben anzutreten und während der der servusDei und eben diese seine tätige Tugend voneinander getrenntwaren, wird sie bei einer neuen Instanz in einer anderen Weisean ihren ehedem persönlichen Träger wieder angeschlossen.Diese Wiedervereinigung meint der Kanonisationsprozeß, meintdie Heiligsprechung. Der servus Dei ist venerabilis, istbeatus geworden, er befindet sich im Jenseits unter den Seligen.Dorthin kehrt seine Tugend, die sich verselbständigt, vergegen-ständlicht hat, zu ihm zurück. Beatus und tätige Tugend er-fahren eine neue Prägung : Er wird Sanctus und sein Fest undsein Kultus sollen in der ganzen Kirche „devote et solenniter"gefeiert werden, er hat seine himmlische Persönlichkeit er-halten. Was aber seine Tu g e n d war, ist, nachdem er wiedermit ihr vereint wurde, seine M a c h t. Ich erinnere daran, daßv i r t u s , was schon bei den Römern in besonderer WeiseTu g e n d und K r a f t oder M a c h t heißt, im mittelalterlichenLatein ohne weiteres m i r a c u 1 u m bedeuten kann, und daßTu g e n d mit t a u g e n verwandt ist. War das Wunderzuerst Bestätigung der Tugend, so wird es jetzt Zeichen derMacht. Geschah es anfangs durch Gott, um den Heiligen zubezeichnen, so geschieht es jetzt durch den Heiligen sozusagenim Auftrage und im Einverständnis mit Gott für jemanden oderfür etwas anderes. Man kann sich oder das Seine unter denSchutz des Heiligen stellen, man kann ihn anrufen, man kannihn bitten, das Wunder zu bewirken.

Diese Macht zeigt sich, nun aber noch einmal, zwar nichtganz unabhängig, aber doch losgelöst von der Person desHeiligen.

Das Wunder nach seinem Tode knüpfte sich an einen Gegen-stand, dieser Gewand, Grab, Marterwerkzeug -- zeugte vondem servus Dei, so wie das Wunder von ihm zeugte. DieserGegenstand war unentbehrlich in der Zeit, da seine Person ge-

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storben, aber seine tätige Tugend lebendig war. Der Gegen-stand -- wir nennen ihn bekanntlich eine R e l i q u i e -- mußteihn in seiner Abwesenheit vertreten. Wie sollte man sonst er-kennen, wessen Tugend in einem beliebigen Kreise durch einWunder bestätigt wurde, wie verstehen, daß das, was Gott Un-begreifliches tat, sich dennoch auf diese Person bezog? So wiedie Reliquie nun aber den servus Dei in seiner Abwesenheit alsTräger des Wunders vertrat, so kann sie ihn auch vertreten,nachdem er als sanctus im Himmel weilt. Sie kann alles, wasmit dem Heiligen und seiner Heiligkeit zusammenhing, in sichhineinziehen und es wieder ausstrahlen, sie kann selbst in ge-wissem Sinne heilig sein und Träger der Macht werden.

Stellen wir diesen Zusammenhang noch einmal klar heraus:Was dieser Heilige als Person bedeutete, nachdem man

ihn erstens in menschlicher Umgebung als Täter der Tugendgesehen und die Bestätigung seiner Tugend durch Wundererlebt hatte;

nachdem man zweitens nach seinem Hinscheiden dieTätigkeit seiner Tugend noch einmal selbständig erfahren undbestätigt gefunden;

nachdem man ihn drittens in einer neu geprägten himm-lischen Gestalt wieder mit seiner Tugend zusammengebrachtund mit Macht begabt:

alles das kann auch in einen Gegenstand hineingedeutetwerden, das kann eine Reliquie von sich aus bedeuten.

J o 11 e s, Einfache Formen 3

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Iv.

Wenn wir den Werdegang des Heiligen formelhaft imKanonisationsprozeß und formgemäß auf der Erde und imHimmel beobachtet haben, kommt noch einmal die Frage : washeißt das alles? Was veranlaßt den Menschen, seine Mit-menschen in dieser Weise zu sehen? Aus welchem Gedanken-gang, aus welcher Lebenshaltung, aus welcher Geistes-beschäftigung wird jene Formenwelt geboren, in der PersonenHeilige, Gegenstände Reliquien werden und in der wir vonWundern reden jene Weltform, die in dem kirchlichenKanonisationsprozeß als hierarchische Parallele zu einemLebensvorgang festgelegt worden ist?

Was uns zunächst an der Weise auffällt, wie ein Heiligerwir wollen sagen zustande kommt, ist, daß er ich mußmich wieder vorsichtig ausdrücken selbst so wenig dabeibeteiligt ist.

Nicht, daß er sich als Persönlichkeit passiv verhieltekeineswegs ! Manchmal wird er vor seiner Geburt seiner Mutterverkündigt, sie sieht ein strahlendes Licht oder eine ähnlicheErscheinung. Und sobald er ins Leben tritt, ist sein Dasein aufTun gestellt. Es gibt Heilige, die schon in der Wiege die Händ-chen zum Gebet falten. Als Knabe, als Mädchen, unterscheidensie sich von Kindern ihres Alters durch ihre Frömmigkeit, durchihre guten Werke. Und später offenbart sich immer erneut ihreaktive Kraft, sie handeln fortwährend. Es gibt tapfere Heilige,die mit Versuchungen, mit satanischen Feinden, mit dem Teufelkämpfen oder einem heidnischen Tyrannen entgegentreten. Esgibt fleißige Heilige, die zahllose gottgefällige Bücher schreibenoder die ununterbrochen von Land zu Land ziehen, um pre-digend das Heidentum zu bekehren. Es gibt Heilige, die freudigdie ihnen auferlegten Martern ertragen und heroisch nochschwerere begehren. Tätig sind sie gewiß, und dennoch sind

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sie bei dem Heiligungsprozeß, der sich erst im Leben vollziehtund danach in dem Verfahren der congregatio rituum spiegelt,unbeteiligt. Wir können sagen, sie werden, obwohl sie Haupt-personen sind, in diesen beiden Prozessen, dem des Lebens unddem der Kanonisation, durch Kontumacialverfahren abgeurteilt.

Schärfer ausgedrückt, wir haben nicht die Empfindung,daß der Heilige von sich aus und für sich existiert, sondern daßer von der Gemeinschaft aus und für die Gemeinschaft da ist:erst in dem kleinen Kreis, in dem man ihn beobachtet, späterfür die ecclesia universalis, selbst dann noch, wenn er zwischenden Seligen im Jenseits wandelt oder geschmückt mit seinenAttributen auf dem Altare steht.

Was aber bedeutet er der Gemeinschaft?Gut und Böse können wohl gewertet, aber nicht gemessen

werden. Meßbar sind sie erst, wenn sie sich im Heiligen als tätigeTugend, im Verbrecher als strafbares Unrecht gestaltet haben.Erst wenn wir sie so in den Personen gesehen haben, könnenwir sie in ihrer meßbaren Selbständigkeit von ihren Trägernloslösen: Heilige und Verbrecher sind also Personen , i ndenen sich Gut und Böse in einer bestimmtenWeise vergegenständlichen.

Da liegt der Grund, weshalb jene Gemeinschaft nicht fragt,wie der Heilige sich fühlt, wenn er fromm ist, wenn er handelt,wenn er leidet. Er ist ihr nicht in diesem Sinne ein Menschwie andere, er ist ihr ein Mittel, Tugend vergegenständlichtzu sehen, vergegenständlicht bis in die höchste Potenz, bis indie himmlische Macht. Deshalb fehlt der Heilige in seinemProzeß, deshalb sind es Zeugen und immer wieder Zeugen, dieals Vertreter der Gemeinschaft ihre Überzeugung kundtun,daß die Vergegenständlichung stattgefunden hat, daß siedurch Wunder bestätigt worden ist Zeugen, die sich dannwiederum von der kirchlichen Behörde beglaubigen lassen, daßihre Überzeugung richtig war.

Was ist damit gewonnen, daß Tugend in dieser Weisemeßbar, greifbar wird, was eben ist die bestimmte Weise, inder sie sich in dem Heiligen vergegenständlicht?

Wir kommen hier zu dem, was uns in die G e i s t e s -b e s c h ä f t i g u n g, die den Heiligen bildet, einfuhrt. Wir

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können Gutes und Böses tun, ohne genau zu wissen, wie wirzu werten sind, wie wir dabei gerichtet sind. Erst wenn dieTugend meßbar, greifbar, faßbar geworden ist, erst wenn siebedingungslos, uneingeschränkt in dem Heiligen vor uns steht,haben wir einen sicheren Maßstab : der Heilige bringt uns zumBewußtsein, was wir auf dem Wege der Tugend tun und er-fahren und sein möchten; er selbst ist dieser Weg zur Tugend,wir können ihm selbst folgen.

Ich werde nunmehr, um die G e i s t e s b e s c h ä f t i gun gzu kennzeichnen, aus der das hervorgeht, was ich eine Form -in diesem Fall die Form Legende nenne, genötigt sein,K e n n w o r t e einzuführen, das heißt Worte, die nicht in vollemUmfange „bedeuten", sondern die „andeuten", die nur eineRichtung geben.

Hier greife ich, da weder das deutsche f o 1 g e n nochn a c h a h m e n diese Richtung genügend treffen, zu dem latei-nischen, im Mittelalter gebräuchlichen Ausdruck imitatio.

Etymologisch hängt imitor zusammen mit a e m u 1 u snacheifernd (aemulor, suche gleichzukommen) und mit

imago Abbild. Neben der Etymologie steht jedoch derBegriff Eindeutung. So hat das Mittelalter imitari ein-deutend mit i m m u t a r e in Verbindung gebracht : sich soverwandeln, daß man in etwas anderes eingeht.

Der Heilige, in dem als Person die Tugend sich vergegen-ständlicht, ist eine Figur, in der seine engere und seine weitereUmgebung die imitatio erfährt. Er stellt tatsächlich denjenigendar, dem wir nacheifern können, und er liefert zugleich denBeweis, daß sich, indem wir ihn nachahmen, die Tätigkeit derTugend tatsächlich vollzieht. Er ist als höchste Stufe derTugend unerreichbar und liegt in seiner Gegenständlichkeitdoch wieder in unserem Bereiche. Er ist eine Gestalt, an derwir etwas, was uns allseitig erstrebenswert erscheint, wahr-nehmen, erleben und erkennen und die uns zugleich die Mög-lichkeit der Betätigung veranschaulicht kurz, er ist imSinne der Form ein i m it ab i 1 e.

Von dem Heiligen aus, den wir in seinem Werdegang sogenau beobachtet haben, öffnet sich unser Blick auf die Welt,die ihn in dieser Besonderung gebildet hat. Wir schauen uns

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im M i t t e l a l t e r um und finden auf allen Seiten das gleiche.Da liegt auf einer steilen Anhöhe eine Kirche, und der auf-steigende Pfad ist eingeteilt in vierzehn Stationen. Jede Stationbedeutet einen bestimmten Punkt aus der LeidensgeschichteChristi. Der Fromme folgt diesem Weg, und bei jeder einzelnenStation erlebt er jeweils die Verspottung, die Geißelung, dieKreurtragung. Er erlebt sie nicht nur als Erinnerung an Ge-schehenes, er erlebt sie buchstäblich, er begibt sich in sie hin-ein, er macht den Leidensweg mit, er wird mitverspottet, ge-geißelt, er hilft das Kreuz tragen. Er vereinigt sich, soweites einem Menschen möglich ist, mit dem Unnachahmbaren, erwird zum aemulus Christi, er wird oben in der Kirche, diewiederum ein imago Christi ist, in Christus aufgenommen. EinePilgerfahrt zu einem Orte, wo ein Heiliger ruht oder wo erdurch seine Reliquie vertreten wird, ist nichts anderes als einetatsächliche Wiederholung des Weges zur Heiligkeit wohl

-verstanden, soweit sie einem Nicht-Heiligen möglich ist. Wennzu Ende der Fahrt der Heilige das gewährt, was der Pilgervon ihm durch seine Reise zu erreichen hoffte, zum BeispielHeilung von einer Krankheit so geschieht das, weil der Pil

-ger in eingeschränktem Sinne selbst der Heilige geworden ist.Diesen Sinn einer Pilgerfahrt haben auch die Kreuzzüge.

Sie stehen zweifellos im Zusammenhang mit den großen ger-manischen Völkerverschiebungen, durch die das Abendland ge-staltet wurde, sie sind ebenso sehr Völkerwanderungen wiedie späteren Entdeckungsreisen. Aber sie unterscheiden sichvon den vorhergehenden wie von den nachfolgenden durchihren imitativen Charakter, der sich sowohl in ihrem Ziel wiein ihren Mitteln kundgibt. Sie mögen nach Ostland, nachSpanien oder nach Palästina gerichtet sein, sie stehen im Zei-chen der Nachahmung Christi: „und wer nicht sein Kreuz aufsich nimmt und folget mir nach, der ist meiner nicht wert",heißt es. Die Ritter heften sich das Kreuz auf die Schulterund machen eine Pilgerfahrt großen, kriegerischen Stils, derenletztes Ziel die größte aller Reliquien ist, das Grab Christi,das wiederum Christus selbst bedeutet.

Tn dieser Weise können die höchsten Handlungen und Per-sonen des Christentums begriffen werden, ohne daß damit ihre

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religiöse Bedeutung ganz erschöpft wird, das Meßopfer, Mariaund Jesus selbst. Jesus bedeutet gewiß noch anderes, aber erist auch der „höchste Heilige", dessen aemuli ihrerseits wiederdie anderen Heiligen sind. Und wiederum kann das Geschehenim Leben Jesu selbst imitativ gefaßt werden, wenn man es, sowie es im Evangelium des Matthäus geschieht, als Erfüllungeines früheren nimmt, wenn man sagt : „und ist erfüllet, dasgesagt ist von dem Propheten Jeremias, der da spricht ...",oder auch so, daß man dieses Geschehen im Neuen Testamentals Wiederholung eines Vorgangs im Alten Testament be-trachtet, wie zum Exempel der Opfertod am Kreuze in AbrahamsOpfer schon vorgebildet ist.

Wir würden ein sehr beträchtliches Stück der Welt desMittelalters vor uns sehen, wollten wir in Einzelheiten nach-weisen, wo überall die Geistesbeschäftigung der imitatio demLeben des mittelalterlichen Menschen eingelagert ist, dieseGeistesbeschäftigung der aemuli, der imagines, die sich keines-wegs auf das religiöse Leben beschränkt. Und immer verhältes sich dabei so, daß sich in einer Person, einem Ding, einerHandlung ein anderes vollzieht, was in ihnen gegenständlichwird und was von dieser Gegenständlichkeit aus nun wiederanderen die Möglichkeit gibt, hineinzutreten und aufgenommenzu werden.

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V.

Diese Form nun, die sich im Leben verwirklicht, verwirk-licht sich wiederum in der Sprache. Wir haben den H e i -1 i g e n, wir haben seine R e l i q u i e, wir haben seine L e -gende; wir haben die Person, wir haben das Ding, wirhaben die Sprache. In allen dreien vollzieht sich dieseGeistesbeschäftigung, diese Welt der imitatio.

Die abendländisch-katholische Legende hat sie ver-dankt das der Sicherheit, mit der die kirchliche Behörde hierschon früh diesen ganzen Vorgang beobachtet und hierarchischgedeutet hat eine geschlossene Gestalt : sie gibt das Lebendes Heiligen, oberflächlich gesagt seine Geschichte sie isteine Vita.

Diese Vita als sprachliche Form hat aber so zu verlaufen,daß sie in jeder Hinsicht dem Geschehen im Leben entspricht,das heißt so, daß sich in ihr dieses Leben noch einmal voll-zieht. Es ist nicht damit getan, daß sie Ereignisse, Hand-lungen unparteiisch protokolliert, sondern sie muß diese in sichzu der F o r m werden lassen, die sie von sich aus noch einmalv e r w i r k l i c h t. Sie muß für Hörer oder Leser genau dasvertreten, was im Leben der He"ige repräsentiert, sie mußselbst ein imitabile sein. Deshalb sieht in dieser Vita das Lebeneines Menschen anders aus als in dem, was wir eine ,,histo-rische" Lebensbeschreibung nennen. Wir pflegen „historisch"gesprochen; und wir werden später zu sagen haben, was wirim Sinne der Form damit meinen das Leben eines Menschenals ein Kontinuum aufzufassen, eine Bewegung, die ununter-brochen von einem Anfang zu einem Ende läuft und bei der sichalles Folgende immer auf ein Vorhergehendes bezieht. Wenndie Vita das Leben eines Heiligen so auffaßte, würde geradedas, was sie bezweckt, nicht erreicht werden. Sie hat dasTätigwerden der Tugend zu realisieren, sie hat zu zeigen, wie

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die Tätigkeit der Tugend durch ein Wunder bestätigt wird.Nicht der Zusammenhang des menschlichen Lebens ist ihrwichtig, nur die Augenblicke sind es, in denen das Gute sichvergegenständlicht.

Die Vita, die Legende überhaupt zerbricht das ,,Histo-rische" in seine Bestandteile, sie erfüllt diese Bestandteile vonsich aus mit dem Werte der Imitabilität und baut sie in einervon dieser bedingten Reihenfolge wieder auf. Die Legendekennt das „Historische" in diesem Sinne überhaupt nicht,sie kennt und erkennt nur Tugend und Wunder. Wo derHeilige kein Mittel ist, Tugend vergegenständlicht zu sehen.wo er nicht als imitabile gewertet werden kann, da ist er ebenkein Heiliger und die sprachliche Form, die ihn als Heiligenvertritt, kann ihn dort schlechterdings nicht fassen.

Wir besitzen Beispiele, daß Heilige natürlich nichtim Bewußtsein ihrer Heiligkeit, sondern menschlich, auto-biographisch ihr eigenes Leben aufgeschrieben haben. Ichverweise auf die Confessiones des heiligen Augustin oderich müßte hier besser sagen, des Kirchenvaters Augustinus.Nirgends erinnern diese Bekenntnisse an eine Legende, in dieActa Sanctorum gehören sie nicht. Andererseits liegen unsHeiligenleben aus einer Zeit vor, in der die Form Legende nichtmehr ganz lebendig war, in der sozusagen auch von kirchlicherSeite her an eine „Vita" historische Anforderungen gestelltwurden. An dieser Stelle kann man das Ringen zweier Formenbeobachten, und man sieht zugleich, daß, sobald von historischerEinstellung her etwas gelockert wird, die Möglichkeit derimitatio aufhört, die Form zerbricht. Es ist eben die Eigenartder historischen Lebensbeschreibung, daß in ihr die Person sieselbst bleibt und uns zwar ein Beispiel sein kann, aber keineMöglichkeit bietet, uns ganz in sich aufzunehmen. Doch wenndie Lebensbeschreibung so verläuft, daß die historische Persön-lichkeit nicht mehr ganz in sich geschlossen ist, wenn sie sieso baut, daß wir geneigt sind, uns in sie hineinzubegeben, wirdsie Legende.

Wir können Ähnliches augenblicklich bei der Figur Fried-richs des Großen beobachten.

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Sprache wäre keine Sprache und sprachliche Form keinesprachliche Form, wenn sich nicht in ihr selbständig vollziehenkönnte, was sich auch im Leben begibt. So ist die sprachlicheForm nicht nur in der Lage, das Leben eines Heiligen in einerentsprechenden Weise zu vertreten, sondern sie bildet auchHeilige.

Ich werde nun, nachdem wir den Prozeß der Heilig-werdung in Leben und sprachlicher Form beobachtet haben,

tiefer stoßen und, vermittelt durch ein Beispiel, dieses Sprache -werden und Sprachesein einer Form, hier der Form Legende,veranschaulichen.

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VI.

Wir lesen in alten Märtyrerakten ungefähr folgendes:Ein Mann stammt aus einer christlichen Familie, die zu

Ende des 3. Jahrhunderts in einem östlichen Bezirk desrömischen Reiches lebt, er tritt in das römische Heer ein,zeichnet sich im Kriege aus und steigt zu den höchsten mili-tärischen Chargen empor. Der Kaiser entschließt sich zu denChristenverfolgungen, seine Umgebung stimmt ihm zu, nurdieser Mann tritt ihm entgegen. Der Kaiser, wutentbrannt,läßt ihn gefangennehmen und auf einem Rade mit scharfenKlingen martern. Eine Stimme aus dem Himmel ruft dem Ge-marterten zu : „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir", und einehimmlische Erscheinung in weißen Kleidern reicht ihm dieHand. Viele bekehren sich, auch manche seiner Kriegs

-kameraden. Er wird von neuem gemartert, neue Wunder ge-schehen. Er wird in den Apollotempel geführt und soll demGotte opfern. Aber er sagt : „Willst du von mir Opfer emp-fangen?" und macht dabei das Zeichen des Kreuzes. Daraufantwortet eine Stimme aus dem Götterbilde : „es gibt keinenGott außer dem Gott, den du verkündigst". Der Märtyrersagt: „wie wagst du es dann, in meiner Anwesenheit zu ver-weilen? Geh und bete den wahrhaftigen Gott an." Dem Mundedes Götzen entfährt ein wildes und jämmerliches Geheul, unddie Bilder zerspringen in Stücke. Der Christ wird von denHeidenpriestern von neuem geschlagen und gemartert, schließ-lich auf Befehl des Kaisers enthauptet.

Es ist nach dem Vorhergehenden deutlich, daß wir hiereinen Bericht über tätige Tugend, Wunder, einen Heiligenvor uns haben. Wir stellen nun zunächst diesem Bericht -der schematisch das, was wir mit geringen Abweichungen inmehreren Märtyrerakten finden, wiedergibt eine kurze Über-sicht des zeitgenössischen Geschehens, aus dem er hervor-

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gegangen ist, und dem er in seiner Weise entspricht, an dieSeite.

Wir befinden uns in der Zeit der diokletianischen Christen-verfolgung. Diokletian, der in der wachsenden Christengemeindeeine Gefahr für seine weitgreifende Reorganisation des Römer

-reichs sieht, entschließt sich im Jahre 303, gedrängt von seinerUmgebung, sehr strenge Strafverordnungen gegen die Anhängerdes Christentums zu erlassen. Christen aber befinden sich inallen Kreisen, auch unter den höchsten Beamten des Heeresund des Hofes; wir wissen, daß der Praepositus Cubiculi Doro

-theus und sein Genosse Gorgonius hingerichtet worden sind.Daß die Mutigen unter den Christen ihm entgegentreten, istselbstverständlich. Der Kirchenhistoriker Eusebius erzählt, wiein Nikomedia, wo die Verfolgung einsetzte, ein höherer Be-amter, dessen Namen er verschweigt, das angeschlagene Ediktmit höhnischen Worten abriß. Es folgen Gefangennahmen,Folterungen, Hinrichtungen in allen Teilen des Reiches, siewerden unter Diokletians Nachfolgern, unter Galerius undMaximinus Daja, fortgesetzt. Kirchen werden niedergebrannt,kirchliches Eigentum wird eingezogen. Tausende fallen ab,viele bleiben treu. Aber noch vor dem Tode des Diokletian.der sich 305 von der Regierung zurückzieht, greift Konstantinein, im Jahre 313 kommt das Duldungsedikt von Mailand; 325ist das Konzil von Nicäa schon im Gange. Das Christentumhat gesiegt, die römischen Staatsreligionen sind im Ver

-schwinden.Beobachten wir weiter, in welcher besonderen Weise unser

Bericht aus diesem Geschehen hervorgegangen ist, in welcherbesonderen Weise er diesem Geschehen, diesen Vorgängen,diesen Tatsachen entspricht, damit wir daraus ersehen, daß das,was wir mit einem neutralen Wort Bericht nannten, in Wirk-lichkeit L e g e n d e heißen muß.

Die vielfältige Erscheinung, daß Christen verfolgt, ge-fangen, gemartert werden, soll zusammenfassend gekenn-zeichnet und ausgedrückt, auf einen gemeinsamen Nennergebracht werden, -er heißt: ein Rad mit scharfenK 1 i in g e n; der sich durch alle Kreise und Stände ziehendeGegensatz zwischen der Vielheit der römischen Staats-

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religionen zu der einheitlichen neuen Religion heißt : d e rMärtyrer wird in den Tempel mit den vielenGötzenbildern geführt ; der Widerstand des Christenheißt: er redet die falschen Götter an, sie ant-worten und unterwerfen sich ihm; die Nutzlosigkeitder Verfolgungen und der Sieg des Christentums heißen : d i eGötzenbilder zerspringen; wenn derChrist dieVer-folgung und die Folter übersteht, heißt es: eine himmlischeStimme ruft ihm zu oder: eine himmlische Er-scheinung in weißem Gewande reicht ihm dieHand...

Es ist als ob sich die Vielheit und Mannigfaltigkeitdes Geschehens verdichte und gestalte, als ob gleichartigeErscheinungen zusammengewirbelt und in dem Wirbel um-griffen würden, so, daß sie in einen Begriff eingehen, einen Be-griff darstellen. Wenn man sagt : Ein Rad mit scharfen Klingen-- so ist nicht ganz einzusehen, wie man einen Menschen damitmartern soll, aber es ist unmöglich, den Begriff sämtlicher see-lischen und körperlichen Foltern besser zu fassen als durchein Rad mit scharfen Klingen. Wieviel liegt nichtin einem Gott, der zerspringt!

Was aber geschieht in diesem Prozeß der Umsetzung?Was teilt hier Geschehen in irgendwie letzte, nicht weiter teil-bare Einheiten und schwängert diese Einheiten, was greift aus-wählend in das Geschehen hinein und legt dieses Geschehen inBegriffe fest? Es ist die Sprache ; dieses R a d mit scharfenKlingen, dieser Gott, der zerspringt, sind sprach

-liche Bildungen, sprachliche Gebilde. Ein Vorgang spielt siehab, bei dem die zwei sprachlichen Funktionen : das Ruf-etwas - hinweisen und das Etwas- darstellen miteinander ver-einigt sind. Ein plötzliches Zusammenkommen und ein voll-kommenes Ineinanderaufgehen von M e i n e n und B e d e u t e nfindet statt.

Damit wiederholt sich auf einer zweiten Stufe ein Vor-gang, der sich schon einmal vollzogen hat, als sich die Sprachea n s i c h bildete. Hier erhartet die Sprache mit den Einheitendes Geschehens sich selbst in einer ersten litterarischen Form.Es wird hier zum zweiten Male etwas geboren, was auf einer

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dritten Stufe wiederum geboren werden wird, wenn durcheinen einmaligen, nicht wiederholbaren Vorgang die Form ineinem Kunstwerk, in einem Gebilde des Künstlers, sich nocheinmal verdichtet und so endgültig erfüllt wird.

wo also unter Herrschaft einer Geistesbeschäftigung dieVielheit und Mannigfaltigkeit des Seins und des Geschehens sichverdichtet und gestaltet, wo dieses von der Sprache in seinenletzten, nicht teilbaren Einheiten ergriffen, in sprachlichen Ge-bilden wiederum Sein und Geschehen zugleich meint und be-deutet, da reden wir von der Entstehung der E i n fa c h e nForm.

Es ist nicht leicht, diese Gebilde nun, die wir bis jetztEinheiten des Geschehens genannt haben, und die von derSprache erfaßt wurden, zu benennen. In einer verschwommenenTerminologie pflegt die Litteraturgeschichte da, wo sie, ohnesie vollständig zu begreifen, diese Dinge berührt, von „Motiven"zu reden. Sie pflegt aber auch stoffgeschichtliche Gegeben -heiten oder berèits dem Kunstwerk in irgendwelchem Komplex„präformierten" Stoff damit zu meinen. Motiv ist ein gefähr-liches Wort. Motiv heißt doch wohl zunächst Beweggrund,Bestimmungsgrund, etwas, was ein anderes auslöst. In diesemletzten Sinne könnte man zur Not das Wort hier. gebrauchen.Unsere Gebilde lösen gewiß etwas aus, insoweit das Geschehendurch sie von einer Geistesbeschäftigung aus vorstellbar wird.Aber das ist doch nicht ihr erster, ihr tiefster Sinn. Man istauf diesen Ausdruck durch die Musik gekommen, wo Motiv „dasletzte charakteristische Glied" eines Kunstgebildes bezeichnet.Und es war Scherer, der es zuerst in dieser Bedeutung in seinerPoetik benutzte. Aber auch so können wir es hier nicht nehmen.Nietzsche definiert das musikalische Motiv als „die einzelneGebärde des musikalischen Affekts". In der Tat., e i n e e i n -z e 1 n e G e b ä r d e der Sprache ist das, was wir bis jetzt dasin Begriffe gefaßte Geschehen, die geladenen Einheiten ge-nannt haben.

Wir werden das Wort sprachliche Einzelgebärde, oderkurz S p r a c h g e b ä r d e, weiterhin in diesem Sinne ge-brauchen.

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In unserem Beispiel sind die sprachlichen Einzelgebärden:Rad mit scharfen Klingen, himmlische Stimme, eine Er-scheinung im weißen Kleide, die hilfreich die Hand ausstreckt,Götter, die angeredet werden, sich dem Zeichen des Kreuzesunterwerfen, Götterbilder, die zerspringen und so weiter.

Diese Sprachgebärden geben indessen, so wie sie hierin ihrer Gesamtheit vorliegen, noch keinen bestimmten Hei-ligen, sondern erst einmal irgendeinen frommen Christen zurZeit einer Verfolgung, einen heiligen Märtyrer i m all -g e m e i n e n, und so sehen wir in einer Anzahl Märtyrer-akten die gleichen sprachlichen Gebärden in der gleichenWeise wiederkehren. Sie sind nun aber dabei so gelagert,daß sie jeden Augenblick bestimmt gerichtet und gebundenwerden können, so daß sie eine g e g e n w ä r t i g e Bedeut-samkeit erlangen. In unserem Falle springt sozusagen aus denGebärden, zu denen sich das Geschehen zur Zeit der diokle-tianischen Christenverfolgungen verdichtete, nicht ein hei -liger Märtyrer, sondern der heilige Georg heraus;das heißt, die Gebärden richten sich so, daß sie in ihrerGesamtheit gegenwärtig werden in einer Einzelperson, daßsie in ihrer Vergegenwärtigung einen besonderen Heiligenschaffen.

Das zeigt uns, daß eine Form in doppelter Weise vorliegt,wobei sich die eine zur anderen ungefähr so verhält, wie einSchachproblem zu seiner Lösung. In dem Problem ist eine Mög-lichkeit gegeben und enthalten, in der Lösung ist diese Mög-lichkeit durch ein bestimmtes Geschehen verwirklicht. Waswir L e g e n d e genannt haben, ist zunächst nichts anderes alsdie bestimmte Lagerung der Gebärden in einem Felde. Waswir ausnahmsweise haben wir dafür ein eigenes Wort dieHeiligen v i t a des heiligen Georg nennen, ist die Verwirklichungder in der Legende gegebenen und enthaltenen Möglichkeit.Wenn man sich einer scholastischen Terminologie bedient, sokann man sagen, daß das, was in der Legende p o t e n t i a lit e rvorliegt, in der Vita a c t u alit e r gegeben wird. Wir verdeut-lichen das Verhältnis der beiden Weisen, in denen wir die Formwahrnehmen können, wenn wir sie einen Augenblick in dasLeben übertragen: von einer gewissen Geistesbeschäftigung

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aus m u ß t e aus dem Vorgehen Diokietians den Christen gegen-über L e g e n d e entstehen; wo sich diese Legende entwedermit einer entsprechenden Persönlichkeit im Leben verband, odervon sich aus eine solche Persönlichkeit schuf, da wurde siedie V i t a dieser besonderen Person.

Wir werden auch bei den anderen Formen sehen, wie not-wendig es ist, diese zwei Weisen zu unterscheiden. Ich nenne dieerste Einfache Form, die zweite Aktuelle oder Gegen -w ä r t i g e Einfache Form. Und ich wiederhole noch

einmal, daß ich dort von einer E i n f a c h e n F o r m rede, wosprachliche Gebärden in denen sich einerseits Lebensvorgängeunter der Herrschaft einer Geistesbeschäftigung in einer be-stimmten Weise verdichtet haben und die andererseits volldieser Geistesbeschäftigung aus Lebensvorgänge erzeugen,schaffen, bedeuten so gelagert sind, daß sie jeden Augen -blick besonders gerichtet und gegenwärtig bedeutsam werdenkönnen. In diesem Fall, wo sie besonders gerichtet und gegen

-wärtig bedeutsam geworden ist, ist sie eine A k t u e 11 e oderGegenwärtige Einfache Form. Legende ist Ein-fache Form; eine Legende, oder wie wir sagen, die Vita desheiligen Georg, ist Gegenwärtige Einfache Form.

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VII.

Wenden wir uns nun diesem besonderen Einzelheiligen,diesem Hei 1 i g e n Georg , über dessen „historische"Existenz nichts bekannt ist, zu.

Von der Geistesbeschäftigung aus, die wir imitatio ge-nannt haben, hatten sich die sprachlichen Gebärden aus denLebensvorgängen heraus verdichtet : dabei war jede von ihnenso gelagert, daß man folgen, in sie eintreten und aufgenommenwerden konnte. In ihrer Gesamtheit waren sie so gerichtet,daß sie durch die Verbindung mit einer Persönlichkeit gegen-wärtig, aktuell wurden. Dabei ist es gleichgültig, ob sie einebestimmte Person aus dem Leben meinten, oder ob durch sieeine bestimmte Person geschaffen wurde. Fest steht, daß diePerson, die entstand, alle Menschen, die sich in einer solchenLage befunden hatten, meinte und bedeutete und daß diesePerson die Möglichkeit gab, ihr zu folgen; daß sie einimitabile war.

So entstand und so wuchs der Soldat als Christ, der Christals Soldat, der Christenritter Sankt Georg. Überall, wo diebeiden Begriffe Krieger und Christ, die Pflicht der Tapferkeit unddie Pflicht des Glaubens, sich in irgendeiner Weise zusammenzeigen, ist dieser Heilige da, steht er vor uns, nachahmenswert,unnachahmbar kurz, als eine Figur, die dem imitativen Be-dürfnis vollkommen entspricht. So tritt er seinen Weg von derSpätantike ins Abendland an. Konstantin baut ihm als erster eineKirche. Und als kaum zwei Jahrhunderte nach Diokletian inFrankreich Kampf und Katholizismus sich verbinden, da er-scheint der streitbare Jüngling. Clotilde, die katholische Bur-gunderin, veranlaßt ihren Gemahl, den christgewordenen Chlod-wig, seinen Kult einzuführen. Er kommt persönlich, das heißtseine Reliquien werden aus dem Orient nach Paris über-ge "hrt nun ist er da und es ist, als ob die Kirchen ausPalästina und Byzanz mit ihm herüberwandern.

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Langsam verändert sich zu Ende des Jahrtausends und zuAnfang des neuen seine Gestalt, verändern sich seine Aufgaben,er bekommt ein neues Gepräge. Das Verhältnis der Pflicht desSoldaten zur Christenpflicht hat sich gewandelt. Aus demKrieger, der sich, wo es gilt, als Bekenner aufzutreten, leidenddem Henker überliefert, wird ein Streiter, der den Glaubenverteidigt, die Feinde seines Glaubens tätlich angreift, sie be-siegt. St. Georg ist nicht länger Märtyrer, er wird Drachen-töter und Befreier der Jungfrau.

Wir müßten, um dies ganz zu erklären, hier neben dieBerichte der Märtyrerakten, die wir schematisch darstellten,die übrige litterarische Überlieferung über den heiligen Georgstellen. Sie ist weitverbreitet und ausgedehnt; Krumbacherhat sie zuletzt in einer aus seinem Nachlaß herausgegebenen

Abhandlung, Der heilige Georg in der griechischen Über-lieferung (München 1911), zusammengestellt. Das würde unsso reizvoll es an sich wäre zu weit führen. Nur das Wich

-tigste dieser merkwürdigen Erscheinung können wir andeuten.Schon früh muß sich der heilige Märtyrer, der auf der Grenzedes Altertums als miles christianus aus dem Geschehen derZeit Diokletians hervorging, verbunden haben mit Gestalten,die aus der Antike von einer neuen Zeit in ihrer Weise über-nommen wurden. Nicht weit von der Stadt Lydda (griechischDiospolis in Judäa) mit der man schon früh Georgios in Ver-bindung gebracht hatte es heißt, daß er, nachdem er inKappadokien geboren war, dort von seiner Mutter erzogenwurde liegt an der Küste Joppe. Und in diesem Joppehatte nach griechischer Überlieferung der Heros Perseus einmenschenverschlingendes Meerungeheuer erlegt und die Jung-frau Andromeda befreit. Unser Märtyrer scheint nun -manches in der Überlieferung weist darauf hin mit vielemanderen auch den Charakter des Heros Perseus, wie er sichin der Spätantike umgebildet hatte, in sich aufgesogen zuhaben. Der heilige Georg, der sich in der Zeit der Ver

-folkungen neu verwirklichte, war zu gleicher Zeit Fortsetzerund Vertreter aemulus und imago einer älteren Figur.Als solcher war er nun nicht mehr ein standhaft leidender,sondern auch ein tätig befreiender Held. Im Abendlande hat

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er sozusagen von dieser tätig befreienden Fähigkeit langekeinen Gebrauch gemacht. Erst als es ihn als Ritter, als christ-lichen Kämpen braucht, verrät er sein streitbares Vermögen;es kehrt, von ihm vertreten, in ihm neu verwirklicht, jene ältereFigur zurück ; er zeigt, wie auch diese Rittertugend in ihm tätigwird: er erlegt den Drachen, er befreit die Jung-fr au zwei sprachliche Gebärden, die sich aus neuem Geschehenzur Zeit der beginnendeD Kreuzzüge von neuem verdichten.

Bald nach 1000 setzt diese Umprägung ein; in der Legendeoder in der Vita, wie sie Jacobus de Voragine gibt, hat sie sichbereits vollzogen.

Nun reitet er den Kreuzfahrern voran, trägt ihre Fahne.Er erscheint Richard Löwenherz, wie die antiken Götter denHelden in der Schlacht erschienen sind. Er ist der Retter derRitter, der Patron im heiligen Kriege ; wo es zum Streite geht,ruft man ihn an und er gewährt den Sieg. Nicht weniger alsdreizehn ritterliche Orden stellen sich in seine Obhut, wählenihn als Vorgänger. Die bekanntesten sind wohl der bayrischeGeorgsorden und der englische Hosenbandorden (Edward III.1350). So wird er im Hundertjährigen Kriege Landespatrondes streitbaren Old England und der Kriegsruf heißt : Englandand St. George!

Alles dies wollen wir zusammen noch einmal L e g e n d enennen. Es ist ein sprachlicher, ein litterarischer Vorgang.Benennend, erzeugend, schaffend, deutend bildet die Spracheunter der Herrschaft einer Geistesbeschäftigung eine Gestalt,die, aus dem Leben hervorgegangen, überall in das Leben ein

-greift. Sie braucht dazu kein Kunstwerk : nirgends hat durcheinen einmaligen, nicht wiederholbaren Vorgang die Form sichnoch einmal in dem Gebilde eines Künstlers verdichtet, wir be-sitzen kein Epos des heiligen Georg. Und dennoch ist er da,wir können ihn abbilden; und wenn wir sein Bildnis sehen, indem nunmehr die sprachliche Gebärde zum A t t r i b u t ver

-gegenständlicht ist, und wo er mit Rad, Drache, Fahne undPferd dargestellt wird, erkennen wir ihn wieder, und er ist uns,soweit wir ihn brauchen, ein imitabile, eine Person, die unskonkret zum Bewußtsein bringt, was wir in einem bestimmtenLebensvorgang erfahren möchten und zu tun haben.

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VIII.

Wir haben den Werdegang der Form, die sich aus derGeistesbeschäftigung imitatio ergibt und die wir Legendenennen, in dem Kreise beobachtet, in dem sie ganz zu sich ge-,

kommen, in dem sie weltbeherrschend ist. Wir müssen sie jetztzur Vollständigkeit noch einmal an anderen Stellen beobachten,wo sie weniger deutlich erkennbar ist, wo sie in einer gewissenVerdünnung vorliegt. Wir wenden uns jetzt der Legende inihrer größeren Verallgemeinerung zu.

Ehe wir das aber tun, möchte ich so etwas wie eine Gegen-probe machen.

Als wir den Kanonisationsprozeß besprachen, haben wirgesehen, daß die tätige Tugend ein Begriff ist, der durch einenGegenbegriff bedingt und ergänzt wird. Der Tugend entgegen-gesetzt ist das Verbrechen, und die Art, wie die Tugend fest

-gestellt wurde, kam der Art, wie ein Verbrechen festgestelltwurde, gleich.

Wenn nun in der Geistesbeschäftigung der imitatio derHeilige eine Gestalt ist, in der die Tugend meßbar, greifbar,faßbar wird, die uns zum Bewußtsein bringt, was wir auf demWege der Tugend tun, erfahren und sein möchten, und die unssachlich als Maßstab die Möglichkeit gibt, ihr zu folgen, somuß es andererseits in derselben Form Gestalten geben, indenen das Verbrechen meßbar, greifbar, faßbar wird und indenen sich das Böse, das strafbare Unrecht, in derselben Weisevergegenständlicht. Dem Nachahmenswerten, Unnachahmbarenmuß sich eine Figur gegenüberstellen lassen, der wir unterkeiner Bedingung folgen sollen, die, uns das konkrete Bewußt-sein dessen gibt, was wir nicht nachahmen dürfen. Dem Hei-ligen muß ein Unheiliger, der Legende eine Antilegende gegen-über stehen.

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52 LEGENDE

Gibt es solche unheiligen Gegenfüßler? Es ist klar, daßder gewöhnliche Verbrecher hier nicht ausreicht, er ist ebenso-wenig ein Unheiliger, wie der im allgemeinen Sinne Tugend

-hafte ein Heiliger ist; wir müssen ihn vor uns sehen wie denheiligen Georg.

Man könnte zunächst, um mit dem Höchsten anzufangen,auf den Antichrist hinweisen, dieser Antichrist ist aber ur-sprünglich eine Gestalt, die einer anderen Form angehört ; ervertritt das Böse nicht in der Weise, wie wir es hier betrachtethaben, nicht als strafbares Unrecht, nicht als das Nicht-Nachahmenswerte. Nur in der Zeit, da Christus zum höchstenHeiligen, zum endgültigen imitabile, wird, bekommt der Anti-christ Züge des Unheiligen, allerdings werden sie wenig aus

-geprägt.Aber daneben stehen andere Figuren.Christus trägt das Kreuz und will ermüdet vor der Tür

eines Schusters ausruhen. Da stößt ihn der Schuster weg:,,Geh!" Der Heiland erwidert: „Von nun an sollst du rastlosgehen." Lind es geschieht. Von nun an wandert der Schustervon Land zu Land, ohne Aufhören, ohne Ruhe, auch die Ruhedes Todes, die requies aeterna, um die man Gott bittet, ist ihmversagt. Wo er kommt, verkündet er Unheil.

Wir haben hier in jeder Hinsicht ein Gegenstück zurLegende.

Der Lebensvorgang, daß viele die neue Lehre annehmenkonnten und sie dennoch abwiesen, verdichtet sich zu einersprachlichen Gebärde. Sie heißt : der vom Kreuze e r -müdete Heiland will ruhen, der Jude spricht:G e h ! Daß hier das strafbare Unrecht tätig wird, daß es sichin diesem jüdischen Schuster vergegenständlicht, wird durchein Wunder quid a deo fit praeter causas nobis notas be-stätigt. Kein Wunder wäre es gewesen, wenn dieser Mann wieandere Sünder, wie sogar Judas selbst, für sein Unrecht in derHölle hätte büßen müssen; Wunder ist, daß er nicht stirbt,daß er ewig lebend, allen sichtbar umherwandelt. Wie imKanonisationsprozeß wird dieses Wunder durch Zeugen er-härtet : hier hat man ihn gesehen, dort ist er gewesen, dieserhat ihn gesprochen, jener von ihm gehört. Wie in dem Heiligen

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LEGENDE 53

die tätige Tugend heilbringende Macht wird, so wird in demewigen Juden das strafbare Unrecht unheilbringende Macht;natürlich keine Macht, um die man ihn anruft, oder auch keineMacht, die er wie der Heilige gewährt, aber doch eine Macht:wo er erscheint, da kommen Pest, Krieg und Unheil.

Die Haltung jener Gelehrten, jener Humanisten, die ingierigem Wissensdurst und überheblichem Wissensstolz alles zuergründen suchen, auch das Unergründliche, und die man inVerdacht hat, von der christlichen Demut und der Unter

-würfigkeit unter Gottes Ratschlüsse abgewichen zu sein, ver-dichtet sich zur Gestalt des Doktor Faust und aktualisiert sichmit der sprachlichen Gebärde: B ii n d. n i s, P a k t m i t d e mT e u f e 1. Dieser Teufel ist zwar der Vertreter des Bösen, dasBöse selbst, aber nicht er gibt uns die Vergegenständlichungdes strafbaren Unrechts, nicht er ist die Verwirklichung desnicht Nachzuahmenden; im Gegenteil, wir geben ihm in ge

-wissem Sinne recht. Dafür ist er eben der Versucher. derTeufel. Aber Faust ist der Anti-Heilige, der Unheilbringer,dessen Zaubergeld sich in Dreck verwandelt, der weitere um-gekehrte Wunder verrichtet, den Dutzende von Menschen ge-sehen und gesprochen haben, und der schließlich nicht stirbtwie andere, sondern den der Teufel eigenhändig holt.

Und so könnten wir einen Kalender der großen Unheiligen,zu denen in früherer Zeit Simon Magus, später Robert derTeufel, Ahasver, Faust, der fliegende Holländer, Don Juan, derGraf von Luxemburg usw. gehören, zusammenstellen. Auch siesind da, auch sie stehen vor uns wie der heilige Georg vor denKreuzfahrern, nur daß die imitatio hier in ihr Gegenteil um-gewandelt ist; alle sind sie bezeugt, bei allen sind die Gegen

-wunder örtlich festgelegt.Und neben den Großen stehen die Kleinen. Wie der Hei-

lige erst in einem kleinen Kreise auftritt, so kann auch der Un-heilige in einem kleinen Kreise auftreten und bleiben. In

einem Verbrecher kann das Verbrechen von einem gewissenPunkte an als tätiges Unrecht vergegenständlicht, von ihm los

-gelöst und doch wieder mit ihm verbunden werden. Dann ver-dichtet sich seine Gestalt, dann ergreift ihn die sprachlicheGebärde, dann bleibt, auch nachdem er als Individuum seine

4

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54 LEGENDE

Strafe verbüßt, nachdem er hingerichtet worden ist, das inihm tätig gewordene Unrecht, das Verbrechen, in seiner Personlebendig. Er ist nicht mehr da, und er ist doch da: er geht um,er spukt ; er bringt Unheil, er ist örtlich gebunden an die Stelleseines Verbrechens. Man vermeidet diese Orte eine regel-rechte Umkehrung der Pilgerfahrt. Er bekommt seine Reli-quien, den Stein, wo er gemordet hat, das Rad, mit dem ergerädert, die Werkzeuge überhaupt, mit denen er hingerichtetworden ist. - Sein Gefängnis, seine Zelle wird nach ihm ge-nannt, wie die Kirche nach dem Heiligen.

Strafe selbst ist in der Geistesbeschäftigung der um-gekehrten imitatio in vieler Hinsicht ein umgekehrtes Wunder.Galgen, Rad und Richtschwert sind Bestätigungen, daß Un-recht tätig geworden ist, daß es sich in einem Unheiligenvergegenständlicht hat. Deshalb wird bei einer Hinrichtungnicht an erster Stelle der Verbrecher getroffen, sondern dasVerbrechen, das auch hier von dem Individuum, das es beging,losgelöst denkbar ist und gedacht wurde.

Wir müssen das im Auge behalten, wenn wir eine Reihegrausamer, immer mehr oder weniger sinnbildlicher Strafenoder Opferstrafen aus dem Mittelalter und auch die Menge, diebei ihrer Vollziehung zusah, verstehen wollen. Für unser heu-tiges Empfinden treffen sie eine Person und werden als Hand-lungen von Menschen einem Menschen gegenüber gewertet.Deswegen finden wir sie grausam. In der Welt der imitatiosind weder die Bestraften noch die Strafenden in diesem Sinne„Mensch" ; in dem Bestraften hat sich Unrecht vergegenständ-licht zu Verbrechen daß dies geschehen ist, wird in derStrafe bestätigt, wie wir sagten: durch eine Umkehrung desWunders. In einer Zeit, die sich mit dem Begriff Todesstrafebeschäftigt, ist es nicht überflüssig darauf hinzuweisen.

Es gibt nur wenige Stellen, wo wir nicht jetzt noch dieSpuren solcher Ortsunheiligen finden können, und immer undüberall gehören sie zur Legende, sind sie aus dieser Geistes-beschäftigung geboren, bringen sie uns von dieser Geistes

-beschäftigung aus das zum Bewußtsein, was wir in einembestimmten Lebensvorgang nicht tun sollen, nicht erfahrenmöchten.

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LEGENDE 55

Die katholische Kirche hat weder für die großen noch fürdie kleinen Unheiligen ein Verfahren angeordnet, das demKanonisationsprozeß entspräche. Die Unheiligsprechung voll-zog sich unbehördlich in der Gemeinschaft durch die Sprache,die meist zu Legenden führte, sehr selten zu Viten. Und woes doch eine Vita gab, da hat sie oft die Gestalten abgewandelt,so daß sie wohl noch innerhalb der Geistesbeschäftigungimitatio blieben, aber ein anderes Vorzeichen bekamen.

Auch die Heiligenvita kennt solche Abwandlungen. Es istkeine Seltenheit, daß ein Heiliger sein Leben als Unheiligeranfängt, ja es ist fast das deutlichste Zeichen, daß Tugenddurch Gottes Gnade tätig wird, daß man erst Vater und Mutterermorden oder in Blutschande leben und dennoch wie Gregoriusseine Tage als Heiliger beschließen kann. Vielleicht stehengerade solche Heilige dem gewöhnlichen Sterblichen amnächsten.

Wo die Vita eines Unheiligen auftritt, bringt sie in etwasanderem Sinne manchmal eine ähnliche Wandlung hervorRinaldo Rinaldini, Fra Diavolo, Schinderhannes verlieren ihrenunheilvollen Charakter und vergegenständlichen keineswegsmehr ein Verbrechen.

Das Gleiche kann auch geschehen, wenn in einem Kunst-werk eine solche Figur noch einmal erfüllt wird: aus Faustwird Faust II.

Das zeigt uns, daß die Einfache Form dort, wo sie gegen-wärtig wird, schon etwas von ihrer Wesenheit einbüßt. Metho-

disch, bei der Bestimmung litterarischer Formen, bedeutet das,sie möglichst dort zu fassen, wo sie nicht schon in der Fixierungeine Richtung bekommen haben, sondern wo sie ganz sie selbst,Einfache Formen sind.

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IX.

Leider ist das nun aber nicht immer möglich. Wir wissen,daß in unserer eigenen Zeit die Geistesbeschäftigung, aus dersich die Legende ergibt, sich ganz anders als im Mittelalterzeigt, daß sie keineswegs allgemein herrscht, daß die Welt derLegende nur einen sehr kleinen Teil unserer eigenen Weltbildet. Wir können sogar die Zeit angeben, da sie ihre all-gemeine Gültigkeit verliert ; dieser Zeitpunkt fällt mit demEnde des Mittelalters zusammen. In allen jenen Erscheinungen,die wir Reformationen und Reformation nennen, hat die Legendeihre Kraft eingebüßt, eine andere Form ist mächtig geworden.In Luthers Schmalkaldischen Artikeln gehören die Heiligenzu den „antichristlichen Mißbräuchen", der wahre Christ istfür Luther ein Heiliger, und einen Stand besonderer Heroen derTugend gibt es für ihn nicht. Das bedeutet, daß er sich Tugendnicht mehr in dieser Weise in ihrer Tätigkeit vergegenständ-licht vorstellt, nicht mehr im Wunder bestätigt sieht, sie nichtmehr als Macht einzelner himmlischer Persönlichkeiten an-erkennt. Und in Luthers Meinung liegt die Meinung des ganzenKreises, den er vertritt, beschlossen. Die alleinige MittlerschaftChristi und die im Glauben an Christus gewonnene Heilsgewiß-heit bedeuten das Schwinden jener Welt, in der Heilige, Wun-der, Reliquie ihren Platz hatten.

Es ist nicht gesagt, daß damit die Geistesbeschäftigungder imitatio vollkommen beseitigt ist, nur das Schwergewichtwird anderswohin verlegt. Was maßgebend war, wird unter

-geordnet. Daß dies auch für die Kreise gilt, die nicht zurReformation gehören, beweist uns die Tatsa.d l)e. daß auch dieHaltung des Tridentiner Konzils den Heiligen gegenüber anders,zögernder, vorsichtiger ist; gerade deshalb aber wird wiewir gesehen haben das Verfahren der Canonisatio in dieserZeit formelhaft festgelegt. Der Grund dafür ist nicht in einer

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LEGENDE 57

Angst vor der Kritik der Reformation zu suchen, sondern auchim Katholizismus ist die Geistesbeschäftigung der imitatioweniger wirksam, andere Formen werden herrschend. Daßaber dennoch die imitatio und ihr Widerspiel ihre Tätigkeitnicht einstellen, sehen wir sowohl an der unentwegt fort-dauernden Heiligenverehrung in anderen katholischen Kreisen,wie auch am Entstehen der vielen Antilegenden, die zum großenTeil aus reformatorischen Kreisen hervorgehen.

In Zeiten, wo die imitatio nicht mehr in der Weise herrschtwie im Mittelalter, müssen wir oft durch ein Kunstwerk, öfterauf dem Wege vieler und verdünnter Vergegenwärtigungenzu den Einfachen Formen durchzudringen suchen.

Die Zeit für eine vollständige Darstellung der Legende inallen Zeiten ist noch nicht gekommen. Das ist an dieser Stelleauch nicht meine Aufgabe.

Nur das, was in der Antike und in unserer eigenen ZeitLegende ist, soll noch an einigen Punkten untersucht werden.

Die Siegeslieder Pindars sind alle nach dem gleichenSchema gebaut. Sie setzen ein mit einem Hinweis auf den An-laß, den errungenen Sieg, führen über in eine Götter- oderHeldenerzählung und kommen zuletzt wieder auf den Siegzurück. In der Regel nennt man diese eingeschobene Erzählungden Mythus.

So beginnt, um das berühmteste Beispiel zu erwähnen, der1. Olympische Siegesgesang, der in dem Kanon der PindarischenGedichte allen anderen gleichsam als Vorbild vorangesetzt ist,mit einem Lob der Olympischen Spiele überhaupt und gehtdann über zu dem eigentlichen Anlaß, dem Sieg des RossesPherenikos, das Hieron, dem König von Syrakus, gehört, demSieg des Hieron. Aber dann fängt der Dichter plötzlich an,die Geschichte des Heroen Pelops zu erzählen, des Gründersvon Olympia, den Poseidon liebte. Bevor diese Geschichteausgeführt wird, unterbricht sich Pindar und spricht vonTantalus, dem Vater des Pelops, der die Götter nicht geehrtund der ihre Geschenke mißbraucht hat. Er erzählt, wie ihndie Götter bestraft haben. Danach kommt er auf Pelops zurückund berichtet, wie ihm Poseidon geholfen hat bei seiner Wer

-bung um Hippodameia, wie er von dem Gott einen goldenen

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Wagen und geflügelte Rosse erhielt und damit den Sieg unddie Braut gewann. Das führt ihn wieder auf die OlympischenSiege und ihre Bedeutung, an die er die Würdigung des Wagen-siegs Hierons anknüpft.

Dieser Aufbau gilt, wie wir gesagt haben, für alleEpinikien. Und darüber hinaus. Dornseiff hat in einem Vor-trag : Litterarische Verwendungen des Beispiels (Vorträge derBibliothek Warburg 1924/25), auf den wir noch zurückkommenwerden, gesagt, daß alle „von Chören gesungenen Kultgedichte,mögen sie nun Paiane, Dithyramben, Epinikien, Hymnen,Parthenien, Proshodien heißen", diesen Hauptteil mit Er-zählung enthalten; er nennt diese Kultgedichte geradezu „eineArt Mischung von Kantate und Ballade".

Was bedeuten nun dieser Tantalus, der den Göttern feindist, und jener Pelops, dem die Götter helfen, in diesem Zu-sammenhang? Sind sie nicht auch Personen, die uns bei einemLebensvorgang zum Bewußtsein bringen, was wir tun und unter-lassen sollen, was wir erfahren und nicht erfahren möchten,denen wir also folgen und die uns aufnehmen können, oder um-gekehrt? Vergegenständlicht sich in ihnen nicht etwas so, daßes zur Macht wird und daß sie es ihrerseits gewähren? Meintund bedeutet nicht zugleich der Wagensieg des Pelops denWagensieg selber und jeden folgenden Wagensieg, und sindnicht aí9^Qoc xevs€og und tri e o"cace dxá4uavvec iivitot — dergoldene Wagen und die geflügelten Pferde die aus einerbestimmten Geistesbeschäftigung verdichteten sprachlichenGebärden? Steht innerhalb des Kultfestes, das dem Sieg folgte,die Gestalt des Pelops nicht in derselben Weise, wie in demtäglichen Kult des Katholizismus der Heilige? Haben wir inPelops und Tantalus nicht Heiligen und Antiheiligen und indiesem Hauptteil des Kultliedes nicht Legende und Anti -1 e g e n d e? Wenn das alles der Fall ist, so wollen wir liebernicht mehr diesen Teil „Mythus" oder „mythische Erzählung"nennen, wir wollen ihn hineinsetzen in die Welt, in die er ge-hört, in die Welt der imitatio.

Dornseiff hat erkannt, daß sich dieser „Hauptteil" nichtauf griechische Kultgedichte beschränkt, daß sich weit darüber

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hinaus in Kuitgedichten der Ägypter, Babylonier, Inder, derGermanen und vieler Naturvölker ähnliche Teile finden.

Wenn wir im zweiten Merseburger Zauberspruch, derdazu dient, ein lahmes Pferd zu heilen, hören, wie zuerst Pholund Wodan in den Wald reiten, wie sich dann das Füllen deseinen den Fuß verrenkt und danach verschiedene Göttinnenmit Wodan zusammen durch Zauberspruch das Pferd heilen,und wie nun damit da liegt der Übergang in derselbenWeise das beliebige Pferd jedes beliebigen Mannes geheiltwerden kann, so befinden wir uns zweifellos in der Welt derimitatio, so sind Phol und Wodan hier Heilige und so ist ihreGeschichte Legende. Das Gleiche gilt für den ägyptischenArzt, der, wenn er einen Schlangenbiß zu heilen hat, damit an-fängt, zu erzählen, wie der Gott Re von einer Schlange ge-bissen wurde. Mit Recht haben die Assyriologen solcheBeschwörungsanfänge mit dem Namen B e g r ii n d u n g s -l egende belegt.

Wenn Virgil sein Epos beginnt „arma virumque cano",dann die Verbindung des trojanischen Helden mit römischemGeschehen dichtet und seine Einleitung mit „tantae molis eratromanam condere gentem" abschließt, so können wir auch hierdurch eine ausgesprochene Kunstform hindurch noch Legendesehen.

Aber eine Geschichte der Legende muß noch ge-schrieben werden.

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X.

Und wie steht es mit der Legende in unserer eigenen Zeit?Die Geistesbeschäftigung der imitatio ist bei uns gewiß nicht

sehr tätig, nicht sehr lebendig ; wo wir die Legende sehen, istsie meist ein traditioneller Überrest aus anderen Zeiten. Unddennoch erinnern wir uns noch einmal an das griechischeSiegesfest, und überlegen wir uns, wie wir die Sieger unsererZeit sehen, ich meine die Sieger im Sport. Was bedeuten unsRademacher und Peltzer, Nurmi, Suzanne Lenglen, Tilden,Tunney, Dempsey, Schmeling, Vierkötter, Ederle ...?

Persönlich sind sie uns gleichgültig, aber sie vertretenetwas, was uns erreichenswert und nachahmenswert erscheint.Nicht Tugend vergegenständlicht sich in ihnen, aber eine Kraftwird in ihnen tätig, in die wir unsere eigene Kraft über-tragen, die uns aufnimmt ; sie sind imitabile. Und diese tätigeKraft wird wieder meßbar in einer Bestätigung, die wirR e k o r d nennen ein merkwürdiges Wort, das sich erst seitden achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu dieser Bedeutungentwickelt hat. Recordari bedeutet sich erinnern, und das eng-lische record ist etwas, was uns an etwas erinnert oder woranwir uns erinnern. Records of the Past sind das, was uns aus derVergangenheit bleibt und was uns die Vergangenheit zurück

-bringt. Unser R e k o r d aber ist nach dem Oxford-Wörter-buch ,,a performance or occurrence remarkable among, or goingbeyond, others of the same kind" eine Definition, die sichfast schon in der Richtung des Wunders bewegt.

Rekord im Sport ist kein Wunder im mittelalterlichenSinne, aber er bedeutet ein Wunder im Sinne einer Leistung,die bisher noch nicht da war, die unerreichbar und unmöglichschien und die hier eine tätige Kraft bestätigt. Es ist natür-lich möglich, daß einer, der vor einem tollen Stier wegläuft,sämtliche 100 nm-Rekorde bricht, aber er wird das, selbst

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LEGENDE 61

wenn er bei der Gelegenheit zufällig nach der Uhr gesehen hat,nicht als Rekord betrachten, und die Zeitung wird es nicht er-wähnen. Von Rekord reden wir erst dann, wenn im Sieger dietätige Kraft Tatsache geworden ist. Nur der Sieger „hält" denRekord. Wenn 100 m in x Sekunden gelaufen werden, sosteht theoretisch der Möglichkeit nichts im Wege, daß sieeiner in x minus n Sekunden läuft, aber im sportlichen Sinnewird diese Möglichkeit erst dann anerkannt, wenn sie einSieger in x minus n Sekunden gelaufen ist : wenn das Wundergeschehen ist.

Der Rekord kann sich in einen Gegenstand umwandeln,in einen Preis, der abgegeben wird, sobald ein anderer denletzten Rekord gebrochen hat. Dieser Gegenstand ist demVerein, dem der Sieger angehört, Reliquie. Schließlich fehlt.auch das Gewähren nicht, der Sieger schenkt seinem Vereine,seinem Lande den Sieg es ist keineswegs gleichgültig, woder Rekord liegt, und auch wer dem Sport fernsteht, empfindetetwas, wenn er hört, daß ein Engländer den Kanal schnellerdurchschwommen hat als ein Deutscher.

Eine eigentliche Vita besitzt der Sieger im Sport nicht,aber die Einfache Form der Legende liegt vor in jenem Teilder Zeitung, der ausschließlich der Sportberichterstattung ge-widmet ist und der stets scharf von anderen Teilen det Zeitunggetrennt wird. Die sprachliche Gebärde sieht oft aus wie einesaloppe Sondersprache und dennoch knock out ist einesprachliche Gebärde.

Wir haben am Anfang gesagt, daß es gefährlich ist, wennwir uns mit einer Form in einer bestimmten Prägung allzusehridentifizieren. Und es ist auch, wenn wir die Heiligenlegendedes katholischen Abendlandes so deutlich und so scharf um-rissen vor uns sehen, nicht ganz leicht zu verstehen, daßdie gleiche Geistesbeschäftigung unter dem Sportteil unsererZeitung liegen kann. Aber auch dort Formen aufzusuchen, wosie nicht mehr in voller Kraft, wo sie verschüttet sind, Formenzu bestimmen, die nicht mehr ganz „litterarisch" aussehen, istein wesentlicher Teil unserer Aufgabe.

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SAGE

I.Ehe ich zur Einfachen Form Sage übergehe, schiebe ich

eine kurze Vorbemerkung über die Wortbedeutung ein.L e g e n d a, ein neutrum pluralis, das „zu lesende Sachen"

bedeutet, wird im Mittelalter ein femininum singuralis mitGenitiv -ae : legenda. Es weist auf eine halb rituelle Tätigkeithin : die Vita des Heiligen wird bei bestimmten Gelegenheitenfeierlich vorgelesen oder auch im allgemeinen als persönlicheErbauungslitteratur betrachtet wie sehr auch dieses Lesenim Sinne der imitatio ist, verstehen wir jetzt. Das Wort er-hielt in der Bedeutung einer Folge mehrerer Viten dazu etwasden Sinn von legere sammeln, auslesen. Legende hat nun aberdaneben die Bedeutung einer Geschichte bekommen, die histo-risch nicht beglaubigt ist, und dem Adjektiv legendarisch haftetdiese Bedeutung sehr stark an ; es bezeichnet geradezu etwas,was im historischen Sinne nicht wahr ist.

Was in diesem Bedeutungsübergang geschieht,ist klar. Alles was zu einer bestimmten Geistesbeschäftigungund zu der ihr entsprechenden Form gehört, hat nur innerhalbdieser Form Gültigkeit. Die Welt einer Einfachen Form istnur in sich gültig, in sich bündig; sobald wir etwas aus dieserWelt herausnehmen und in eine andere Welt herübertragen,verliert es diese Zugehörigkeit zu seinem bisherigen Kreise undwird ungültig.

Sprechen wir hier einen Augenblick von der Welt derH i s t o r i e wir werden später sehen, welche Welt wirdamit meinen : in ihr wird alles, was in einer anderen Formbedeutsam war, bedeutungslos, und so wird hier alles, waszur Legende gehört, von der Form Historie aus nun auch un

-glaubwürdig, zweifelhaft, schließlich unwahr.Wir werden dasselbe bei den Formen Mythe und Märchen

beobachten können, auch sie bedeuten vom Historischen aus

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SAGE 63

das Unbeglaubigte oder das Unwahre. Und in besonderemMaße gilt das von der S a g e.

Sage bedeutet nach dem Grimmschen Wörterbuch: 1. imSinne von Sprache Fähigkeit zu sprechen, Tätigkeit desSprechens. 2. Das was gesagt wird In allgemeiner Anwendung:Ausspruch, Mitteilung, Aussage usw. und dann in besondererWendung eine Aussage vor Gericht, ein urkundliches Zeugnis,eine Prophezeiung usw.

Zum dritten aber finden wir: auf mündlichem Wege ver-breiteter Bericht über etwas, Kunde von etwas. Und hier wirdgeteilt. Sage kann sich a) auf „ungefähr" der Ausdruckstammt aus dem Wörterbuch Gleichzeitiges beziehen; undder Bearbeiter (der Band ist im Seminar von Moritz Heyneredigiert worden) fügt hinzu : „Leicht verbindet sich mit Sagedie Vorstellung des Unsicheren, Unglaubwürdigen, auch desVerleumderischen, doch wird es auch ohne eine solche Modi

-fizierung des Begriffes gebraucht". Sage kann sich b) aufVergangenes beziehen und heißt dann : „Kunde, Bericht überVergangenes und zwar besonders über weit in der Vergangen

-heit Zurückliegendes, wie es von Geschlecht zu Geschlechtsich fortpflanzt." Nun heißt es weiter : a) daß in der älterenSprache die Vorstellung des Unhistorischen noch nicht unlös-bar mit dem Begriff S a g e verknüpft sei. Aber dann fi) „mitder wachsenden Kraft der Kritik entwickelt sich der moderneBegriff von S a g e als Kunde von Ereignissen der Vergangen-heit, welche einer historischen Beglaubigung entbehrt ", undschließlich : er „wird nachher ausgebildet als der naiver Ge-schichtserzählung und Überlieferung, die bei ihrer Wanderungvon Geschlecht zu Geschlecht durch das dichterische Vermögendes Volksgemütes umgestaltet wurde, freier Schöpfung derVolksphantasie, welche ihre Gebilde an bedeutsame Ereignisse,Personen, Stätten anknüpfte; eine strenge Scheidung gegendie Begriffe M y t h u s und M ä r c h e n ist dem Sprachgebrauchefremd."

Wir müssen nun zunächst bemerken, daß das, was indiesem letzten Abschnitt gegeben wird, keineswegs die Be-deutung des Wortes Sage ist, sondern eine Definition desB e g r if f e s Sage. Und zwar die Definition einer bestimmten

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64 SAGE

Schule, die die Sage fast ausschließlich in ihrem Verhältnis zueinem anderen Begriff sieht, den sie H i s t o r i e nennt. Vondieser Historie aus deutet und begrenzt sie die Sage. Es ist,hauptsächlich für den Mitarbeiter eines Wörterbuches, rechtgefährlich, Definition und Bedeutung zu verwechseln. Hier hatdie Verwechslung die Folge gehabt, daß ein Fremder, der denArtikel nachschlägt, auf den Gedanken kommen könnte, dasWort Sage hätte in der deutschen Sprache eigentlich einenegative Bedeutung und wir gebrauchten es, um etwas zu be-zeichnen, was „einer historischen Beglaubigung entbehrt". Dasist schlechterdings unrichtig. Wenn wir das Wort Sage ge-brauchen, meinen wir sooft wir es nicht ausdrücklich inGegensatz zur Geschichte setzen etwas durchaus Positives.Es kann sein, daß wir das Wort falsch nicht seiner ursprüng-lichen Bedeutung gemäß gebrauchen; es kann auch sein,daß der Begriff, den wir damit verbinden, etwas verschwommenist aber dennoch bedeutet es für uns eine positive Form.Wenn ich von der Burgundersage spreche, meine ich keines-wegs diejenige Darstellung der Ereignisse im Burgunderreiche,die der historischen Beglaubigung entbehrt, oder auch nichteine freie Schöpfung der Volksphantasie, die an bedeutsameEreignisse im Burgunderreiche anknüpft, sondern ich meineeben jenes Gebilde Burgundersage, das faßbar und abgerundetvor mir liegt, das in sich bündig ist und Gültigkeit besitzt.

Indessen, ich hätte bei Heynes Lapsus nicht so lange ver-weilt, wenn er uns nicht so deutlich bestätigte, was wir schongesagt haben : die Form, die wir vorläufig „Historie" genannthaben, wirkt als Feind der Sage, sie bedroht sie, sie stellt ihrnach, die verleumdet sie und verdreht ihr die Worte im Munde.Von der einen Geistesbeschäftigung aus wird das, was in deranderen Geistesbeschäftigung positiv war, negativ, was Wahr-heit war, wird Lüge. Die Tyrannei der „Historie" bringt essogar fertig, von der Sage zu behaupten, sie existiere eigent

-lich gar nicht, sondern sie bilde nur eine Art schüchterner Vor-stufe zur „Historie" selbst. So verliert im Sprachgebrauch dasWort Sage immer mehr von seiner Bedeutungskraft und wirdschließlich, wie das Grimmsche Wörterbuch behauptet, zu-sammengeworfen mit Worten wie Mythus und Märchen, die

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SAGE 65

auch von der .,,Historie" aus gesehen nur das Nicht -Historischebedeuten sollen.

Stellen wir dem deutschen Wörterbuch das englischegegenüber, so bekommen wir ein anderes Bild. Das Englischekennt das Wort Sage nicht, wohl aber Saga. Für Saga gibtdas Oxford-Wörterbuch die folgenden Bedeutungen : 1. anyof the narrative compositions in prose that were written inIceland or Norway during the middle ages. Danach 1 b, über-tragen : a narrative having the (real or supposed) characteristicsof the Icelandic Sagas.

Zunächst weist also das englische Wort auf eine litte-rarische Gattung eines bestimmten Landes in einem bestimmtenZeitabschnitt hin. Dann aber folgt : 2. in incorrect uses (partlyas the equivalent of the cognate Berman s a g e) : a story,popularly believed to be matter of fact, which has been developedby gradual accretions in the course of ages, and has beenhanded down by oral tradition; historical or heroic legend, asdistinguished both from authentic history and from intentionalfiction. Eine Geschichte also, von der das Volk glaubt, daßsie wahr ist, die sich im Laufe der Jahrhunderte allmählichentwickelt und vergrößert hat und die mündlich überliefertwurde : eine historische oder heroische „Legende" wir sehenbeiläufig, daß auch im Englischen das Wort L e g e n d e ge-braucht wird für irgend etwas, was nicht „wahr" ist —, diesich einerseits von der authentischen Geschichte und anderer -seits von absichtlicher Erdichtung unterscheidet.

Eine Umschreibung, die der deutschen Umschreibung nahekommt; aber, ich betone es noch einmal ausdrücklich, diesist i n c o r r e c t u s e : ein fehlerhafter, ein ungenauer Ge-brauch des Wortes. Und dieser für das Englische fehlerhafteGebrauch entspricht dem deutschen Wort S a g e.

Von England werden wir nach Norden getrieben, und hierhaben wir nun im Nordischen wirklich zwei Worte, das eines a g n, das im allgemeinen dem entspricht, was wir in demletzten Abschnitt des Grimmschen Wörterbuches gesehen habenund was das Oxford-Wörterbuch incorrect use von Saganennt, und das zweite s a g a, das eben jene isländische litte-rarische Gattung meint.

Jo11es, Binfache Formen 5

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II.

Wir finden uns demnach auf einen ähnlichen Weg gewiesenwie bei unserer Betrachtuig der Legende. So wie wir diese zu-nächst in ihrer Besonderung in der Welt der mittelalterlichenLegende untersucht haben, sehen wir uns jetzt, da wir dasWesen der Sage bestimmen wollen, vorerst jene altnordischeGattung Saga genauer an.

Es handelt sich um Prosaerzählungen in der Volkssprache,die uns in Handschriften des 13. bis 15. Jahrhunderts vorliegen.Daß diese Prosaerzählungen auf mündliche Überlieferungzurückgehen, daß sich ihre Gestalt aus mündlichen Erzählungengebildet hat, läßt sich aus Daten verschiedenster Art schließen.

Zuerst unterscheiden sie sich stilistisch und syntaktischvon anderen Prosawerken, des sogenannten gelehrten Stils,sie zeigen keinerlei Beeinflussung des Lateinischen. Zweitensberufen sie sich selbst auf ihren Ursprung, die Wendung „eswird erzählt" oder ähnliche kommen oft vor. Drittens werdensie nicht als eigentliche litterarische Kunstwerke betrachtet,soweit man sie keinem bestimmten Verfasser, keinem Dichterzuschreibt, sie bilden eine namenlose Überlieferung. Endlichbesitzen wir auch Nachrichten darüber, daß schon einige Jahr-hunderte früher bei feierlichen und anderen Gelegenheitenwirklich in dieser Art „erzählt" wurde.

Wie weit diese Überlieferung zurückreicht, läßt sich aufhistorischem Wege wie auch aus dem Inhalt der segur f est-stellen. Wir kommen zurück bis auf das Ende des erstenDrittels des 10. Jahrhunderts, bis auf die Zeit, zu der dieBesiedlung Islands abgeschlossen war. Wir können also sagen,daß die sQgur-Handschriften die Niederschrift dessen ent-halten, was sich seit 930 im Laufe des 10., 11. und der folgen-den Jahrhunderte durch festgefügte, in sich geschlossene münd-liche Erzählungen herausgebildet hatte.

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Betrachten wir diese Erzählungen von der stofflichen Seite,auf ihren Inhalt hin, so lassen sichdrei Gruppen unterscheiden.

Eine erste Gruppe umfaßt Erzählungen über die isländischenSiedler, über ihre Nachbarn und Zeitgenossen, ihre Abkunft,ihr Verhältnis zueinander und über das, was ihnen Natürlichesund Übernatürliches begegnete. Es ist keineswegs die Ge-schichte der Besitznahme Islands durch die Norweger, sondernjedesmal die Geschichte von Einzelpersonen, die als Einzel-personen wieder zu einer Familie gehören. Da wird gesagt,wo diese Familie das Haus, den Hof baute, wie der Familien-besitz zunahm, wie sie mit anderen Familien des gleichenDistrikts in Berührung kam, sich zankte, sich verglich, inFehde oder Eintracht lebte, wieviel Söhne und Töchter siezählte, woher die Söhne ihre Frauen holten, wo die Töchtereinheirateten. Manchmal wird die Familie von einer Person,ihrem Oberhaupt, aus gefaßt, manchmal tritt sie als Ganzes auf.

Diese Erzählungen schreiten rüstig vorwärts, sie bietennur Handlung; wenn ein Haus gebaut wird, gibt der Erzählergerade so viel, wie nötig ist, um die Tatsache des Hausbauesals Ereignis zu zeigen, er verweilt nicht aus eigenem Antriebebei dem Hause selbst. Alles Gegenständliche ordnet sich derHandlung unter ; nie werden Attribute zu schmückenden Bei-wörtern, die einen Gegenstand als solchen aus der Handlungherausheben und verendgültigen. Ebenso ordnet sich die Land-schaft ein. Diese Prosaerzählungen machen meist auch Ge-brauch von Versen und Gedichtreihen.

Eine zweite Gruppe behandelt nicht die Familiengeschichtenim engeren Sinne, sondern Königserzählungen. Aber dieseKönigserzählungen sind weit entfernt von dem, was wirhistoria politica nennen. Der König handelt eben wie ein nord-germanischer König, er ist Wikinger, er erobert, er kämpft;aber alles, was wir zum Begriffe Staat rechnen, fehlt. Erkämpft als Person, als Teil einer Familie; auf seiner anderen,seiner königlichen Ebene steht er nicht anders, als dasFamilienoberhaupt aus der ersten Gruppe auf seiner bäuer-lichen Scholle. In Stil und - Syntax unterscheidet sich diesezweite Gruppe nur insoweit von der ersten, als sie anderes undandersartiges zu beschreiben hat.

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Die historische Grenze dieser beiden Gruppen darf nichtüber die Mitte des 11. Jahrhunderts hinausgeschoben werden.Spätere Ereignisse finden wir in ihnen nicht. Ihr Schauplatzumfaßt die Insel Island, die Küste Norwegens, Grönland, dieFäröer und jene Teile der Welt, die die nordischen Wikinger

-könige auf ihren Zügen berührten. Nach der Einführung desChristentums hören sie auf.

Zu diesen Gruppen gesellt sich nun eine dritte, die weitüber das hinausgreift, was wir in der ersten und der zweitenfanden. Erstens ist sie zeitlich und örtlich viel weniger ge-bunden, sie umfaßt und ergreift Stoffe, die weit vor der Be-siedlung Islands liegen. Sie kennt Helden, die gewiß nichtursprünglich auf Island oder überhaupt bei den Nordgermanenzu Hause sind. Und schließlich gehen diese Erzählungen auchnoch darüber hinaus und erzählen Dinge, die wir, ganz all-gemein gesprochen, zu Gattungen rechnen, die überhaupt nichtörtlich oder zeitlich bestimmbar sind, Gattungen, die bei unsmit „vor langer, langer Zeit, weit, weit von hier" anfangen.Aber -- und das ist für uns das Wichtige sie geben auchdiese Stoffe so, daß sie sich von den vorhergehenden nichttrennen lassen, sie erzählen sie gewissermaßen, als ob die Per-sonen die gleichen seien, die Ereignisse vergleichbar mit dem,was sich in einer isländischen Siedlerfamilie abgespielt hat.Auch in Stil und Syntax sind sie von den übrigen Gruppen nichtzu trennen.

Wir nennen die erste Gruppe Islendinga segur (sQgur vonIsländern), die zweite Koninga sQgur (sQgur von Königen), diedritte Fornaldar segur (sQgur aus der alten Zeit).

Es liegt auf der Hand, daß man sich von litterarhistoriseherSeite aus schon früh bemüht hat, diese Gruppen in ein histo-risches Nacheinander zu ordnen. Und es liegt ebenso auf derHand, daß eine Zeit, die einesteils stoffgeschichtlich eingestellt,andernteils im Evolutionismus befangen war, jene Gruppe, diedie ältesten Stoffe enthält, für die älteste halten mußte undnun von dieser Gruppe aus eine Entwicklung zu den anderen,also jüngeren zu konstatieren suchte. So glaubte man dennsagen zu können, daß Stoffe, die schon im frühen und frühestenMittelalter bei den Germanen oder Iren vorhanden waren, von

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den Isländern im 10. Jahrhundert in ihren Fornaldar segurnacherzählt wurden, und daß danach die Isländer die Ge-schichten ihrer Könige und ihrer Siedler in der gleichen Weiseerzählten.

Hier hat nun Andreas Heusler eingegriffen, und dieserEingriff ist einer der wichtigen Momente in der Geschichte dermorphologischen Methode. Heusler mit seinem starken Form-gefühl brachte in einer Akademie-Abhandlung von 1913, DieAnfänge der isländischen Saga (Berlin 1914), den wie mirscheint unwiderlegbaren Nachweis, daß die Form der Islendingasggur den Ausgangspunkt für die anderen Gruppen bildenmußte, und er gab damit mehr als diesen einzelnen Nach-weis, er bewies, daß es zu Irrtümern führen muß, wenn manProbleme wie diese auf dem Wege der stoffgeschichtlichenMethode zu behandeln sucht. Irrtümer, die ich übertreibenicht allzusehr sich vergleichen lassen -mit solchen, dieentstehen würden, wenn man sagte, die Romane von WillibaldAlexis müßten vor dem Werther liegen, oder die RomaneScotts vor Fielding, da bei Alexis und Scott mittelalterlicheStoffe vorliegen, in Werther und Tom Jones dagegen zeit

-genössische.Heusler, der in seinem „Lied und Epos" in der brennen-

den Frage wie verhält sich die Kunstform .Epos zu anderenFormen, wie „Lied"? schon vieles klargestellt hatte, greifthier auf einem kleineren Gebiet noch schärfer zu. Er weistnach, daß die eigentliche Form Saga, so wie sie in Island ineiner bestimmten Periode sich ausgebildet hat, gerade jeneForm ist, die uns in den Familiengeschichten der ersten Gruppevorliegt ; daß sie dort zu sich gekommen ist, und daß sie erst,nachdem sie so ihre Bündigkeit erlangt hatte, nach anderenStoffen übergegriffen hat; daß sie aber mochte sie Sagader Könige, mochte sie Fornaldar saga werden immerihre erste Form bewahrte und von dieser Form aus ihr Ge-präge den anderen Stoffen aufdrückte. Heusler zeigt weiterwas wir oben schon angedeutet haben daß diese Formmündlich zustande kam und daß sie sich in ihrer mündlichenÜberlieferung hier auf Island schon so weit gefestigt und ab-gerundet hatte, daß sie ohne Schwierigkeit und ohne große

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Abänderungen übergehen konnte in eine schriftliche Fixierung,die ihrem Charakter entsprach.

Ich betone das alles um so mehr, als Heusler selbst späterandere Wege gewählt hat, die, ohne in die alte Stoffgeschichtezurückzuverfallen, doch die morphologische Seite der Problemeviel weniger berücksichtigen, und als gerade in letzter Zeitvon vielen Seiten das dringende Bedürfnis empfunden wird,zu dem früheren Heusler zurückzukehren. „Auch hier scheintes mir nötig," sagt de Boor in einer Besprechung vonNibelungenstudien (Zeitschrift für Deutsche Philologie, 52),„den allzu - eng auf deutsche Interessen eingeschränkten Blickfreizugeben und anzuerkennen, daß die Saga ihr eigenes Recht#uf wissenschaftliche Fragestellung hat. Wir rechnen auch hierdauernd an einer Gleichung mit zwei Unbekannten. Manwende sich lieber der einfacheren Gleichung zu und stelle dieFormfrage der Saga, für deren Beantwortung positive Mittelvorhanden sind."

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III.

"r uns kommt es nun darauf an, den Vorgang, den Heusleran dieser einen Stelle in Island vom 10. bis 11. Jahr-hundert genau beobachtet hat, als Ganzes und in seinervollen Tragweite zu begreifen.

Wir stellen .zunächst fest : was uns in den isländischenHandschriften des 13. bis 15. Jahrhunderts vorliegt, ist natür-lich an und für sich ebensowenig Einfache Form, wie die Viten,die in den Acta Sanctorum gesammelt wurden. Auch hierhaben wir, was wir Vergegenwärtigung einer Einfachen Formoder aktuelle Form genannt haben. Aber darüber hinaus istauch die gefestigte mündliche Überlieferung, die in den Hand-schriften schriftlich fixiert wurde, noch keine Einfache Form -auch sie verhält sich, obwohl ungeschrieben, zu dem was wirsuchen wie Vita zu Legende ; auch sie ist g e g e n w ä r t i g unddamit in gewissem Sinne schon Kunstform. Um zu der Ein

-fachen Form durchzudringen, aus der sich die gegenwärtigenerzählten und geschriebenen segur herausbildeten, müssen wirwieder die Geistesbeschäftigung suchen, in deren Welt dieForm gültig ist.

Was liegt in der Islendinga saga vor? Ich habe es, als ichdie Gruppe im allgemeinen besprach, schon angedeutet, ichmuß es hier näher ausführen : man pflegt sie Familiengeschichtezu nennen. Aber ist die Zusammenstellung Familien-Geschichtenicht mißverständlich? Wir haben bereits festgestellt, daß derBegriff Geschichte mehreren Einfachen Formen feindlich gegen-übersteht: wir haben das Wort Geschichte mit Vorsichtanzuwenden. Für den, dessen Vorstellungen sich in „histo-rischen" Gedankengängen bewegen, kann es so aussehen, alsob diese segur tatsächlich den historischen Bericht über eineFamilie geben dem, der sie unbefangen und ohne Vorurteilzu verstehen sucht, erscheinen sie anders. Sie geben im Grunde.

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nicht die Geschichte einer Familie, sondern zeigen, wie Ge-schichte nur als Familiengeschehen existiert, wie Familie Ge-schichte macht. Aber ich will lieber das Wort Geschichte über-haupt vermeiden und sagen: der innere Bau der Islendinga sagawird bedingt durch den Begriff : Familie.

Das, Verhältnis der Personen der Saga untereinander istan allererster Stelle das Verhältnis von Vater zu Sohn, vonGroßvater zu Enkel, von Bruder zu Bruder, von Bruder zuSchwester, von Ehemann zu Eheweib. Das Band des Blutesist das, was die Personen untereinander bindet; Stamm, Ab-stammung und das Angestammte stellen die Beziehungen her.Kommt die Familie mit Außenstehenden in Berührung, sowerden diese wieder von dem Stamm aus begriffen und ge-wertet; die Fremden bilden entweder unter sich wieder eineFamilie, oder es sind einzelne, die in die Familie aufgenommenoder von ihr zurückgewiesen werden können. Alles wasUntergebener heißt, wird in die Familie einbegriffen, gehörtzu ihrem Verantwortungsbereich.

Die Menschen der Islendinga sogur wie sie Heuslerumschrieben hat— sind keine Norweger, die ausgezogen sindund sich in Island angesiedelt haben, eigentlich aber auch keineIsländer, es sind Menschen, die hier auf diesem Hügel, dort anjener Bucht wohnen. Sie bilden kein Reich, keine Nation,keinen Staat, ihre Gesamtheit ist wie eine algebraische Summe,in der sich die Summanden nicht zu einer einheitlichen Zahlzusammenschließen lassen. Sie haben natürlich vieles gemein-sam, aber gemeinsam heißt hier nur das, was jeder einzelne aus

-nahmslos für sich besitzt. Auch da, wo mehrere zusammen-kommen, auf dem Thing, um sich gemeinsam zu besprechen,gemeinsame Beschlüsse zu fassen, kommen sie als Familien

-häupter.

Ihre Gesetzgebung regelt an erster, fast an einziger StelleEingriffe in die Rechte einer Familie, Zwistigkeiten in derFamilie; der Strafvollzug ist nicht Aufgabe einer bestimmtenBehörde, sondern wird der betroffenen Familie übertragen.Eine der schwersten Strafen ist die Ächtung, das heißt hiernicht Ausstoßung aus dem Staatsverband, sondern Ausstoßung

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aus sämtlichen Familienverbänden. Sooft die Ächtung voneiner anderen Familie nicht anerkannt und der Geächtete ge-schützt wird, gehört er nun wieder zu jener Familie. Besitzbefindet sich in buchstäblichem Sinne dort, wo die Familiesitzt, er ist das, was sich in der Familie vererbt, was in derFamilie zurückgelassen wird.

In einer Sage -„vie der von den Leuten vom Seetal folgen wireinem Stamme durch sechs oder sieben Generationen. Die Er-zählung ist jedoch so aufgebaut, daß der Ruhm und die Macht desStammes in einer Generation gipfeln und in dieser Generationwieder von einer Person besonders vertreten werden. Ingimund,der Mann, der von Norwegen nach Island übersiedelt und dieStätte in Besitz nimmt, nach der die Sage benannt ist, bildetdiesen Glanzpunkt. Von den Personen aus gesehen könnte mandas Ganze die Sage Ingimunds, der Ingimundsahnen., der Nach

-kommen Ingimunds nennen. Je näher die vorhergehenden unddie folgenden Generationen diesem Vertreter des Stammes, indem sich der Stamm am mächtigsten zeigt, stehen, um soschärfer umrissen zeichnet sie die Sage. Neben Ingimund istes sein Vater Thorstein, sind es seine drei Söhne, die wir amdeutlichsten sehen. Sein Großvater und seine Enkel sind nurskizzenhaft angedeutet, seine Urenkel sind schattenhaft ver-wischt. Zwischen der 5. und 6. Generation verlegt sich dieMacht des Stammes auf eine Seitenlinie, ein Kebssohn trittin die Familie ein und vertritt nun die Familie. Er ist es, derdas Christentum annimmt, mit ihm tritt der Stamm in eine neuePhase ein und endet das, was in Ingimund gipfelte. Beim Lesendieser ganzen Sage empfinden wir auf jeder Seite, wie Begriffe,die wir in historischem Sinne vom Volke aus zu fassen gewohntsind, Begriffe wie Eroberung, Niederlage, Unterdrückung, Be-freiung, sich hier keineswegs auf ein Volk beziehen, sondernimmer auf einen Stamm, eine Sippe, eine Familie. NationalesBewußtsein heißt. hier Familienzusammengehörigkeit, Rechtund Pflicht richten sich nicht nach der Gesellschaft, derres publica, sondern nach dem Wohlergehen des Stammes,nach dem, was Verwandschaft erfordert. Bürgerliches Zu-sammengehen heißt hier Band des Blutes. Blutsverwandtschaft,Blutrache, Blutfehde, Ehe, Sippschaft, Gesamtheit der An-

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gehörigen, Erbe, Erbschaft, Erblichkeit bilden hier die Grund-lage, den Grundriß.

Damit sind wir, von dem aus, was wir an einer zeitlichund örtlich bestimmbaren Stelle, in einer Gegenwärtigen Formvorgefunden haben, durchgedrungen zu dem allgemeinen, daswir gesucht haben. Es gibt eine Geistesbeschäftigung, in dersich die Welt als Familie aufbaut, in der sie in ihrer Ganzheitnach dem Begriff des Stammes, des Stammbaums, der Bluts

-verwandtschaft gedeutet wird. Diese Geistesbeschäftigungund ihre Welt sind auch an anderen Stellen als in Island im10. und 11. Jahrhundert deutlich erkennbar; und diese Weltmeinen wir, wenn wir das Wort Sage gebrauchen. Diese Welt,nur diese Welt wollen wir von nun an mit Sage bezeichnen.

Ich weiß, daß dieser Gebrauch des Wortes Sage auf größereSchwierigkeiten stoßen wird als der des Wortes Legende, sowie wirdort die Form gefaßt haben. Wir haben gesehen, daßder Sprachgebrauch, wie wir ihn aus den Bedeutungen undDefinitionen der Wörterbücher kennengelernt haben, andersvorgeht; es gibt vieles, was Sammelwerke, wissenschaftlicheund nichtwissenschaftliche Darstellungen gewohnt sind, „Sage"zu nennen und was für uns als Sage ausscheidet. Was inGrimms Deutschen Sagen oder in Dähnhardts Natursagen zu-sammengetragen worden ist, entspricht nur zum kleinstenTeile dem, was wir Sage nennen. Aber es ist eine der Auf

-gaben der Morphologie, vielleicht nicht ihre geringste, mit ihrerFormbestimmung und Formbesinnung einem gelockerten undnachlässigen Sprachgebrauch entgegenzutreten. Wenn ich alsovon Heldensage rede, meine ich keineswegs die mündlicheÜberlieferung über einen Hergang, der mir historisch nichtganz bekannt oder der historisch nicht beglaubigt ist, undebensowenig eine historische Persönlichkeit, die durch dasdichterische Vermögen des Volksgemütes umgestaltet wurde,sondern ich meine den heroischen Vertreter eines bestimmtes'Stamm-es, den erblichen Träger der großen Eigenschaften seinesGeschlechts.

S a g e ist für uns die Einfache Form, die in einer Be-sonderung in der Islendinga saga erst mündlich, dann schrift-

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lich gegenwärtig geworden ist und sich so stark ausgeprägthat, daß sie im Stande war, ursprünglich nicht Zugehörigesvon sich aus umzuprägen. Aus dieser Vergegenwärtigungkönnen wir die formgebende Geistesbeschäftigung und ihreGedankengänge ablesen und erfassen. Bei der Sage deutenwirdie Geistesbeschäftigung mit den KennwortenFamilie, Stamm, Blutsverwandtschaft an.

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IV.

Ich möchte an dieser Stelle das, was wir G e i s t e s -b e s c h a f t i g u n g genannt haben, genauer betrachten. Nichtüberall, wo uns in einem Geschehen Familie, Familien

-verhältnisse, Familienkatastrophen vorliegen, bildet sich dieForm Sage.

Ein Beispiel: Heinrich Tudor vereinigt durch seine Ehemit Elisabeth von York die Ansprüche der beiden HäuserLancaster und York, die sich seit mehreren Jahrzehnten als„rote und weiße Rose" mit Bürgerkrieg, Meuchelmord, Auf-ruhr und Verrat bekämpft haben, und besteigt den englischenThron. Er hat zwei Töchter, Margarete und Maria, und einenSohn, Heinrich, der sein Nachfolger wird. Dieser Nachfolger,Heinrich VIII., verheiratet sich sechsmal. Zweimal wird seineEhe geschieden, zwei Frauen läßt er hinrichten, eine Fraustirbt bei der Geburt des einzigen Sohnes, die letzte Frauüberlebt ihn. Dieser Sohn, Eduard VI., ist zehn Jahre alt, alssein Vater stirbt.. Zwei Herzöge leiten nacheinander die Re-gierung, der letzte von diesen verheiratet seinen eigenen Sohnmit einer Enkelin der zweiten Tochter Heinrichs VII. undversucht, als König Eduard mit sechszehn Jahren gestorbenist, dieses Ehepaar auf den Thron zu bringen. Der Versuchmißlingt, die Beteiligten werden hingerichtet. Statt ihrer wirdeine Tochter aus der ersten Ehe Heinrichs VIII. Königin,Maria die Grausame. Als diese ohne Kinder stirbt, wird ihreSchwester aus zweiter Ehe, mit der sie in Feindschaft gelebthat, ihre Nachfolgerin: Elisabeth. Einer der bekanntestenKonflikte aus dem Leben dieser Fürstin ist der Streit mit derEnkelin ihrer Tante Margarete, Maria Stuart, die, durch ihreEhe mit dem schottischen König selbst Königin von Schott-land, ihrerseits dreimal verheiratet war, einmal mit einemfranzösischen Iönig, einmal mit einem Vetter und einmal mit

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einem dritten Mann, der den zweiten umgebracht hatte. Elisa-beth läßt Maria hinrichten. Als sie kinderlos stirbt, wirdMarias Sohn ihr Nachfolger.

Familienverhältnisse, Familienverwicklungen, wie sie ver"schlungener nicht denkbar sind. Nichtsdestoweniger würdenwir die Stoffgeschichte, die wir aus der Tür unserer Litteratur-wissenschaft hinausgewiesen haben, durch das Fenster wiederhereinlassen, wenn wir behaupteten, daß in dem, was im Ge-schehen im Hause Tudor in England im 16. Jahrhundert in Er-scheinung tritt, sich die Form Sage in irgendeiner Weiseverwirklichte. Es wird weder von den Beteiligten als Sagegelebt, noch von den Zeitgenossen als Sage erlebt. Es istebensowenig Sage wie in dem Märchen „Aschenbrödel" diegute Tochter aus erster Ehe und die böse Stiefmutter mit ihrenzwei hochmütigen Töchtern eine Sage bilden.

Weshalb nicht? Weil sich weder Heinrich VIII. nochEduard VI. noch Maria noch Elisabeth an erster Stelle alsNachkommen Heinrichs VII., als Angehörige der Familie, desStammes Tudor betrachten, weil weder bei der Hinrichtungder Jane Grey noch bei der Hinrichtung der Maria Stuart dasGefühl, daß hier eine Blutsverwandte, eine zum Stamme Ge-hörige getötet wird, herrschend ist; weil bei der Entfernungzwischen Maria, der Katholikin, und Elisabeth, der Protestantin,Katholizismus und Protestantismus nicht als Dinge gedeutetwerden, die zwei Schwestern trennen, die durch Bande derVerwandtschaft gebunden sein sollten, sondern weil vielmehrdie beiden Frauen als Vertreterinnen zweier sich wider-strebender Religionen aufgefaßt werden. Weil endlich wiederumdas englische Volk dies alles nicht beobachtet, nicht miterlebt,weil es nicht eingreift und sich auf die Seite des einen oder desanderen stellt als Teilnehmer an einem Familienstreit, sondernweil es das alles von staatlichen oder religiösen Überzeugungenaus deutet. Es fehlt die Geistesbeschäftigung, die sich in derForm Sage verwirklicht.

Fehlt sie ganz und gar? Gewiß nicht. Daß der T h r o nerb 1 i c h ist , ist eine Sprachgebärde; sie zeigt den Punkt,wo sich Geschehen zu Form verdichtet hat und in der Geistes-beschäftigung von Stamm und Blutsverwandtschaft Sprache

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geworden ist. Aber in unserm Falle ist zwar der Thron erb-lich, aber er ist nicht das Erbe. Der Thron gehört nichtzum Hause Tudor, sondern das Haus Tudor gehört zum Thron.Der Thron ist hier nicht ein Gegenstand, der das Ansehen unddie Würde einer Familie vertritt, ein Ding, in dem die Machteines Stammes sich vergegenständlicht und das nun von sichaus mit der Macht der Familie geladen wäre : dieser Thronverhält sich nicht zur Form Sage wie die Reliquie zur FormLegende. Dieser Thron hier bedeutet England, das Reich Eng

-land, den Staat England; und obwohl die Familie Tudor Eng-land regiert und ihre Mitglieder erblich berechtigt sind, Englandzu regieren, ist England dennoch weder in den Augen derEngländer noch für die Tudors Familienbesitz, Erbe.

Wir sehen, die Form Sage ist schwerer zu fassen als dieForm Legende. Wie das deutsche Wort Sage von einer anderenEinstellung her angegriffen, verdünnt, vereitelt wurde, sogeschieht es auch mit der Form. Ein Staatsbegriff oder einnationales Bewußtsein verdrängt hier eine nach der Geistes

-beschäftigung Familie aufgebaute Welt.So ist es kein Zufall, daß die Islendinga saga dort aufhört,

wo das Christentum, besser gesagt die christliche Kirche, ein-setzt. Die christliche Kirche bindet ihre Bekenner zu einer Ge-meinde, sie bringt eine andere Verwandtschaft, die Verwandt-schaft von Mensch zu Mensch; sie übernimmt dabei sogar dieSprache der Sage, sie holt die Sprachgebärde der Sage zu sichheran, sie nennt ihren Priester pater, ihre Mitglieder Brüderund Schwestern, die in einer geistlichen Gemeinschaft Leben

-den fratres aber sie zerstört mit ihrem Analogon die eigent-liche Form der Sage, die nur Blut und Blutsverwandtschaftkennt. Was in der Sage, in der Familie bedeutsam war, Ge-burt, Ehe, Tod, das führt die Kirche jedesmal durch einSakrament in eine andere Geistesbeschäftigung über und ent-reißt es somit der Sage.

Diesem Beispiel stelle ich nun ein anderes gegenüber.Im 2. Buch der Ilias (Vers 100 ff.) ist das ganze Volk der

(riechen zu einer wichtigen Versammlung zusammengetreten,Beschlüsse von größter Bedeutung sollen gefaßt werden.Es ist darüber zu entscheiden, ob das Unternehmen gegen

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Troja aufgegeben, ob es durchgeführt werden soll. Nun er-hebt sich der oberste Heerführer Agamemnon er der denHerrscherstab hält, das uxe7tfeoy. Hephaestos hatte es mitKunst gebildet und er übergab es Zeus Kronion. Zeus übergabes Hermes, und Hermes übergab es dem rossebezwingendenPelops, Pelops übergab es dem Völkerhirten Atreus, und Atreusüberließ es sterbend dem lämmerreichen Thyestes. Thyestesgab es Agamemnon und mit ihm viele Inseln und die Herrschaftüber ganz Argos.

Wir haben gesehen, wie der heilige Georg auf dem Altarsteht, kennbar durch das Rad, mit dem er gemartert wurde,oder durch Pferd und Lanze, mit denen er den Drachen be-kämpft hat ; wie das, was in seiner Legende sprachliche Ge-bärde war, in seiner himmlischen Gestalt Attribut wurde.Hier sehen wir Ähnliches, wir sehen den Herrscher in einementscheidenden Moment, gestützt auf ein Attribut. DiesesSzepter ist von Göttern hergestellt und bei den Göttern vonHand zu Hand gegangen. Dann ist es zu den Menschen ge-kommen, zu einem Stamm, und in diesem Stamm ist es wiedergewandert von Vater zu Sohn, von Bruder zu Bruder, vonOnkel zu Neffe. In diesem Stamm bedeutet es Herrschermachtinnerhalb und außerhalb des Stammes. Agamemnon steht hierals Herrscher, weil die Götter seiner Familie Herrschertumverliehen haben und weil er selbst innerhalb dieser Familiedas Haupt, der Träger des Szepters ist.

Agamemnon spricht in diesem Augenblicke zu den übrigenGriechen, weil seiner Familie ein Unrecht angetan wurde : dieFrau seines Bruders ist geraubt worden. Die Familie desRäubers hat diese Tat nicht gutgeheißen, aber da sie Familieist, bleibt der Räuber ihr angehörig, trifft sie, solange sie ihnals angehörig betrachtet, die Verantwortung für seine Taten,teilt sie sein Schicksal. So steht Familie gegen Familie undzwischen ihnen ist Frauenraub, Fehde, Rache die Sprach

-gebärden der Sage.Wir dürfen nun wieder nicht sagen, daß jenes Ganze, was

wir Ilias nennen, nichts anderes als Sage sei. Erstens liegt hierdie Kunstform Epos vor, die eigene Gesetzlichkeit besitzt.Zweitens ist innerhalb dieses Epos die Geistesbeschäftigung

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der Sage leicht abgewandelt wir finden hier schon etwasvom Volke ; die Bundesgenossen, die sich ursprünglich denFamilien nur als Familien angeschlossen haben, fangen an sichnational zu färben, es liegt in der Ilias bereits etwas vonGriechen gegen Trojaner, von Westen gegen Osten, die Iliasahnt schon Hellas gegen Asien. Aber die Sage bleibt nochmächtig, überwiegt noch, und an vielen Stellen beherrscht sieden Gedankengang entscheidend. Hier an der Stelle, wo wir siegefaßt haben, sehen wir sie in der einfachsten Weise gegenwärtigwerden, sehen wir, wie in dem Geschlecht des Pelops unter denAtriden sich im Stamme die Macht vererbt, wie sie verknüpftist mit dem Szepter, das von den Göttern stammt und unter denMenschen von Geschlecht zu Geschlecht sich vererbt. JedePerson ist hier der E r b e , jedes Ding kann in seiner gegen-ständlichen Bedeutsamkeit d a s E r b e sein. Noch einmal:diese neun Verse bilden für uns die G e g e n w ä r t i g e F o r meiner S a g e schlechthin und wir erkennen an ihr die Ein-fache Form als solche.

Wollten wir nun das, was in der Ilias in ganz schlichterWeise gegeben wird, die Sage des Pelopsgeschlechtes, dieSage von Atreus und den Atriden, weiter in der griechischenWelt in Einzelheiten verfolgen, so würden wir einen äußerstverschlungenen, vielfach verknoteten Sagenknäuel finden, dersich jedesmal wieder anders vergegenwärtigt, aber der inseinen zahllosen Erscheinungen fast alles enthält, was S a g eüberhaupt umfassen kann. Ich kann das, so sehr ich überzeugtbin, daß dieser Knäuel einmal entwirrt werden muß, hier nichttun. Ich will nur Einiges herausgreifen, das uns Sage veran-schaulicht.

Da hören wir, wie die Pelopssöhne Atreus und Thyestesmit Hilfe ihrer Mutter Hippodameia einen natürlichen, uneben-bürtigen Sohn ihres Vaters ermorden und seinen Leichnam ineinen Brunnen werfen, und wie dann der Vater einen Fluchüber seinen Stamm ausspricht, der bis in die spätesten Ge-schlechter wirksam bleibt. Hier erscheinen die Sprachgebärden,die Einheiten, zu denen sich Sage verdichtet. Sie heißen einer-seits u n e h e 1 i c h e s K i n d, Bastard, Kegel, der Fremdkörperinnerhalb der Familie, das was vom Vatet stammt, blutsverwandt

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ist und doch nicht zur Familie gehört, die Familie sprengt;ander=erseits F 1 u c h , das, worin sich Haß und Widerwillengegen den eigenen Stamm vergegenständlichen, das waswiederum Macht hat in der Familie über das Leben der Personhinaus, vergleichbar mit den Wundern des Heiligen nach seinemTode, aber hier ein Erbe, das sich selbst vererbt.

Wir hören weiter, daß die Brüder miteinander in Streitgeraten, über die Herrschaft, über Frauen, über Besitz. Wirlesen in der Ilias (II. 106) von dem aoívaQvt Ovar , demschafreichen Thyestes. Später heißt es in einer Verdichtung,daß einer der Brüder e i n g o 1 d e n e s L a m m bekam, mitdem die Herrschaft verbunden war. Der andere Bruder ver-führt nun seine Schwägerin und stiehlt mit ihrer Hilfe dasLamm. E h e b r u c h greift in die Familie ein.

Weiter : Atreus ermordet aus Rache die Söhne des Thyestesund setzt sie dem Bruder Thyestes, den er selber durch einenHerold von seiner Flucht zurückgerufen hat, als Speise VOL'.

Nach dem gräßlichen Mahle werden dem Vater die Hände undFüße gezeigt: Verwandtenmord, gesteigert zum Zwang,sein eigenes Blut zu verschlingen. Und endlich zeugt Thyestesmit seiner eigenen Tochter einen Sohn, der später den Sohndes Atreus mit Hilfe von dessen Gattin umbringen wird. B 1 u t -s c h a n d e in der Familie unentwirrbare Verknotung desStammnetzes.

Die Frage, inwieweit wir mit diesen letzten wildestenZügen in eine sehr späte oder in eine sehr frühe Verwirklichungder Sage hineingeraten sind, braucht uns hier nicht zu kümmern.Diese Beispiele bezwecken nur, die Welt der Sage in ihreräußersten Durchführung zu zeigen.

Woher kennen wir diese Geschichten, die sich jedesmalwandeln, überall in Einzelheiten voneinander abweichen, hierso, dort etwas anders erscheinen? Zunächst aus kurzen Er-wähnungen, aus Randbemerkungen, aus Glossen und Scholien,dann aus späteren Historikern, die versucht haben, das Zer-streute irgendwie zu einigen und in Zusammenhang zu bringen,aus Schriftstellern, die unsern Sammlern vergleichbar sind. End-lich aus Kunstwerken, die jedesmal ein Stück. einen Ausschnittergreifen und dieses Stück an und für sich in einer Kunstform

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einmalig verwirklichen. Nirgends aber ist das Ganze der Sagedieses Stammes als Einheit zutage getreten. Wir besitzenwiederum kein Epos, das die Schicksale der Nachkommen desPelops im Zusammenhange darstellt.

Was beweist das? Daß auch hier die Sage mündlich über-liefert wurde, daß sie von Mund zu Mund in der griechischenWelt und wohl schon früher fortkroch, daß sie überallbekannt war, aber daß sie nirgends so wie auf Island im11. Jahrhundert in festgefügter Erzählung gegenwärtig wurde,daß sie ich bleibe in unserer Terminologie den Übergangvon S a g e zu S a g a nicht fand. Deshalb blieb sie vielgestaltig,wechselte ihre äußere Form von Fall zu Fall, erzählte man siezu einer Zeit und an dem einen Orte anders als später oderanderswo, deshalb ließ sie sich nicht in einer bestimmten Weiseschriftlich fixieren. Nur von ihrem inneren Bau, von ihrerinneren Form aus blieb sie beständig, nur als Einfache Formwar sie unveränderlich, nur als Sage erhielt sie sich. Hervor-gegangen aus der Geistesbeschäftigung mit Familie., Stamm,Blutsverwandtschaft baute sie aus einem Stammbaum eineWelt, die sich in hundert schillernden Spielarten gleichblieb,eine Welt von Ahnenstolz und Vaterfluch, von Familienbesitzund Familienfehde, von Frauenraub und Ehebruch, von Blut-rache und Blutschande, Verwandtentreue und Verwandtenhaß,von Vätern und Söhnen und Brüdern und Schwestern, eineWelt der Erblichkeit. Und eine Welt, in der Gut und Böse,Mut und Feigheit ebensowenig Eigenschaft des Einzelnen sind,wie Besitz Eigentum des Einzelnen ist, sondern wo alles nurvon der Familie aus gilt, wo das Schicksal der Personen immerwieder auf den Stamm zurückfällt.

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V.

Wenn dies alles so ist, so wäre es doch sehr gefährlich,wenn wir nach der Methode der Stoff Beschichte versuchten,zu einem sogenannten „Urtypus" der Atridensage durchzu-dringen, das heißt wenn wir aus den zahllosen „Varianten", indenen sie jedesmal gegenwärtig geworden ist, eine einzige ab-leiten und sogar wieder herstellen wollten und dann behaupten,sämtliche anderen seien „spätere" Abwandlungen von dieserEinen; oder gar meinen, wir könnten in dieser Weise dieselbe„Erzählung" in ihren verschiedenen „Entwicklungsstufen" besobachten.

Bei der Atridensage liegt diese Gefahr nicht vor; aber beianderen griechischen Sagen und vor allem bei unsern deutschenSagen hören die Versuche in dieser Richtung nicht auf. Daskommt daher, daß diese Sagen im Gegensatze zur Sage vonAtreus und Thyestes einmal ihre letzte, endgültige Prägung be-kommen haben, als sie einmalig von einer Kunstform erfaßtwurden. Sie heißen nun nicht mehr Sage, sondern sie heißenEpos. Und in diesem Epos, in dieser Kunstform, die durcheigene Mittel mit eigenen Gesetzen alles umreißt, alles klargestaltet, alles verendgültigt, hat auch die Sage einen sosicheren Umriß bekommen, daß wir uns bei unsrer Ergriffen-heit von der neuen Form schlechterdings nicht vorstellenkönnen, daß einmal die Sage als Einfache Form beweglich,vielgestaltig, wogend und auch in ihren Vergegenwärtigungennoch wandelbar und veränderlich gewesen ist. Wir glaubenes ihr nicht, daß sie nicht ehedem eine einheitliche Geschichtewar, die bestimmte Vorgänge in einer bestimmten Weise dar-stellte.

In diesem Unglauben werden wir in Deutschland noch be-stärkt durch das, was sich bei einem Teil der Germanen zu-getragen hat, durch das, was auf Island im 10. und 11. Jahr-

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84 SAGE

hundert geschehen ist. Dort hat sich S a g e in mündlicherÜberlieferung stetig, ununterbrochen, lückenlos zur S a g aherausgebildet: zur I s 1 e n d i n g a s a g a. Dort hat die Sagemit ihrer Form andere Stoffe ergriffen. Dort konnte sie mühelosschriftlich niedergelegt werden. Deshalb, so schließen wir,wird es auch bei den übrigen Germanen so gewesen sein.Und von dieser Ergriffenheit im Epos einerseits, von unseremUnglauben andererseits aus fangen wir nun an der Sagewissenschaftlich ins Handwerk zu pfuschen, indem wir selbersie durch eine Hypothese vergegenwärtigen, das heißt, indemwir von ihrer inneren Beschaffenheit, von dem, was in ihrbeharrlich ist, schließen auf eine Gegenwärtige Form, diezwar fehlt, die verschwunden und nirgends zu finden ist,aber die es nach unserer Überzeugung gegeben haben mußund die wir glauben in irgendeiner Weise wiederherstellenzu können, ja herstellen zu müssen. Ich sage noch ein-mal: darin liegt die große Gefahr die Wahrscheinlich

-keit ist sehr groß, daß wir mit unseren selbstgezimmertenGegenwärtigen Formen die Urform, mit unserer künstlichenSaga die Sage vergewaltigen und daß wir uns mit jedemdieser Gebäude den Weg zum Begriff verbauen. N i c h t w i eeine Saga ausgesehen haben kann, sondern wasS a g e b e d e u t e t, müssen wir wissen, müssen wir auchwissen, um zu begreifen, wie S a g e im Epos wirksam wird. DerWeg dazu ist nicht, daß wir das Veränderliche in seinen Ver

-änderungen beobachten, sondern daß wir aus dem Vergleichdes Veränderlichen mit dem, was beharrt, die Bedeutung desBeharrlichen erschließen.

Wenn wir der Meinung sind, daß in Werken der Kunst-form Epos manchmal die Einfache Form Sage wirksam ist,so haben wir nicht an erster Stelle zu fragen, welche Gegen

-wärtige Form, welche S a g a nun wohl im Nib e l u n g e n Ii e doder in der I 1 i a s zu finden ist, und wiederum, wie dieseSag a, ehe das Epos von ihr Besitz ergriff, in ihrer Gegen-wärtigkeit ausgesehen haben kann, sondern wir haben zu aller-erst zu fragen, wie sich die Einfache Form, die sich aus derGeistesbeschäftigung: Familie, Stamm, Blutsverwandtschaftergibt, zu der eigengesetzlichen Kunstform verhält und wie

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SAGE 85

sie in dieser Kunstform ihre neue, eigene, gegenwärtige Prägungbekommt.

Wir haben bei der Legende gesehen, wie ein Teil dergroßen Bewegungen der abendländischen Völker sich selbst inder Geistesbeschäftigung der imitatio begreift, wie die Kreuz-züge im Zeichen der L e g e n d e stehen. Wir können hier hin-zufügen, daß ein anderer, früherer Teil jener Bewegung in dergleichen Weise mit dem Begriff S a g e verknüpft ist. Viel vondem, was wir Vö 1 k e r w a n d e r u n g nennen, vollzieht sichim Sinne dieser Geistesbeschäftigung es ist keine durchimitatio im Ganzen und in jedem Einzelnen gerichtete Be-wegung, sondern es sind wandernde Stämme, die sich als ein

-zelne, als Familien fühlen und in denen die einzelnen Familienwiederum das sind, was den Stamm zusammenhält. Und sowird hier alles Geschehen S a g e : Untergang eines Volkesheißt Untergang der Familie, Sieg eines Volkes wird mit einerSprachgebärde verdichtet zum Sieg des Familienhauptes, desSagenhelden, und auch das Zusammenprallen zweier Völker,sei es nun, daß sich die Wandernden begegnen, sei es, daß siemit Seßhaften zusammenstoßen, kann immer wieder nur indieser Weise gedacht werden. Wie in diesem Erleben Spracheerzeugt, schafft, deutet, ist klar ebenso aber, daß hier vielesgegenwärtig wird, aber sich als Gegenwärtiges in dem Ge-tümmel und Gewimmel nicht so ausgestaltet, wie das bei dergemächlichen Besiedlung Islands von Norwegen aus der Fallsein konnte.

Diese bewegliche Vielfältigkeit ist im Epos wiedergekehrtso wie im Epos immer etwas früher Geschehenes wiederkehrt.Sie ist in ihm nicht als Saga, sondern als Sage erhalten.Nirgends sind die Leidenschaften und die Schicksale einerFamilie so unentwirrbar und so sprechend, wie im Nibelungen

-liede. Hier ist alles Familie. Gibichungen, Walisungen, Nibe-lungen, Burgunden sind Familien. Aber auch die Hunnen sindes, sie bilden kein feindliches Volk, sie bilden Etzels Stamm.In Etzel ist nichts von dem nationalen Feind der Germanenoder von dem flagellum Dei er ist Ehemann, er ist Familien-haupt, er ist durch sein Eheweib an den Zwist einer andernFamilie gebunden, oder er ist lüstern nach dem Schatz, in dem

6

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sich Familienbesitz vergegenständlicht. Und wiederum triffthier alles zusammen, was zur Familie gehört : Besitz und Fehde,Blutrache, Verwandtenmord, Brudertreue, Eifersucht, Frauen

-zank, Beischlaf steigert es sich ins Ungeheure, löst es sich,wo es sein muß, fast in das Komische.

So liegt das Nibelungenlied vor uns: viel mehr aus ger-manischer Sage als aus einer bestimmbaren, geschweige dennwiederherstelibaren germanischen Saga gewachsen, und sokönnen wir es unterscheiden in seiner Geistesbeschäftigungvon seinem romanischen Nebenbuhler, vom Rolandslied, wodas alles fehlt, wo es ersetzt ist von der Geistesbeschäftigungder Legende. Das Epos der Völkerwanderung neben demEpos der Kreuzzüge als Kunstform ebenbürtig. aber aufeiner anderen Geistesbeschäftigung gewachsen.

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♦1.

Nachdem wir die Sage bei den Germanen und den Griechenbeobachtet haben, möchte ich nur kurz einen dritten Punkt an-weisen, wo sich Sage in besonderer Weise verdichtet hat, undwo wiederum ein ganzes Volk als Familie begriffen wird undsich begreift. Wir lesen in einer Überlieferung, die im Kanondes Alten Testamentes erhalten ist, wie die Israeliten sich alsdie nach Gottes Befehl sich schnell vermehrende FamilieAbrahams darstellen und wie zwölf Stämme auf ebensovieleBrüder zurückgeführt werden. Auch hier sind alle Personendie, Erben und der Besitz ist das Erbe. Die schwerste Probe,die einem Vater auferlegt werden kann, ist das Opfer seinesSohnes und in ihm seiner Familie. Der Segen des Vaters isthier so gegenständlich, so mit Macht geladen, daß er sich aus-wirkt in dem Geschlechte dessen, für den er nicht bestimmtwar, daß er wie etwas Greifbares geraubt wird. Der Gott isthier ein Gott der Väter, ein Gott von Abraham, Isaak undJakob. Und wiederum kehren Brudertreue und Bruderzwist,Familienhader, Eifersucht und alles, was dazu gehört, zugleichals Erleben der Personen, der Helden, in denen sich die Sageverdichtet hat, und als Sprachgebärden zurück.

Ich möchte, da ich auch hier nicht beabsichtige, eineGeschichte der Sage zu geben, auf die israelitische Sage nichtweiter eingehen. Ich verweise nur einerseits auf die Ereignisseaus der Sage der Erzväter, der Patriarchen und andererseitsauf das, was sich in dem Hause Davids begibt und was im2. Samuelis und 1. Könige erzählt wird. Wir finden wieder beieiner Vergleichbarkeit des Stoffes eine völlige Unvergleichbar

-keit der Geisteseinstellung, der Geistesbeschäftigung, und wirsehen, daß die Form, aus der sich die Patriarchen und ihreNachkommen ergeben, eine andere ist als die Form, in derKönigssöhne zu Davids Zeit, lebten und erlebt wurden. Hier

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wird die Familiengeschichte, die Königsfrage vom Staate Israelaus gedeutet.

Wohl aber möchte ich wiederum wie bei der Legende dieFrage berühren, ob und wie weit die Sage jetzt noch wirk-sam ist.

Wo wir sie bis jetzt gefaßt haben, hing sie mit einer Völker-bewegung zusammen. Es waren wandernde Semiten, bei denen

wir sie fanden, und wandernde oder übersiedelnde Germanen.Es muß die Zeit der dorischen Wanderung gewesen sein, inder die Atridensage sich bildete ja es scheint sogar, als obdie griechische Sage hier etwas faßt, das älter war als dieWanderer selbst und das von den Wanderern in bestimmterWeise aufgenommen wurde. Die Sage wurde von den Dorernaus umgedeutet, verschlechtert, auf Böses zurückgeführt -wir haben einen ähnlichen Vorgang wie bei derBildung der Antilegende vor uns. Andererseitshaben wir gesehen, daß etwas, was ich sehr im allgemeineneinmal Staatenbildung oder Stáatsbegriff nennen will, der Sagefeindlich ist, so wie das, was wir ebenfalls sehr allgemeinReformation nannten, die Legende ausschaltete.

Sehen wir uns in unserer eigenen Umgebung um. Daß imNorden die Saga nicht aufgehört hat, sich aus der Geistes-beschäftigung Familie zu bilden, hat Knut Liestel nachgewiesen(Norske Aettesogor, Kristiania 1922). Aber ist es bei unserenBauern nicht auch noch Sage, die gelebt wird werden nichtauch bei ihnen Besitz und Handeln und Recht und Geschehennach den Begriffen Familie, Stamm, Blutsverwandtschaft be-griffen und gewertet? Wer mit dem Lande vertraut ist, wirddiese Sage kennen ; in der Litteratur liegt sie noch heute in derBauernerzählung vor. Nur, daß hier die Verdichtung geringerist, daß die Sprache hier weniger mächtig eingreifen konnte,daß alles abgeblaßt ist und daß die große Gebärde hier indoppeltem Sinne fehlt.

Und in größerem Umfange? An einem Punkte hatte dasChristentum, so sehr es, da in ihm alle Menschen Brüder wurden,die Sage in ihrem Wesen bekämpfte, doch wiederum Sage insich aufnehmen müssen in dem Begriff der Erbsünde. Inder großen Gemeinschaft, die das Christentum bildete, vererbte

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SAGE 89

sich doch wieder Etwas Etwas was in den ersten Eltern, inden ältesten Ahnen, entstanden war, was sich vergegenständ-licht hatte, was von Geschlecht zu Geschlecht Macht besaß,wie der Vaterfluch in einem Stamm, und was nur in bestimmtemSinne dadurch aufgehoben wurde, daß die Gottheit selbst sichwie in einer Sage spaltete in Vater und Sohn. So sehr eineandere Geistesbeschäftigung sich bemühte, die Einheit diesesPaares durchzuführen, indem sie sie in einem Dritten, nichtzur Familie Gehörigen, band, und so sehr man später versuchte,die Mutter auszuschalten es blieb in diesem Verhältnis dieSage wirksam; und sowohl in der vererbten Sünde selbst, wiein dem erlösenden Gottessohn lagen Sprachgebärden, in denensich die Form verdichtet hatte und in denen sie sich erhielt.

Es ist, glaube ich, richtig gesehen, wenn wir diesen Be-griff der Erbsünde, wie es jüngst in einer Doktorarbeit ge-schehen ist, unmittelbar in Verbindung bringen mit dem Begriffder Erblichkeit, so wie er sich im 19. Jahrhundert in Erblichkeitvon Eigenschaften, Erblichkeit von Krankheiten aller Art, inerblicher Belastung, kurz in allem, was wir Heredität nennen,dargestellt hat und für die Wissenschaft ein Ausgangspunktverschiedenartigster Untersuchungen wurde. Wie sehr hat mansich bemüht, diese Erblichkeit in allen Einzelheiten zu beob-achten und selbst zu berechnen. Erblichkeit wurde die Grund-lage eines natürlichen Systems, das man nach einem hervor-ragenden Vertreter Darwinismus zu nennen gewohnt ist. Damitwurde die Natur Sage wurde alles Lebende zu Stamm-bäumen, zu einem Stammbaum zurückgebracht, auf seine Ver-wandtschaft hin untersucht, wurde nach seiner Verwandtschaftgedeutet in der Sprache der Verwandtschaftsbegriffe. Natur-lehre wurde Abstammungs-, Deszendenzlehre und es warwie ein Opfer, das diese Wissenschaft sich selber brachte, alssie in voller Hingegebenheit an diese Grundlage die Schluß-folgerung zog, daß des Menschen nächster Verwandter derAffe sei.

Wiederum zeigte sich die Folge dieser Geistesbeschäftigungin Kunstformen. Es ist die Großerzählung in Prosa, die dieseBegriffe von Erblichkeit und Abstammung erfaßt, die von dieserSage Besitz ergreift. Ich erinnere nur daran, daß Zola seinen

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90 SAGE

Romanzyklus Les R o u g o n- M a c q u a r t: Histoire naturelleet sociale d'une famille sous le second Empire nennt, und daßGalsworthy bei seinem Zyklus dem englischen Sprachgebrauchgemäß und keineswegs in „incorrect use" auf die Islendingasaga zurückgegriffen hat und sein Werk F o r s y t e- S a g anennt. Andere Beispiele anzuführen erübrigt sich.

Ich bin mit der Sage zu Ende. Wir haben gesehen,daß sie deshalb schwerer festzulegen ist, weil sie sich engerin ihrer Geistesbeschäftigung verschließt, bei ihrer Vergegen-wärtigung --- mit wenigen Ausnahmen meistens wenigersicher, weniger ausgeprägt ist als die Legende, weil, um esnoch einmal zu sagen, das Verhältnis von Sage zu Saga nichtin jeder Hinsicht dem Verhältnis von Legende zu Vita ent

-spricht. Auch ihre Sprachgebärde ist weniger verdichtet, nichtso klar und leuchtend. Und weil sie im Wesen schüchternerist, wird, wie wir gesehen haben, ihre Ausdrucksweise leichterdisqualifiziert.

Immerhin, als Einfache Form steht sie vor uns, sowohl inihrer sprachlichen Form wie in ihren Personen, die hier Erben,und in ihren Gegenständen, die das Erbe bedeuten.

Solche G e g e n s t ä n d e sind der Hof des Geschlechts,der Schatz der Familie, das Schwert des Vaters; solche P e r-

s o n e n sind außer dem Stammeshelden und seinen , An-verwandten auch noch die gespenstige Ahnfrau, die die ganzeFamilie vertritt und sich zeigt, wenn ihr Unglück drohtoder in den segur die Fylgjen.

Ein Knabe wird ausgesetzt, in einer anderen Familie er-zogen. Unbekannt tritt er in ein Zimmer, wo sich sein eigenerGroßvater befindet er stolpert und der Großvater lacht undsagt : ich sah, was du nicht sahest. Als du hereinkamst, liefein judger Eisbär vor dir her, aber als er mich sah, blieb erstehen; du aber warst zu rasch und stolpertest über ihn. Nunglaube ich, daß du nicht der Sohn Krumms bist, sondern edlerenGeschlechts.

Eine solche Fylgja, einen jungen Eisbären, der sie tin-gesehen begleitet, aber in dem, sobald sich ein Verwandternaht, dieser die Zugehörigkeit zum Stamme erkennt, führt imGrunde jede Person der Sage bei sich.

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MYTHE

I.

Die Seminarschüler, die auch den M-Band des GrimmschenWörterbuches bearbeiteten, hatten, als sie endlich bei „my"angelangt waren, vermutlich Eile nach Hause zu kommen. Sieschreiben:

„Mythe , f. Sage, unbeglaubigte Erzählung, aus demgriech. p-u og umgebildet, das geschlecht nach sage, geschichte,fabel, erzählung u. ähnl. geändert."

Dann ein magerer Beleg aus Uhland das ist alles.Demgegenüber finden wir in der 2. Auflage von Eislers

Handwörterbuch der Philosophie folgendes:„Mythus (u,9os, Rede, überlieferte Erzählung) ist die,

einen Bestandteil der auf bestimmter Entwicklungsstufe stehen-den Religion bildende, phantasiemäßige, anthropomorphe, auf

„personifizierender Apperzeption" und „Introjektion" (s. d.)beruhende Lebens- und Naturauffassung, Naturdeutung.Im Mythus, der ein Produkt der Phantasie ist, aber aucheine eigenartige Logik enthält, liegt die primitive Welt-anschauung, gleichsam die „Protophilosophie" vor ; aus demMythus, zum Teil aber im Gegensatz des erstarkenden begriff

-lichen Denkens hervorragender Persönlichkeiten zur phantasie-voll - anthropomorphen Auffassung desselben, haben sichWissenschaft und Philosophie entwickelt ..."

Vergleichen wir die zwei miteinander, so sehen wir, daßdie Verhältnisse hier noch verwickelter sind als bei der S a g e.Auf der einen Seite wird in dem Grimmschen Wörterbuch durchdie einfache Gleichung: Mythe = Sage -= unbeglaubigte Er-zählung Mythe vom Historischen aus entwertet. In demphilosophischen Wörterbuch wird nun der Mythus noch von

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92 MYTHE

einer anderen Seite angegriffen und wiederum in -seiner Selb-ständigkeit nicht ganz anerkannt. Mythus , so heißt es indem ersten Satz, ist eine Lebens- und Naturauffassung, eineNaturdeutung. Aber Mythus bildet nur einen Bestandteilder Religion auf einer bestimmten Entwicklungsstufe und kannnur als solche verstanden werden. Dann heißt es im zweitenSatz, daß im M y t h u s eine „primitive" Weltanschauung vor-liege wobei nicht gesagt wird, ob „primitiv" hier ursprüng-lich, einfach, unentwickelt, oder niedrig stehend heißen soll,was es nach Eislers Handwörterbuch (siehe unter primitiv) dochalles bedeuten kann. Jedenfalls aber wird M y t h u s vondiesem „primitiv" aus wiederum zur Vorstufe gemacht, diesesMal nicht zur Vorstufe der Historie, sondern zur Vorstufe derPhilosophie, zur „Protophilosophie" allerdings sollen sichWissenschaft und Philosophie aus ihm „entwickelt" haben.

So besitzt M y t h e außer „Historie" noch einen zweitenFeind, der ihr Eigenheit abspricht, der sie zu einer Vorstufe,zu einem frühen Glied in einer auf Höheres gerichteten Ent-wicklung macht. Wir werden Gelegenheit haben, diesen Gegnerkennenzulernen.

Indessen möchte ich und wäre es nur, um uns von denWörterbüchern zu erholen noch ein drittes Zitat hinzufügen.

1835 widmete Jacob Grimm seine D e u t s c h e M y t h o -I o g i e dem Historiker Friédrich Christoph Dahimann, demersten, der sich in neuerer Zeit mit einer der Quellen, die auchGrimm benutzt mit Saxo Grammaticus eingehend be-schäftigt hat. Was in dieser Widmung, die zugleich ersteEinleitung ist, über unsere Formen gesagt wird, darf ich, daes tiefer geht als das, was in Wörterbüchern gesagt werdenkann, als Ganzes nicht vorenthalten.

„Sage und Geschichte sind jedwedes eine eigne Macht,deren Gebiete auf der Grenze in einander sich verlaufen, aberauch ihren gesonderten, unberührten Grund haben. Alle rSage Grund ist nun Mythus, d. h. Götterglaube, wie er vonVolk zu Volk in unendlicher Abstufung wurzelt: ein viel all-gemeineres, unstäteres Element als das Historische, aber anUmfang gewinnend was ihm an Festigkeit abgeht. Ohne solchemythische Unterlage läßt sich die Sage nicht fassen, so wenig

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MYTHE 93

als ohne geschehne Dinge die Geschichte. Während die Ge-schichte durch Thaten der Menschen hervorgebracht wird,schwebt über ihnen die Sage als ein Schein, der dazwischenglänzt, als ein Duft, der sich an sie setzt. Niemals wiederholtsich die Geschichte, sondern ist überall neu und frisch, unauf-hörlich wiedergeboren wird die Sage. Festes Schrittes aniirdischen Boden wandelt die Geschichte, die geflügelte Sageerhebt sich und senkt sich : ihr weilendes Niederlassen ist eineGunst, die sie nicht allen Völkern erweist. Wo ferne Er-eignisse verloren gegangen wären im Dunkel der Zeit, da bindetsich die Sage mit ihnen und weiß einen Theil davon zu hegen;wo der Mythus geschwächt ist und zerrinnen will, da wird ihmdie Geschichte zur Stütze. Wenn aber Mythus und Geschichteinniger zusammen treffen, und sich vermählen, dann schlägt dasEpos ein Gerüste auf und webt seine Faden. Treffend gesagthaben Sie : [gemeint ist Dahlmann in der betreffenden Abhand-lung] so sehr unterliegt die Geschichte, welche kein Fleiß derGleichzeitigen aufzeichnet, der Gefahr im Gedächtnisse derMenschen ganz zu verschwinden, oder falls die Sage sich ihrerbemächtigt zwar erhalten, aber zugleich in dem Grade ver-wandelt zu werden, wie die härteste Frucht in die weichste,die herbeste in die süßeste durch Kunst der Zubereitung fastwillkürlich übergeht. Die Verwandlung, den Übergang räumeich ein, nicht die Zubereitung. Denn zubereitet nennen dürfenwir nicht was durch eine stillthätige, unbewust wirksame Kraftumgesetzt und verändert wurde. Es gibt doch nur wenig er-sonnene Sagen, keine, deren Trug vor dem Auge der Critiknicht zuletzt schwände, wie die verfälschte Geschichte weichenmuß einer weit größeren Macht der wahren ..."

Wie weit sind wir in diesem Abschnitt von der verflachtenSprache der Wörterbücher entfernt ! Er ist ein vortrefflichesBeispiel von Jacob Grimms Sprache, von seinem Stil, von seinerAnschauungsweise. Wir sehen sie vor uns: S a g e und G e -s c h i c h t e in ihrem verschiedenen Charakter, in der Art., wiejede einzeln auftritt und sich hervortut. Und dennoch istes recht klar geworden, was nun eigentlich S a g e heißt undwie sie sich genau zur G e s c h i c h t e verhält? Haben wir ausdiesen schönen Bildern, die besagen, daß Sage wie ein Schein

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94 MYTHE

glänzt und sich wie ein Duft an etwas setzt, begriffen, wie dasnun vor sich geht? Oder wie sich Sage mit fernen Ereignissenbindet? Und weiter verstehen wir, was Mythus hier be-deutet? Mythus ist a 11 e r Sage Grund, und Mythus heißtselber : „Götterglaube, wie er von Volk zu Volk in unendlicherAbstufung wurzelt." Dürfen wir nun schließen, daß jederGötterglaube Mythus sei oder auch nur, daß Mythus immerGötterglauben bedeute? Und weiterhin wird an einer Stelle,wo wir das Wort S a g e erwarten würden, plötzlich das WortM y t h u s eingesetzt und gesagt, daß nun Mythus der Ge-schichte zur Stütze wird. Sind nun Mythus und Sage hiernicht mehr begrifflich unterscheidbar? Ist Mythus gleich Sage?Mythus und Geschichte vermählen sich, und wo sie sich ver-mählen, schlägt Epos ein Gerüste auf und webt. Bleiben wirbei den Bildern ich habe meinerseits hier das dringende Be-dürfnis, Braut und Bräutigam sehr viel näher kennenzulernen,ehe ich ihnen zu ihrer Ehe gratuliere ; ich verspüre einebrennende Neugierde nach der Zusammensetzung dieses Web-stuhls : ich muß wissen, wie Schuß und Kette hier be-schaffen sind.

Man glaube nur eins nicht : man glaube nicht, daß es mirin irgendeiner Weise an Ehrfurcht vor den Gedanken JacobGrimms mangelt. Ich habe gerade diesen Abschnitt gezeigt,um zu beweisen, daß eine dünkelhafte Verschiebung der Be-deutung, sei es nun von der Historie, sei es von der Philosophieaus, bei ihm nicht vorliegt, daß bei ihm jeder Begriff eineeigene Macht und, wie er selbst sagt, seinen „ g e s o n d e r -t e n , unberührten Grund " hat. Ich weiß auch, wiesehr dem Zögling des deutschen Idealismus Sprache und Dich

-tung ein großes gemeinsames Geschehen in der Volksseele be-deuteten, ja das Größte, was je in der Volksseele geschehenwar oder geschehen konnte und daß es ihm hier in diesemVorwort nicht so sehr darauf ankam, Einzelheiten zu be-stimmen, sondern daß er eine Gesamtheit geben wollte, in derman die Elemente nur ahnte. Mythus, Sage, Geschichte undEpos sollten hier nicht ganz und nicht scharf getrennt werden,sie sollten zusammen Vertreter und Vertreterinnen sein jener„stilltätigen, unbewußt wirksamen Kraft", die

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MYTHE . 95

gerade für Jacob Grimm „himmelweit etwas anderes als dieKraft eines späten Dichters, und wäre er der stärkste" be-deutete.

Daß ich aber das alles weiß, ist kein Grund, dabei stehenzu bleiben. Im Gegenteil wenn wir wirklich überzeugt sind,daß jene Begriffe ihren „gesonderten, unberührten Grund"haben, so ist es unsere Aufgabe, die Sonderung durchzuführen,die Gründe abzustecken. Wir haben das bei der Legende undbei der Sage versucht daß es bei der Mythe schwierigersein wird, verhehle ich mir nicht. Trotzdem es muß auchhier möglich sein, bis zur Form durchzudringen, es muß mög-lich sein, das, was Jacob Grimm bildhaft andeutete, dem Wesennach genau zu bestimmen.

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II.

Was die katholische Legende des abendländischen Mittel-alters und was die isländische Saga des 10. und 11. Jahr

-hunderts uns gaben das fehlt uns bei der Mythe. Wir redenvon griechischer und von germanischer Mythologie, von Mythender Inder und von Mythen der Naturvölker aber mir istkein Punkt bekannt, wo wir aus dem Gewirr von Götterlehre,Schöpfungserzählungen, Heroengeschichten, von Verwand-lungen, Jenseits- und Weltuntergangsvorstellungen kurz ausalledem, was man als M y t ho l o g i e zusammenzufassen ge-wohnt ist, die M y t h e oder den M y t h o s so deutlich und sovereinzelt herausfühlen, daß wir sozusagen gezwungen werden,unsre Untersuchung dort anzusetzen.

Wir gehen von einem verworrenen Gesamtbild aus undmüssen versuchen zu sichten. Deshalb möchte ich hier gleichmit einem Beispiel beginnen. Ich wähle dazu einige Sätze ausGenesis.

„Da sprach Gott : Es sollen Leuchten entstehen an derVeste des Himmels, um den Tag und die Nacht voneinander zutrennen, und sie sollen dienen zu Merkzeichen und (zur Be-stimmung von) Zeiträumen und Tagen und Jahren. Und siesollen dienen als Leuchten an der Veste des Himmels, um dieErde zu beleuchten. Und es geschah so. Da machte Gott diebeiden großen Leuchten: die große Leuchte, damit sie bei Tagedie Herrschaft führe, und die kleine Leuchte, damit sie beiNacht die Herrschaft führe, dazu die Sterne. Und Gott setztesie an die Veste des Himmels, damit sie die Erde beleuchtetenund über den Tag und über die Nacht herrschten und das Lichtund die Finsternis voneinander trennten. Und Gott sah, daß esgut war."

Was haben wir hier vor uns? Schon in der Übersetzunghören wir, daß hier keine reine Aussage, keine Erzählung oder

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MYTHE 97

einfache Schilderung vorliegt. In der erhaben bekräftigenden,man könnte sagen : beruhigenden Art, wie die Perioden hin

-gesetzt sind, klingt etwas wie ein Zwiegespräch. Es ist etwasvorangegangen, und dieses Etwas war eine Frage, waren vieleFragen. Man hat den festen Himmel geschaut, man hat gesehen,wie am Tage die Sonne, in der Nacht der Mond ihn stätigwiederkehrend beleuchten. Schauen wurde Staunen, StaunenFragen. Was heißen diese Lichter des Tages und der Nacht?Was bedeuten sie uns in der Zeit und den Zeiträumen? Werhat sie dahin gestellt? Wie war es, ehe die Welt von ihnen be-leuchtet wurde, ehe Tag und Nacht getrennt, ehe die Zeit ein

-geteilt war? Und nun geht dem Fragenden eine Antwort zu.Diese Antwort ist so, daß keine weitere Frage gestellt werdenkann. so, daß im Augenblicke, da sie gegeben wird, die Frageerlischt ; diese Antwort ist entscheidend, sie ist bündig.

Wer fragt? Der Mensch. Der Mensch will die Welt ver-stehen, die Welt als Ganzes und in ihren Erscheinungen, wie

Sonne und Mond. Aber das heißt nicht, daß er sie schüchternund zögernd beobachtet, daß er suchend und tastend in siehineindringen, daß er sie von sich aus erkennen will derMensch steht der Welt, die Welt dem Menschen gegenüberund er f r a g t. Ich erinnere daran, daß f r a g e n von dergermanischen Wurzel fré11 sowohl b e g e ll r e n, wieforschen , wie auch fordern bedeutet. Der Menschfordert von der Welt, und ihren Erscheinungen, daß sie sichihm bekannt geben sollen. Und er bekommt A n t w o r t , dasheißt, er bekommt ihr Widerwort, ihr Wort tritt ihm entgegen.Die Welt und ihre Erscheinungen geben sich ihm bekannt.

Wo sich nun in dieser Weise aus F r a g e und A il t w o r tdie Welt dem Menschen erschafft da setzt die Form ein, diewir M y t h e nennen wollen.

Stellen wir uns einen König vor, der irn Zweifel ist, ob ereinen Krieg anfangen soll. Er kann sich die Frage nach altertSeiten überlegen: genügen meine Streitkräfte, reichen meineGeldmittel aus, werden meine Bundesgenossen mir treu sein? --oder: wie steht. es um meinen Gegner, sind nicht seine Streit-kräfte größer, seine Mittel ergiebiger, wird es ihm nicht ge -lingen, meine Freunde zu bestechen? Hoffnungen, Bedenken.

.10 I I p s. Fint;trii ►• Formei,

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98 MYTHE

Befürchtungen jagen sich. Aber nun gibt es eine Stelle, wosich die Welt hier die Welt als Geschehen selbst be-kannt gibt, sich zu sich selbst bekennt, wo also auf die Frage:was wird geschehen? die Antwort da ist. Nicht in der Weise,.daß man an jener Stelle mit außergewöhnlichen Mitteln, diedem gewöhnlichen Sterblichen nicht zugänglich sind, etwas mehrerfahren oder besser erkennen könnte als anderswo, sondernso, daß sich eine Frage in einer Antwort selbst löst; daß ausFrage und Antwort sich das Gegenständliche selbst erschafft.Wir nennen dies 0 r a k e 1 und wir denken sofort an dasgriechische Orakel, an das Orakel von Delphi, an Geschichten,wie sie uns Herodot von dem Krieg zwischen dem Lyder-könig Kroesos und dem Perserkönig Kyros oder von Themi-stokles erzählt. Nehmen wir die Sache möglichst allgemein:es liegt auch bei dem Orakel von Delphi nicht so, daß zu-künftiges Geschehen, sei es nun durch den Willen der Gott-heit, sei es durch irgendeine Weltordnung, von vornhereinfestgelegt wäre und daß es nun zu Delphi eine Stelle gäbe,wo man, auf besonderem Wege von der zukünftigen Lage derDinge unterrichtet, bereit wäre, zu gewissen Bedingungen überdiese Lage Auskunft zu erteilen sondern wir haben dasOrakel so zu verstehen, daß es an einer heiligen Stelle dieMöglichkeit gibt, durch eine Frage die Zukunft zu. zwingen,sich selbst bekanntzugeben, oder mehr noch, daß in Frage undAntwort Zukünftiges sich selbst erschafft.

Mythe und Orakel gehören zusammen, sie gehören zurgleichen Geistesbeschäftigung. Beide s a g e n w a h' r. DasWort w a h r s a g e n richtet sich wie auch das Wortw e i s s a g e n für uns auf das Zukünftige, deshalb sind wireher geneigt, es für die Geschichte des Lyderkönigs zu ge-brauchen als für das, was wir im Anfang des Buches Genesisüber Sonne und Mond finden. Aber wir müssen auch das w ah rund w a h r s a g e n hier tiefer nehmen; wir müssen darandenken, daß w a h r mit w ä h r e n verwandt ist daß die Weltdie sich uns gewährt, indem sie von sich wahr sagt: w ä h r t,und daß in dieser Welt demzufolge Vergangenheit und Zu-kunft nicht geschieden sind. Und wenn wir in dieser WeiseMythe und Orakel in dem Ausdruck w a h r- s a g e n zusammen-

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MYTH 99

gebracht haben, dürfen wir daran erinnern, daß die Wurzel,die in f r a g e n liegt, im Angelsächsischen erkennbar ist inI r i h t und f r i .h t r u n g, die „orakel" bedeuten, und infrihtrian, wahrsagen.

Noch ein anderes Wort könnte man hier gebrauchen:0 f f e n b a r u n g. Aber Offenbarung ist ein gefährliches Wort,es ist von der Theologie zu verschiedenen Zeiten in sehrverschiedener Weise gebraucht worden. Oft versteht siedarunter ein unmittelbares Tun Gottes in dem Sinne, daßdie Gottheit sich von sich aus den Menschen zeigt. In dieserWeise ist Offenbarung weder Mythe noch Orakel. Der „redendeGott", der sich des menschlichen Redens und Denkens bedientund von sich aussagt, damit wir ihn im Geiste erkennen, wie esim 1. Kor. 2, 9/10 ausgedrückt wird, gehört nicht in diesen Ge

-dankengang.Noch einmal: Sonne und Mond, wie wir sie in Genesis

.sehen, wurden zunächst als Erscheinungen beobachtet; jedenTag erschien die Sonne und erhellte den Tag; wenn sie unter-ging, konnte der Mond erscheinen und sein Licht spendenin ihrem an sich wieder stätig währenden Wechsel vollzog sichdie Zeit in Tagen und Jahren. Da entstand das Verlangen, sie.zu verstehen, und die Wißbegierde äußerte sich in einer Frage..Sie antworteten, und indem sie antworteten, sagten sie wahr;indem sie wahr sagten, wurden sie auch dieses Wort möchteich in der tieferen Bedeutung geben : w a h r- g e n o m m e n..

Beachten wir die Form : es ist hier wiederum nicht so, daßdie Gottheit von sich aus mitteilt: „ich habe die Leuchtendahin gestellt, damit sie Tag und Nacht voneinander trennen".Was Gott gesprochen hat, sprach er nicht zu den Menschen;es bezog sich auf Sonne und Mond selber. Danach ist es ge-schehen: Gott hat sie aufgestellt nun erfüllen sie ihre Auf

-gabe, nun sind sie ganz sie selbst geworden. Sie sind so sehrsie selbst, daß die Gottheit in gewissem Sinne ausgeschaltetwird; auch Gott steht ihnen gegenüber, auch er sieht siesieht: „daß sie gut sind". Will dieser Satz, der wie einKehrreim in jenem prolog zum Buche Genesis wiederkehrt,besagen, daß Gott an der Güte seiner Schöpfung gezweifelthabe ? Selbstverständlich nicht. Dieser Satz besagt, daß jedes-

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100 MYTHE

mal in der Schöpfung und durch die Schöpfung Alles : Licht undFinsternis. Himmel und Erde. Trocknes und Gewässer, Sonneund Mond, bündig geworden, demnach selbständig ist; er istdarüber hinaus eine letzte Antwort, eine erhabene Wahr-sageder Schöpfung selbst, die sich ihrem Schöpfer als ,gut" be-kannt gibt.

Mythus als Form ist hier in sich vollkommen abgeschlossen.Nach Sonne und Mond wird gefragt; Sonne und Mond ant-worten. Es ließe sich über die Gottheit, die die Leuchten ander Veste des Himmels entstehen läßt., natürlich noch vielesandere sagen, man könnte sie anders fassen, sie mit andernAttributen ausstatten. Aber gerade das geschieht hier nicht.Sonne und Mond sind von der Gottheit aufgestellt, und die Gott-heit ist hier keine andere als diejenige, die Sonne und Mondaufgestellt hat. Nur e i n e Erscheinung gibt sich in dem Mythusvollständig bekannt und trennt sich in ihrer Selbständigkeitvon allen anderen Erscheinungen.

Damit ist aber nicht gesagt, daß nicht andere Erscheinungensich in der gleichen Weise in Mythen gleicher Art bekanntgeben können. Ich muß wieder hervorheben, daß ich auch hier,so wie bei Legende und Sage, einen Unterschied mache zwischender Einfachen Form als solcher und ihrer Vergegenwärtigung.Ich tue das, indem ich Mythe und Mythus trenne : M y t h eheißt die sich aus unserer Geistesbeschäftigung ergebende Ein-fache Form, dagegen ist die Form, in der sie vereinzelt jedes -mal gegenwärtig vor uns liegt.. M y t h u s oder e i n M y t li u s.

Gerade nun das größere Stück, das denn ersten Bibel-buch vorangestellt ist ich meine Genesis 1, 1 bis 2, 1, die

Einleitung, die die Exegeten mit Priesterkodex) bezeichnenund aus dem wir den Mythus von Sonne und Mond genommenhaben, zeigt uns deutlich eine Anzahl solcher vereinzelter abergleichartiger Mythen. Man nennt es als Ganzes „Weltschöpfung"oder „Schöpfungsgeschichte ", aber beide Worte sind miß-verständlich; denn die Welt ist hier in ihre Erscheinungen zer-legt, und die Tage, durch die die Schöpfung geteilt. ist, bildenvielmehr eine Trennung, als eine chronologische Reihenfolge..rede Erscheinung hat ihren eigenen Mythus — pie werden aber

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MYTHE 101

dadurch zusammengehalten, daß sich jedesmal dieser Mythusmit der gleichen Gebärde vollzieht.

Indessen sind wir mit dem Begriff S c h ö p f u n g schonüber die einzelnen Mythenhinausgekommen. Mythe ist Schöpfung.Ich nehme das Wort wieder in seiner tieferen Bedeutung underinnere an die germanische Basis * s k a p, die sowohl inschöpfen als in schaffen steckt, und die auch in demSuffix - s c h a ft ihre Bedeutung noch bewährt. Wir habenschon gesagt, daß sich in der Mythe aus Frage und Antwortder Gegenstand erschafft wir können das auch so aus

-drücken: in der Mythe wird ein Gegenstand vonseiner 13 SC ha. ffenheit. aus Schöpfung.

7

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III.

Damit beobachteinwir aber zugleich, wander Mythe gegen-übersteht : das, was wir, als ich aus einem philosophischenLexikon die Begriffsbestimmung zitierte, den Feind der Mythenannten. Erkennen und Erkenntnis als Vorgang, derWille, die Welt von sich aus aktiv zu verarbeiten, das Hinein

-dringen in die Welt, um selbst Einsicht in ihre Beschaffenheitzu gewinnen jener Vorgang, bei dem nicht Gegenstände sichschaffen, sondern bei dem sie erzeugt werden, er ist es, dermit der Mythe in unaufhörlicher Fehde lebt.

Wir würden diesen Gegensatz von Mythe und E r -k e n n t n i s schon aus einem genauen Vergleich der Worte,uJOos und ? o'yoc im Griechischen ablesen können. Aber auchdies gehört zu den Dingen, die wir uns versagen müssen. Nureinige wenige Beispiele aus Homer mögen verdeutlichen, was,uf31os heißt und wie es sich zu unserer Form M y t h e verhält.

Telemachos rüstet sich (Odyssee II) zum heimlichen Auf-bruch. Er läßt sich von der Wirtschafterin Eurykleia Wein undMehl aus dem Vorratshaus zurechtlegen (339 ff.) ; abends be-gibt er sich zu seinem Schiffe und befiehlt seinen Gesellendie Vorräte zu holen (410 if.). Die Mutter und die anderenSklavinnen wissen nichts : µia d'o't' itV3lovv äzovicev „nureine weiß, wie sich die Sache wirklich verhält", könnten wirübersetzen oder besser noch: „nur eine weiß das Wort, daswahr sagt".

Nun kehrt Telemachos (Odyssee IV) von seiner Reise nachPylos und Sparta zurück, und die Freier beschließen, ihm au f-zulauern und ihn zu töten (663 ff.). Aber bald erfährt Penelopedurch den Herold Medon, was die Freier beabsichtigen, undwas sie erfährt ist wieder if„xeo::, wieder das Wort, das die.Wahrheit. enthält. (675/76).

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MYTHE 103

Endlich (Odyssee XX) ist Odysseus unbekannt nach Hausezurückgekehrt, und findet die Freier, die an seinem Tischeschlemmen. Unter ihnen befindet sich auch Ktesippos aus Same,ein übermütiger Knabe. Dieser verhöhnt den fremden Bettler,sagt ihm, daß er schon zur Genüge bekommen habe, aber daßer iliiii noch ein Ehrengeschenk darbringen wolle, damit er dieMägde, die ihn baden, oder sonst jemanden seinerseits damitbeschenken kann. Dann wirft er ihm einen Kuhfuß aui denKopf. Nur indem er ausweicht, entgeht Odysseus der Schmach(292 ff.). Da wandeln sich die Verhältnisse : Odysseus hat deliBogen gespannt , er steht mit seinen Freunden den verängstigtenFreiern gegenüber (Odyssee XXII). Einer nach dem andernfällt.. Da tötet nun auch der Rinderhirt Philoitios den Ktesippos.und er sagt ihm (285 ff.), er solle nicht mehr töricht und un-besonnen reden, sondern er solle 'eo^ncv pD»ov tzeÉ^pac, ÉT eIi¡ 7co9;. rpbezeeoí eiaev er solle den Göttern, da sie mächtigersind , den ;UV.oc überlassen. -Übermut, Dummheit, heißt es hier,daß Ktesippos gemeint hat, der Bettler, der sich zwischen denFreiern befand, wäre wirklich ein Bettler, daß er gemeint hat,ihn von sich aus als Bettler erkennet ► zu können, daß er ihndieser Erkenntnis gemäß als Bettler behandelt hat. Mythos ist,daß dieser Bettler kein Bettler, sondern Odysseus war. Ktesipposhat, von der Erkenntnis ausgehend, die innere, die eigentlicheBeschaffenheit des Bettlers verkannt : den Mythos, der denGöttern bekannt war.

1fIV,9ov É1(tre ttfat Ioic, das Wort, das wahr sagt, denGöttern überlassen, ist den späteren Griechen Spruch — viel

-leicht war es schon so in der Odyssee. Wie dem auch sei,jedenfalls bedeutet diese Redensart keineswegs, daß man dieFrage, die zum Mythus führt, nicht stellen solle, sondern sie be-deutet, daß Erkenntnis eitel ist, daß jeder Versuch des Men-schen, in die Welt hineinzudringen und sie von sich aus zu ver

-stehen, jeden Augenblick auf Fehlschlüsse und Irrtümer aus-laufen kann, weiterhin aber, daß die Götter das Wort kennen,

das wahr sagt, daß der Mythus göttlich und daß göttlichesWissen, das die Dinge aus den Dingen heraus versteht,Mythe ist.

Es ist, nicht leicht. ein Kennwort zit tinden. das die Geistes-

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104 MYTHE

beschäftigung, aus der sich die Einfache Foriii Mythe ergibt,andeutet. Wir könnten Wissen, W i s s e in s c h a f t wählen,aber wir müssen dabei fest im Auge behalten, daß nicht jenesWissen gemeint ist, auf das sich Erkenntnis letzten Endesrichtet, und selbst nicht jenes von vornherein Gewisse, strengNotwendige, allgemein Gültige, das Erfahrung und Erkenntnisbedingt und begründet und das jeder Erkenntnis vorangeht,sondern daß wir es hier mit jenem unbedingten Wissen zu tunhaben, das sich nur ergibt, wenn in Frage und Antwort einGegenstand sich selbst erschafft und sich durch das Wort,durch die W a Ii r s a g e, bekannt gibt und bewährt.

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Iv.

Ich möchte dem Mythus aus Genesis als zweites Beispieleinen griechischen Mythus an die Seite stellen. Ich wähle diesBeispiel wieder aus Pindar, aus dem Anfang des 1. PythischenEpinikioiis; nicht aus dem Teil, der hier die Legende enthält,sondern aus dem vorhergehenden, in dem der Ort des Festes, derKulthandlung festgelegt wird. Mit einem Lob der goldenen Phor-mix, des Gesanges, setzt das Lied ein. Alles beruhigt derGesang, auch den Blitz des Zeus, er schläfert den Adler aufdem Götterszepter ein, er bezaubert selbst Ares, den Krieg.Nur Feinde des Göttlichen erschrecken bei dem Sang derMusen, so auch der hundertköpfige Götterfeind Typhon. Undnun folgt die ausführliche Beschreibung jenes Riesen Typhonund seiner Strafe. Sein gewaltiger Körper liegt ausgestrecktvon Kyme auf der italienischen Küste bis hinab nach Sizilien,dort liegt der Berg Aetna mit seinem eisigen Schnee wie einehimmlische Säule auf seiner Brust, und nun speit er aus desAbgrunds Tiefen bei Tag und bei Nacht das Feuer, die hoch-wirbelnden, purpurnen Flammen empor. Ein Wunder zu sehen,ein Wunder schon, wenn man davon hört.

Vor uns liegt der Berg mit seinen drei Zonen : unten dieReben, in der Mitte die Wälder, oben der kahle, während desgrößeren Teils des Jahres mit Eis und Schnee bedeckte Gipfel.Aber der Berg ist nicht wie andere Berge, er speit Feuer.Hier setzt die Frage ein hier wird sie in einer Antwortgelöst. Bei Pindar in doppelter Weise. Es sind wieder wiein Genesis, aber hier weniger scharf getrennt, zwei Mythen.Erstens, was ist ein Berg überhaupt? Die Antwort, in einerSprachgebärde begriffen, lautet: S ä i11 e des H i m m e Is. Aberdann: weshalb sprüht aus diesem Berge Feuer? und da heißtes: unter ihm und von ihm festgehalten liegt der götterfeind

-liche hundertköpfige Riese, der Erzfeind. Aber schon hier

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106 MYTHE

interpretieren vii• etwas zu weit der Berg. der Himmels -pfeiler, i s t selbst wiederum von oben bis unten der R i e s e,der F e i li d. Zweimal antwortet diese Erscheinung, zweimalbekennt sie sich, bezwungene von einer Frage, zu sich selbst,zweimal erschafft sie sich, verdichtet und dichtet sie sich inSprachgebärden. Die Stütze des Himmels wird zumfeuerspeienden Götterfeind.

Wie wenig würden wir den Vorgang, die Form als Form,begreifen, wollten wir sagen, die Griechen waren zu jenen Zeitenallzu ungenügend über Berge, Himmel oder vulkanische Er-scheinungen orientiert, oder wollten wir von einer auf „personi-fizierenderApperzeption" beruhenden „Naturdeutung" sprechen.Es ist keineswegs Natur in unserem Sinne, was hier gedeutetwird. Feuerspeiende Berge sind in der Welt unserer Geistes

-beschäftigung keine Natur damals nicht und auch heutenicht. Und es gibt. auch keinen unmittelbaren Weg, der vondem Mythus „Aetna" von dem Bekenntnis des Berges zurErkenntnis geologischer Erscheinungen führte.

Wohl aber gibt es eine geistige Umstellung, man könntesagen, eine Bekehrung: ein Sich -Abwenden von der Form undein Versuch, von sich aus an die Erscheinung heranzukommen,von sich aus über sie ein Urteil zu bilden, von sich aus dennGegenstand aus seinen Bedingungen zu erzeugen. Aber dieseBekehrung heißt Übergang vom M y t h o s zum L o g o s.

Hierop, der Sieger, den Pindar besingt, hatte am südlichenAbhang des Berges eine Stadt gegründet oder neu gegründet,die ebenfalls Aetna. hieß. Er hatte sie mit Bewohnern vonSyrakus und Katana bevölkert.. In dieser Stadt, die von seinemSohne Deinomenes verwaltet wurde, fand auch zu Ehren diesesSohnes die Siegesfeier statt. Hier wurde das Epinikion ge-sungen. Dies war der Ort, den Pindar festzulegen hatte. So-bald er mit seinem Bergmythus zu Ende ist, knüpft er an dieseStadt an. Noch einmal stellt sich der Mythus ein. Ein Berg,eine Säule des Himmels, ist wiederum S it z d e r G o t t lt e it,Statte, wo sie waltet; und so ist Aetna zugleich Himmelsstütze,Götterfeind und überdies Stätte des waltenden Zeus. Vonjenem Mythus aus erfolgt nun in dem Epinikion ein Gebet ami dieseGottheit. die Gründung des Hieron zu schützen, ihr Frieden

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uYTLI . 107

und Wohlgedeihen zu gewähreng. Dann wendet siele das Liedzu den Siegern. Ohne daß es ausdrücklich gesagt wird. werdeiidie Kriegstaten des heron in Verbindung mit dein Vorher

-gehenden gebracht, und es ist., als ob wir in den Siegen dessikelischen Tyrannen über Etrurien und Karthago ein Echohören von Zeus' Sieg über den feuerspeienden Riesenn. Abergerade hier spüren wir die Umstellung, von der wir soeben ge-sprochen haben : Pindar knüpft an den Mythus an, aber indem eranknüpft, verläßt er den reinen Mythus. In doppeltem Sinneleitet er den Mythus ab. Wenn wir, was er nur andeutet. aus

-sprechen, so müssen wir sagen : Was zwischen Hieron undseinen Gegnern geschieht und was zwischen Zeus und Typhongeschah, kann gegenseitig aufeinander bezogen, kann verglichenwerden. Damit aber stellt er nicht mehr unbedingt. die Frage,die sich in einer Antwort lösen kann.

Hier schleicht sich Erkenntnis ein. Pindar beurteilt vonsich aus die Taten des Hieron, er vergleicht sie mit der Typhon-fesselung, er , bezieht sie sogar auf den Mythus, er erkennt einenZusammenhang aber damit ist eben kein Hieronmythus ge-schaffen.

Überlegen wir uns, wenn wir in dieser Weise Mythos undLogos nebeneinander sehen, was für eine seltsame Zusammen

-setzung die griechischen Wörter ,« ^1 o^a j ^^v^. urilu7.ú;^¡i^^t

-und yiv3o? oyia enthalten, wie sie „das Widrige zusammen-gießen". Ich möchte das Wort „Mythologie" and liebsten ausder Reihe unserer Begriffe streichen; wollte ich es aber

-dennoch gebrauchen, so würde My t h o l o g i e das andeuten,was Pindar hier macht.

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V.

Wir müssen hier, damit auch dieser Vorgang verständlichwird, eine d r i t t e W e i s e erklären, in der sich unsere Formenscheinbar hervortun.

Bisher haben wir sie als reine Einfache Form und als derenVergegenwärtigungen gesehen. Wir haben gefunden, daß esneben Legende Vita, neben Sage Saga gibt. Wir haben indiesem Sinne Mythe und Mythus unterschieden. Nun beob-achten wir aber, daß es möglich ist, irgend etwas, wasnicht eigentlich zur Geistesbeschäftigung gehört, dennoch vonaußen her, von der äußerenGestalt ans, auf sie zu beziehen. Schon.Jacob Grimm redete von einer „ersonnenen Sage". Und icherinnere an eine andere Form, auf die wir später zurück

-kommen : wir wissen alle, daß es sogenannte K u n s t m ä r c ii e ngibt. Darunter verstehen wir im allgemeinen irgendeine Er-zählung, die in ihrer äußeren Gestalt absichtlich an das Mär

-chen angelehnt, ihm angeähnelt ist, aber die wir von innen herausdennoch nicht zum Märchen zählen. Es ist bekannt, daß esauch in der Sprachwissenschaft Ähnliches gibt, daß Worteanderen Worten äußerlich angepaßt, nachgestaltet werdenkönnen. Die wenig ertragreiche Notiz über Mythe imGrimmschen Wörterbuch hat uns zum mindesten gezeigt, daßdas griechische Maskulinum yvtfoc bei seiner Verdeutschungzu Mythe das Geschlecht von Sage, Geschichte, Fabel usw. an-nahm und unter dein Einfluß dieser Wortreihe ein Femininumwurde, daß ese sich in dieser Hinsicht jenen Worten anähnelte.Zu den Formen, die unmittelbar aus einer Geistesbeschäftigunghervorgehen, und die sich danach vergegenwärtigen, kommtnun diese dritte Weise hinzu, wo etwas nicht unmittelbar zurGeistesbeschäftigung Gehöriges dennoch die Gestalt jenerFormen annimmt: zu der Einfachen Form und der Gegen

-wärtigen Form gesellt sich das A n ar 1 o g o n, die BezogeneForm.

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MYTHE 109

Nehmen wir für die Mythe ein recht deutliches Beispiel.Feuerkohle, Strohhalm und Bohne gehen zusammen auf Reisen.Sie haben einen Bach zu überschreiten, und der Strohhalmlegt sich dienstbereit darüber. Die Bohne kommt glücklich aufdie andere Seite. Die Feuerkohle kommt bis zur Mitte. Da er-schrickt sie vor dem Wasser, bleibt stehen, verbrennt denStrohhalm und plumpst zischend und erlöschend in die Feuchtig-keit. Die Bohne findet das so komisch, daß sie zu lachen an-fängt sie lacht, bis ihr der Rücken platzt. Glücklicherweisekommt ein Schneider des Weges, der Nadel und Faden bei sichträgt ; er näht die Bohne, aber leider war der Faden dunkel,und seitdem haben alle Bohnen hinten eine schwarze Naht.

Wir haben auch hier Frage und Antwort. Warum hat dieBohne eine schwarze Naht? Iii der Antwort wird sogar dieFrage endgültig gelöst : sie war geplatzt ; sie ist mit. schwarzemZwirn genäht. Und dennoch spüren wir, daß hier auch ab -gesehen vom Format die Sache anders liegt als in Genesisund bei dem Aetnamythus. Wir spüren, daß hier nicht alles mitrechten Dingen zugeht. Die Frage wird nicht von innen herausgelöst. Die Bohne bekennt. sich nicht von sich aus zu ihremMerkmal: sondern der neugierig Fragende bringt selbst eineAntwort an die Bohne heran. Allerdings nimmt der Fragendedabei die Haltung an, als ob die Antwort nicht von ihm stammte;während er selbst antwortet, tut er, als ob die Bohne ant-wortete. Aber man merkt die Absicht; es ergibt. sich hier keineMythe, sondern es wird ein Mythus herangezogen. Die Ge-schichte der geplatzten und genähten Bohne bedeutet nicht,daß sich eine Erscheinung dem Menschen auf seine Frage be-kannt gibt, sondern sie stammt von einem Menschen, der be-strebt ist, eine von ihm beobachtete Erscheinung, die seineNeugierde geweckt hat, zu deren Erklärung jedoch seine Kennt.

-nisse nicht ausreichen, nach der Art der Mythe, in der Formeines Mythus zu erläutern. Und eben das ist es, was wir einAnalogon, einen Bezogenen Mythus nennen: einMythus, der nicht eigentlich wahr-sagt, sondern der abgeleitet.unddadurch nur wahr-scheinlich ist.

Überall wo sich aus einer Geistesbeschäftigung eine Ein -fache Form zwingend und bündig ergibt und sich - vergegen-

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110 MYTHE

wärtigt, finden wir daneben die Bezogenen Formen. Wo sieunser Formgewissen unterscheidet, pflegen wir ich habe schondarauf hingewiesen immer das Präfix „Kunst" voranzu-stellen, von „Kunstmärchen", „Kunsträtseln" zu reden. Wirdrücken damit aus, daß wir eingesehen haben, daß hier nichtdie Geistesbeschäftigung als solche vorliegt, sondern daß sieuns nur vorgespiegelt, vorgespielt wird. Nicht immer sind sieleicht von den eigentlichen Vergegenwärtigungen EinfacherFormen zu unterscheiden, hauptsächlich dann nicht, wenn dieGeistesbeschäftigung, aus der sich eine Einfache Form ergibt,uns aus irgendeinem Grunde fernergerückt ist. Wir werdennicht immer Gelegenheit haben, auf diese Analogien einzu-gehen, sie sind zum größten Teile für uns von geringer Be-deutung, hier aber müssen wir sie erwähnen, da sie zu derMythe in einem besonderen Verhältnis stehen.

Das kleine Spiel von Bohne, Feuerkohle und Strohhalmzeigt uns, wo sich Pindar befindet, wenn er in seinem Epinikionvon der Mythe zur Mythologie schreitet, darüber hinaus abergibt es uns eine leise Ahnung von dem ungeheuren Kampf, dender Mensch seit dem Augenblicke, da er zu denken anfing, zubestehen hat.

Der Wille zur Erkenntnis geht auf die Erfassung desSeins und der Beschaffenheit der Dinge; Erkenntnis ist gegen

-ständlich gerichtet, sie sucht Einsicht in den Zusammenhangder Dinge, sie will eine Bestimmung des Seins und des Soseinsder Objekte und ihrer Beziehungen. Erkenntnis faßt sich inUrteilen. Jedes Urteil soll Allgemeingültigkeit besitzen. Sobesteht die eigentliche Leistung der Erkenntnis darin, daß sieihren Gegenstand aus seinen Bedingungen erzeugt.

Aber neben dem Willen zur Erkenntnis steht die Geistes-beschäftigung, in der sich aus Befragtwerden-wollen und aus

Fragen, aus Antwort-heischen und Antwort-bereitschaft dieWelt ergibt. Neben Erkenntnis steht die Form, in der sich ausdem Wort, das wahr sagt, die Dinge und ihre Zusammenhängeeigenst erschaffen.

Neben dem Urteil, das Allgemeingültigkeitbeansprucht., steht die Mythe, die Bündigkeitbese

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MYTHE 111

Noch einmal: es ist nicht so, daß zeitlich das Eine demAndern vorangeht, daß Unzufriedenheit mit dem Einen mählichzum Andern führt, daß Entwicklung das Eine als unzuläng-lich auszuschalten vermag, um dem Andern Raum zu schaffen

sondern überall und immer stehen sie nebeneinander, undimmer und überall sind sie, wie die Königskinder im Liede,getrennt durch ein Wasser, das viel zu tief ist, und können nicht„beisammen kommen ".

Wohl aber gehen hinüber und herüber Sehnsucht undWiderspruch. Erkentnis versucht wir haben es schon ge-sehen einerseits die Form Mythe herabzusetzen und zuleugnen; andererseits greift sie auch das konnten wir beob-achten -- dort, wo sie sich ihrer Grenzen bewußt wird, leichtzum Analogon und versucht, sich selber in einem BezogenenMythus zu vollenden. Mythe ihrerseits strebt dort, wo sie ihrebindende Kraft einbüßt, oft danach, zur Erkenntnis hinüber zulenken, sich auf dem Wege der Erkenntnis zu stützen und neuzu beleben. Erkenntnis mit der Maske der Mythe und dieMythe in der Larve der Erkenntnis sind sozusagen gern ge-sehene Erscheinungen bei dem Mummenschanz des mensch-lichen Denkens.

Wenn wir von unserer Litteraturgeschichte aus die Ge-schichte der Philosophie betrachten und das Schauspiel desAbstoßens und Anziehens von Mythe und Erkenntnis beob-achten, so wird es uns klar, wie hier eine der schwierigstenAufgaben unserer Morphologie vor uns liegt, aber zugleich,wie wenig wir bisher dieser Aufgabe gewachsen sind.

Vor nicht langer Zeit erschien von dem klassischen Philo-logen Karl Reinhardt ein treffliches Buch über PlatonsM y t h e u. Wir finden da nicht nur die vergegenwärtigtenMythen aus Platons Werken zusammengestellt und verglichen,sondern weit darüber hinaus können wir beobachten, wie dieForm Mythe in Plato überhaupt wirksam ist. Von dem Augen-blick an, da in dem P r o t a g o r a s fast leichtsinnig, fast imScherze den Zuhörern die Wahl gelassen wird, ob sie dieFrage, ob Tugend ein zu Lernendes sei, auf dem Wege desMythus oder auf dem des Logos beantwortet haben wollen, bisin die spätesten, ernstesten Dialoge sehen wir immerfort, wie

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112 MYTHE

die Geistesbeschäftigung, aus der sich die Foriii ergibt, dieimstande ist, aus. Frage und Antwort Gegenstände zu er-schaffen, gegen den Willen zur aufklärenden Erkenntnis ringt.Und schließlich, wiederum über diese Einzelmythen, über dieseEinzelkämpfe hinaus was ist die Figur des Sokrates, so wiesie sich in dem platonischen Opus, in den Dichtungen des Platoerschaffen hat, anderes als die litterarische Form, die wirsuchen, was ist sie anderes als der platonische Mythus selber,das Orakel, durch das die befragte Welt gezwingeil wird,bündig zu sein, indem sie von sich selbst wahr sagt!

Wollten wir an die Philosophie des Mittelalters, an dig--„antilla theologiae", an die Scholastik, herantretenl, so würdenwir erfahren, wie auch dort die Form Mythe dem Willen zurErkenntnis gegenüber steht, aber wie auch dort ein nicht zuEnde gedachter Gedanke oft die Flucht in den BezogenenMythus ergreift.

Indessen -- wo wir schon auf eine Geschichte derL e g e n d e und der S a g e verzichten mußten, wollen wir unshüten, mit der unendlich schwieriger zu schreibenden Ge

-schichte der Mythe hier auch nur den Anfang zu machen.

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VI.

Wohl können wir uns fragen : wie arbeitet unsere Form?Wie faßt in der Geistesbeschäftigung des Wissens Mythe dieWelt? Sowohl bei Sonne und Mond, wie bei dem Berg und demfeuerspeienden Berg haben wir gesehen, daß die Frage anerster Stelle herausgefordert wurde von, daß sie, sich richtetenach allgemeinem Erscheinungen, die zugleich vielfach undstätig sind und die sich dadurch von der beweglichen Ver

-schiedenheit des Alltäglichen abheben. Die Welt der Mytheist keine Welt. in der es heute so und morgen anders zugeht,in der etwas kommen, aber auch ausbleiben kann; sie ist eineWelt, die Befestigung sucht, eine feste Welt. So ist die Sonnein Genesis keine Sonne, die heute scheint und morgen vonWolken getrübt ist, sondern sie ist jene Leuchte an der Vestedes Himmels, die jedesmal wieder den Tag von der Nacht.trennt und durch die die Stätigkeit der Zeiträume bestimmtwird. So ist auch der Berg das Feste, das in seiner Festigkeitden Himmel stützt. Auch der Vulkan ist nicht ein Berg, dermanchmal Feuer speit, sondern er ist der Berg, dein eine ver

-derbliche Fähigkeit, die feindliche Macht, Feuer zu speien,stätig innewohnt. Wo nun in einer Antwort die Frage getilgtwird, wo, wie wir auch schon gesehen haben, diese WeltSchöpfung wird, da findet. sich immer ein G e s c h e lt e in.

Das althochdeutsche s c ë h a Ti , das mittelhochdeutsches c h ë lt e n haben noch die Bedeutung von „schnell einher

-fahren", „dahin eilen", „rennen"; das verwandte astslawisches k o k ú heißt „Sprung". Diese Bedeutung müssen wir unsvor Augen halten, wenn wir hier von G e s c ii e ii e n reden.Gerade das, was allgemein, aber im Vielfachen stätig ist, faßtdie Mythe mit. einem eiligen Sich-Ereignen, mit einem plötzlicheintretenden, unabweisbaren Geschehen: es springt, zutage, esentspringt. „ I1 n d s o g e s c h a h e s ". heißt es in unserm

•Tolles, Einfache N'nnnen 3

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114 MYTHE

Genesismythus, „da machte Gott die beiden großen Leuchten:die große Leuchte, damit sie bei Tage die Herrschaft führe,die kleine Leuchte, damit sie bei Nacht die Herrschaft führe,dazu die Sterne." Sonne, Mond und Sterne sind in diesemGeschehen aus dem Vielfachen zur Einheit zurückgebracht;es gibt nicht viele Sonnen; wenn die große Leuchte ver

-schwindet und wiederkehrt, ist sie nicht neu, es ist immer diegleiche Sonne, weil sie in diesem einmaligen G e s c h e h e nbestätigt, unveränderliche Schöpfung geworden ist. So gibtes viele Sterne, aber sie sind in ihrer Vielheit stätig, sie sindin ihrer Vielheit von dem Punkte ihres Anfangs zur Einheitzurückgeführt. Und es gibt viele Berge, viele verschiedeneBerge ; aber wo ein Berg von sich selber aussagt, nennt er sichPfeiler des Himmels , sagt er, daß er einmal aufgebautist, um den Himmel zu stützen, oder Sitz der Götter, dasheißt, daß er einmal hingesetzt ist, damit sich die Gottheit aufihn niederlassen soll. So gibt es für die Griechen nur einenAetna, aber seine dauernde feindliche, zerstörende Macht istin einem einmaligen Geschehen, der Versenkung des hundert

-köpfigen Ungeheuers, begründet.Geschehen in diesem Sinne bestimmt. die S p r a e h-

gebärde der Mythe.Als wir von der Legende sprachen, beobachteten wir, wie

sich unter der Herrschaft einer bestimmten Geistesbeschäfti-gung aus der Mannigfaltigkeit des Geschehens gleichartige Er-scheinungen verdichteten, wie sie in ihrer Verdichtung von derSprache zusammengewirbelt und als Gestalt umgriffen wurden.Bei der Mythe liegt die Sache etwas anders. Freilichhebt auch die Geistesbeschäftigung des Wissens aus FeinerMannigfaltigkeit Gleichartiges hervor : die Form Mythe, wiewir sie bisher kennengelernt haben, richtete sich auf das,was in der beweglichen Verschiedenheit der sichtbaren Er-scheinungen zugleich vielfach und stätig war, auf das sichgleichmäßig Wiederholende, wie Sonne und Mond, auf dasBleibende, wie Berg oder Vulkan. Aber so gefährlich es wäre,eine hierarchische Rangordnung der Einfachen Formen be-gründen zu wollen, wir können uns hier doch nicht verhehlen,daß das. womit sich der Geist. in der Mythe beschäftigt, an eich

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MYTHE 115

eine andere Dichtigkeit, eine andere Würde, eine andere Selb-ständigkeit besitzt als das, womit sich der Geist in Legendeoder Sage beschäftigt, und daß demzufolge auch der Sprach

-gebärde der Mythe eine andere Festigkeit, eine andere Gültig-keit und eine andere Machtvollkommenheit wollten wirFremdwörter gebrauchen, so würden wir sagen: eine anderedignitas und eine andere auctoritas zustehen, als den Sprach-gebärden von Legende und Sage. Deshalb möchte ich nichtsagen, daß die Sprachgebärde der Mythe gleichartige Er-scheinungen zusammenwirbelt und als Gestalt umgreift. DieSprachgebärde der Mythe ist zwingender : sie ist wie einNadelöhr. Alles, worauf sich die Geistesbeschäftigung desWissens richtet, alles, was in der Welt stätig und vielfach ist,wird in der Form Mythe durch die Sprachgebärde zusammen

-gerissen, zusammengepreßt, durch das einmalige Geschehenhindurchgezogen und empfängt in diesem Geschehen die Deutungsein-er Vielheit und Stätigkeit. Wollten wir den Gegensatz derForm Mythe zur Legende und Sage etwas zuspitzen, so könntenwir sagen, daß sich in letzteren Bewegliches gestaltet, daßin der Mythe dagegen Gestalten in einem Geschehen beweg-lich werden.

Fassen wir noch einmal zusammen. Das, was wir Frageund Antwort genannt haben, läßt sich genauer umschreiben.Die Frage geht nach dem Wesen und der Beschaffenheit allesdessen aus, was wir in der Welt als stätig und vielfach be-obachten. Die Antwort greift alles dieses in dem Geschehenzusammen, das in seiner unbedingten Einmaligkeit die Vielheitund Stätigkeit zur Einheit zurück "hrt und sie als solche zu-gleich fest und beweglich gestaltet, in einen) Geschehen, daszum Geschick und zum Schicksal wird.

Wollen wir auch die Bezogene Form noch einmal be-trachten, so fällt uns auf, wie in der Erzählung von Bohne,Halm und Feuerkohle gerade das G e s c h e h e il das ist, wasder Bezogene Mythus nachzuahmen sucht, ja, was er andieser Stelle eigentlich parodiert. Warum haben die vielenBohnenimmer wieder eine Naht? Auch hier soll die Antwort ein Ge-schehen sein sogar ein furchtbares Geschehen! Aber, nocheinmal, wir spüren, wie dieses Geschehen von außen her heran-

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gebracht wird. Eine Naht hat, was genäht worden ist; ge-näht wird, was geplatzt war; platzen tut man vor Lachen.

Alles das sind, wollen wir ein großes Wort benutzen: Er-kenntnisurteile. Aber diese Erkenntnisurteile suchen sich voelaußen her einmalig in einem Geschehen zu befestigen und zugestalten, und so werden auch noch der Spaziergang, der Bachund der Schneider mit dem schwarzen Zwirn zur Katastropheherangezogen.

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VII.

Bisher war bei unseren Beispielen hauptsächlich von sicht-baren Erscheinungen die Rede. Es versteht sich, daß dieGeistesbeschäftigung des Wissens und die Form, die in Frageund Antwort wahrsagt, sich zunächst auf jene vielfachen undstätigen Erscheinungen richten, die ein vom menschlichen unab-hängiges, eigenes Dasein zu führen scheinen. An erster Stelleist es die Natur, die in der Einfachen Form Mythe und in ihrenVergegenwärtigungen, den Mythen, von ihrer Beschaffenheitaus Schöpfung wird. Schon unser Handwörterbuch der Philo-sophie redete von „Naturdeutung", und ich brauche wohl nichtdaran zu erinnern, daß es eine Schule von Philologen, Ethno-logen, Religionshistorikern und Volkskundlern gab und gibt,die alles, was sie unter dem Begriff Mythe zusammenfaßt,in Beziehung bringt und irgendwie zurückführt auf Natur

-erscheinungen, ja sogar auf eine einzige Naturerscheinung. DieAstralmythologen haben sich in dieser Hinsicht. eine gewisseBerühmtheit erworben.

Wie wir die Form M y t h e hier zu verstehen gesuchthaber, beschränkt sich aber ihre Geistesbeschäftigung keines

-wegs auf die Natur.Wir haben, als wir die Begriffe Frage und Antwort er-

örterten, auf die Zusammengehörigkeit von Mythe und Orakelhingewiesen. Es ist, nun wir die Wirksamkeit der Form genauerkennengelernt haben, möglich, diese beiden zu trennen und zuunterscheiden. Bei dem Orakel beziehen sich Frage und Ant.-wort in ihrer Wahrsage auf einen Einzelfall, dagegen richten siesich, wie wir festgestellt haben, bei der Mythe auf das Stätige.Darin liegt der Grund. daß die Wahrsage der Form Mythe, voneiner Sprachgebärde gefaßt, sich in einer dauernden Vergegen-wärtigung bestätigt. während die Wahrsage des Orakels. ohne

8

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118 MYTHE

eine allgemeine Form zu ergreifein, tuit der Erledigung desEinzelfalles erlischt. Dennoch beweist das Orakel, daß Frageund Antwort sich auf anderes als auf Naturerscheinungenrichten können. Die Form, die sich in einem Geschehen voll

-zieht und vollendet, kann sich auf ein Geschehen im allgemeinenSinne richten.

Wo ein Tyrann über seine Mitmenschen herrscht und sieunterdrückt, Rechte und Sonderrechte des Volkes verschmäht,den Einzelnen mit sinnloser Grausamkeit quält, wo er Unmög-liches fordert, die staatliche und persönliche Sicherheit ver

-nichtet, bis alles im Leben nur von seiner augenblicklichenWillkür abhängig scheint, da kann der Mensch fragend undfordernd dem Wesen dieses Geschehens gegenüberstehen, dakann ihm ein Widerwort entgegentreten und da kann dieSprachgebärde die Summe des Stätigen und Vielfachen indiesem Geschehen in einem gesteigerten Geschehen umreißen.Da heißt es: der Wüterich zwingt einen Vater,einen Apfel von dem Haupte seines Sohnes zuschießen. Alle Einzeltaten der Willkür, jede Mißachtungdessen, was Menschen verbindet, wird in das Verhältnis Va t e ru n d K i n d (die hier keine Sage bilden) eingepreßt ; die grau

-same Forderung des Unmöglichen heißt A p f e 1 s c h u ß. DerVater steht seinem Sohne mit der tödlichen Waffe gegenüber,das sinnlose Ziel, das er sich selbst nicht gesetzt hat, istder kleine runde Gegenstand, der sich kaum vom Haupte desKnaben abhebt, Aber unmittelbar schließt sich dieser erstenWahrsage eine zweite an, hebt ein neues Geschehen allesVorhergehende auf: in dem Augenblick, da der P f e i 1 denA p f e 1 zerspaltet, zerbricht die Welt des Ungerechten undbricht die Freiheit hervor. Lautete die Frage in dem erstenTeil des Mythus: was ist es, wenn ein Tyrann willkürlich einfreies Volk unterdrückt? und kam die Antwort: da wird einVater gezwungen, einen Apfel von seines Sohnes Haupt zuschießen, so wird sofort im zweiten Teil die Frage: und wasgeschieht, wenn ein Volk in diese Unterdrückung geraten ist?beantwortet, und es heißt: ob der Schuß gelingt oder mißlingt,der nächste P f e ii muß das Herz des Tyrannen spalten.Aber der Schuß kann nicht mißlingen: das Unmögliche. was

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. y,r.H E 119

die Willkür gefordert hat, geschieht, und indem es geschieht,zerschmettert es die Gewaltherrschaft.

Vielleicht könnte man hier einen Einwurf machen. Wirkönnten uns daran erinnern, daß erstens der Mythus des Tell-schusses in der Schweizer Geschichte keineswegs gleichzeitigist mit dein Geschehen, mit den Ereignissen. auf die er sichbeziehen soll, daß er erst später erscheint, und daß zweitensähnliche Erzählungen anderweitig zu finden sind, daß wireinen Egilschuß kennen, daß Saxo Grammaticus von HaraldBlauzahn, von Toko und dessen Sohn ähnliches erwähnt.Ein genaueres Eingehen auf das Verhältnis dieser Vergegen-wärtigungeii würde uns von unseren allgemeinen Betrachtungenzu weit auf die Einzeluntersuchung führen. Wir wollen dasvermeiden. Trotzdem aber läßt sich hier einiges sagen.

Zum ersten : Es ist nicht unbedingt nötig, daß das Ge-schehen im Augenblicke, da es geschieht, sich durch Mythedeutet, sich in einem Mythus vergegenwärtigt, sondern auchdie Erinnerung an Überstandenes kann in dieser Form eineVergangenheit schaffen und deuten.

Zum zweiten : Wenn wir eine Vergegenwärtigung finden,einen Mythus, der schon früher oder anderswo Antwort auf eineFrage bedeutet hat, so beweist das, daß die Sprachgebärdedas Stätige, das sich immer gleicherweise Wiederholenderichtig ergriffen hat, das heißt so ergriffen, daß es auch aneinem anderen Ort zu einer anderen Zeit noch als gültiger undbündiger Zusammenschluß von Frage und Antwort empfundenwird. Wer von einem W a n d e r m y t h u s redet, hat die Ver-pflichtung, ,sich von dem Begriff Wandern Rechenschaft zugeben. Ein Wandern im Sinne eines ziellosen Umherirrens,eines aus nicht zu erklärenden Gründen einmal hier dann wiederdort Auftauchens ist sowohl in sprachlicher wie in litterarischerHinsicht undenkbar. Wo immer eine Form oder ihre Vergegen-wärtigungen sich zeigen, bewähren sie sich als Bedeutungs-träger.

Noch einmal ein Beispiel. Wenn ein Volk und sein ge-rechter Herrscher, sein Anführer, von Feinden umringt, von

allen Seiten in die Enge getrieben, sich in höchster Not be-finden, wenn keine Möglichkeit vorhanden scheint, einen Aus-

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120 MYTHE

weg zu finden, so erscheint ein r e t t e n d e s We s e n. DiesesWesen ist von höherer, von besonderer Art. Es ist kein Mann.es ist keine Frau, aber es kann in dieser Beschaffenheit ver-schieden gefaßt werden : es kann eine Jungfrau, es kann eineHetäre sein, die beide nicht als „Frau" betrachtet werden, eskann aber auch eine Art androgyne Gottheit sein, und es kannschließlich abwechselnd Züge dieser Drei tragen. Als Attributbesitzt es ein G e s p a n n P f e r d e , die jenes aus Rädern,Achse und Deichsel fest unddauerhaft gefügte „Gerät" ziehen,das wir W a g e n nennen. Dieses Wesen hebt den bedrängtenFührer auf den Wagen, ergreift die Zügel und führt denHelden unversehrt und siegreich durch die umringende Scharder Feinde. Wenn der Zweck erreicht, Fürst und Volk errettetsind, verschwindet es, geht zugrunde, es kann durch die Pferdeselbst zu Tode geschleift werden.

Wir finden diesen Vorgang im 5. Gesang der Ilias. DieGriechen sind bedrängt ; Diomedes, der die Schlacht führte,ist verwundet, die Troer dringen ungestüm vorwärts. Aresund Hektor treiben die weichenden Griechen zu den Schiffen.Da kommt Athena, sie hat das bunte Frauenkleid, das siesich selber gemacht hat, abgestreift, sie legt den Panzeran, setzt den Helm auf, ergreift die Lanze sie ist Mann-Frau geworden (V. 733 ff.). Nun spricht sie zu dem er-müdeten Helden, ermutigt ihn. Sie faßt den WagenlenkerSthenelos bei der Hand und treibt ihn weg, sie selbst besteigtden Wagen, dessen Achse aus Buchenholz ächzt (V. 835 if.).Und nun geht es vorwärts, quer durch die Feinde. Sie kämpftnicht selbst, aber sie wendet den Speer des Ares ab ; Diomedesverwundet den Gott. Ares schreit wie neuntausend Männerund jammert vor Zeus aber die Griechen sind gerettet ausder Bedrängnis, und Athena kehrt, nachdem sie den Verderbergehemmt hat, zum Olymp zurück.

Dieses selbe rettende Wesen finden wir in Indien imRigveda. Es heißt Ushas und ist wiederum kein Mann undkeine Frau, sondern hier eine göttliche Hetäre: „Aufgeblitztist sie mit Schminke im Türrahmen des Himmels. Das schwarzeGewand hat die Göttin abgedeckt. Aufweckend kommt mitrötlichen Rossen TTshas auf wohlgeschirrtem Wagen" (R.. V. i,

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MYTHE 121

92, 14). Denn auch sie hat einen Wagen und ein Gespann : „Mitdem schön bemalten, glückbringenden Wagen, auf dem dustehst, Ushas, mit dem hilf heute dem ruhmreichen Volke,Tochter des Himmels" (R. V. 1, 49, 2). Wir wissen außerdem,daß sie verwandt ist mit den Zwillingen, die ihrerseits wiederzu Pferden in Beziehung stehen und in Indien Ashwinen, inGriechenland Dioskuren heißen : „Kommt herbei mit einemWagen, der schneller als das Manas ist, den euch die Ribhusgemacht haben, ihr Ashwinen, bei dessen Schirrung die Tochterdes Himmels geboren wird" (R. V. 10, 39, 12). Der Unterschiedzwischen dem rettenden Wesen der Ilias und dent hilfreichenWesen des Rigveda liegt darin, daß ihre rettende Macht dortaus einem Geschehen, hier aus einer Naturerscheinung her-geleitet ist. Wir übersetzen U s h a s mit T a g e s a n b r u c hoder M o r g e n r ö t e , und es ist nicht zweifelhaft, daß das,was die Sprachgebärde in U s h a s gegriffen hat, das stätige,sich immer gleichmäßig wiederholende Erscheinen des sieg

-reichen Morgens meint und bedeutet.Wollen wir hier an eine Übertragung denken? Wollen wir

versuchen, in irgendeiner. Weise Ushas in Athena, oder Athenain Ushas überzuführen? Mir scheint, wenn wir die Geistes

-beschäftigung des Wissens richtig verstanden und gesehenhaben, wie sich in einer Einfachen Form aus Frage und Ant-wort eine Welt in einer Wahrsage erschafft, das Problem so zuliegen, -daß der Antwort fordernde Mensch hier einen tiefenZusammenhang durchschaut, daß er erfaßt, wie das früheLicht, das durch die feindlich umringende Finsternis stößt undsiegreich sich Bahn bricht, wesensverwandt ist mit der Retterin,die einem allerseits von Gegnern bedrängten Volk und seinemAnführer durch die Schar der Feinde hindurch den Auswegzeigt, daß er beiden Erscheinungen, dieser aus der Natur, jeneraus dem Geschehen, die er in ihrer Stätigkeit beobachtet hat,mit der gleichen Frage entgegentritt und daß sie mit demgleichen Widerwort sich ihm bekanntgeben.

Fügen wir aus der Zahl der Vergegenwärtigungen Athenaund Ushas noch zwei weitere hinzu.

Als sich, so lesen wir bei Herodot (I. 60), Pisistratus mitMegakles geeinigt und dessen Tochter geheiratet hatte, er-

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122 MYTHE

sannen sie, um den vertriebenen Tyrannen zurückzuführen,eine List. Ein schöngewachsenes, großes Weib aus dempaeanischen Demos sie maß vier Ellen weniger drei Finger,sagen wir, fast zwei Meter, und hieß Phya -- wappneten siemit voller Rüstung, stellten sie auf einen Wagen und brachtenihr die schöne Haltung, in der sie sich zeigen sollte, bei. Sofuhr Pisistratus mit ihr zur Stadt. Herolde sandten sie vor sichher, rufend : „Athener, nehmt wohlgesinnt Pisistratus auf, denAthena selbst am meisten unter den Menschen ehrt und den siein ihre Burg zurückführt." Wo immer sie kamen, verkündetenes die Herolde, und alsbald verbreitete sich in den Deinen dasGerücht, daß Athena Pisistratus heimführte. Die in der Stadt,überzeugt, daß das Weib die Göttin sei, beteten sie an undnahmen Pisistratus auf. Herodot findet das Ganze albern -verlacht den Aberglauben. Wir die wir die Mythe erkennen,die der große Verehrer Homers, Pisistratus, hier zu seinemeigenen Vorteil im Leben zugleich v e r w i r k I i c h t und b e -z i e h t wir verstehen auch das Volk, das diesen Mythustrotz seiner Bezogenheit erlebt.

Endlich : im Mai des Jahres 1429, als die englischen Heereüberall in Frankreich stehen, als der englische König schonzum König von Frankreich ausgerufen ist, als das französischeVolk und sein ungekrönter Dauphin sich in äußerster Not, ingrößter Bedrängnis befinden und kein Ausweg möglich scheint,kommt aus Lothringen ein rettendes Wesen. Sie ist wederMann noch Frau, sie ist „Pucelle" ; eine sachverständigeKommission hat es später festgestellt, und Zeugen sagen aus,daß sie keinen „weiblichen" Eindruck macht, keine fleischlichenBegierden weckt. Sie ist Tochter Gottes, wie Athena undUshas, ihre Umgebung nennt sie „filie de Dieu". Sie legt dieFrauenkleider ab, sie legt Männerkleider, den Panzer an, siewird Mannfrau und das erste, was sie verlangt, ist ein Pferd;wir wissen sogar, was dieses Pferd gekostet hat. Nun reitetsie zwischen zwei Männern wiederum kennen wir die Namenihrer Dioskuren ungesehen von den Gegnern zu dem be-drängten König. Sie entfernt die Männer, die bisher seineWagenlenker waren, sie führt ihn selbst. Sie lenkt Schlachtenund Belagerungen, aber ohne selbst Blut zu vergießen. Sie

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MYTHE 123

begleitet den König quer durch die Schar der Feinde ; sie be-freit das Volk. Und als sie ihr Ziel erreicht hat, wird sie vomPferd gezogen, geht sie zugrunde, verschwindet sie. Wir habenes hier weder mit einem homerischen Epos noch mit vedischenHymnen zu tun, wir stehen, wie man zu sagen pflegt, auf demBoden der Geschichte, und dennoch erkennen wir währendwir uns davon überzeugen, daß hier keine Legende, sondernMythe vorliegt das hilfreiche Wesen wieder, das wir in derIlias und im Rigveda fanden.

Die Lust, an Übertragungen zu denken, vergeht uns hier.Lagen Athena und Ushas in Kreisen, zu denen wir nur miteiniger intellektueller Anstrengung durchdringen konnten, bezogsich Pisistratus auf Homer, Johanna liegt in unserem eigenenKreis : „An das Mädchen von Domremy", so hat es ein Histo-riker der Neuzeit ungefähr ausgedrückt, „glauben wir"Zwischen dem Geschehen und der Form, in der sich das Ge-schehen vergegenwärtigt, liegt hier anders als in dem Tell-schuß -- kein Zeitabschnitt.. Die Grenze, die man notgedrungenund zur besseren Erklärung zwischen einem „wirklichen" Ge-schehen und dem „gesteigerten" Geschehen der Mythe machenkönnte, ist hier völlig aufgehoben. Was hier im Leben selbstgeschieht, führt sich als Ganzes und in allen Einzelheiten auseiner Vielfältigkeit zur letzten Einheit zurück, es erzeugt Formund wird Form.

Wollen wir auch dies verallgemeinernd zusammenfassen,so können wir sagen: dort, wo lebendiges Geschehen alles insich aufnimmt und sozusagen restlos in sich selber aufgeht,oder wie es ein Denker ausgedrückt hat, dort, „wo G e -schehen Notwendigkeit als Freiheit be-deutet". dia. wird Geschehen Mythe.

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VIII.

Ich habe nur noch wenig hinzuzufügen.An erster Stelle kann die Frage gestellt werden, ob, wo in

der Mythe Gegenstände von ihrer Beschaffenheit aus Schöpfungwerden, dieselben Gegenstände durch die gleiche Geistes

-beschäftigung von ihrer Beschaffenheit aus aufhören könnenSchöpfung zu sein. Oder wenn wir die Frage anders formu-lieren : Können Sonne und Mond, kann der Berg, ja, kann dieWelt, so wie sie sich in der Mythe erschaffen, zugrunde gehen?

Sie können es, sie können es in der Mythe, sie können essogar nur durch die Mythe. So wie der Legende eine Anti-legende zur Seite steht., so finden wir neben der Mythe, diebaut, eine Mythe, die vernichtet. Das Geschehen, das Viel

-fältiges zu seiner letzten Einheit zurückführt, kann aufgehobenwerden von einem Geschehen, das diese Einheit in die chaotischeVielfältigkeit des Nichts zurückwirft. Neben Weltschöpfungsteht Weltuntergang. Ich sagte damals, daß wir den Antichristnicht eigentlich als Un-heiligen betrachten können; hier beider Mythe ist die Stelle, wo wir die Vergegenwärtigung desErzvernichters unterzubringen haben. Denken wir an Ragnarök,denken wir an die Apokalypse, so begreifen wir, wie sich hierdie Frage nach den letzten Dingen, nach dem Untergang vollSonne, Mond und Sternen, von Welt und Leben, in einerSprachgebärde beantwortet. Aber so wie der Unheilige sichzum Heiligen umwandeln kann, so kann der Mythus wiederumaus dem Chaos eine net t' Welt bauen.

Weiter müssen wir, da wir bei Legende und Sage gesehenhaben, wie die Einfache Form ihre Macht auf einen Gegenstandübertragen kann, und wie dann dieser Gegenstand seinerseitssnit dieser Macht. geladen ist, auch bei der Mythe einen solchenGegenstand nachweisen. Ich möchte hier ein vielgebrauchtesund oft mißbrauucht.es Wort. wählen: Einen solchen Gegen-

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MYTHE 125

stand IieiliI(311 wir S y in 1) u I. So wie wir aber eine Reliquiedurchaus nicht als Sinnbild aufgefaßt haben, als etwas An-schauliches, das einem Sinn vertritt, sondern so wie wir beob-achteten, wie die _Körperteile, die Kleider, die Marterwerk

-zeuge des Heiligen alles, was mit ihm und seiner Heiligkeit zu-samnienhing, in sich hineinziehen und es wieder ausstrahlenkonnten, so wie sie selbst „heilig" werden und Träger derMacht des Heiligen, so ist auch nach meiner Auffassung dasSymbol kein Sinnbild. sondern ein Gegenstand, der tatsäch-lich mit Mythe geladen, nun selbständiger Träger der Machtder Mythe ist. Ich erinnere daran, daß auch ein Orakel, beidem durch Frage und Antwort Zukünftiges sich erschafft, nichtan einer. beliebigen Stelle zustande kommt, sondern daß eseines geheiligten Ortes bedarf, eines Ortes, an den die Machtder Wahrsage tatsächlich gebunden ist und dem sie innewohnt.

In Genesis 28 wird Jacob die Zukunft seines Volkes offen-bart. Von der Sprachgebärde der Mythe ergriffen, heißt diese:„eine reit er ist auf die Erde gestellt, derenoberes Ende bis zum Himmel reicht, und dieEngel Gottes steigen auf ihr hinauf und herab." Sein Gottredet zu ihm. Als er ain andern Morgen erwacht, fürchteter sich und spricht : „Wie schauerlich ist diese Stätte ! Ja,das ist der Wohnsitz Gottes und die Pforte des Himmels."Dann nimmt er den Stein, den er zu seinem Haupte gelegt hatte,stellt ihn aufrecht und salbt ihn. Dieser Stein nun ist keinDenkmal, das Vergangenes in Erinnerung bringt, und kein An-schauliches, das die Verheißung vertritt, er ist auch nicht nurein Gegenstand, in dem der Sinn der Mythe ausgedrückt liegt,sondern er ist ein Gegenstand, in den die Macht der Mythegebannt ist, von dem diese Macht selbständig getragen wirdund aus dem sie jäh als tatsächliches Geschehen hervorbricht.

So kann auch ein farbiges Tuch Symbol sein, sobald es alsFahne die gegenständliche Antwort gibt auf die Frage: was ist.die Partei, was ist die Gilde, was ist das Regiment, was istdas Vaterland.

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RÄTSEL

I.

Noch eine zweite Form erfüllt sich in Frage und Antwort:das Rätsel.

Was Rätsel und was Rätselraten heißt, wissen wirallerdings wissen wir es meistens aus den Bezogenen Formen,in denen es auch in unserem Leben eine Rolle spielt; wir kennensie aus den kindlichen Aufgaben, aus den Rätselecken unsererZeitungen. Wir wissen auch, wie sehr das Rätsel als Be-tätigung unsre Gedanken beschäftigen, von uns Besitz er-greifen kann -- ich erinnere nur daran, mit welcher Inbrunstsich vor wenigen Jahren Amerika und Europa auf das Kreuz

-worträtsel gestürzt haben.Auch die Wissenschaft, die Volkskunde hat sich mit dem

Rätsel eingehend beschäftigt. Eine mustergültige Veröffent-lichung auf diesem Gebiete wo sonst so viel gesündigtwurde --- ist der Band R ä t s e l (Bd. I der MecklenburgischenVolksüberlieferungen), den Richard Wossidlo 1897 (Wismar)publizierte. Ich weise weiter hin auf den Aufsatz von WolfgangSchultz (Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie •s. v. Rätsel, vgl.W. Schultz, Rätsel aus dem hellenischen Kulturkreis 1912), derdie antiken Rätsel vortrefflich gesammelt und in ihrer Viel-gestaltigkeit bearbeitet hat. Auch die Vergleichenden Rätsel

-forschungen (F. F. Corn. 26, 27, 28. 1918/20), in der das Hauptder finnischen Schule Antti Aarne ein gewaltiges Material zu-sammengebracht hat, möchte ich hier nennen. „Das DeutscheVolksrätsel" hat Robert Petsch (Straßburg 1917) behandelt.

Sammlungen wie die von Wossidlo und Aarne bilden denAusgangspunkt für unsere Untersuchungen so wie wir beider Legende von den Acta Sanctorum ausgegangen sind. In-

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RÄTSEL 127

dessen müssen wir hier wieder auf den methodischen Unter-schied der Volkskunde und der Litteraturgeschichte hinweisen.

Was uns in Sammlungen vorliegt, sind selbstverständlich Gegen-wärtige Formen, Vergegenwärtigungen. In einer Sammlung,

wie sie Wossidlo herausgibt, sind ganz ohne Vorurteil undmit, man kann wohl sagen, absoluter Vollständigkeit alle Ver

-gegenwärtigungen zusammengetragen, die sich zu einer Zeitder Zeit, da die Sammlung stattfand in einem bestimmtenGebiet wo gesammelt wurde . im Umlauf befanden. Wirhaben also hier den Rätselbestand in Mecklenburg zu Anfangdes 20. Jahrhunderts sachlich vor uns.

In einer Sammlung, wie sie Aarne versuchte, liegt etwasanderes vor, wie schon aus dem Ausdruck „vergleichendeForschungen" hervorgeht. Hier wird nicht von einem Gesamt

-bestand in einer bestimmten Gegend ausgegangen, sondern vongewissen Typen, und nicht von einem bestimmten Gebiet undeiner bestimmten Zeit, sondern von sämtlichen Gebieten undsämtlichen Zeiten, wo Gegenwärtige Formen, die sich jenemTypus anschließen oder anzuschließen scheinen, aufzutreibensind. Mit diesem sehr großen Material wird der Versuchunternommen, historisch und geographisch den Punkt zu be-stimmen, wo ein solcher Typus - entstanden sein kann. Da sichdas rein historisch meist nicht genau feststellen läßt, wird,,vergleichend" vorgegangen, das heißt man schließt aus einerAnzahl Varianten desselben Datums auf die Urgestalt, die allenVarianten desselben Typus zugrunde liegen muß. Weiter ver

-sucht man, wieder historisch-geographisch, den Weg zu ver-folgen, den diese Typen durch Zeiten und Völker genommen,und die Wandlungen zu beobachten, die sie auf ihrem Wegevon Kultur zu Kultur durchgemacht haben. Die Gefahr, sichhier in einem Kreis zu bewegen, ist groß: man schließt aushistorisch-geographischen Daten auf eine Urform; die Wand-lungen dieser hypothetischen Urform werden dann wieder durchdie gléichen historisch-geographischen Daten erklärt.

Aber auch, wenn dieser Kreis vermieden wird, bleibt dieaus zahllosen Vergegenwärtigungen abgeleitete Urform selbstimmer noch im besten Falle eine Gegenwärtige Form, im un

-giinstigsten eine Bezogene Form oder eine Kunstform und

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128 RÄTSEt4

auch wenn wir eine ziemlich vollständige Sammlung dieser so-genannten Urformen besäßen, bliebe es immer noch unsre Auf

-gabe, von ihnen aus zu der eigentlichen Einfachen Form durch-zudringen und deren Bedeutung zu ergründen. So wertvoll also

derartige Sammlungen für die litterarhistorisch-morphologischeMethode bei ihrer Arbeit sind, so zieht sie es doch vor, auchhier zu versuchen, das Wesen der Einfachen Form und dieGeistesbeschäftigung, aus der sie hervorgegangen ist, zu be-stimmen.. Gelingt ihr das, so wird es ihr möglich sein, jeneTypen, jene historisch gegebenen Vergegenwärtigungeti, zuunterscheiden und einzuordnen und darüber hinaus auch dieneuen Vergegenwärtigungen, die sich aus der Geistesbeschäfti-gung immer wieder ergeben, nun ihrerseits mit den „histori-sehen" zu vergleichen.

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II.

Wenn wir Frage und Antwort im R ä t s e 1 mit Frage undAntwort in der M y t h e vergleichen, fällt uns zunächst reinäußerlich auf, daß, so wie die Form M y t h e die A n t w o r twiedergibt, die Form R ä t s e l uns die F r a g e zeigt. Mytheist eine Antwort, in der eine Frage enthalten war; Rätsel isteine Frage, die eine Antwort heischt.

Wie die Mythe also auch die Frage enthält, ebenso ist imRätsel und durch das Rätsel die Antwort vorhanden. EinRätsel kann so gestellt sein, daß es dem Ratenden unmöglichist zu raten, ja die richtige Lösung eines Rätsels kann ver-loren gegangen sein und dennoch hat der Ratende dasBewußtsein, daß es jemanden gibt oder gegeben haben muß,der die Lösung kennt oder gekannt hat ein unlösbares Rätselist eben kein Rätsel. Mehr noch die Form des Rätsels istnicht nur so, daß der Ratende weiß, daß die Lösung einemanderen bekannt ist oder gewesen ist, sie ist auch so, daß eraus dieser Form die Überzeugung gewinnt : er selbst kan ndie Lösung finden. Diese Überzeugung aber setzt sich sofortum in jene andere : er m u ß sie finden.

Auch hier können wir die Geistesbeschäftigung mit demKennwort W i s s e n andeuten. Aber es ist ein anderes Wissenund eine andere Wißbegierde. Bei der Mythe fragte der Menschdie Welt und ihre Erscheinungen nach ihrer Beschaffenheit,und die Welt gab sich ihm in ihrem Widerwort, in einer Wahr-sage bekannt. Bei dem Rätsel besteht kein Verhältnis vonMensch zu Welt. Hier stellt ein Mensch, der weiß, einem.anderen Menschen eine Frage aber er stellt jene Frage so,daß sie den anderen zum Wissen zwingt. Einer ist im Besitzedes Wissens, er ist als Person der Wissende, der Wei s e; ihmsteht ein zweiter gegenüber, den er durch die Frage veranlaßt,seine Kraft und sein Leben daran zu setzen, gleichfalls in den

J o 1 l e e, Rinfache Formen 9

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130 RÄTSEL

Besitz des Wissens zu kommen und sich ihn als Weiser zuzeigen. Das Wissen selbst ist, im Augenblick da die Frage ge-stellt wird, schon vorhanden, es wird nicht, wie in der Mythe,aus Frage und Antwort erst errungen.

In der Form Mythe sind wir selbst die Fragenden intier Form Rätsel werden wir gefragt, und zwar so gefragt, daßwir antworten müssen. Deshalb steht Mythe im Zeichen derFreiheit Rätsel im Zeichen der Gebundenheit; deshalb istMythe Tätigkeit, Rätsel Leiden, deshalb bedeutet Mythe einAufatmen, Rätsel eine Beklemmung. Es ist kein Zufall, daßein althochdeutsches Wort für Rätsel tunk a 1, -das Finstere,lautet.

Der Bedeutungsknoten liegt sowohl bei der Mythe wie beidem Rätsel dort, wo Frage und Antwort zusammen kommen,wo sich die Frage in einer Antwort löst. Aber bei der Mytheist dieses Zusammenkommen eine Wahrsage, bei dem Rätseleine Enträtselung.

Ich betone den Unterschied der Formen uni so schärfer,als gerade die, die sich and eingehendsten mit dem Rätsel be-schäftigten, die Beziehung zur Mythe zwar gespürt, aber das,was die Formen trennt, übersehen haben. So Wolfgang Schultzin den Studien, die ich zu Anfang genannt habe, so auch LudwigLaistner in dem merkwürdigen Buche „Das Rätsel der Sphinx",das der Verfasser bezeichnenderweise ini Untertitel „Grund-züge einer Mythengeschichte" genannt hat (Berlin 1889).

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III.

Trotzdem ist es gerade Laistner gewesen, der zuerst aufetwas hingewiesen hat, was uns im eigenen Leben die FormRätsel klar zu machen imstande ist, auf den Begriff E x a m e n.In der Tat, das Examen ist, wenn auch in anderem Format undauf einer anderen Ebene, ein Zustand, der sich dem Rätsel ver

-gleichen läßt. Auch da ist jemand, der weiß, der die Frage,stellt, der den anderen zwingt, zu wissen, die Frage zu beant-worten oder zugrunde zu gehen, beziehungsweise „durch-zufallen". Hier handelt es sich aber nicht um eine sokratischeFrage, eine Frage, die so gestellt wäre, daß sich in der Ant-wort eine Welt erschafft, sondern eine Frage, die schon vonWissen bedingt ist und Wissen zur Bedingung stellt. Ver

-gleichen wir einen platonischen Dialog mit einem Katechismus,so fühlen wir den Unterschied noch stärker. Die Gesprächs

-form ist bei Plato das, woraus sich die Weisheit ergibt. EinKatechismus ist auch ein Gespräch, ein Dialog ; die Antwortensind aber dem Fragenden von vornherein bekannt ; wenn derGefragte richtig antwortet, so ergibt sich aus diesen Antwortennicht die Weisheit selbst, sondern das Wissen des Kandidaten.Der Gemütszustand im Examen kann es klarmachen, daß diefragende Person, die das Wissen besitzt und die wir den Weisennannten, dämonisch gedacht werden kann, daß dieser Weisezugleich ein Ungeheuer ist, das uns mit Angst erfüllt, uns be-drückt, uns würgt.

Außer dem Examen und das hat Laistner Übersehengibt es im Leben einen anderen Zustand, ein anderes Geschehen,in dem das Rätsel als Form spürbar ist: die Gerichtssitzung.Und an dieser Stelle fassen wir sie nicht, wie in der Legende,vom Verfahren her, um festzustellen, wo tätige Tugend, straf-bares Unrecht vorliegen, sondern wiederum als Verhältnis vonPersonen. Bei dieser Gerichtssitzung ist es der Richter, der

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132 RÄTSEL

w i s s e n m u ß, der Angeklagte, der w e i ß. Auch hier ist esLebenspflicht, Lebensnotwendigkeit des einen, das Wissen desanderen zu ergründen. Der Angeklagte gibt hier das Rätselauf, gelingt es dem Richter nicht es zu raten, so hört erjedenfalls hic et nunc auf, Richter zu sein.

Die wenigen bekannten Fälle, da sich das Rätsel erweitert,da es eine Erzählung wird und in dieser Erzählung gewisser-maßen einen Kommentar zu sich selbst liefert, zeigen ganzscharf, wie hier wirklich Rätsel als Einfache Form vor unsliegt, wie in diesen Verhältnissen die Geistesbeschäftigung desRätsels gegeben ist.

Da ist einerseits eine Gruppe, die wir mit den Typo-logen als Sphinxrätselgruppe bezeichnen wollen. Die Beispielesind bekannt; es gehören dazu die Sphinxgeschichte selber,Turandot, Kaiser und Abt, Andersens Reisekamerad mit denzahllosen Varianten. Hier examiniert ein mehr oder wenigergrausames Wesen. Es kann auch eine verzauberte, mit bösenMächten in Verbindung stehende Prinzessin sein oder ein König.Am harmlosesten ist der Kaiser, der die geistigen Fähigkeitendes Pfäffleins, dessen Schmerbauch drei Männer nicht um-spannen, prüfen will. Aber in allen Fällen heißt es : rate oderstirb ! In allen Fällen ist es im tiefsten Sinne eine Examens

-frage.Dem steht eine andere Gruppe gegenüber, die man gewöhn-

lich nach einer häufig vorkommenden Vergegenwärtigung Ilo-rätsel nennt. Wossidlo schreibt: „Dieses Rätselmärchen"wir wollen lieber nur R ä t s e 1 sagen „ist über das ganzeLand verbreitet. Ich habe kein Dorf gefunden, in welchem esnicht irgendeinem der Bewohner bekannt war, öfter fand iches in Einem Dorfe in drei-, vier-, ja fünffacher Gestalt." Inseiner gewöhnlichen Fassung lautet es:

Auf Ilo geh ich,auf Ilo steh ich,auf Ilo bin ich hübsch und fein,rat't, meine herren, was soll das sein.

Eine der Erklärungen ist: „En mäten hett'n kind ümbröchtpatt ; nu is dat jo früher so wäst, dat lüd', de to'n dod' ver-

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RÄTSEL 133

urteilt wäst rund, de richters hebben 'il rätsel upgäben künnt,wenn de dat nich lööst hebben, sünd se erlööst wäst. IlomnmKett dat mäten ehr hund heeten, von den'n sien fell hett sesik 'n poor schoh maakt. As nu de dash rarikümmt, treckt secie schob an un geit hen na de richters un bädt ehr dat rätselvör. Dat hebben se nich raden könnt:: dor i se fri kamen."(Wossidlo, S. 191..)

Außer dem Ilorätsel im engeren Sinne gehören zu dieserGruppe zahllose andere Rätsel, die mit. ähnlicher Erklärungaufgegeben und erzählt werden : „Zweibein saß auf Dreibein ".„Ungeboren" usw.

Hier wird also ein Rätsel aufgegeben, das, wenn es nichtgeraten wird, Freiheit und Leben bringt. Es ist die Frage desingeklagten, und hier heißt es : gib ein Rätsel auf und lebe!

Es ist, als kämen diese zwei Gruppen von den beidenäußersten Grenzen der Geistesbeschäftigung aufeinander zu.Ein aufgegebenes Rätsel nicht lösen können, heißt Untergang -ein Rätsel aufgeben, das keiner rät, heißt Leben.

Gerade weil Tod und Leben hier von der Lösung desRätsels abhängen, hat man diese Gruppen H a l s r ä t s e l oderHa1s1osung,srätse1 genannt. Tm Grunde aber sind alleRätsel Halsrätsel, insoweit sie den Zwang in sich tragen, ge

-r.•aten zu werden. Es heißt, daß auf Hawai ehemals diejenigen.(lie ein Rätsel nicht lösten, in die Kochgrube geworfen und ihreKnochen als Siegestrophäen aufbewahrt wurden. Deshalb solles Familien geben, die sich weigern, Rätsel zu lösen, weil ihreAhnen in dieser Weise zugrunde gegangen sind hier reibensich Sage und Rätsel. Und deshalb `ages andere, wenn es ansRätselraten geht: „Unser Einsatz sind unsre Knochen." Abereigentlich können wir das Überall, wo wir diese Einfache Formfinden, nur wiederholen. Ob Examensrätsel, ob Gerichtsrätsel -- wo das Rätsel seine tiefste Bedeutung erreicht, gehtes an das Leben : sind unsre K iioehen unser Einsal z.

9

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IV.

Wir haben zu Anfang das Rätsel hauptsächlich von derSeite dessen aus, der es raten mußte, betrachtet. Wir warendazu berechtigt, da es uns in seiner Form als Frage gegebenist, und da uns diese Frage eigentlich jedesmal gestellt wird.Die beiden Gruppen des Sphinxrätsels und des Ilorätsels wiesenuns auf die Bedeutung dessen hin, der das Rätsel aufgibt, desFragestellers.

Die Tätigkeit des Ratenden haben wir mit dem Worte n t r ä t s e l n angedeutet. Um jedoch enträtselt werden zukönnen, muß das zu Enträtselnde zunächst v e r r ä t s e 1 t sein.Und mit diesem Verrätseln können wir die Tätigkeit dessenbezeichnen, der das Rätsel aufgibt. Was aber ist die Absicht,der Zweck dieser Verrätselung?

Wir haben gesehen, daß der Aufgebende sich im Besitzedes Wissens befindet, daß er weiß. Andererseits zeigt derRatende, der geraten hat, daß er dem Aufgebenden ebenbürtigist, daß er gleichfalls weiß. An erster Stelle ist also das Auf-geben des Rätsels eine Prüfung des Ratenden, eine Unter

-suchung seiner Ebenbürtigkeit. Darüber hinaus aber enthältdie Frage einen Zwang. In seiner Gesamtheit ist also dasRätsel seitens des Aufgebenden sowohl eine Prüfung der Ebgn-bürtigkeit des Ratenden, wie auch ein Zwang für den Ratenden,sich ebenbürtig zu zeigen. Ich brauche auch hier nur an denBegriff Examen zu erinnern. Daß nun diese Prüfung und dieserZwang nicht mit einer beliebigen Person bei einer gleich-gültigen Gelegenheit vorgenommen werden, versteht sich vonselbst: der Aufgebende muß einen Grund haben, weshalb erprüft und zwingt, der Gefragte, weshalb er sich der Unter

-suchung und dem Zwang unterwirft.Hieraus ergibt sich, daß die Lösung an sich nicht der

eigentliche und einzige Zweck des Rätsels ist, sondern das

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RÄTSEL 135

L ö s e n. Die Antwort war dem Aufgebenden bekannt eskommt ihm deshalb nicht darauf an, sie noch einmal zu erhalten,sondern es kommt ihm darauf an, daß der Gefragte imstandeist, sie zu geben, es kommt ihm darauf an, den Gefragten zuveranlassen, sie ihm zu geben.

Noch einmal weise ich auf den wesentlichen Unterschiedzur Mythe hin. Bei der Mythe liegt die Bedeutung der Ant-wort ausschließlich in der Antwort selbst. Im Gegensatz zurMythe enthält das Rätsel eine Frage, die gestellt wird, umzu untersuchen, ob der Befragte eine gewisse Würde be-sitztt, und wenn diese Frage beantwortet wird, liefert sie denBeweis, daß der Befragte würdig ist.

Selbst in sehr oberflächlichen Begriffsbestimmungen desRätsels, die meist für Bezogene Formen gelten, kann man lesen,daß das jetzige Rätsel ein Mittel sei, den Scharfsinn desRatenden zu prüfen. In den tieferen Schichten, wo wir unsereEinfachen Formen zu suchen haben, ist der Zweck viel wenigerunbestimmt. Wir können hier sagen, daß der Aufgebende -den Weisen haben wir ihn genannt nicht allein steht, daß ernicht selbständig ist, sondern daß er ein Wissen, eine Weisheitvertritt, oder auch eine Gruppe, die durch Wissen gebunden ist.Der Ratende dagegen ist nicht Einer, der die Frage einesanderen beantwortet, sondern Einer, der zu jenem Wissen zu-gelassen, in jene Gruppe aufgenommen sein will und der durchseine Antwort beweist, daß er dazu reif ist. Die L ö s u n g istalso eine Parole, ein Losungswort, das Zugang zu etwas Ab-geschlossenem verleiht. Nicht wie in den vergegenwärtigtenRätselerzählungen, nicht wie bei dem Sphinxrätsel steht hierder Aufgebende dem Befragten als würgendes Ungeheuer gegen-über und dennoch spüren wir auch hier den Zwang : derZugang zu jenem Abgeschlossenen ist Lebensfrage, sowohl fürden, dér um Einlaß bittet, wie für den, der Einlaß gewährt.

So wird von zwei Seiten das Rätsel bestimmt: der Auf-gebende hat. bei der Verrätselung dafür zu sorgen, daß derRatende bei der Enträtselung seine Würde, seine Eben-bürtigkeit zeigt..

Fragt man, welcher Art eine solche durch Weisheit ge-bundene Gruppe sein kann, so wären hier viele Antworten

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136 RÄTSEL.

möglich. Wir können sie zusammenfassen : jene Gruppen sindderart., daß sie aus Eingeweihten bestehen und (laß, um in sieaufgenommen zu werden, eine Weihe nötig ist. Sie erstreckensich also von dem Geheimbund in seiner einfachen Gestalt biszum Reiche der Seligen, insoweit dies als Ort aufgefaßt wird,den man nur auf dem Wege der Weisheit erreichen kann.

Haben wir das Rätsel ein Losungswort genannt, so könnenwir hinzufügen, daß dieses Losungswort zur Einweihung führt,daß der Zugang. den es verschafft, jener zur geschlossenenWeihe ist.

Zweck und Aufgabe des Rätsels ist aber seitens des Auf-gebenden: zu prüfen. ob der Gefragte reif ist, die Weihe zu(empfangen, und ihm zugleich den Zugang zum Abgeschlossenenzu ermöglichen; seitens des Gefragten: seine Würde zu zeigen,zur Weihe zugelassen zu werden.

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V.

Damit stehen wir vor unsrer zweiten Fra, ;e : \Va.s wirdv(„z -ratse t?

Gehen wir von denn zahllosen Rätseln aus, die täglich vonErwachsenen und Kindern aufgegeben werden, von deli Rätsel

-ecken, den Rätselzeitungen, den Rätselbüchlein, so hat es denAnschein, als ob schlechterdings alles verrätselt werden könnte.Die Zahl der Gegenstände, die in sehr verschiedener Weisezum Rätsel umgebildet werden, ist hier unbeschränkt. Es istaber deutlich, daß wir hier Bezogene Formen vor uns haben,in denen eine bestimmte Weise der Verrätselung auf beliebigeSachen angewandt wird. Solche Analogien können uns imbesten Falle über Glas Wie der Verrätselung etwas lehren, fürdas \ Tas im tieferen Sinne sind sie in keiner Weise maßgebend.

Der Unterschied zwischen den Rätseln einer Rätseleckeund den Rätseln, wie sie die Volkskunde sammelt und die sie„wirkliche Rätsel" (Petsch) oder Volksrätsel nennt, beruhtwohl darauf, daß die ersten einmal geraten und wenn dieZeitungsnummer mit der L ö s u n g erschienen, wieder ver

-gessen werden, während die zweiten „sich im Volksmunde be-finden", „im Umlauf" sind, das heißt immer wieder aufgegebenwerden. Damit ist aber keineswegs gesagt, daß sich unterall dem, ovas in solchen Sammlungen zusammengetragen ist,keine Bezogene Form befindet oder daß das, was im Volksmundelebt, immer als Gegenwärtige Form aufgefaßt werden darf, alsForm, in der sich die Geistesbeschäftigung, die Einfache Formverwirklicht oder einmal verwirklicht hat. Die Beispiele beiWossidlo zeigen, daß die Möglichkeit keineswegs ausgeschlossenist, daß eine Bezogene Form gelegentlich den Weg zum Volks-mund findet und in Umlauf gerät und daß so die Zahl derVerrätselungen auch im Volksrätsel erweitert wird. Aber dasist nur scheinbar. Wossidlos Sammlung beweist auch. daß die

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138 RÄTSEL

Zahl der verrätselten Gegenstände, wenti man sie überschaut,sehr zusammenschrumpft daß bei einer bestimmten Weiseder Verrätselung die gleichen - oder ähnlichen Gegenständeimmer wiederkehren. Und selbst bei scheinbarem Unterschiedzeigt sich hier, daß sich die Gruppen zusammendrängen und aufeinen noch erkennbaren Ausgangspunkt hinweisen. So hatAntti Aarne (F. F. C. 27) richtig nachgewiesen, daß eine An-zahl Rätsel aus den verschiedensten Gegenden mit denLösungen : Katze, Hund, Pferd, Schwein, Ziege, Schaf, Kamel,Hase sämtlich zurückzuführen sind auf einen „Typus ", derRind oder Kuli verrätselt.

Gehen wir nun unsererseits wieder den umgekehrten Wegund setzen bei der Geistesbeschäftigung, bei der EinfachenForm ein, so müssen wir uns sagen, daß die Fragen, in denensich die Geistesbeschäftigung verwirklicht, die eigentlich Gegen-wärtigen Rätsel, die der Eingeweihte dem Einzuweihendenaufgibt, nicht unbeschränkt und nicht willkürlich sein können.Verrätselt kann nur werden, was die Weihe umschließt dasGeheimnis des Bundes, das was in dem Bunde zugleich heimischund heimlich ist. Ja, wir können sogar von diesem Worteaus ----- von der Heimtücke des hämischen Rätsels reden. Wasverrätselt wird, wird also von dem Sinn des Abgeschlossenenbestimmt.

Noch einmal müssen wir die Mythe berühren. Es ist mög-lich und es geschieht sehr oft, daß der Sinn des Bundes aufeinem Fragen nach der Schöpfung und der Beschaffenheit derWelt und ihrer Erscheinungen beruht, die Heimlichkeit desBundes auf der gemeinsam erhaltenen Wahrsage, auf derOffenbarung, und daß die Tätigkeit des Bundes in Handlungenbesteht, in denen die Bedeutung dieser Offenbarung jedesmalvon neuem ausgedrückt und wiederholt wird. Mit anderenWorten, wir haben eine Gemeinschaft vor uns, deren bindenderSinn Mythe ist und deren Handlungen wir Ritus nennen. Indiesem Falle wird auch das Rätsel, das diese Gemeinschaftaufgibt, auf die Mythe Beziehung haben es wird hier einMythus verrätselt werden. Aber ich betone hier Mythus ,denn nicht die Einfache Form, sondern die Vergegenwärtigungist es, die verrätselt wird. Die Geistesbeschäftigungen bleiben

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RÄTSEL 139

vollkommen getrennt. Ziel des Bundes ist jedesmal wieder,in Frage und Antwort die Welt zu ,erzeugen, Ziel des Rätselsbleibt, auch wenn das, was verrätselt wird, zu dieser Mythein Beziehung steht, nur eine Prüfung des Gefragten seitens desAufgebenden, die Antwort ist nie eine Wahrsage, immer eineEnträtselung.

Sehr nahe können diese beiden nebeneinander liegen, ohnesich je zu vermischen. Ich erinnere noch einmal an das Orakel.Es erschafft sich dort, wie wir gesehen haben, als EinfacheForm aus Frage und Antwort zukünftiges Geschehen. Diesesaber ereignet sich im Orakel selbst. Ist nun aber derjenige,der das Orakel sozusagen „benutzt", würdig, dieses Er-schaffene zu kennen? Von vornherein steht das nicht fest, esmuß geprüft, es muß bewiesen werden. Und wie wird es ge-prüft? Indem das Orakel seine Wahrsage selbst verrätselt.

L ö s t Kroisos in der Geschichte, die uns Herodot erzählt,und die wir bei der Mythe schon erwähnten, das Rätsel, dannhat er damit seine Würde bewiesen, dann ist er zum Ab-geschlossenen durchgedrungen, dann gehört ihm das Orakel:enträtselt er es nicht und hat er die Prüfung zur Weihe nicht.bestanden, dann wir haben hier wie immer ein Halsrätselvor uns ist es um ihn geschehen. Andererseits zeigt sichThemistokles (Her. VII. 141 íf.) als Eingeweihter, indem er dasRätsel des rei o et,'9).iisois löst und damit den Sinn des künf-tigen Geschehens erfaßt. Das Orakel als Mythe enthält diebündige, eindeutige Antwort, die Wahrsage; aber diese Wahr

-sage ist Heimlichkeit des Bundes. Zwischen das Orakel undden fremden Fragesteller, den Uneingeweihten, schiebt sichnotwendig die Form des Rätsels in seiner Mehrdeutigkeit.

Mag es sich nun aber dabei um eine Mythe oder um etwasanderes handeln -- fest steht, daß der Aufgebende sich im Be-sitze des Wissens befindet und daß er die Gruppe, den Bundvertritt; wir können es auch so sagen: der Sinn des Bundesund das, was dem Uneingeweihten verrätselt wird. heißt.Wissen als Besitz.

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Vl.

So kommen wir zur dritten Frage : wie wird verrätselt?Und das führt uns auf die eigentliche Form des Rätsels.

Wenn das, was verrätselt wird, von dem Sinn des Ab-geschlossenen, von der Heimlichkeit des Bundes bedingt undbestimmt wird, so muß es vor allem in der Sprache des Bundesabgefaßt sein man könnte also sagen : die Prüfung bestehtan erster Stelle darin, zu ergründen, ob der Fremde die Sprache(des Eingeweihten versteht.

Erinnern wir uns noch einmal an den Begriff Katechismus.Katechismus das Wort stammt von dem griechischen x w,erklinge oder lasse erklingen ist dem Rätsel verwandt,unterscheidet sich aber dadurch, daß hier die Spontaneität desRätsels fehlt. Auch durch den Katechismus wird der Eintrittzu einer Gemeinschaft ermöglicht, die Weihe erlangt, aber dieFragen werden nicht aus sich heraus gelöst die Antwortwird von dem Katechumenen erlernt. Wiederum sehen wirhier Wissen als Besitz. Wie sich Wissen in der Mythe voll

-zieht., wie es in der Erkenntnis erzeugt wird, haben wir gesehen.Wissen als Besitz aber kann nicht nur verrätselt, es kann aucherlernt werden. Auch die Rätselerzählungen sagen Ähnliches.In der Erzählung vom Dankbaren Toten erfährt der Ratendejedesmal die Lösung durch einen Anderen: er erlernt sie.

Indessen zeigt uns schon der Katechismus, daß zur Weiheein bestimmtes Wort in einer gewissen Bedeutung genommensein will, daß, wenn von Taufe die Rede ist, diese nicht alleinschlecht Wasser ist, sondern das Wasser in Gottes (gebot ge-fasset und mit Gottes Wort verbunden . . .

Ähnliches finden wir nun sehr viel stärker im Rätsel.Wenn wir hören:

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RÄTSEL 141

Ein Baum steht in der ganzen Welt,der zweiundfünfzig Nester hält,in jedem Neste sieben Jungen,doch sämtlich sind sie ohne Zungen

so wissen wir von vornherein, daß Baum, Nest, Jungenhier nicht in der gewöhnlichen Bedeutung genommen werden,sondern daß wir sie anders fassen müssen. Oder wenn wir dasSphinxrätsel nehmen : Wer geht am Morgen auf vier, am Mittagauf zwei, am Abend auf drei Beinen so wissen wir auch hier,daß Morgen, Mittag und Abend nicht unbedingt Tages-zeiten meinen, und B e i n e nicht. auf Körperliches beschränktsein kann.

Andererseits fühlen wir aber auch, daß diese Bedeutungennicht dadurch zustande kommen, daß für irgendein verrätseltesDing ein anderer Name als der übliche eingesetzt wird. DieBedeutung, die hier die betreffenden Worte haben, unter

-scheidet sich in ihrem Bau grundlegend von andern sprach-lichen Bedeutungen : während sprachliche Bedeutungen sonstnur e i n e n Sachverhalt meinen, bezeichnen Worte wie Baum,Nest, Jungen, oder Morgen, Mittag, Abend hier aufeinanderbezogene Sachverhalte.

Nun sind diese angeführten Beispiele frei schwebende Ver-gegenwärtigungen, Rätsel, die von Sammlern aus dem Munde

des Volkes aufgezeichnet sind. Je näher wir an das Rätsel alsEinfache Form herankommen, je besser wir es als Losungswort,das die Weihe zu einer bestimmten Gemeinschaft umschließt,begreifen, um so deutlicher können wir beobachten, daß dieseGleichheit, von der ich sprach, aus einem Sinn hervorgeht, derinnerhalb dieser Gemeinschaft den Sinn der Welt bedeutet.

Porzig (Germanica, Festgabe Sievers, 1925, Halle) hatum das Rätsel an einer Stelle zu greifen, wo es als Ein-fache Form noch lebendig ist Rätsel des Rigveda imZusammenhang untersucht und festgestellt, daß in diesenRätseln Bewegliches (Sonne, Mond, Jahr, Fuß) R ad o d e rW a g e n ist, Gleichgeordnetes (Tage, Monate) B r ü d e rheißt; Erscheinungen in der Luft (Sonne, Funken, Blitz) :sind V ö g e 1 ; etwas, woraus ein anderes hervorgeht (Wolken,

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142 RÄTSEL.

Morgenröte, Feuer) ist K u h ; Unteres heißt immer F u 13,oberes Haupt.

Wenn also die Sonne, die durch die Wolken scheint, ver-rätselt wird, heißt es:

„Hier soll sagen, wer es wohl weiß, die verborgene Spurdieses lieben Vogels. Aus seinem Haupte melken die KüheMilch, sich in Gestalt hüllend haben sie mit dem Fuße Wassergetrunken."

Porzig hat dann weiter das Wesen dieser Sprache ein-gehend behandelt und damit einen Beitrag zum Kapitel

Sondersprache gegeben. Denn jene Sprache, derenKenntnis Zugehörigkeit zu einem abgeschlossenen Kreise ver

-schafft und in der Heimlichkeit dieses Kreises den Sinn derWelt bedeutet, nennen wir S o n d e r s p r a c h e.

„Sondersprache wie Gemeinsprache konstituieren eineWelt, die eigentliche Welt der betreffenden Sprachgemein-schaft. Aber während die Gemeinsprache die Dinge unmittel-bar als solche hinstellt, darum absolut und im strengen Sinneeindeutig ist, gibt die Sondersprache den Sinn der Dinge, ihreinnere Verflochtenheit und tiefere Bedeutung wieder; darumwird sie so vieldeutig, wie die Welt von innen angesehen immerist. Die Strukturlinien des Weltbilds der Gemeinsprache sinderst eingehender Untersuchung zugänglich, die Sprechendenhaben eine Welt, aber sie kennen sie nicht. Die Welt derSondersprache dagegen zeigt das Gerüst ihres Baus als aller-erstes, sie wird viel früher gewußt als sie in den Besitz ihrerGemeinschaft übergeht. Auf den großen Hauptlinien liegt soviel Gewicht, daß darüber die Einzeldinge verblassen . . ."

Porzig zeigt dann die entgegengesetzten Richtungen derGemeinsprache und der Sondersprache an einem Beispiel ausdem Gebiet der Bedeutungen. ,,Schon bei der Beschreibungdes Charakters der Sondersprache ist deutlich geworden, daßsondersprachliche Bedeutungen sich innerhalb jeder gegebenenSprache finden. Wenn wir vom Fuß des Berges , vomFuß einer Lampe sprechen, so hat das Wort Fuß eine Be-deutung derselben Art, wie in den rigvedisehen Rätseln vonder Morgenröte, die die Sonne mit dem Fuß trägt, oderden Wolken, die ni i t, d e m Fu ß e Wasser trinken. Und wenn

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RÄTSEL 143

wir jede Erscheinung bis zu ihrem ,Ursprung` zurückverfolgen,so hat dieses Wort ausgesprochene Sondersprachen-Bedeutung.Es sind dies die Vorgänge beim Bedeutungswandel, die man als,Übertragung`, als ,bildlichen Ausdruck' zu bezeichnen pflegt.In Wirklichkeit handelt es sich um eine andere Art von Sprachemit andersartigen Bedeutungen. F u ß in der Gemeinsprachemeint einen in bestimmter Weise gestalteten Körperteil alsvorhandenes Ding; F u ß in der Sondersprache bedeutet etwas,dessen ganzes Wesen darin besteht, zu stützen und zu tragen.Wenn wir auf das We s e n des menschlichen Fußes reflek-tieren, so finden wir allerdings, daß es dasselbe ist, was dieSondersprache meint. Aber in der Gemeinsprache wird derF u ß eben nicht nach seinem Wesen, sondern nach seiner E r -s c h e i li u n g gemeint. Beide Bedeutungen liegen im heutigenNeuhochdeutschen ungestört nebeneinander und auch für denRigveda wissen wir, daß alle Ausdrücke der Rätselspracheebenso auch Ausdrücke der Gemeinsprache sind, nur mit ver

-änderter Bedeutungsart. Gemeinsprache und Sondersprachesind also nicht zwei Sprachgebiete, die nebeneinander lägenund einander ausschlössen, sondern sie sind Schichten der-selben Sprache, die sich übereinander lagern . . ."

Ich verweise für das Weitere auf den Aufsatz selbstdiese Ausführungen, auch über Syntax, sind von unbedingterWichtigkeit für den Begriff des Rätsels. Aus dem Zitat sehenwir aber schon zur Genüge, daß es bei dieser Form mög-) ich ist, das, was wir Sprachgebärde genannt haben, genauerzubestimmen: die sprachliche Gebärde des Rätselsstammt ausnahmslos aus der S o n d e r s p r a c h e.

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VII.

Wenn wir aber sagen, daß das Rätsel die Sonderspracheeiner Gruppe im allgemeinen enthält, so ist damit seine Formnoch keineswegs bestimmt. Die sprachliche Gebärde desRätsels ist Sondersprache, aber Sondersprache braucht nichtdie Form des Rätsels anzunehmen -- sie tut dies, um ein nahe-liegendes Beispiel zu wählen, in der Gruppe selbst, die sichihrer bedient, nicht. Oder um ein Beispiel aus der gegebenenwirklichen Sprache, wo sich Gemeinsprache und Sondersprachedurchdringen, zu geben: wenn ich vom Fuße des Bergesrede, so ist das Sondersprache, aber kein Rätsel; ein Rätselwird es, wenn ich frage: Wer ha.t einen Fuß und kanndoch nicht gehen?

Wir müssen hier noch ein neues Moment, nach dem dasVerhältnis des Aufgebenden und des Ratenden zu beurteilenist, erwähnen. War der Zweck des Aufgebenden, festzustellen,ob der Ratende würdig war aufgenommen zu werden, so hatder Ratende, der die Lösung fand, die Abgeschlossenheit durch-brochen. Ob er nun die Absicht hat, seinerseits anderen gegen

-über von dieser Abschließung Gebrauch zu machen, mit anderenWorten, ob er sich von nun an als Eingeweihten betrachtenund betragen wird, ist dabei gleichgültig. Tatsächlich bestehtin dem Augenblick, da er die Lösung ausspricht, die Heimlich-keit des Bundes nicht mehr. In den Rätselerzählungen kommtdas dadurch zum Ausdruck, daß hier das Leben des Aufgeben-den auf dem Spiele steht. Sobald das Rätsel der Sphinx geratenist, stirbt sie. Auch dies aber bedingt die Form des Rätsels:es ist nicht nur eine Verrätselung der Heimlichkeit des Bundes,es ist auch eine Abwehr, und hierin liegt das, was ich schondie Heimtücke des Rätsels genannt habe.

Wir besitzen im Griechischen zwei Worte für Rätsel,aivo; mit dem zugehörigen aivcyua und ypitpoc. Irre ich michnicht, so liegt in dem ersten mehr die Tatsache der Verrätselung,in dem zweiten dagegen, das eigentlich Netz bedeutet ein

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RITSEL 145

Netz, das uns fängt, in dessen Verknotun$en wir uns ver-wirren —, die Heimtücke der Verrätselung ausgedrückt.

Aber wiederum ist es die Sondersprache, die auch dieHeimtücke ermöglicht. Setzen die Bedeutungen der Sonder

-sprache voraus, daß ein Begriff vom Ganzen der Welt bewußtvorhanden ist, daß es ein System der Vieldeutigkeit gibt, worinalles tatsächlich Eindeutige sich einordnen muß, so sind dieseBedeutungen dem Fremden nicht ohne weiteres begreiflich.Sondersprache einer Gruppe wir sehen es deutlich, wennwir Sondersprache im engeren Sinne, Jägersprache, Verbrecher

-sprache nehmen ist Fernerstehenden unverständlich. DieseEigenschaft des Vieldeutigen, unverständlich sein zu können,ist es, die die Form Rätsel sozusagen absichtlich herauskehrt.Es ist nicht nur in der Sondersprache der Gruppe abgefaßt, esist auch so abgefaßt, daß es diese Sondersprache dem tTn-eingeweihten unverständlich erscheinen läßt. Wir nannten esSondersprache, wenn wir von dem F u ß d e s B e r g e s redeten,Rätsel, wenn wir sagen : Wer hat einen Fuß und k a n ndoch nicht gehen ? Was tut nun hier das Rätsel? Esführt von der Sondersprache wieder in die Gemeinspracheüber, von dem Fuß, der, vieldeutig, vieles stützen und tragenkann, zu dem eindeutigen Fuße des Menschen, dem Körperteil,mit dem er sich fortbewegt und indem es vom Vieldeutigenins Eindeutige überführt, macht es von der Gemeinsprache ausdie Sondersprache unverständlich.

Die Form Rätsel eröffnet, aber verschließt zugleich, dieArt, wie das Rätsel verrätselt, ist so, daß es zugleich etwasbirgt und verbirgt, etwas enthält und vorenthält.

Zwischen Frage und Antwort liegt Streit. Wir finden dasausgedrückt in den Rätselwettkämpfen, die an gewissen Stellennoch stattfinden oder die zum Beispiel aus dem Norden -litterarisch überliefert worden sind. In diesen Wettkämpfenmuß nicht nur derjenige büßen, der das Rätsel nicht raten kanji,sondern auch derjenige, dessen Rätsel geraten wird. Sphinx-rätsel und Ilorätsel fallen hier zusammen. Es steht sozusagenWeihe neben Weihe, ein Eingeweihter einem Eingeweihtengegenüber. Wit' wissen, daß solche Wettkämpfe, an denen sichsogar die Gottheit beteiligt, in der Regel damit enden, daß der

Jotles, Einfache Formen 10

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146 RÄTSEL

Mächtigere ein Rätsel aufgibt, das zur allerhöchsten Weihegehört. Odins Rätsel rät kein Sterblicher, und auch durchdieses Geheimnis hat der Gott unser Leben in seiner Hand.

Wenn aber der Ratende durch sein Erraten die Ab-geschlossenheit durchbrochen hat, so hat ihm der Aufgebendedurch das Rätsel dazu die Möglichkeit gegeben. Jede Vergegen-wärtigung birgt nicht nur die Möglichkeit der Lösung in sich,sondern auch die Lösung selbst. Ich erinnere an das Rätsel:Wie heißt Kaiser Karls Hund ?, bei dem die Lösung W i e heißt.Diese Form ist nur ein deutliches Beispiel für die allgemeineTatsache, daß in jeder Vergegenwärtigung die Lösung irgend-wie umschlossen liegt. Der Aufgebende, der verrätselt, verrätandererseits in seinem Rätsel. Wiederum schiebt sich hier -und die Art der Sondersprache, die die Welt der tatsächlichenEindeutigkeit ausschaltet, erlaubt auch das in das Rätselein neues Rätsel ein. Die Antwort schließt die Lücke, dieÖffnung, die durch die Frage entstanden ist, wieder zu : auchdiese Antwort ist Sondersprache, sie ist mehrdeutig. Die ersteLösung birgt und verbirgt eine zweite, auch sie gibt das Tiefstenicht preis. Das ist die Erklärung der oft beobachteten Tat-sache, daß die „eigentlichen" Rätsel iin Gegensatz zu den Be-zogenen Formen derJetztz°eit keine eindeutige Lösungbesitzen.

In einem Teil unserer „Gesellschaftsrätsel" wird diesedoppelte Lösung zum Spiel. Es gibt Rätsel, die in Damen

-gesellschaft eine harmlose, in Herrengesellschaft eine wenigerharmlose Lösung besitzen. Aber wenn wir hier Herrengesell -schaft sagen, so liegt darin schon eine Beziehung zu jenenOrganisationen, die die Ethnographie als Männerbund zu be-zeichnen pflegt. In der Damenlösung liegt wiederum etwasenthalten, was zugleich vorenthalten bleibt. Dem stehenauch als Spiel solche Rätsel gegenüber, die zu einer nichtharmlosen Lösung zu verführen scheinen, aber dann doch wiedereine sehr harmlose Lösung zulassen, deren Heimtücke darinbesteht, daß sie etwas anderes zu eröffnen scheinen, als wassie in Wirklichkeit verschließen. In Wossidlos Sammlung siehtman, wie häufig diese Rätsel sind sie erinnern uns daran,wie alt und weitverbreitet die Sondersprache des Geschlecht -lichen ist.

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VIII.

Die Form des Rätsels habe ich somit in ihren vielen Ver-schlingungen zu zeigen versucht. Für unsere eigene Zeit haben

wir gesehen, daß das Rätsel einerseits fortlebt in BezogenenFormen, die sich von der Einfachen Form als solcher fast ganzlosgelöst haben, und andererseits in Rätseln aus dem Volks-munde, die zwar auf die einstmalige Bedeutung hinweisen, und ausdenen man die Einfache Form noch erkennen und ableiten konnte,aber die doch keineswegs mehr in Beziehung zu ihrem ursprüng-lichen Ziel gesetzt wurden. Um die lebendige Verwirklichungder Einfachen Form beobachten zu können, mußten wir schonzu dem Rätsel des Rigveda greifen in unserer eigenen Zeitsind sowohl das sogenannte „Kunsträtsel" wie das sogenannteVolksrätsel Spiel. Woher kommt das? Wir haben schon beiSage und Legende gesehen, wie zu bestimmten Zeiten untergewissen Umständen eine Geistesbeschäftigung zurückgedrängt,weniger wirksam wird und wie dann auch ihre Vergegen-wärtigungen sich verdünnen, schwerer erkennbar werden. Beidem Rätsel liegt Ähnliches vor. Die Begriffe Bund und Heim-lichkeit des Bundes sind aus unserer Gesellschaft, der BegriffSondersprache in tieferer Bedeutung ist aus unserer Spracheweitgehend ausgeschaltet. Auch darüber findet sich Einigesbei Porzig. „Auch von unsern ,abstraktesten` wissenschaft-lichen Begriffen verlangen wir," sagt er, „daß sie einen Sach-verhalt eindeutig bezeichnen. Daß wissenschaftlicheTermini etwas anderes sein könnten oder gar sollten als Namenfür Tatsächlichkeiten, wird von maßgebenden wissenschaft-lichen Richtungen lebhaft bestritten: so stark ist innerhalb derabendländischen Kultur gegenwärtig noch die Strömung gegendie Sondersprache." Wissen als Allgemeinbesitz, als einmöglichst allseitig zu Erwerbendes, hat verrätseltes Wissen,Wissen als Macht verdrängt. In der Welt. des 19. Jahrhunderts

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148 RÄTSEL

war für Rätsel kein Platz. Vielleicht gibt es noch mehr solcheStellen. Boas, der beste Kenner der nordamerikanischen Völker

-kunde, teilt mit, daß in Nordostsibirien und in Amerika dasRätsel zu fehlen scheint.

Wo aber und sei es nur als Restbestand der Bundmit seiner Heimlichkeit sich noch findet, da treffen wir daseigentliche Rätsel wieder an. Es ist gerade in letzter Zeithäufig von einer Gemeinschaft die Rede gewesen,deren binden-der Sinn Mythe sein soll, von einem Bunde, in dem sich Welt alsT e m p e 1 bekannt gibt : Hier sehen wir, wie auch dieser Bundsich im Rätsel eröffnet und verschließt, und M a u r e r gibthier ein gutes Beispiel der Sondersprache. Zugleich habenwir hier beobachten können, wie man von außen her bestrebtist, die Abgeschlossenheit dieses Bundes zu sprengen, und wiedas Mittel dazu war, daß man sein Rätsel verrät.

Noch eins zeigt uns der Kampf gegen die Freimaurerei:den Zusammenhang zwischen der Heimlichkeit des Bundes undder Heimlichkeit des Verbrechens. Es könnte scheinen, als obwir die zweite Verrätselung, die, mit der ein Angeklagter seinLeben rettet, aus dem Auge verloren hätten. In der Tat liegtes hier etwas anders es ist eine Umkehrung, aber eine Um-kehrung, die in derselben Weise erklärt werden kann. Auchder Verbrecher hat sich mit seinem Verbrechen und seinemGeheimnis eingeschlossen : er und die Seinen sind die alleinEingeweihten. Auch hier kommt es darauf an, zu ihm durch-zudringen, auch hier ist mit der Lösung ein Zugang zum Ab-geschlossenen gegeben. Überall nun, wo der ferner Stehendeden Bund in seinem Sinn und in seiner Abgeschlossenheit nichtanerkennt, macht er von sich aus diese Umkehrung: er be-schuldigt ihn des Verbrechens, so wie es jetzt mit der Frei-maurerei geschieht.

Die Heimlichkeit des Verbrechers, das Rätsel des Ver-brechens hat sich in der Neuzeit von einer Kurzform zu einarGroßerzählung erweitert, der Detektiverzählung. Wir habenhier den Verbrecher, der sich und sein Verbrechen verrätselt,aber in der Verrätselung wiederum selbst die Möglichkeiteiner Entdeckung eröffnet., und den Aufdeckenden, der dasRätsel löst und die Abgeschlossenheit durchbricht, als Figuren

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RÄTSEL 149

vor uns. Diese Erzählungsform, die in der jetzigen Litteratureine der vielen ist, in denen sich die Kunstform Roman auflöst,ist einer genaueren Untersuchung durchaus wert.

Zum Schlusse : wir haben gesehen, wie es in der Welt derLegende Gegenstände gibt, die mit der Macht der Form ge-laden, in ihrer Gegenständlichkeit die Form als Ganzes ver

-treten, wir nannten einen solchen Gegenstand dort R e 1 i q u i e.Bei der Sage entspricht das Gegenständliche, das wir dort dasE r b e nannten, der Reliquie der Legende. Bei der Mythesprachen wir von S y m b o 1. Ebenso gibt es in der Welt desRätsels Gegenstände, in die sich die Macht des Rätsels hinein-gelagert hat, die mit Rätsel geladen sind Gegenstände, dieetwas enthalten, das sie uns vorenthalten, die wie die Herbergeeiner Lösung sind, die sie doch wieder verbergen, die etwaseröffnen und verschließen. Einen solchen Gegenstand, der vonseiner Heimlichkeit raunt, möchte ich Rune nennen unddabei an A 1 r au n e erinnern. Die alte Bedeutung des gotischenr u n a und des angelsächsischen r u n ist bekannt. Die Be-deutung dieses Gegenstandes und seiner weittragenden Be-ziehungen auch zur Schrift im Zusammenhang mit derG eistesbeschäftigung des Rätsels festzustellen, ist auch eineunserer vielen Altfgaben.

io

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SPRUCH

Y.

Der Kurzform Rätsel stelle ich eine andere Kurzform au sdie Seite, die wir gewöhnlich Sprichwort nennen. Inwie-weit damit eine besondere Vergegenwärtigung gemeint ist, undinwieweit wir von ihr aus auf eine Einfache Form werdenschließen können, muß sich im Laufe der Untersuchung heraus-stellen. Unter dem Namen S p r i c h w o r t ist hauptsächlichdas gesammelt, was wir an erster Stelle für die Untersuchung.brauchen. Und zwar setzen diese Sammlungen schon frühein viel früher als von einem Wissenschaftszweig, der sichVolkskunde nennt, die Rede ist, auch mit ganz anderenZielen. Die ersten wissenschaftlichen Sammlungen dieser Artdes späten Abendlandes fallen mit dem Humanismus zusammenund sind in einem bestimmten Sinne philologisch -pädagogisch.Ich erinnere nur an Erasmus, an Sebastian Franck, an Agricola,an Heinrich Bebel und auch daran, daß Luther sich zueigenem Gebrauch eine Sprichwörtersammlung angelegt hat.Wir finden darüber Näheres in dem vortrefflichen Buche, vondem ich bei unseren Betrachtungen ausgehen werde, in der„Deutschen Sprichwörterkunde" von Friedrich Seiler, das inder Reihe der Handbücher des deutschen Unterrichts an höherenSchulen (Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1922) er-schienen ist. Ein Hinweis auf diese in jeder Hinsicht voll

-ständige Arbeit enthebt mich der Mühe, die Sprichwörter-sammlungen und Lexika der Neuzeit zu nennen.

So günstig aber Seilers Vorarbeit ist, so gibt es doch auchhier wieder manches, was wir anders fassen müssen.

Seilers Bestimmung des Sprichwortes lautet: „Im Volks-mund umlaufende, in sich geschlossene Sprüche von lehrhafterTendenz und gehobener Form."

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Kurz ehe die große „Sprichwörterkunde" erschien, hatteSeiler in einem kleineren Buche eine Definition gegeben, dieetwas anders lautete:

„Sprichwörter sind im Volksmund umlaufende Sprüche vonlehrhaftem Charakter und einer über die gewöhnliche Rede ge-hobenen Form."

Wenn jemand eine Begriffsabgrenzung ändert, so bedeutetdas, daß seine Gedanken an der betreffenden Stelle geschwankthaben. Hier finden wir, daß der lehrhafte „Charakter" durcheine lehrhafte „Tendenz", das weiter ausgreifende Wort voneinem vorsichtigeren, ersetzt worden ist. Bei „lehrhaft" scheintsich Seiler also etwas unsicher gefühlt zu haben. Hinzu

-gekommen ist in der zweiten Definition das „in sich Ge-schlossene". Den beiden Definitionen gemeinsam ist : 1. daßein Sprichwort „im Volksmunde umläuft", 2. daß es ein„Spruch" ist, 3. daß es eine „gehobene" Form zeigt.

Sehen wir uns dieses „Umlaufen im Volksmund" oder dieVolkläufigkeit, wie später dieses Hauptmerkmal genannt wird,etwas näher an. Daß der Ausdruck „Volk" hier heikel ist, hatSeiler wiederum selbst gefühlt. Zwar wird erst gesagt : „derGedanke muß faßlich und nicht allzu hoch sein, die Worte all-gemein bekannt und dem Volke vertraut ", und es werden des-halb Sätze wie : In der Liebe haben alle Frauen Geist, oderAlles Irdische ist vergänglich, vom Sprichwort abgetrennt;aber gleich darauf heißt es : „Damit, daß das Sprichwort einwirkliches Volkswort sein muß, ist aber durchaus nicht gesagt,daß jedts Sprichwort im ganzen Volke gangbar sein müsse.Viele Sprichwörter sind nur in einzelnen Orten, Landschaften.oder Volksstämmen heimisch und erscheinen dann häufig imDialekt." Und wieder etwas weiter heißt es : „Manche Sprich-wörter sind ferner aus bestimmten Berufskreisen hervor

-gegangen : Soldaten-, Handwerker-, Bauern-, Studentensprich-wörter. Auch die geistige und sittliche Bildung bewirkt einenUnterschied im Gebrauch der Sprichwörter. Es gibt Sprich-wörter, die mehr inl den höheren, und solche, die mehr in denniederen Schichten eines Volkes zu Hause sind. Die erstennähern sich der Grenze, wo das Sprichwort aufhört und derDenkspruch anfängt."

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Wir hätten uns demnach eigentlich drei Schichten vor-zustellen : die niedere, die höhere und die allerhöchste. In den

beiden ersten befindet sich das Sprichwort, in der letzten derDenkspruch. Wie aber diese Schichten nun in dem Gesamt

-komplex „Volk" gelagert sind, wie sie sich zueinander ver-halten, und wie demzufolge das Verhältnis vorn niederen Sprich

-wort zum höheren, vom höheren zum Denkspruch zu denkenist, oder wie diese zusammen sich wiederum verhalten zu denfrüher erwähnten Sprichwörtern aus Berufskreisen, erfahrenwir nicht. Meint man, diese Denksprüche seien Produkte derLitteratur, so ist auch dies nicht ganz richtig, denn gleich daraufwird gesagt : „diese Trennung zwischen höheren und niederenSprichwörtern pflegt dann einzutreten, wenn sich von der Volks-sprache eine Schriftsprache loslöst." Schon das höhere Sprich-wort fällt also mit der Schriftsprache zusammen.

Nun wird aber diese Trennung zwischen höherem undniederem Sprichwort gleich wieder aufgehoben oder dochjedenfalls nicht als maßgebend betrachtet, denn dazwischenbefindet sich wiederum etwas anderes: „Zwischen beidenKlassen liegt nun aber, beide an Zahl übertreffend, eine breiteMittelschicht von solchen Sprichwörtern, deren sich alleSchichten des Volkes ohne Unterschied bedienen."

Es wird sogar gesagt, wann diese Mittelschicht entstandenist: „Diese stammen zum. Teil aus einer Zeit, in der das geistigeLeben des Volkes, seine Empfindungs- und Ausdrucksweisenoch einheitlich und nicht nach Ständen und Gesellschafts-klassen geschieden war."

Es scheint mir nicht ganz leicht, sich jene Zeit ohneTrennung nach Klassen, Ständen usw. sprachlich oder sozio-logisch vorzustellen. Ich wage es sogar, die Möglichkeit einessolchen kulturhistorischen Idylls zu bezweifeln. Zum Teilstammen aber auch die Sprichwörter der Mittelklasse auseiner anderen Zeit: „sie sind aus der oberen Schicht in dieuntere hinuntergesickert." Aber jedenfalls gehören dieserMittelklasse „nicht nur die verbreitetsten, sondern auch diemeisten Sprichwörter an."

Ein genaues Bild dessen, was hier mit Vo 1 k gemeint ist,

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oder wo in diesem V o 1 k e das Sprichwort entsteht und ge-lager.t ist, bekommen wir jedenfalls in dieser Weise nicht.

Es gibt aber mit diesem Begriffe „Volk" noch wiederandere Schwierigkeiten, sobald wir zu dem Kapitel es ist daszweite -- gelangen, das von der Entstehung des Sprichworteshandelt und wo wir über das Wie orientiert werden sollen.Hier werden die Sprichwörter ihrem Ursprunge nach in zweiKlassen geteilt : die litterarischen und die aus dem Volkehervorgegangenen. Die Litteratur scheint also eigentlich nichtzum „Volke" zu gehören. Die litterarischen Sprichwörter, sagtSeiler „sind weit zahlreicher, als man gewöhnlich annimmt. Essind zugleich die verbreitetsten und gehaltvollsten."

Da von den litterarischen in einem besonderen Buche ge-sprochen werden soll, will Seiler sich in seiner Sprichwörter -kunde ausschließlich mit den aus dem Volke selbst hervor -gegangenen beschäftigen. Zunächst aber muß eine „romanti-sierende Ansicht" beseitigt werden. „Lange Zeit hat die An-sicht geherrscht, das Volkssprichwort habe ebenso wie dasVolkslied, das Volksmärchen, die Volkssage seinen geheimnis-vollen Ursprung in den Tiefen der Volksseele." Diese Ansicht,die schon bei Aristoteles zu finden sein soll und unabhängig vonAristoteles später von Rousseau und Herder zu allgemeinerGeltung gebracht ist, kann, heißt es, neueren Forschungennicht standhalten : auch die populären Sprichwörter sind keines

-wegs auf eine geheimnisvolle Weise aus der Tiefe der Volks-seele erwachsen. ,,,Das Volk' als Ganzes kann überhaupt nichtsschaffen. Jede Schöpfung, Erfindung, Entdeckung rührt immervon einer Einzelpersönlichkeit her. Irgendwo und irgendwannmuß jedes Sprichwort einmal zuerst ausgesprochen wordensein. Wenn es dann denen, die es hörten, gefiel, so gaben siees als geflügeltes Wort weiter; es wurde wohl auch noch um-gemodelt und zurechtgestutzt, bis es eine allen bequeme Ge -stalt bekommen hatte und so zum allgemein bekannten Sprich -wort wurde."

Auch dieser Prozeß ist nicht ganz klar. Jedes Sprichwort^011 ein geflügeltes Wort gewesen sein. Das Volk als Ganzeskann nichts schaffen aber es scheint wohl etwas N or-handenes so „ummodeln" und „zurechtstutzen" zu können, daß

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es eine Gestalt bekommt, die allgemeine Gültigkeit besitzt.Sprichwort aber wird ein geflügeltes Wort nur dann, wenn esin dieser Weise vom Volke die allgemein gültige Gestalt. be-kommen hat usw.

Es ist hier nicht meine Absicht, gegen Seilers Buch zupolemisieren. Was ich mit dieser Auseinandersetzung zeigenwill, ist nichts anderes, als daß wir methodisch mit diesem Be-griff Yo 1 k nicht mehr anfangen können, als daß wir sagen:was wir Sprichwort nennen, scheint in allen Schichten desVolkes, den höheren, den niederen, den mittleren, und in allenKlassen und Ständen, aus denen sich dieses Volk zusammen-setzt, Bauern, Handwerkern, Gelehrten, vorhanden zu sein.

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II.

Wir wenden uns also dem zweiten begründenden Merkmalzu: das Sprichwort ist ein Spruch. Damit ist imallgemeinen gesagt, daß ein Sprichwort selbst kein Grundbegriffist, sondern auf einen Grundbegriff zurückgeführt werdenmuß. Damit ist nach unserer Auffassung gesagt, daß es eineEinfache Form gibt, die wir S p r u e h nennen, und daß sichdiese Einfache Form vergegenwärtigt in einem S p r i c h w o r t.Ob sie sich in diesem Falle noch anders vergegenwärtigenkann, davon wird später die Rede sein.

Da nun nicht nur im westlichen Abendlande, sondern auchin der Antike Sprichwörter immer und überall vorhanden sind,da wir sie nicht wie das eigentliche Rätsel zu suchen oder wieSage und Legende zu verdolmetschen haben, sondern ihnentäglich und stündlich begegnen, können wir von dieser Bekannt-schaft aus unmittelbar die Geistesbeschäftigung zu bestimme.!versuchen, aus der sich die Einfache Form S p r u c h und ihreVergegenwärtigung Sprichwort ergibt, ohne einen historischenPunkt zu behandeln, an dem sie sich in ausgeprägter Be-sonderung befände.

Wenn wir die Welt begreifen als eine Mannigfaltigkeit.von Einzelwahrnehmungen und Einzelerlebnissen, ergeben zwardiese Wahrnehmungen und Erlebnisse, reihenweise erfaßt undzusammenfaßt, jeweilig d i e E r f a Ii r u n g, aber auch dieSumme dieser Erfahrungen bleibt. eine Mannigfaltigkeit. vonEinzelheiten. Jede Erfahrung wird jedesmal selbständig be-griffen, ein Erfahrungsschluß ist in dieser Weise und in dieserWelt nur in sich selbst und aus sich selbst bindend und wertbar.Es ist eine zeitlose Welt, nicht weil sich in ihr die Augen-blicke wie in der Welt, wo es keine Erfahrung mehr gibt --zu einer Ewigkeit zusammenschließen, sondern weil die Augen-blicke in ihrer vereinzelten Eigenheit nicht imstande sind, zu-

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sammen als Zeit zu verlaufen. Es ist eine Welt, in der dievierte Dimension fehlt, eine asymptotische Welt, eine Welt desIsolierten, eine Welt, die zwar zu addieren, aber nicht zumultiplizieren versteht.

Es ist unmöglich, sich diese Welt begrifflich durchzu-denken, denn gerade das begriffliche Denken ist es, wogegendiese Welt sich stemmt, und was seinerseits diese Welt zer-stört. Zwar gibt es auch hier ein Trennen und Verbinden, einVergleichen und Beziehen, ein Gliedern und Ordnen, aber inden Bindungen überwiegt die Trennung, in den Bezogenheitenbleibt das Nebeneinander, in den Ordnungen die Sonderung derGlieder bestehen. Kurz, diese Welt ist nicht Kosmos, sie istSonderung, sie ist Empirie.

In diese Welt aber können wir uns aus anderen Weltenzurückziehen, in ihr verläuft ein Teil unseres Daseins, und so-oft wir uns in ihr befinden, ist die Form, die sich dann ausunserer Geistesbeschäftigung und dem mit ihr zusammen

-hängenden Gedankengang ergibt, die Einfache Form, die wirM a x im e oder lieber auch wenn wir wissen, daß wir damitdas Wort im Sprachgebrauch einschränken S p r u c h nennen.

Spruch heißt in dieser Morphologie also die litterarischeForm, die eine Erfahrung abschließt, ohne daß diese damit auf-hört, Einzelheit in der Welt des Gesonderten zu sein. Siebindet diese Welt in sich, ohne sie durch ihre Bündigkeit derEmpirie zu entheben.

Im Sprichwort vergegenwärtigt sich diese Form aberwir können im Gegensatze zu anderen Formen, bei denenwir die Weisen der Vergegenwärtigung weniger genau unter-scheiden konnten, feststellen, daß hier andere Vergegen-wärtigungen erkennbar sind, daß Sittensprüche, Sentenzen,Geflügelte Worte, sprichwörtliche Redensarten, Apophthegmatain ihrer jeweiligen Eigenart hierher gehören.

Wir werden uns indessen hauptsächlich auf die Vergegen-wärtigung Sprichwort , die (las Wesen der Form zurGenüge erklärt, beschränken.

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III.

Sehen wir aber erst den Spruch als solchen noch einmalan. Wenn etwas, was gelingen konnte, nicht gelungen ist undwir schreiben das Mißlingen einem uns aus der Erfahrung be-kannten und mit unserem Wesen zusammenhängenden Mangelan Möglichkeiten des Gelingens zu, so sagen wir trübselig:man muß Glück haben.

Wenn dagegen etwas gelungen ist, was nicht zu gelingenbrauchte, und wir schreiben das Gelingen einem gewissenWagemute zu, der, wie die Erfahrung lehrt, zum Ziele führt,so sagen wir wiederum, aber in einem ganz anderen Tone:man muß Glück haben.

So tritt der Spruch jedesmal im Leben und in der Kunstauf, wenn eine Erfahrung in der oben besprochenen Weise ge-faßt wird. Es ist aber schon in diesen Fällen klar, daß wir dieSituation keineswegs kritisch beurteilen oder daß wir in -eineErörterung eintreten, die etwa lauten könnte : „wenn ich andersgehandelt hätte, wäre vielleicht ... usw." Wir sondern dieTatsache oder den Sachverhalt ab, wir reihen ihn sozusagenauf der Schnur der Erfahrung auf, die lauter solche einzelnePerlen durchzieht.

Wir reden von einer Welt der Erfahrung, aber es ist deut-lich, daß diese Welt, gerade weil sie empirisch ist, sich je nachden Interessen, den Beschäftigungen, den Erfahrungen einzelnerKlassen und Stände teilt und daß diese Erfahrungen sich inSonderwelten zusammenschließen. Die Erfahrungen, gerade in dergesellschaftlichen und handwerklichen Besonderung gesammelt,schließen sich am leichtesten zu Sprüchen oder Maximen zu-sammen. So ist es zu erklären, daß wir die Kreise, von denenSeiler redet, Soldaten, Handwerker, Bauern, Studenten, imSpruche gesondert erkennen. Daneben steht der Spruch andererSchichten, der humanistische. der schriftstellerische Spruch

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und auch der Spruch jener großen Mittelklasse, in dem die Er-fahrungen vieler Einzelner zusammenkommen. So wird, um nurein einziges Beispiel zu nennen, die Erfahrung, daß man dieGelegenheit benutzen soll, als Erfahrung des Schmiedes heißen:„man soll das Eisen schmieden, wenn es heiß ist", als Er-fahrung des Liebhabers : „wenn uns die Gelegenheit anlacht,so muß man sie küssen" und beide können in dem, wasSeiler Mittelklasse nennt, als Spruch eine Erfahrung absondernund einreihen.

Damit sind wir aber bei einem Worte angekommen, dasSeiler, wie wir gesehen haben, in der zweiten Definition selbstschon eingeschränkt hat und das nach meiner Meinung über-haupt zu streichen ist, bei dem Wort „lehrhaft". Der Spruchist nicht lehrhaft, er hat keinen lehrhaften Charakter, er hatselbst keine lehrhafte Tendenz. Damit ist nicht gesagt, daßwir nicht aus der Erfahrung lernen können, wohl aber, daß inder Welt, von der wir reden, die Erfahrung nicht als etwasaufgefaßt wird, aus dem wir lernen sollen. Alles Lehrhafte istein Anfang, etwas, worauf weiter gebaut werden soll dieErfahrung in der Form, in der sie der Spruch faßt, ist einSchluß. Ihre Tendenz ist rückschauend, ihr Charakter istresignierend. Dasselbe gilt von ihrer Vergegenwärtigung. Auchdas Sprichwort ist kein Anfang, sondern ein Schluß, eine Gegen-zeichnung, ein sichtbares Siegel, das auf etwas aufgedrücktwird und womit es seine Prägung als Erfahrung erhält.

Wir sehen das am deutlichsten dort, wo die sprachlicheForm des Sprichwortes mit der Redeform, in der eine L e h r e,ein Gebot gegeben wird, übereinstimmt. Der Imperativ in:„Üb immer Treu und Redlichkeit" oder in „Du sollst nicht be-gehren Deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh usw." istein anderer als der Imperativ in „was du nicht willst, das mandir tu', das füge keinem andern zu" oder in „Schuster, bleibbei deinem Leisten". Die ersten Imperative man kann siekategorische Imperative nennen zielen in die Zukunft; inden zweiten überwiegt eine Vergangenheit, die den Schluß ver-anlaßt hat. Wir sagen auch nicht aus heiterem Himmel: „Trau,schau, wem", sondern nur dann, wenn jemand beim Trauen ver-gessen hat, zu schauen wem; wir sagen, ;,du sollst den Tag

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nicht vor dem Abend loben", wenn durch unvorsichtiges Loben,das erfahrungsgemäß Unglück bringt, das Glück des Tages, dieFortuna hujusce diei, sagten die Römer, schon ins Schwankengeraten ist. Auch hier fügen wir etwas, das schon geschehenist, durch einen Schluß anderen gleichartigen Geschehnissenempirisch hinzu. Der Mangel an Moral, 'der oft in Sprichwörternbemerkt und bemängelt wird, erklärt sich daraus, daß in derWelt der Empirie der Begriff Moral fehlt. In jedem Sprichwortdeckt man den Brunnen zu aber erst, wenn das Kind er-trunken ist.

„Das echte volksrnäßige Sprichwort", sagt Wilhelm Grimm,„enthält keine absichtliche Lehre. Es ist nicht der Ertrag ein

-samer Betrachtung, sondern in ihm bricht eine längst emp-fundene Wahrheit blitzartig hervor und findet den höheren Aus

-druck vonselbst."Auch Sebastian Franck spielt auf diesen Schlußcharakter

an, wenn er das Sprichwort ,,ein kurtze weise Klugred" nennt,,.die Summ eines gantzen Handels". K l u g r e d e ist einschönes Wort für den Spruch und seine Vergegenwärtigung,das leider aus der Sprache verschwunden ist. In Klugredeliegt aber auch etwas von dem, was wir im Niederdeutschenk 1 u g s c h n a c k e n nennen, und auch das gehört zu den nach

-tragenden und nachträglichen Eigenschaften des Sprichworts.

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IV.

Wir sind damit schon bei den Vergegenwärtigungen an-gelangt. Und hier kommt wieder unsre übliche Frage : wie ge-schieht diese Vergegenwärtigung, wie wird aus der Geistesbeschäftigung, die wir mit dem Kennwort E m p i r i e oder E r -f a h r u n g angedeutet haben und eigentlich ging es hierschon über . „andeuten" hinaus , die Gegenwärtige Form?Oder in der Praxis, wie wird aus der Erfahrung im Leben, diewir als „man muß Glück haben" zusammenfaßten, das Sprich

-wort : „Wer das Glück hat, führt die Braut heim", „De'tGlück will, de kalwt de Osse", „Wer das Glück hat, der wärmtsich ohne Feuer und mahlt ohne Wind", „Wer das Glück zurMutter hat, dem ist die ganze Welt Vetter" ; oder umgekehrt:„Wer Unglück hat, kann sich den Daumen in der Westentaschebrechen"?

Seiler stellt sich, wenn wir dieses Wie zunächst etwas all-gemeiner nehmen, die Sache, wie wir gesehen haben, so vor,daß - die Vergegenwärtigung den Weg durch eine Persönlich-keit nimmt. Wie jede Schöpfung, Entdeckung, Erfindung sorühre auch das Sprichwort, wie wir gehört haben, von einerEinzelpersönlichkeit her. Er beschreibt selbst diese Persön-lichkeit genauer, er nennt sie „einen hellen, mit gutem Mutter-witz ausgestatteten Geist, dem zugleich die Gabe des treffen

-den Wortes verliehen ist.."Abgesehen von der Neigung, die ich in der Einführung

besprach, in der Litteraturgeschichte überall von einem Dich-ter als formender und gestaltender Kraft auszugehen, ist eseine besondere Tatsache, die Seiler und andere zu dieser Über

-zeugung brachte. Wir besitzen in der Tat VergegenwärtigteSprüche, die von nennbaren und erkennbaren Persönlichkeitenherstammen, es sind, wie ich schon sagte, die sogenanntenG e f l ü g e lt e ri Worte. Dieser Ausdruck. der bekanntlich

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aus Homer stammt, wurde von Georg Büchmann neugeprägt,der 1864 zuerst eine Sammlung solcher Sprüche zusammen-stellte und beleuchtete er ist vielleicht nicht ganz glück-lich gewählt, aber er hat sich eingebürgert, und wir wollen ihndeshalb beibehalten.

Die Erfordernisse eines Geflügelten Wortes sind nachBuchmann:

1. daß sein litterarischer Ursprung oder sein historischerUrheber nachweisbar ist;

2. daß es nicht nur allgemein bekannt ist, sondern auchin den Gebrauch der deutschen Sprache überging undallgemein gebraucht oder angewendet wird;

3. daß Gebrauch und Anwendung nicht nur zeitweilige,sondern dauernde sind, wobei natürlich „Dauer"nicht „Ewigkeit" heißen soll.

Wir haben hier wirklich Vergegenwärtigungen des Spruchesvor uns, die von Persönlichkeiten stammen zweifelsohneauch von Persönlichkeiten mit Mutterwitz, denen die Gabe destreffenden Wortes verliehen war. Und es ist mit diesen Persön-lichkeiten auch so, daß sie zwar n a c h w e i s b a r, aber damitkeineswegs allgemein b e k a n n t waren. Wer weiß, wenn ervon einem Anderen sagt: „er schweigt in sieben Sprachen", daßdieses Wort von Schleiermacher stammt und auf eine besonderePersönlichkeit gemünzt war? Wer ahnt, wenn er sagt : „muß esgleich sein ?", daß dieses Wort aus einem Couplet von Nestroyumgemodelt wurde? So muß es, meint Seiler, allen Sprich-wörtern ergangen sein, sie stammen von einer Person, einemDichter, der unbekannt geworden ist und er schreckt nichtvor der Konsequenz zurück, alle Sprichwörter ursprünglichGeflügelte Worte zu nennen.

Demgegenüber können wir nun folgendes feststellen.Buchmann hat für das, was wir hier einmal „landläufige"oder „mundläufige" Sprichwörter nennen wollen, nirgendseinen Verfasser nachgewiesen. Ich kenne ihre Zahl nicht an-nähernd, will aber darauf hinweisen, daß der erste Band vonWanders Deutschem Sprichwörter -Lexikon zirka 45 000 deutscheSprichwörter enthält, und daß das ganze Werk fünf Bände

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umfaßt. Wenn nun darin auch Wiederholungen und ver-schiedene Schattierungen desselben Sprichwortes vorkommen,

so bleiben immer noch ein paar mal hunderttausend übrigein merkwürdiger Zufall, daß bei allen diesen die Persönlichkeitverloren gegangen ist. Weiter Buchmann hat aber auchnicht versucht, die Verfasser dieser „landläufigen" Sprich-wörter zu finden. Und warum nicht? Weil er sehr genau wußte,daß ein Geflügeltes Wort kein Sprichwort ist ; weil er sie aufden ersten Blick unterscheiden konnte, weil er begriff, daß eshier einer anderen Gattung galt, daß er es mit einer anderenWeise der Vergegenwärtigung zu tun hatte. Dann und wannwaren die Grenzen fließend, es gab Redewendungen, diebei einer besonderen Gelegenheit oder in einer bestimmtenSituation gebraucht worden waren, die von dort aus wiederallgemein benutzt oder angewendet wurden, die man also alsGeflügelte Worte betrachten konnte und die dennoch auf ältere,allgemeinere Vergegenwärtigungen zurückgingen aber dieseFälle waren in einer ganz geringen Minderzahl. Bei der sehrgroßen Mehrzahl waren Sprichwort und Geflügeltes Wort nichtzu verwechseln. Eine solche Redewendung, die auf ältere Ver

-gegenwärtigungen zurückgeht, ist zum Beispiel „ein Sturm imGlase Wasser", das angeblich zuerst bei Montesquieu auf-taucht. Buchmann weist aber nach, daß Montesquieu eshumanistischen Redensarten entnommen hat, die ihrerseits aufantike zurückzuführen sind.

Ich bin hier auf Einzelheiten eingegangen, um zu zeigen,(laß wir methodisch mit Seilers Begriff „Persönlichkeit" eben-sowenig anfangen können, wie wir es mit seinem Begriffe „Volk"konnten. Da das „Volk" als schaffende Kraft nicht anerkannt wer

-den konnte und die „Volksseele" zum Gerümpel romantisierenderBegriffe geworfen werden mußte, wurde als schaffende Kraftdie Persönlichkeit mit Mutterwitz eingesetzt. Aber nun mußtediese Persönlichkeit wieder vergessen, ihr Eigentum mußteGesamtbesitz werden, und vor allem mußte, um Gesamtbesitzwerden zu können, dieses Eigentum wieder „umgemodelt" und,,zurechtgestutzt" werden. Wo und wie das geschah, blieb un-bekannt. Wenn man den Satz ausspricht: „Irgendwo undirgendwann muß jedes Sprichwort einmal zuerst ausgesprochen

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worden sein", so kann man natürlich auch sagen: irgendwo undirgendwann muß jedes umgemodelte Sprichwort einmal zuerstausgesprochen worden sein. Man kann hinzufügen : irgendwound irgendwann muß jedes Wort zuerst ausgesprochen wordensein. Und so weiter ad infinitum. Ich leugne nicht, daßes einen Kreislauf von Persönlichkeit und Volk gibt ichbezweifle auch nicht, daß diesem Kreislauf Bedeutung für dieLitteraturwissenschaft zukommt. Ich leugne aber, daß es mög-lich ist, aus diesem Kreislauf das Wesen und den Sinn einerForm zu bestimmen, ich leugne das auch deshalb, weil es unshier auf falsche Wege geführt hat. Ein Sprichwort ist keinGeflügeltes Wort und ein Geflügeltes Wort kein Sprichwort.Das persönlich Geprägte kann seine Beziehung zu der Einzel

-person, die es geprägt hat, verlieren, aber nicht sein Geprägeselbst; der Name des Verfassers kann wie das auch beiKunstformen so oft geschieht vergessen werden, aber er-halten bleibt das unterscheidende Bewußtsein, daß ein Ver

-fasser da war.Gemeinsam haben Sprichwort und Geflügeltes Wort, daß

sie zur gleichen Geistesbeschäftigung gehören. Wenn wirÜbereinstimmung und Unterschied feststellen wollen, so bleibtuns auch hier nur die Methode, sie dort zu beobachten, wo wiraus dieser Geistesbeschäftigung die Form hervorgehen sehen,wo sie sich verwirklicht und wo wir ihre Vergegenwärtigungbeobachten können: in der Sprache. Und gerade hier hat nunwieder Seiler unschätzbare Vorarbeit geleistet, indem er dieSprachvorgänge im Sprichwort erschöpfend dargestellt hat.Es bleibt die Aufgabe, den Sinn dieser Vorgänge an einigenBeispielen zu erläutern.

Im allgemeinen ist die Art, wie ein Spruch einen Sach-verhalt meint, aussagend. Darin liegt ein Gegensatz zurMythe und zum Rätsel, in denen sich die Form in Frage undAntwort vollzieht und deren Art wir deshalb g e s p r ä c h i goder d i a l o g is c h genannt haben. Die Aussage schreitet aberim Spruch nicht verknüpfend oder schließend von Vorstellungzu Vorstellung, von Urteil zu Urteil, sondern sie bezieht sich ineiner einmaligen, unbedingten Weise auf einen Sachverhalt -wir nennen deshalb diese Art im Gegensatz zur d u r c h -

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laufenden oder diskursiven: behauptend odera p o d i k t i s c h. Es ist klar, daß diese behauptende Art dieeinzige ist, in der das, was wir Erfahrung genannt haben, zumAusdruck kommen kann.

Sehen wir uns die Sprache des VergegenwärtigtenSpruches im Sprichwort nun weiter an.

Zunächst das Wort und die Wortart. Wir nehmen einBeispiel: Ehrlich währt am längsten. Was ist hierdas Wort : e h r l i c h ? Ein Substantiv? Gewiß nicht. EinAdjektiv? Doch wohl auch nicht. Ein substantiviertes Ad-jektiv? Das stimmt auch nicht ganz. In der Weise, wie es hierauftritt, läßt es sich nicht auf die üblichen grammatischenKategorien zurückführen. Es enthält von beiden Arten etwas,aber es hat hier eine Eigenart, die es von der allgemeinen Be-stimmung entfernt. Man kann sagen, daß es sich hier an dieserStelle wehrt gegen die Verallgemeinerung des Begriffs, daß es,mit einer leichten Übertreibung, nur hier und an dieser Stelleso gebraucht werden kann.

Von Wort und Wortart kommen wir zur Syntax. Wirbrauchen auch hier nur ein Beispiel herauszugreifen : J enäher der Kirche, je weiter von Gott. Wir kennendieses Schema aus vielen Sprichwörtern, wir wissen außerdem,daß es auch noch bei einer Art der Spruchdichtung imSchnadahüpfel beliebt ist. Man kann es eine Periode in einerstreng ausgeglichenen Parataxe nennen aber jedenfallshaben die Teile der Verbindung - weder Subjekt, noch Objekt,noch Prädikat in gewöhnlichem Sinne. Auf die Gefahr hin,ein Wortspiel zu machen, könnte man hier eher von Satz-gegenteilen als von Satzteilen reden. Dieses ganze Schemavertritt statt einer Syntax des Einheitlichen eine Syntax desMannigfaltigen, wo aus den selbständigen Gegensätzen die Be-deutung sprunghaft hervorgeht das, was Wilhelm Grimmmeinte, als er von einer Wahrheit sprach, die blitzartig hervor-brechend den höheren Ausdruck von selbst findet.

Ebensowenig wie wir dieses Schema mit je ... je ..als eine Verbindung von Relativ- und Demonstrativsatz auf

-fassen können, ebensowenig gelingt es uns, in der gleichfallsallgemein bekannten Sprichwort -Periode, die mit W e r

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anfängt, ein Gefüge von Hauptsatz und Relativsatz zu erkennen.Wer keine Hand hat, kann keine Faust machen,ist wiederum keine Hypotaxe. Es ist ein scharfes Nebenein-ander, in dem von Überordnung und Unterordnung nicht dieRede sein kann, und wo „wer keine Hand hat" gleiche Funktionhat wie „ehrlich" in dem Sprichwort: E h r 1 i c h w ä h r t a ml ä n g s t e n. Die geringste Änderung, die auf Verallgemeinerungzielt, bricht hier den Wert der Vergegenwärtigten Form. Wirbemerken sofort, daß das Sprichwort seine Kraft einbüßt, wennwir sagen: Einer, der keine Hand hat usw. oder: Werkeine Hand hat, der kann usw.

Noch einmal dasselbe sehen wir, wenn wir nach den Stil-mitteln der Periode fragen. Man könnte vielleicht H e u t e r o t,

m o r g e n t o t ein Asyndeton nennen. Aber wir fühlen sogleich,daß wir hier hinausgehen über das, was wir sonst unter diesemStilmittel verstehen. Das Asyndeton, das die Bindung zwischenden Gliedern der Rede aufhebt, hört dort auf, wo man von vorn

-herein von einer Bindung nicht sprechen kann. Im Sprichwortist alles asyndetisch, und deshalb verliert hier der Begriff seinenSinn. Äußerlich scheint Jedermanns Freund, jeder-m a n n s N a r r eine Anapher. Betrachten wir es aber genauer,so sehen wir, daß j e d e r m a n n hier nicht wie bei der Anapherals Mittelpunkt aufgefaßt werden kann, um den die Glieder derRede sich gruppieren, sondern daß trotz der Wiederholung dieanderen Worte ihm gegenüber die gleiche Freiheit bewahren.

Wiederum Ähnliches zeigt sich in der klanglichen Be-wegung des Sprichwortes. Wir sahen schon, wie ein Perioden -schema verschiedenen Sprichwörtern gemeinsam sein kann.Ebenso kann man von einem rhythmischen Schema reden, undSeiler hat auch dies genau untersucht. Wenn man sagt, A 11 z uklug ist dumm; Selber ist der Mann; Wie mansm a c h t, i st s f a 1 s c h, so sind die drei sehr verschiedenenSprichwörter nach einem gleichen metrischen Schema(_ „ _ _) gebaut. Ebenso nach einem komplizierteren Schema:Wer den Heller nicht ehrt, ist des Talers nichtwert und Wenn die Hoffnung nicht wär', ei solebt' ich nicht mehr. Aberwährend ein rhythmisches Bewegungsschema in Kunstformen

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die Aufgabe hat, Sprachgebilde bindend weiterzutragen, habendiese Bewegungsschemata offenbar die Aufgabe, die Formbindend abzuschließen. Hebung und Senkungsteigern hier dieVereinzelung, die wir in der Syntax schon beobachteten,Metrum und Reim sind an dieser Stelle keine auf- und nieder-wogenden Wellen sie muten uns viel eher an wie Latten ineinem Zaun.

Endlich das „Bild", die Trope. Lügen haben kurz e13 e i n e. Über die Wortart von Lügen sind wir uns hier einig,es ist ein Substantiv; auch haben wir hier Subjekt, Objekt undPrädikat. Was geschieht hier aber mit dem Substantiv? Eswird etwas von ihm ausgesagt, das nicht unbedingt zu ihm ge-hört, das auf einer anderen Ebene liegt. Lügen sind nichtsKörperliches, Beine wohl. Nun erinnere ich an das, was ichbeim Rätsel von der Sondersprache gesagt habe, wo wir vondem Wort „Fuß" ausgingen. Haben hier B e i n e die Be-deutungsart, die wir für „Fuß" in der Sprache des Rätselsfanden? Sind es Sachverhalte gleicher Art, die in der Viel-deutigkeit eines Wortes sich zusammenfinden? Keineswegs!Letzten Endes und streng genommen wird nicht einmal gesagt,daß Lügen B e i n e haben es wird nur gesagt, daß siek u r z e B e i n e haben. Es ist nicht gemeint, daß, so wie inder Sondersprache „Fuß" etwas bedeutet, dessen ganzes Wesendarin besteht, zu stützen und zu tragen, B e i n e hier etwasbedeutet, dessen Wesen in einem Sichfortbewegen, einemWeglaufen besteht; zwei nicht zusammengehörige DingeLügen und kurze Beine werden e i n m a l unvermittelt ineiner Weise zueinander gestellt, daß sich daraus die Bedeutungdes einen Lugen ergibt, aber daß dieses damit zugleichaus der Allgemeinheit hinweggerissen wird und nur als Er-fahrung Bestand hat. Von einem Plural, der abstrakt scheinenkönnte: Lügen, sagen wir etwas damit unvereinbares Körper

-lich-es aus wir heben damit die Möglichkeit der Abstraktionauf, wir entfernen das Wort aus dem Begrifflichen und werfenes unter die endlichen Dinge.

Und wenn das ganze Sprichwort selbst ein Bild scheint.wenn wir, statt: man muß die Gelegenheit benützen, sagen:man muß das Eisen schmieden, wenn es heiß

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SPRUCH 167

i s t, so tun wir wiederum das gleiche. Wir vergleichen keines-wegs Gelegenheit mit Eisen, benutzen mit schmie-

d e n , wir setzen nicht einen Begriff für einen anderen ein,sondern aus einer ich wiederhole die Worte von WilhelmGrimm längst bekannten Wahrheit bricht im Augenblicke,da sie wieder einmal Erfahrung wird, blitzartig die Form her-vor, die sie der Allgemeinheit entreißt, ihr die Möglichkeit,abstrakt zu werden, nimmt sie in die Empirie zurückweist.

Fassen wir, was wir in den Sprachvorgängen des Sprich-wortes beobachtet haben, noch einmal zusammen, so könnenwir es folgendermaßen umschreiben: die Sprache des Sprich

-wortes ist so, daß alle seine Teile einzeln, in ihrer Bedeutung,in ihren syntaktischen und stilistischen Bindungen, in ihrerklanglichen Bewegung in Abwehr gegen jede Verallgemeinerungund jede Abstraktion stehen.

In Einzelheiten und im Ganzen entspricht die Sprache desSprichwortes der Geistesbeschäftigung, die zum Spruch führt.In jener Welt, wo die Mannigfaltigkeit der Erlebnisse undWahrnehmungen sich zwar zu Erfahrungen zusammenreiht.aber die Summe der Erfahrungen dennoch eine Mannigfaltig-keit von Einzelheiten bleibt, haben auch die Worte in ihrerBedeutung und in ihrem Zusammenhang nur empirischen Wert.In den Bindungen überwiegt die Trennung, in den Bezogen

-heiten bleibt das Nebeneinander, in den Ordnungen die Sonde-rung der Glieder bestehen. Jedes Wort, jeder Satzteil, jedes

Glied der Rede ist neben anderen immer und ausschließlichein hic et nunc. Wie in dieser Welt die Sachverhalte wieeinzelne Perlen auf eine Schnur gezogen werden, so und nichtanders macht es hier die Sprachgebärde.

Wir haben zu Anfang gesagt, daß wir einen Teil unseresDaseins in dieser Welt verbringen, daß sie unserm täglichenLeben geläufiger ist als die Welt von Sage oder Legende, vorallem auch als die eigentliche Welt des Rätsels. Es ist auchbegreiflich, weshalb wir sie brauchen: wir wehren in ihr allejene ermüdenden Folgen und Folgerungen ab, zu denen unsdie Erfahrung überall dort zwingt, wo sie zum begrifflichenDenken veranlaßt, zur Erkenntnis werden will: wir ruhen in

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ihr aus, wenn uns der Zusammenhang einer sittlichen Welt-ordnung langweilt, sie ist uns eine Welt der Nüchternheit.

Und diese Welt beschwört jedesmal das Sprichwort imLeben herauf. Wir haben auch darauf schon öfter beiläufighingewiesen, daß diese Formen nicht nur aus der Geistes

-beschäftigung ableitbar sind, sondern daß sie auch selbst-verständlich, wo sie in den Vergegenwärtigungen auftreten, indie Geistesbeschäftigung hineinführen. Die Form Sage ergibtsich aus der Geistesbeschäftigung mit der Welt als Stamm undBlutsverwandtschaft aber sobald wir eine Saga lesen,können wir unsrerseits die Welt nicht anders begreifen. Inder Form Mythe liegt die höchste Freiheit der Welt, sichselber Schöpfung zu sein aber auch, wenn wir einen Mythuslesen, der nicht unser ist, atmen wir auf. Bei dem lebendigenSprichwort empfinden wir das sehr stark wir gebrauchenes in buchstäblichem Sinne, sooft wir eine Erfahrung, ohne siein sich selbst aufzuheben, sozusagen ad acta legen aberauch, wenn es von anderen ausgesprochen wird, fühlen wir unsjedesmal der Mühe enthoben, Erlebnisse und Wahrnehmungenzu erarbeiten: Ende gut, alles gut !

Daß wir, wie ich schon sagte, außer dem Sprichwortso viele andere Weisen der Vergegenwärtigung des Sprucheskennen, liegt wiederum in der Fähigkeit dieser Geistes -beschäftigung, abzusondern und zu vereinzeln; sie gehören inder Einfachen Form zusammen, trennen sich aber in der Ver-gegenwärtigung voneinander und werden sogar einzeln benannt.

Wir wollen sie hier nicht näher betrachten ; da ich aberdas Geflügelte Wort nun einmal erwähnt habe, möchte ich dar-über noch einiges sagen. Wenn wir das bei Buchmann Ge-sammelte im großen und ganzen einteilen, so gelangen wir zuzwei Kategorien: erstens Geflügelte Worte aus Schriftstellern,also Z it a te , die zu Geflügelten Worten geworden sind; undzweitens Geflügelte Worte, die von irgendeiner Person in einerbesonderen Situation ausgesprochen worden sind; er nennt sieh i s t o r i s c h e Geflügelte Worte, besser wäre hier vielleichtdas griechische A p o p h t h e g m a t a. Beide Formen gehörenzur Geistesbeschäftigung des Spruches. In dem GeflügeltenWort: Ich warne Neugierige, ist nicht ein Verbot

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gemeint, sondern eine bestimmte Situation wird im Spruchvöllig isoliert, sie wird erfahrungsmäßig vereinzelt. Bei denGeflügelten Worten, die aus einem litterarischen Kunstwerkstammen, die sozusagen ein litterarisches Kunstwerk fallenläßt, liegt das Gleiche vor. Auch im Kunstwerk entstehenbestimmte Situationen, die spruchartig gefaßt werden müssen.Oft ist das gerade bei einem Kapitelschluß der Fall. Auchdiese in bestimmten Situationen entstandenen Erfahrungenwerden in der Empirie durch den Spruch gefaßt, auch dieserSpruch vereinzelt sich wieder; gerade weil die ErfahrungSpruch geworden ist, ist sie vereinzelbar. So kann der Spruchdas Kunstwerk verlassen, er fällt heraus und bleibt liegen,er steht für sich, wie im Sprichwort die Worte des Satzes ihresyntaktische Bindung aufgeben. Wenn wir diesen Vorgang sofassen, dann kommen wir zu dem Geflügelten Wort, dessenVerfasser unbekannt geworden ist.

E m b l e m a nannten die Alten „einen kleinen Gegenstand,der an einem größeren meistens aus verschiedenem Material

angebracht war". Das dem wilden Obstbaum aufgepfropfteEdelreis, der Holzpflock, welcher die eiserne Spitze desrömischen pilum am Schaft festhielt, eine in den Schuh ein-gelegte Sohle sind Emblemata. Jeder von diesen kleinenGegenständen kann darauf hinweisen, daß das Ganze, in dassie hineingefügt, in das sie „hineingeworfen" worden sind, auseiner Mannigfaltigkeit von verschiedenen Einzelheiten besteht.Emblemata sind aber auch die einzelnen eingesetzten Steinchendes Mosaikbildes ; hier sind die Einzelheiten nicht verschieden,sondern die gleichen, und dennoch weist jedes Steinchen daraufhin, daß sich das Ganze aus gesonderten Einheiten zusammen-fügt. Endlich sind auch die toreutischen Bildwerke, die aufdem Boden einer Trinkschale befestigt werden, Emblemata,denn wiederum zeigen sie, daß hier eine Zweiheit von Kunst-werk und Gebrauchsgegenstand vorliegt, die sich von dem ein-heitlichen Kunstwerk, das die Schale durch die Vollendungihrer Form werden kann, unterscheidet.

Sooft nun ein Emblema nicht nur auf die Zusammen-setzung eines Ganzen aus einer Mannigfaltigkeit von Einzel-

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heiten h i n w e i s t, sondern von sich aus die Mannigfaltigkeitin ihrer gesonderten Zusammensetzung auch b e d e u t e t,haben wir in ihm den Gegenstand, der, wiederum mit derGeistesbeschäftigung geladen, sie in der Welt der Gegenständevertritt.

Emblem hat, wie Symbol, die allgemeine Bedeutung vonS i n n b i l d bekommen. Nach unserer Auffassung ist es erstenskein Bild, sondern ein Gegenstand. Zweitens aber vertritt eskeineswegs den Sinn eines Ganzen so, daß die Bedeutung diesesGanzen als Ganzes in ihm vertreten wäre, sondern so, daß ausihm hervorgeht, daß der Sinn eines Ganzen nur als Zusammen-setzung gesonderter Einheiten verstanden werden kann.

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KASUS

I.Ich habe bisher Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch

eingehend besprochen und bestimmt. Von allen diesen Formensind uns wenigstens Name und Existenz bekannt gewesen. Wirverbanden bisher mit diesen Namen keine eng umschriebenenBegriffe, wir wußten nicht genau, was eine Sage ist und waseine Legende aber daß es diese Dinge gibt, haben wir nichtbezweifelt. Und von diesen Namen und dieser Überzeugungaus haben wir versucht, das, was uns dunkel vorschwebte,genauer zu ergründen, was nicht zusammengehört, zu trennen,die Begriffe zu bestimmen, kurz, Wesen und Sinn der einzelnenFormen zu erfassen.

Es bleiben noch zwei Formen, die wir ebenfalls demNamen nach kennen, die Formen Märchen und Witz. Ehe ichzu diesen letzten uns bekannten Formen übergehe, muß ich dieFrage stellen : ist mit jenen uns bekannten Namen auch dieZahl der Formen erschöpft? Oder kennen wir nicht noch andereBezeichnungen, mit denen wir, zwar nur verschwommen, einenBegriff verbinden, aber die eigentlich Formen meinen, die inunsere Reihe hineingehören?

Wenn wir von einer Reihe sprechen, so ist klar, daßwir damit ein System im Sinne haben, eine abgeschlosseneReihe, daß also der Begriff der Einfachen Form er ist sogeartet, daß in jeder der Einfachen Formen sich die Welt ineiner bestimmten Weise verwirklichen kann nur eine be-grenzte Zahl von Möglichkeiten zuläßt.

Sollen, praktisch gesprochen, diese Einfachen Formen dieGrundlage der Litteraturwissenschaft bilden,jenen Teil der Litteraturwissenschaft umfassen, der zwischen

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Sprache als solcher und jenen Gebilden liegt, in denen sich alsKunstform etwas letztmalig und endgültig verwirklicht, somüssen sie v o 11 s t ä n d i g sein, so müssen sie in ihrer Gesamt-heit jene Welt, die sie verwirklichen, erschöpfen ebenso wiedie grammatischen und syntaktischen Kategorien in ihrer Ge-samtheit die Welt ausmachen, wie sie sich in der Sprache alssolcher verwirklicht.

Es gibt zwei solche Formen, die wir bei einer - genauenUntersuchung unterscheiden können, die wir in der Welt beob-achten, deren Geistesbeschäftigung wir erkennen, deren Wir-kung wir auf der dritten Stufe, auf der Stufe der Kunstformen,verfolgen, kurz, die dem geschlossenen System unsrer Ein-fachen Formen ohne Zweifel angehören, und für die wir den-noch eigentlich keine geläufigen Namen besitzen, so daß wirsie gewissermaßen neu zu benennen haben.

Daß es sich mit diesen Formen genau so verhält wie mitallen anderen Einfachen Formen, daß sie unter der Herrschafteiner Geistesbeschäftigung sich im Leben und in der Spracheverwirklichen, sich, mutatis mutandis, in demselben Aggregat -zustand befinden wie Legende oder Spruch und deshalb sollunser System vollständig sein in unsere Reihe aufgenommenwerden müssen, will ich in den nächsten Kapiteln beweisen.

Ich möchte auch hier nicht rein theoretisch vorgehen,sondern unmittelbar zeigen, wie und wo diese als solchenicht allgemein anerkannten Einfachen Formen wirksamsind. Deshalb gehe ich von einem möglichst naheliegendenBeispiel aus.

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II.

In Nr. 3 des Jahrganges 1928 der „Berliner IllustrirtenZeitung" findet sich ein kleiner populärer Aufsatz, den der Ver-fasser er nennt sich Balder „Groteske und Tragik imStrafrecht" betitelt. Es werden hier in Verbindung mit deinStrafgesetz Fälle erzählt, Fälle gesammelt. Ich greife gleichden ersten heraus:

„Ein Taschendieb stiehlt mir im Gedränge der Großstadtmeine Brieftasche, in der hundert Mark in kleinen Scheinenwaren. Mit seiner Geliebten, der er von dem glücklichen Fangerzählt, teilt er seine Beute. Werden beide gefaßt, so wird dieGeliebte als Hehlerin bestraft.

Angenommen, ich hatte in der Brieftasche nur einenHundertmarkschein. Der Dieb läßt das Geld wechseln und gibtdann erst der Frau fünfzig Mark, so ist sie straffrei. DennHehlerei ist nur an den unmittelbar durch die strafbare Hand-lung erlangten Sachen möglich, nicht an den gewechseltemScheinen."

Dieser Fall bezieht sich auf zwei Paragraphen unseresStrafgesetzbuches.

§ 242 lautet : „Wer eine fremde bewegliche Sache einemanderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrigzuzueignen, wird wegen Diebstahls mit Gefängnis bestraft ..."

§ 259: „Wer seines Vorteils wegen Sachen, von denen erweiß oder den Umständen nach annehmen muß, daß sie mittelseiner strafbaren Handlung erlangt sind, verheimlicht, ankauft.,zum Pfande nimmt oder sonst an sich nimmt oder zu derenAbsatze bei anderen mitwirkt., wird als Hehler mit Gefängnisbestraft."

Was geschieht hier? Beschränken wir unsere Betrach-tungen zunächst auf den ersten der beiden Teile, in die diesekleine Geschichte deutlich zerfällt.

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Wir sehen, wie eine Regel, ein Gesetzesparagraph, in Ge-schehen übergeht, ein . Geschehen wird und dadurch, daß esvon der Sprache ergriffen wird, als Geschehen Gestalt be-kommt. Betrachten wir den Vorgang noch etwas genauer:wir haben es mit Verbrechen zu tun.

Der Begriff Verbrechen hat schon bei unserer Unter-suchung der Form Legende und Antilegende eine Rolle ge-spielt ; und ich möchte an dieser Stelle und bei dieser Gelegen-heit zeigen, wie in einem Lebensvorgang im gleichen LebenskreisEinfache Formen zueinander gelagert sind, ohne sich zu ver

-mischen.Wir erinnern uns, wie in der Geistesbeschäftigung, aus

der sich die Form Legende ergab, in der Geistesbeschäftigungder im i t a t i o, Verbrechen strafbares Unrecht genannt werdenkonnte, insoweit dort das Böse sich vergegenständlichte, etwasSelbständiges, ein c r i m e n , wurde. Ich habe aber schon da-mals auf die grundlegende Bestimmung unseres Strafgesetzeshingewiesen : nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege,und gesagt, daß das Gesetz in diesem Sinne sowohl Norm derzu bestrafenden Handlung wie Norm der Bestrafung wird.

Wir sehen nun aber, daß das Verbrechen zweierlei undzwar ganz Verschiedenes bedeuten kann, je nachdem wir es,wie in der A n t i l e g e n d e , selbständig gegenständlich oder,im juristischen Sinne, als Verstoß gegen eine Regel,als gesetzwidrige Handlung erfassen.

Ich erinnere noch einmal an die Figur des Don Juan. SeineHandlungen werden keineswegs danach beurteilt, inwieweitsie alles das verletzen, was in dem 13. Abschnitt des 2. Teilesunseres Strafgesetzbuches, das von Verbrechen und Vergehenwider die Sittlichkeit handelt, zu finden ist, sondern wir sehenin seinem Handeln ein tätiges Unrecht, etwas unbedingt Straf-bares, was von Paragraphen unabhängig, durch sie nicht zufassen ist. Ebenso ist Ahasver nicht ein Mensch, der gegen dasGebot: Liebe deinen Nächsten, verstößt, sondern auch in ihmvergegenständlicht sich jenes Unrecht, das nicht von einerNorm bedingt ist, das absolute Unrecht. Schließlich hat manauch, wie wir erwähnt haben, den Pakt Fausts mit dem Teufelauf seine juristische Gültigkeit hin untersucht, aber wir spüren

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sofort, daß damit die Form Antilegende gelöst wird, daß auchdie Gültigkeit dieses Pakts nicht nach Regeln eines Über

-einkommens zweier Kontrahenten beurteilt werden kann, son-dern daß auch hier die Bündigkeit an sich gegenständlich ist.

Noch deutlicher sahen wir das in der Legende selbst. Esgab in ihr keine lex, es gab keine Norm, auf die die tätigeTugend bezogen werden konnte, es gab nur Zeugen und Über-zeugung, es gab nur das Wunder, das die gegenständlich ge-wordene Tugend a b s o l u t bestätigte.

Hier aber, und damit kommen wir auf unseren Fall zurück,liegt keine Legende oder Antilegende vor, sondern Verbrechenoder Vergehen werden bezogen auf eine Vorschrift, derenGültigkeit und deren Ausdehnung in einem bestimmten Kreisenicht bezweifelt werden kann und nicht bezweifelt werdendarf. Verbrechen oder Vergehen bedeuten dann eine Ver-letzung der Vorschrift, einen Verstoß gegen die Norm. Tätigund gegenständlich werden hier nicht Tugend und Unrecht,sondern tätig und gegenständlich werden in diesem Falle G e -s e t z und Norm , auf die Handlungen aller Art bezogenwerden und von denen aus sich das Urteil über deren Be-schaffenheit als strafbar oder straflos bildet.

Wir haben gesagt, daß in der Geistesbeschäftigung derLegende und Antilegende zwischen dem Heiligen und demguten Menschen einerseits, zwischen dem Antiheiligen und demgewöhnlichen Verbrecher andererseits ein qualitativer Unter

-schied besteht. In der Geistesbeschäftigung, in der wir unsjetzt befinden, herrschen nur quantitative Unterschiede, diedurch die größere Entfernung, die größere Annäherung vonund zu der Norm bedingt sind. In der Geistesbeschäftigungder Legende wird qualitativ , in dieser letzten Geistes

-beschäftigung q u a n t it a t i v gemessen, oder sagen wir lieber,gewogen.

Man kann hier das Bild einer W a g e gebrauchen: W a g ehängt mit W a g e n, mit b e w e g e n zusammen. Auf der einenSchale ruht ein Gesetz; sobald etwas auf die andere Schalegelegt wird, bewegt dieses sich nach oben oder unten und wird,indem es sich bewegt, selbst gewogen.

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Wir sehen nun aber, daß nicht nur Handlungen aller Art,seien es böse, seien es gute, nach einem Gesetz gewogen, nacheiner Norm gewertet werden, wir sehen außerdem, daß dieseNorm die Fähigkeit besitzt, aus ihrer Allgemeinheit heraus-zutreten, sich selbst zu veranschaulichen, kurz, in einer Sprach-gebärde sich in bestimmter Weise zu verwirklichen.

Das ist im ersten Teil unserer Geschichte geschehen.Diebe haben sich an dem Eigentum anderer vergriffen; Mit-heifer haben das mittels einer strafbaren Handlung Erlangtean sich genommen, obwohl sie die Herkunft kannten; sie habenes in ihre Halle, in ihre Höhle, in ihre Hölle gebracht, sie habenes verhüllt: sie sind Hehler. In einer juristischen Norm ist dasStrafbaredieser Handlung festgelegt, di e N o r m G e s e t z e s-p a r a g r a p h ist von nun an das Gewicht, mit dem alle der-artigen Handlungen gewogen werden. In unserem Falle ent-springen dieser Norm: ein neuer Dieb, ein neuer Hehler, die esnicht mehr im S e i n, sondern im B e w u ß t s e i n gibt: einDieb und ein Hehler in der Sprache, die die Norm vertreten,in denen sich die Norm verwirklicht.

Wesentlich sind hier vier Punkte:1. daß ein Mensch eine fremde bewegliche Sache einem

anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechts-widrig zuzueignen,

2. daß diese fremde bewegliche Sache hier aus einer Geld-sorte besteht, die, so wie sie ist, geteilt werden kann,

3. daß dieser Mensch einem anderen Menschen von seinerHandlung erzählt und daß diesem zweiten Menschendadurch bekannt wird, daß die betreffende Sache mittelseiner strafbaren Handlung erlangt worden ist,

4. daß diese letzte Person ihres Vorteils wegen dieseSache an sich bringt.

Wenn wir nun diese vier Daten in der Ausdrucksweise derNorm Gesetzesparagraph zusammensetzen, indem wir sagen:

Jemand nimmt mit der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzu-eignen, einem anderen eine teilbare Geldsumme weg, er teiltdiese Tatsache einer dritten Person mit, die, obwohl sie weiß,daß diese Sache mittels einer. strafbaren Handlung erlangt ist,

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einen Teil dieser Summe an sich bringt so haben wir zwarein sehr schönes Juristendeutsch, aber keineswegs eine Formvor uns. Stellen sich dagegen jedesmal die Worte ein, die jeneHandlungen bezeichnen, die sie veranschaulichen, das heißtwerden die nicht weiter teilbaren Einheiten der Norm zuSprachgebärden, so vergegenwärtigen sich im ersten Teilunseres Falles -- die Paragraphen so, daß der Fall zwar ein-malig erscheint, aber daß in dieser Einmaligkeit das Gewichtdes Gesetzes, die wertende Kraft der Norm vollkommen aus-gedrückt und gedeutet wird.

Es ist.1. ein Dieb, der2. eine mehrere Scheine enthaltende B r i e f t a s c h e

stiehlt,3. seiner G e l i e b t e n davon erzählt und mit ihr teilt

und sie4. dadurch zur H e h l e r i n macht.

In diesem Zusammenhang ist alles nach der betreffendenNorm gewertet; aus diesem Zusammenhang ergeben sich dasBestehen, die Ausdehnung und die Gültigkeit der Vorschrift.

Wir haben uns bisher auf den ersten Teil des Falles be-schränkt und dabei um genau beobachten zu können, w i ein ihm die Norm anschaulich wurde und sich verwirklichte -den zweiten Teil vorläufig außer Acht gelassen. Indessen, diebeiden Teile gehören zusammen, sie bilden im Sinne der Form,die wir untersuchen, ein Ganzes. Besäßen wir nur jenen erstenTeil, so köpnten wir mit Recht fragen : weshalb hat ihn derVerfasser in eine Sammlung, die er „Groteske und Tragik imStrafrecht" nennt, aufgenommen? Für sich betrachtet könntedieser Teil als E x e m p e l oder als B e i s p i e l aufgefaßtwerden.

Was ich mit Exempel oder Beispiel meine ich gehe beidieser Gelegenheit auf Dinge ein, die n i c h t Einfache Formensind, um zu zeigen, wogegen wir diese abzugrenzen habenerklärt am besten die Definition Kants, die sich auch imGrimmschen Wörterbuch zitiert findet:

J o 11 e s , Einfache Formen 12

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„Beispiel ist mit Exempel nicht von einerlei Bedeutung.Woran ein Exempel nehmen und zur Verständlichkeit einesAusdrucks ein Beispiel anführen sind ganz verschiedne Be-griffe. Das Exempel ist ein besonderer Fall von einer prak-tischen Regel, sofern diese Tunlichkeit oder Untunlichkeit einerHandlung vorstellt. Hingegen ein Beispiel ist nur das Be-sondere als unter dem Allgemeinen nach Begriffen enthaltenvorgestellt und bloß theoretische Darstellung des Begriffes."

Ich wiederhole: für sich betrachtet könnten in jenemersten Teil der Dieb, die Brieftasche mit Geld, die Geliebtesowohl als besonderer Fall von der praktischen Regel, diewir in dem Diebstahls- beziehungsweise Hehlereiparagraphenniedergelegt finden, aufgefaßt werden, wie auch als theoretischeDarstellung der Begriffe Diebstahl und Hehlerei gelten. Bringenwir aber jenen ersten Teil wieder mit dem zugehörigen zweitenzusammen, fassen wir, wie beabsichtigt ist, die zwei als einGanzes, so sehen wir, daß die Möglichkeit, von Exempel oderBeispiel zu reden, aufhört.

In diesem zweiten Teile hat sich nur wenig geändert.Gleichgeblieben sind Dieb, Diebstahl, Brieftasche,Mittei 1 u n g, G e 1 i e b t e. Nur die fremde bewegliche Sache,die sich der Dieb rechtswidrig zueignete, hat sich gewandelt;sie ist nicht mehr als solche teilbar, es sind keine Schein emehr, es ist ein Schein. Aber dadurch ist nun sofort dieGeliebte nicht mehr Hehlerin sie ist nicht mehr strafbar.Ihre Handlung und ihre Haltung sind die gleichen geblieben.Aber durch die Weise, in der dieser Gesetzesparagraph ab-gefaßt wurde, kann ihre Handlung nicht mehr wie im erstenTeile gewertet werden.

Das, was sie an sich gebracht hat, ist nach dem Buch-staben des Gesetzes nicht mehr die Sache selbst, die der Diebgestohlen hat, obwohl sie wußte, daß es mittels einer straf-baren Handlung erlangt war.

Was sich in diesem zweiten Teile zeigt, ist im Gegensatzzum ersten Teile nicht die positive, sondern die negative Seitedes § 259; was im ersten gegeben war, wird im zweiten auf

-gehoben. In ihrer Gesamtheit weisen diese beiden Teile nichtauf ein Gesetz, sondern auf eine Lücke des Gesetzes hin.

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Was sich in dieser Gesamtheit verwirklicht, ist die Tat-sache, daß hier ein Gewicht nicht richtig wägt, ein Maß-stab nicht richtig mißt. Zugleich aber geschieht noch etwasanderes. Indem sich die Unzulänglichkeit des § 259 verwirk-licht, verwirklicht sich eine höhere Norm, und zwar folgender

-maßen: die Geliebte ist nach § 259 nicht mehr s t r a f b a r,aber sie ist dennoch s c h u 1 d i g. Sie ist schuldig, wenn mansie wägt nach jener höheren Norm, aus der die unzulänglicheNorm hervorgegangen sein muß: an ihrer Schuld möchten wirauch jetzt ihre Strafbarkeit gemessen sehen. In dieser Gesamt-heit wird also nicht mehr die Geliebte nach einer Norm ge-wertet, sondern jene Norm selbst wird nach einer anderenNorm gewertet. Praktisch gesprochen, der Zusammeilllang desersten und zweiten Teiles, das Ganze, beabsichtigt zu zeigen,daß § 259, gewogen nach der Norm unseres moralischen undrechtlichen Bewußtseins, zu leicht befunden ist, daß der Maß

-stab des Gesetzes hier ein ungenügender Wertmesser istaus dieser Absicht entspringt die Form.

Für eine solche Form möchte ich den Namen wählen, densie in ihren Vergegenwärtigungen, in der Jurisprudenz, derMorallehre und auch noch anderswo, besitzt : ich möchte sieKasus oder Fall nennen. Das, was in diesem Ganzen derwidersprechenden Teile vor uns liegt, zeigt den eigentlichenSinn des Kasus : in der Geistesbeschäftigung, die sich die Weltals ein nach Normen Beurteilbares und Wertbares vorstellt,werden nicht nur Handlungen an Normen gemessen, sonderndarüber hinaus wird Norm gegen Norm steigend gewertet. Wosich aus dieser Geistesbeschäftigung eine Einfache Form er-gibt, da verwirklicht sich ein Messen von Maßstab an Maß

-stab. Bleiben wir bei dem Bilde der Wage, so liegt letztenEndes auf jeder Schale ein Gewicht, und diese Gewichte werdengegeneinander gewogen.

Damit haben wir auch den Kasus scharf von Beispiel undExempel getrennt. Wäre es bei dem ersten Teile unseres Kasusgeblieben, so hätte sich darin nur der besondere Fall einerpraktischen Regel oder die theoretische Darstellung eines Be-griffs veranschaulicht. Veranschaulichung aber führt nicht zurForm Form heißt. Verwirklichung. Deshalb war im ersten

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Teil schon alles darauf gerichtet, daß sich aus seinem Zu-sammenhang mit dem zweiten Teil, aus der Ganzheit, etwasverwirklichen konnte; und was sich verwirklichte, können wirals Divergenz oder, wie wir lieber sagen wollen, als Streuungder Normen bezeichnen.

Ehe ich zur Verdeutlichung dessen, was ein Kasus be-deutet, noch andere Fälle heranziehe, komme ich noch einmalauf den vorliegenden zurück, um bei dieser Gelegenheit zuzeigen, wie Einfache Form, Vergegenwärtigte Einfache Formund Kunstform, beim Kasus wie bei den Einfachen Formenüberhaupt, sich zueinander verhalten.

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III.

So wie der Aufsatz „Groteske und Tragik im Strafrecht"den ersten Fall gibt, enthält er einiges, was über die die Normveranschaulichenden vier Daten hinausgeht. Wir hörten, daßdie Handlung „im Gedränge der Großstadt" stattfand, es warnicht eine Brieftasche, sondern „meine" Brieftasche. Für das,was die Form zu geben hat, sind diese Hinzufügungen äußer-lich und nebensächlich, sie liegen nicht im Wesen der Sache.Sie haben aber einen erkennbaren Zweck : das Gewicht desGesetzes sollte in einer Einmaligkeit gedeutet werden diesean sich unwesentlichen Hinzufügungen steigern das Emp-finden der Einmaligkeit, erhöhen die Eindringlichkeit desFalles.

Noch ein zweites kann man von diesen H i n z u f ü g u n g e nausagen : sie sind auswechselbar. Wir können statt „im Ge-dränge der Großstadt stiehlt mir ein Taschendieb" zum Bei-spiel sagen ,,ein Taschendieb stiehlt einem schlafenden Herrn,mit dem er sich im gleichen Eisenbahnabteil befindet, seineBrieftasche . . .", ohne daß der Kasus sich dadurch ändert.Was wir die Eindringlichkeit genannt haben, wird nur inanderer Weise erhöht.

Wodurch unterscheiden sich nun in litterarischer Hinsichtdiese Hinzufügungen von den eigentlichen Bestandteilen desKasus?

Ein Bestandteil wie Dieb muß sich unbedingt aus derForm selbst ergeben nur durch dieses Wort, diese Sprach-gebärde, läßt sich das in der Norm Begriffene, das „wer einefremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht weg-nimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen" vergegen-wärtigen. Dagegen ergibt sich ein Bestandteil wie „im Ge-dränge der Großstadt" nicht unbedingt aus der Form; er bleibtbis zu einer gewissen Höhe frei, besser gesagt, er ist bis zu

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einem gewissen Grade der persönlichen Wahl anheim-gestellt.

Auswechselbare Bestandteile sind im Sprichwort nichtvorhanden. Wir können bei „trau, schau, wem" nichts hinzufügen, nichts auswechseln, ohne daß es aufhörte, es selbst,ohne daß es aufhörte, Sprichwort zu sein, der Geistes

-beschäftigung, die zum Spruch führt, zu entsprechen. DasSprichwort ist, wie Seiler gesagt hat, „in sich geschlossen",„es findet" nach Wilhelm Grimm „den höheren Ausdruckvon selbst". Dieses In-sich-Geschlossensein in der Art desSprichworts fehlt dem Kasus; er kann, um sich selbst auszu-drücken, Hilfe von außen annehmen.

Wir befinden uns hier an einer Grenze der Welt der Ein-fachen Formen. Denn was hier geschieht oder geschehen kann,bedeutet, daß in dem Kasus, obwohl er an sich Einfache Formist, über die Vergegenwärtigte Einfache Form hinaus, der Weg zueiner Kunstform offenliegt, ja, bis zu einer gewissen Höhe vor

-gezeichnet ist. Denn etwas, was auswechselbar ist, was derpersönlichen Wahl anheimgestellt bleiben kann, was persön-liches Eingreifen ermöglicht, kann zu jenen Formen führen, diewir Kunstformen nennen. Wir verstehen unter K u n s t f o r m e nsolche litterarische Formen, die gerade durch persönlichesWählen, durch persönliches Eingreifen bedingt sind, die eineletztmalige Verendgültigung in der Sprache voraussetzen, wosich nicht mehr etwas in der Sprache selbst verdichtet unddichtet, sondern wo in einer nicht wiederholbaren künst-lerischen Betätigung die höchste Bündigkeit erreicht wird.

Praktisch gesprochen steht dieser Kasus durch die Hinzu-fügungen, die seine Eindringlichkeit steigern, schon auf derGrenze jener Kunstform, die ihrerseits ein eindringliches Er-eignis in seiner Einmaligkeit zeigt, die es nun aber gerade, weilsie Kunstform ist, nicht mehr als Kasus meint, sondern um seinerselbst willen: einer Kunstform, die wir N o v e 11 e nennen. DerDieb und die Hehlerin, seine Geliebte und der Diebstahl, dieals Einfache Form der Norm entsprungen sind, die Norm ver-wirklichen, haben durch diese leichten Hinzufügungen schonein so persönliches Ansehen bekommen, daß das, was sich dortabspielt, fast aufhört, die Norm oder den Gesetzesparatgraphen

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zu vertreten. Es bedürfte nur noch geringer Hinzufügungen,die den ersten Teil und den zweiten Teil unseres Kasus ver

-binden, um ihm völlig seinen Charakter als Einfache Form zunehmen.

Kehren wir von diesen auswechselbaren Hinzufügungen,die nicht im Wesen der Sache liegen, zu den Bestandteilenzurück, deren Notwendigkeit feststeht, weil sie zusammen alsEinfache Form den vier Gegebenheiten der Gesetzesparagraphenentsprechen, so finden wir, daß auch diesen trotz ihrer Not-wendigkeit keine unbedingte Festigkeit eigen ist. Der Diebmuß als solcher Dieb bleiben, aber die Hehlerin braucht nicht„Geliebte" zu sein, es könnte auch ein Hehler sein, ein Bruder,ein Freund des Diebes; es brauchen nicht „hundert" zu sein,es könnte sich auch um fünfzig Mark handeln, die Brieftaschekönnte eine Geldtasche mit kleinem Silbergeld sein usw. Imselben Sinne auswechselbar wie die Hinzufügungen sind dieseBestandteile nicht das Wesen der Sache liegt in ihnen aus-gedrückt, man bemerkt, daß Brieftasche, Hundert

-m a r k s c h e i n, G e 1 i e b t e bestrebt sind, dieses Wesen mög-lichst scharf zu bezeichnen, und dennoch ist hier die Sprach-gebärde nicht so zwingend, sie greift nicht mit so unbedingterSicherheit zu, wie sie es bei den anderen Einfachen Formen tut.Die Sprachgebärden in unserem Kasus erscheinen blaß, ver-glichen mit denen der Legende, in denen Geschehen unwider-stehlich zusammengewirbelt wurde: das R a d m it s c h a r f e nKlingen, Götter die zerspringen, odermitdenenderMythe: der Berg als f e u e r s p e i e n d e r Riese. Wir werdenzu untersuchen haben, ob es nicht doch Kasus gibt, beidenen die Sprachgebärde straffer gezogen ist.

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Iv.

Wir kehren zunächst zur Geistesbeschäftigung des Kasuszurück, und ich gebe, damit wir die Verschiedenheit derLagerung der Maßstäbe noch besser beobachten können, zweiweitere Fälle aus dem Aufsatz „Groteske und Tragik im Straf-recht".

,,Strafbar ist heute noch der Versuch am untauglichen Ob-jekt mit untauglichen Mitteln : wenn eine Frau, die gar nichtschwanger ist, sich aber einbildet, schwanger zu sein, einenvöllig harmlosen Kräutertee nimmt, um die Frucht, die nur inihrer Einbildung existiert, zu beseitigen, so ist sie der ver

-suchten Abtreibung schuldig zu sprechen."Wir haben es hier erstens zu tun mit einem Verbrechen

oder Vergehen wider das Leben und zwar gegen das „keimendeLeben" (StGB. II. Teil, Abschnitt 16), also mit § 218:

„Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich ab-treibt oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zufünf Jahren bestraft.

Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnis-strafe nicht unter sechs Monaten ein ..."

Hier liegt nun das Verbrechen oder Vergehen nicht vor,aber der Versuch eines Verbrechens oder Vergehens (StGB.I. Teil, Abschnitt 2), § 43:

„Wer den Entschluß, ein Verbrechen oder Vergehen zuverüben, durch Handlungen, welche einen Anfang der Aus-führung dieses Verbrechens oder Vergehens enthalten, be-tätigt hat, ist, wenn das beabsichtigte Verbrechen oder Ver

-gehen nicht zur Vollendung gekommen ist, wegen Versucheszu bestrafen ..."

Es handelt sich, wie auch von dem Verfasser des Auf-satzes erwähnt wird, um die in juristischen Kreisen lebhaftumstrittene Frage, ob „an einem untauglichen Gegenstand oder

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KASUS 185

mit einem untauglichen Mittel" ein verbrecherischer Versuchmöglich sei. Das ist natürlich gerade für die praktische Gesetz

-gebung eine äußerst heikle Frage. Man kommt da auf sehrschwer zu begrenzende Begriffe, wie „absolut untauglich"(Mordversuch an einer Leiche, Vergiftungsversuch mit Zucker-wasser) oder „relativ untauglich" (Mordversuch mit einerStickschere, Vergiftungsversuch mit einer ungenügenden Dosis).Man könnte das Schwergewicht auf die „Gefährlichkeit", dasheißt auf die Möglichkeit des Erfolgeintritts der Handlunglegen ; das Reichsgericht hat aber in einem Plenarbeschluß(24. Mai 1880) den Nachdruck auf die verbrecherische Absichtgelegt und den „Versuch mit untauglichen Mitteln am untaug-lichen Gegenstand" für strafbar erklärt. Aus dieser zur Normgewordenen Auffassung springt nun wieder ein Kasus heraus:er bildet eine eingebildete Schwangere, wie § 242einen Taschendieb bildete.

Man kann hier nicht von einer Lücke des Gesetzes sprechen.Im Gegenteil ! Bei der Geliebten, die das Geld tatsächlich be-kommen, um das Verbrechen tatsächlich gewußt hatte, war dieVorschrift so abgefaßt, daß, obwohl das Bewußtsein ihrerSchuld allgemein vorhanden war, sie dennoch dem Paragraphennach nicht als Hehlerin betrachtet werden demgemäß nichtbestraft werden konnte. Bei dem Beschluß des Reichsgerichtsliegt die Sache so : daß, obwohl die Handlung der eingebildetenSchwangeren nicht nur keine Folgen hatte, ja, auch keine tat-sächliche Handlung im eigentlichen Sinne war, sie dennochnach einer höheren Norm, das heißt nach der Absicht gewertetwerden demgemäß auch bestraft werden mußte. Aberwiederum wird hier eine Norm an einer anderen gemessen.

In beiden Fällen verwirklicht sich das Wägen im Kasus.In dem zweiten Teil des ersten zeigte der Kasus, daß Aus-dehnung und Gültigkeit der bestehenden Vorschrift indiesem Falle § 259 , gemessen an der Norm Schuld, unzu-länglich waren; in dem letzten zeigt er, wie die bestehendeVorschrift in diesem Falle die im Reichsgerichtsbeschlußvorliegende Wertung des Begriffs „Versuch" nach dem Begriff„Absicht" — Gültigkeit und Ausdehnung bekommt auch dort,wo alles Tatsächliche aufzuhören scheint.

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186 K SUS

Ich gebe noch einen dritten Kasus aus diesem Aufsatz:„Eine Schauspielerin besucht mit liebenswürdigstem

Lächeln ihre Kollegin, die in aller Eile für den kommendenAbend eine neue Rolle einstudieren muß. Mit Findigkeit be-nützt sie einen Augenblick, als sie allein im Zimmer ist, um dasRollenmanuskript hinter den Kleiderschrank zu praktizieren.Die Kollegin kann ihre Rolle, die sie trotz rastlosen Suchensnicht mehr findet, nicht studieren, erlebt einen glänzendenDurchfall und verliert ihr Engagement. Gegen ein Strafgesetzhat sich die tückische Rivalin nicht vergangen."

Der Verfasser leitet diesen Fall mit folgendem Satz ein,der sozusagen einen Kommentar gibt, uns den Kasus erklärt:„Fälle bodenloser Gemeinheit und Niedertracht bleiben unterUmständen ungesühnt, da sie kein Strafgesetz verletzen, heuteund künftig."

Dieser Fall geht noch um einiges über die vorhergehendenhinaus. Im ersten Teil des ersten Kasus verwirklichte sich dieNorm selbst, im zweiten Teil des ersten und im zweiten Kasusverwirklichte sich der Kampf zweier Normen im Gesetze,der Kampf dessen, was wir den Geist und den Buchstaben desGesetzes nennen. Bei der Hehlerin wurde durch den Buch-staben dieser Geist gelähmt ; bei der eingebildeten Schwangerenerlangte durch den Geist der Buchstabe eine unvorhergeseheneWirkung. Hier endlich zeigt sich, wie Ausdehnung und Gültig-keit des Gesetzes überhaupt unzulänglich sind: eine Handlung,durch die mit Vorsatz und Überlegung jemand auf das Gefähr-lichste geschädigt wird, kann nach den in dem Strafgesetzbuchenthaltenen Normen nicht als solche gefaßt werden. Das Be-wußtsein, daß hier, auch im Sinne des Gesetzbuches, Schuldvorliegt, ist allgemein und dennoch ist die Handlung nichtstrafbar.

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V.

Nachdem wir die Einfache Form Kasus und die Geistes-beschäftigung, aus der sie hervorgeht, aus Beispielen unserer

eigenen Zeit abgeleitet haben, halten wir weitere Umschau,ob und wo wir sie sonst treffen, wo sie sich häuft.

Ich greife zunächst zu einem Beispiel aus der indischenLitteratur. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts faßte einInder, Somadeva, eine große Anzahl Erzählungen, die in Kasch-mir und anderswo in Umlauf waren, von neuem zusammen undnannte die von ihm bearbeitete Sammlung „Kathäsaritságara",den Ozean der Ströme der Erzählungen. Diese Zusammen

-fassung läßt sich vergleichen mit Sammlungen, die wir ausanderen Zeiten und anderen Gegenden kennen: mit den GestaRomanorum, Tausendundeine Nacht, Dekamerone. Innerhalbdieses „Ozeans" finden wir nun wieder zusammengehörige Er-zählungen, die in ihrer Zusammengehörigkeit das bilden, waswir eine Rahmenerzählung nennen ein Begriff, den manzur Not auch auf den ganzen „Ozean" anwenden kann.

Eine dieser eingeschalteten Rahmenerzählungen heißt:Vetälapañcavimgätika, die fünfundzwanzig Erzählungen desVetäla.

Zu dem berühmten König Trivikramasena war täglich einBettler gekommen und hatte ihm als Huldigung jedesmal eineFrucht geschenkt. Nach zehn Jahren entdeckte der König,nachdem eine Affe eine dieser Früchte zum Spielen genommenhatte, daß in den Früchten unschätzbare Juwelen verborgenwaren, die sich im Schatzhause, durch dessen Fenster sie derSchatzmeister immer zu werfen pflegte, zu einem großen Haufenangesammelt hatten. Als der König den Bettler fragte, weshalber ihm so verschwenderisch huldigte, erzählte ihm dieser untervier Augen, daß er die Beihilfe eines Helden der König imindischen Sinne i s t Held zur Vollbringung eines Zaubersbrauche. Auf die Gaben und die Bitten des Bettlers hin muß

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188 KASUS

der König seine Beihilfe zusagen der König im indischenSinne muß helfen, wenn er gebeten wird, wenn man ihmhuldigt —, und der Bettler bittet ihn, abends in der Zeit desabnehmenden Mondes auf den Begräbnisplatz zu kommen. DerKönig erscheint an der verabredeten Stelle auf dem Leichen-platz, der voll ist von lodernden Scheiterhaufen und greulichenGespenstern, und wird von dem Bettler zu einem weit ent-fernten Feigenbaum geschickt, an dem die Leiche eines Manneshängt; diese Leiche soll er dem Bettler bringen. Der Königgeht hin und schneidet den Leichnam ab, der, als er auf dieErde fällt, kläglich zu schreien anfängt. Zuerst glaubt Trivi-kramasena, einen Lebenden vor sich zu haben, und beginnt ihnzu reiben; da lacht die Leiche gellend auf und der König er-kennt, daß sie von einem Vetála, einem Unhold, bewohnt ist.Als er sie aber unerschrocken anredete, hing sie plötzlich wiederaufrecht am Baume. Da verstand der König, daß er zu schweigenhatte, stieg wiederum auf den Baum, schnitt den Leichnamwieder ab, lud ihn auf seine Schulter und ging schweigend mitihm von dannen. Da sagte plötzlich der Vetäla zu ihm, er wolleihm eine Geschichte erzählen, um ihm den Weg zu kürzen. Ererzählt, und es zeigt sich, daß diese Geschichte eine Frage ent-hält sie ist ein Kasus : es handelt sich darum, festzustellen,wer schuld war am Tode zweier Menschen. Zu Ende derErzählung fordert der Vetala den König auf, seine Meinungzu sagen, indem er ihm mit einem Fluche droht: sein Kopf sollezerspringen, wenn er ein Urteil wisse, es aber verschweige.Dieser Fluch ist die Bestätigung einer Pflicht, die Verdoppelungeines Zwanges, unter dem der König als König steht : derKönig im indischen Sinne ist Weiser, er muß in Streitigkeitendas Urteil fällen, er muß die Frage des Vetäla entscheiden.Dieser Pflicht kommt der König nach. Damit aber hat er dasihm auferlegte Schweigen gebrochen und die Leiche hängtwieder am Feigenbaum.

So geht es dreiundzwanzigmal, bis ihm der Geist in dervierundzwanzigsten Erzählung einen Fall vorlegt, den er nichtentscheiden kann; weil er ihn aber nicht entscheiden kann, ver

-letzt er durch sein Schweigen die Pflicht nicht. Der Vetsla istnun so überzeugt von dem Mut und der Weisheit des Königs,

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KASUS 189

daß er ihm den Rat gibt, den Bettler, der ihn opfern wollte,um die Herrschaft über die Geister zu erlangen, zu töten unddamit selbst die Herrschaft über die Geister des Himmels zugewinnen. So geschieht es ; und die Rahmenerzählung schließtdamit, daß der König sich wünscht, die Erzählungen des Vetalasollten überall berühmt werden, und daß der Vetála ihm zu-sagt, böse Geister sollten keinen Zutritt haben, wo auch nurein Teil dieser Erzählungen gelesen oder gehört werde.

Der Wunsch des Königs ist zum Teil in Erfüllung ge-gangen : eine Anzahl dieser Kasus ist in der ganzen Welt be-kannt geworden. Ich gebe ein Beispiel, das uns den Kasus zeigt,und wähle dazu die zweite Erzählung.

Ein Brahmane hat eine schöne Tochter. Kaum ist sieerwachsen, so kommen drei Freier, gleich an Geburt und anTrefflichkeit. Jeder von ihnen will lieber sterben, als sie einemder zwei anderen vermählt sehen. Der Vater fürchtet seiner-seits, die anderen zu beleidigen, wenn er sie dem einen gibt,und so bleibt die Schöne eine Zeitlang unvermählt. Plötzlicherkrankt sie und stirbt. Sie wird eingeäschert, und der ersteLiebhaber baut sich über ihrer Asche eine Hütte, in der er vonnun an lebt. Der zweite sammelt ihre Knochen und trägt siezum heiligen Strome, zum Ganges. Der dritte durchwandertdie Welt als Pilger. Dieser dritte kommt eines Abends zu einerBrahmanenfamilie ; ein Kind ist bei Tische unartig und schreit.Die Mutter wird böse und schleudert es ins Feuer, wo es ver-brennt. Großes Entsetzen seitens des Pilgers! Aber der Vaterberuhigt ihn, er holt ein Zauberbuch, spricht die Formel, unddas Kind sitzt wieder da, genau wie vorher. In der Nachtstiehlt nun der dritte Liebhaber das Buch. Er kommt nachHause und erweckt die Jungfrau wieder zum Leben. Da siedurch das Feuer gegangen ist, ist sie noch viel schöner alsvorher. Nun streiten die drei Freier von neuem, aber zwischendem früheren Streit, wo alle gleich waren, und dem jetzigenliegt etwas, liegt eine Handlung: jeder hat nach einer be-stimmten Norm getan, was er glaubte, als Liebhaber undBrahmane tun zu müssen. Jetzt wird es möglich sein zu be-stimmen, wer sie bekommen soll. „Und nun. König," sagtder VetMla „entscheide du ihren Streit."

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190 KASUS

Was muß der König tun? Er wägt die Handlungen gegen-einander ab, er deutet sie. Der sie zum Leben erweckte, ist ihrVater; der ihre Knochen zum Ganges trug, tat, was nachindischer Sitte Kinder für die Eltern zu tun haben, er ist alsoihr Sohn ; endlich der Mann, der bei ihr blieb, bei ihr ruhte,treu bei ihr harrte, der ist ihr Gatte. Der König hat ge-sprochen die Leiche hängt wieder am Feigenbaume alleskann von Neuem beginnen ein neuer Kasus.

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß Somadeva inseiner Sammlung ältere Geschichten bearbeitet hat. Und sogibt es auch von dem eben geschilderten Kasus zahlreichefrühere und spätere Fassungen in Indien. Er fehlt auch inEuropa nicht. Sobald sich in Italien die Novelle regt, sehenwir ihn erscheinen. Die Wandlungen dieses Kasus sind zu-sammengestellt in einem Aufsatz von W. H. Farnham „TheContending Lovers" (Publications of the Modern LanguageAssociation of Amerika, XXXV, 1920). Verblaßt und ab-geschwächt erkennen wir ihn in Uhlands .,Es zogen dreiBurschen wohl über den Rhein".

Uns kommt es nicht darauf an, der Erzählung auf ihrenWandlungen durch die Litteraturgeschichte zu folgen, sondernsie in ihrem Charakter als Kasus zu verstehen.

Erstens zeigt uns dieser Kasus etwas, was zwar auch inunserer Sammlung von Rechtsfällen vorlag, was wir aber dortnicht so deutlich beobachten konnten : auch im Kasus stecktwiederum ein Verhältnis zur Frage. In der Mythe gibt sichin Frage und Antwort die Welt in ihren Erscheinungen bekannt,wird sie von ihrer Beschaffenheit aus Schöpfung. In dem Rätselwird in Frage und Antwort die Zugehörigkeit zur Weihe ge-prüft und kundgegeben. In dem Kasus ergibt sich die Formaus einem Maßstab bei der Bewertung von Handlungen, aberin der Verwirklichung liegt die Frage nach dem Werte derNorm. Bestehen, Gültigkeit und Ausdehnung verschiedenerNormen werden erwogen, aber diese Erwägung enthält dieFrage: wo liegt das Gewicht, nach welcher Norm ist zu werten?

Diese Frage wird in dem Kasus der „Nebenbuhler" regel-recht gestellt. Die Pflicht der Entscheidung wird in der gegen-

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KASUS 191

wärtigen Erzählung dem Weisen, dem König, auferlegt, abersie liegt in dem Kasus als solchem zugleich tiefer und all-gemeiner. Auch in unserem ersten Rechtsfall spüren wir diesePflicht der Entscheidung, auch die Geschichte von der Ge-liebten, die keine Hehlerin und doch Hehlerin war, brachte uns,obwohl die Frage als solche nicht gestellt wurde, zu Er-wägungen : Wie nun? soll sie bestraft, soll sie nicht bestraft,soll unser Strafgesetzbuch so bleiben oder soll es geändertwerden? Soll der Buchstabe, soll der Geist des Gesetzes gelten?

Das Eigentümliche der Form Kasus liegt nun aber darin,daß sie zwar die Frage stellt, aber die Antwort nicht gebenkann, daß sie uns die Pflicht der Entscheidung auferlegt, aberdie Entscheidung selbst nicht enthält was sich in ihr ver-wirklicht, ist das Wägen, aber nicht das Resultat des Wägens.Das Gerät mit den zwei Schalen heißt auf lateinisch bilanx,woraus die romanischen Bezeichnungen für Wage, balance,bilancia, hervorgehen. Wir haben daher das Verbum balancierenübernommen, auch mit der Bedeutung : versuchen das Gleich

-gewicht zu finden. In dem Kasus liegen die Reize und dieSchwierigkeiten des Balancierens vor uns wollen wirdeutsche Wörter, so können wir sagen, daß sich in dieser Formdas Schwanken und Schwingen der wägenden und erwägendenGeistesbeschäftigung verwirklicht.

Und so ist es dann auch die Eigentümlichkeit des Kasus,daß er dort aufhört, ganz er selbst zu sein, wo durch einepositive Entscheidung die Pflicht der Entscheidung aufgehobenwird. Dies ist das zweite, was wir in den Geschichten desVetala beobachten können und was in der Erzählung als Ganzeszum Ausdruck kommt.

Wir haben im Anschluß an den ersten Kasus, dem vomDiebe und der Hehlerin, festgestellt, daß der Kasus eineNeigung besitzt, sich zur Kunstform zu erweitern wir fügtenhinzu, Novelle zu werden. Das ist in den Vetäla- Erzählungengeschehen. Damit zerstörte aber die Kunstform in ihrer Eigen

-gesetzlichkeit die Einfache Form, aus der sie gewachsen war.Die Entscheidung war gefallendamit hörte der Kasus auf,Kasus zu sein. Nun aber schreitet die Rahmenerzählung fort,und wie es im Leben in tier Welt der Normen zu geschehen

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192 KASUS

pflegt, kaum ist der eine Kasus entschieden, so erscheint schonwieder ein anderer, ja, sogar das Verschwinden des Einen ver-ursacht das Erscheinen des Anderen was in der Erzählungheißt: die Leiche hängt wieder am Feigenbaume,der König muß wieder von neuem anfangen. Mit erstaunlicherFeinheit ist hier die Welt des Kasus gegriffen, denn auchdie Handlungen des Königs im Rahmen werden von dieser Formaus bestimmt : ob er dem Vetala antwortet oder nicht ant-wortet, ist Kasus, denn Antworten heißt seine Königspflichterfüllen, Nichtantworten das Gebot zu schweigen einhaltenund schließlich schneidet er jedesmal die Leiche ab, weil erwiederum eine Pflicht dem Bettler gegenüber übernommen hat.So kann dann das Ganze nur damit enden, daß ein Kasus Kasusbleibt und nicht entschieden wird, aber nun auch eigentlichnicht zur Novelle wird und das geschieht in der vierund-zwanzigsten Erzählung, wo der König nicht entscheiden kann.Da heißt es dann : „Der König erwog die Frage des Vetäla immerund immer wieder, er fand keine Antwort. So schritt er intiefem Schweigen weiter." Hier banlanciert alles wir kennenwenig • Beispiele aus der Litteraturgeschichte, wo eine Formsich so in allen Einzelheiten verwirklicht.

Noch ein drittes zeigen uns die Vetäla-Erzählungen : wowir den Kasus zu suchen haben, wann wir uns in der Welt derWage befinden.

Mehr als andere Völker hat der Inder das Bedürfnis, nachNormen zu leben. Nirgends ist der Begriff „Leitfaden" imSinne einer Sammlung von Regeln so lebendig als in Indien. Esgibt nicht nur Lehrbücher zur Erreichung und Verknüpfung derdrei großen Lebensziele, es gibt Lehrbücher für noch ganzandere Dinge, und überall und immer wird in diesen Sutras undgästras nach Normen gewertet. In einem bekannten indischenDrama Mrcchakatika sehen wir auf der Bühne, wie einEinbrecher einen Einbruchsdiebstahl ausführt. Könnten wirnun in unserer eigenen Umgebung bestimmen, nach welchenParagraphen des Gesetzbuches dieser Mensch sich strafbarmacht, so geht es hier beträchtlich weiter. Dieser Einbrecherbricht ein nach den Regeln eines „Leitfaden für Diebe" erzitiert, während er arbeitet denn Diebstahl ist seine Arbeit

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KASUS 193

die einzelnen Paragraphen dieses „Gesetzbuches", er folgt derRegel, er arbeitet nach der Vorschrift. Wir besitzen diesesrechtswidrige Handbuch leider nicht mehr ob es wirklichexistiert hat, dürfen wir bezweifeln. Aber aus einer solchenWelt, in der sich das Leben als ein nach Normen Wertbares undBeurteilbares vollzieht, muß der Kasus überall hervorgehen.Tatsächlich sind eine große Anzahl der Kasus, die sich im Um-lauf befinden und trotz ihrer Abgeschlossenheit zum Teil nocherkennbar sind, indischen Ursprungs.

Jolies, Einfache Formen 13

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VI.

Im Abendlande vollzieht sich unser Leben in etwas andererArt aber auch hier finden wir die Form Kasus jedesmal,wenn in dieser Weise gewogen wird.

Die Geschichte des Kasus und der Wanderungen und Wand-lungen einzelner Kasus, auf die ich hier verzichte, wäre eineschöne Aufgabe. Es gibt einige, die außerordentlich verbreitetsind. Ich erinnere an die Prinzessin auf der Erbse, oder an dieGeschichte von den Feinschmeckern, die die Qualität einesFasses uralten Weines beurteilen sollen; der einestellt einenleichten Eisengeschmack, der andere einen ebenso leichtenLedergeschmack fest : tatsächlich findet man, als das Faßzur Neige geht, auf dem Boden ein winziges Schlusselchenmit einem Lederstreifchen, das beim Keltern hineingefallensein muß. Diese beiden Fälle mit ihren zahllosen Variantenzeigen uns ein Gebiet, wo schwer gewertet werden kann undwo man doch nach Normen verlangt, das Gebiet der Sinnes-wahrnehmungen, des Gefühls und des Geschmacks.

Auch aus den Normen der Logik tritt schon im Altertumder Kasus hervor. So verwirklicht sich in ihm der tragischeTrugschluß, den wir die C r o c o d i 1 i n a nennen. Ein Krokodilhat ein Kind geraubt und der Mutter versprochen, es ihr zurück-zugeben, wenn sie ihm darüber die Wahrheit sagen würde. DieMutter sagt nun: du gibst mir mein Kind nicht wieder. DasKrokodil antwortet: nun erhältst du das Kind keinesfalls, seies, wenn du wahr sprachst auf Grund deines Ausspruches, seies, wenn du die Wahrheit nicht sagtest, auf Grund unsres Ver-trages. Die Frau sagt: Ich muß mein Kind in jedem Falle er

-halten, wenn ich die Wahrheit sagte, kraft unseres Vertrages,oder aber, wenn das von mir Behauptete nicht zutrifft, gemäßmeiner Aussage. Die Varianten ergeben sich hier von selber.

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KASUS 195

Noch auf anderen Gebieten sehen wir, wie in der Kulturdes Abendlandes sich der Kasus in bestimmten Zeiten häuft,wie die Kasus wie Pilze aus dem Boden schießen.

Ich denke an die Zeit der großen Minnekultur, die Zeit,da eine gewisse Art der Liebe das Leben gestaltet, da fastalle Handlungen mit dieser Liebe in Zusammenhang gebrachtwerden, von der Liebe aus ihre Wichtigkeit, ihre Wucht be-kommen. Wo die Minne wertet, da ergeben sich die Normender Minne, die Regeln der Minne, der Gesetzeskodex der Minnemit seinen Paragraphen, da finden wir den Minnehof, wo überVergehen gegen die Minne geurteilt wird, wo die Fragender Minne erwogen, wenn möglich entschieden werden. DieSpannung der Minne wird klingend im Liede, die Weise derMinne veranschaulicht sich im Beispiel und Exempel, die Wer-tung der Minne, ihr Wägen und Erwägen, verwirklicht sich imKasus.

So sind dann in verschiedenartiger Überlieferung die Kasusder Minne auf uns gekommen. Wir haben sie in ihren erstenAnfängen, wo sie noch theoretische Fragen sind wie : soll einMann die Frau, die in Stand und Reichtum über ihm steht,lieben oder die Frau, die in dieser Hinsicht unter ihm steht?Oder: was ist dem Minnenden größerer Genuß, an die Geliebtezu denken, oder die Geliebte zu sehen? Wir sehen dann,wie die Frage allmählich zur Form wird : ein Mädchen wirdvon zwei jungen Männern geliebt, sie nimmt den Kranz desEinen und setzt ihn sich selber auf, während sie ihren eigenenKranz dem Anderen schenkt. Wem hat sie den größten Beweisihrer Huld gegeben? Allmählich prägt sich die Form immerdeutlicher aus, der Kasus rundet sich: Ein junger Mann liebtein Mädchen. Durch die Hilfe einer alten häßlichen Kupplerinkommt es zu einer Zusammenkunft, aber sie werden dabei vonden Brüdern des Mädchens überrascht. Die Brüder schenkendem Liebhaber das Leben unter der Bedingung, daß er ein Jahrlang mit dem Mädchen, aber auch ein Jahr lang mit derKupplerin leben soll. Man erwartet die Frage: wird er dasLeben annehmen? in der Quelle jedoch, aus der ich zitiere,heißt sie: mit wem von beiden soll er das erste Jahr verbringen?Oder: Ein Mädchen wird von zwei jungen Männern geliebt;

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196 KASUS

sie wird durch unglückliche Umstände zum Scheiterhaufen ver-urteilt und kann nur erlöst werden, wenn ein Ritter mit denWaffen ihre Unschuld beweist; der erste Jüngling ist bereit,für sie zu streiten; der zweite aber, der- erst später von demZweikampf gehört hat, tritt als Gegner auf und läßt sich be-siegen. Wer hat den größten Beweis seiner Liebe gegeben?

Ein Teil dieser Minnekasus ist so verzwickt und ge-künstelt, daß wir glauben könnten, hier Bezogene Formen voruns zu haben es ist indessen schwer, sich eine Lebens

-gestaltung wie die Minne in allen ihren Folgen und ihrenNormen durchzudenken. Jedenfalls sehen wir aus den letztenFällen, wie auch hier, wie in unseren ersten Rechtsfällen, derKasus auf die Novelle zustrebt, aber wie auch hier die Novelle,indem sie die Entscheidung bringen muß, den Kasus auf

-hebt. Tatsächlich ist die Kunstform, die wir im besonderentoscanische Novelle nennen, zum guten Teil aus dem Minnehofund dem Minnekasus hervorgegangen. Aber das gehört nichthierher.

Wir sprechen von „Minnehof", von „Vergehen gegen dieMinne", von „Urteil". Es sind das alles Ausdrücke, die sichhier auf die wertende Liebe beziehen, die aber andererseitsauch Begriffe aus der wertenden Gerechtigkeit bezeichnen.Wir sehen, wie die gleiche Ausdrucksweise Domänen vereinigt,auf denen sich jedesmal die Geistesbeschäftigung des Wertens,des Wägens und Erwägens, der Normen und Maßstäbe einstellt.Es sind dies wiederum keine Übertragungen oder bildlicheAusdrücke, sondern wir haben hier die S o n d e r s p r a c h eder wertenden Welt vor uns. Sie ist nicht ganz diegleiche wie im Rätsel, aber wir erkennen sie doch in ihrer Viel-deutigkeit. Mustern wir weiter die Ausdrücke der Minne

-sprache, so sehen wir, daß sie durch ihre Bedeutung auch nochein anderes Gebiet als das der Liebe und Gerechtigkeit in sichhineinbeziehen kann: das der Religion, vielmehr der Theologie.Worte wie Gnade , Dienst , Lohn , die uns da auf Schrittund Tritt begegnen, kommen auch in der Sprache der Theologievor auch dort haben sie eine wertende Bedeutung. Wie sicheinerseits Gerichtshof und Minnehof zusammenstellen lassen,wie in beiden einem König oder einer Königin als höchstem

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KASUS 197

Richter die Pflicht der Entscheidung obliegt, so kann' manandererseits Minnedienst und Gottesdienst nebeneinanderstellen. Ich fasse zusammen : es ist die Eigentümlichkeit derkasuistischen Sondersprache, daß sie die Gebiete, wo nachNormen gewertet wird, in sich zusammenzieht. Und zugleich:es ist der Reiz der Sprache der Minne, daß wir in ihr auch dieSprache der Gerechtigkeit und die Sprache der Theologie mit-klingen hören.

Verglichen mit der Musik gibt die Gemeinsprache Töne,die Sondersprache Akkorde ein solches Zusammenstimmenhaben wir im Minnesang.

Wir müssen aus diesen Ausdrücken, aus diesen Sprach -gebärden des Kasus noch eine hervorheben : L o h n. Lohnkann Gegenstand sein, und gegenständlich kann er wiederummit der Macht des Kasus, mit allem, was der Kasus bedeutet,geladen sein. L o h n in diesem Sinne kann sowohl dasSchwingen und Schwanken im Kasus, wie die Entscheidungvertreten. Belohnung, Liebeslohn, Gotteslohn verhalten sichals Gegenstand zum Kasus, wie Reliquie zur Legende, wieSymbol zur Mythe.

Damit sind wir aber auf ein Gebiet gekommen, wo derKasus in Leben und Litteratur des Abendlandes eine sehr be-trächtliclie Rolle gespielt hat auf das Gebiet der Theologie,im besonderen der Moraltheologie, der Lehre von den Pflichten.

Hier sind , nun Kasus in Hülle und Fülle gesammelt. DieBücher, die sie umfassen, bilden eine Bibliothek. Ja, das WortK a s u i s t i k bedeutet, wo man es im allgemeinen benutzt,meistens die moraltheologische Tätigkeit, wie sie sich in derkatholischen Kirche hauptsächlich seit dem Ende des 16. Jahr

-hunderts entfaltet hat. Diese Kasuistik hat oft in sehrschlechtem Ruf gestanden, und seit Pascal pflegten die-jenigen innerhalb und außerhalb der Kirche, die sich mit ihrauseinanderzusetzen hatten, mit Vorliebe von dieser Kasuistikals Waffe Gebrauch zu machen. Die Kasuistik gilt als Wert-messer der katholischen Moral überhaupt; wenn wir Kasuistiksagen, meinen wir reservatio mentalis oder Jesuitismus imbösen Sinne.

13

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Ich kann auf diese Kasuistik als solche natürlich nichteingehen. Nur ganz in kurzem möchte ich zeigen, wie sichhier — wie vorher in der . Minne die Form Kasus verwirk-licht. Im Gegensatz zu einer Moral, wie sie in den Geboten alsabsoluten Normen gegeben ist, und zu einer Moral, die diefreie sittliche Triebkraft des Glaubens vertritt, haben wir hiereine Moral, die verschiedene Normen gegeneinander wägt, eineMoral mit beweglichen Wertungen, eine ich benutze dasWort durchaus in ernstem Sinne balancierende Moral. DerGegensatz dieser Moral zu einer Scholastik, die Tugenden undLaster möglichst gegenständlich zu fassen suchte, scheint mirdeutlich und ebenso, daß dieses Werten durchaus human ge-meint war, daß es nicht nur das Beichtkind gegen individuelleAuffassungen und Launen des Beichtvaters schützte, sondernes auch vor Verzweiflung der absoluten, der Todsünde, gegen-über behütete und den Weg zum Himmel erleichterte.

Indessen mußte die Kasuistik ihrer Art nach zu vielenStreitigkeiten führen. Eine sehr genaue Übersicht über dieseKontroversen findet sich in dem Buch von I. v. Döllinger, Ge-schichte der Moralstreitigkeiten in der römisch-katholischenKirche seit dem 16. Jahrhundert (Nördlingen 1889). Ich greifeaus den vielen Begriffen, mit denen gearbeitet wurde, zuunserem Zwecke nur einen heraus, den wichtigsten, den desProbabilismus.

„In manchen Fällen", heißt es, „ist keine volle Gewiß-heit über die Pflichtmäßigkeit, Erlaubtheit oder Unerlaubtheit

zu erlangen ; es stehen sich dann zwei Ansichten gegenüber,von denen jede sich auf Gründe stützt, keine c e r t a , jede nurp r o b a b i 1 i s ist. In diesem Falle können nun entweder beidegleich viele Gründe für sich haben, a e q u e p r o b a b i 1 e s sein,oder die eine hat mehr Gründe für sich als die andere, die eineIst probabilior, die andere minus probabilis; wenndas Gewicht der Gründe für die eine bedeutend größer ist alsfür die andere, ist die eine p r ob ab i 1 i s sim a, die anderet e n u it e r probabilis. Die Probabilität kann sich ent-weder auf innere Gründe stützen, p r o b a b i l i t a s i n t r i n-o e c a, oder auf äußere, d. h. die Autorität von solchen, die für

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KASUS 199

Sachverständige gehalten werden, p r o b a b i 1 i t a s e x t r i n-s e c a " (I, 3).

Und so weiter noch einmal, wir wollen die praktischenKonsequenzen dieser Anschauungsweise hier nicht verfolgen,das Zitat genügt, um uns die Geistesbeschäftigung, von derwir ausgegangen sind, noch einmal auf einem bestimmten Ge-biet in vollem Umfange und in aller Deutlichkeit zu zeigen.Wir brauchen kaum etwas hinzuzufügen. Aus dieser Geistes

-beschäftigung muß im Leben und in der Litteratur der Kasusals solcher hervorgehen, die moralische Welt, die hier vor unsliegt, kann sich nur in dieser Form verwirklichen.

Die Kasus, die sich aus den Moralstreitigkeiten ergebenhaben, sind, insoweit sie nicht von Gegnern benutzt oder aus-genutzt wurden, in einem kleinen Kreis geblieben. Und den-noch scheint mir, daß ihre Wirkung auf die Litteratur im all-gemeinen von Wichtigkeit gewesen ist. Oder vielleicht müssenwir sagen, daß sich das, was sich in der katholischen Kircheauf dem begrenzten Gebiet der Moraltheorie zeigte, auchin der Litteratur in ihrer Gesamtheit auswirkte. Was wir inder Litteratur des 18. und 19. Jahrhunderts P s y c h o l o g i ezu nennen gewohnt sind, das Wägen und Messen der Beweg-gründe einer Handlung nach inneren und äußeren Normen,dieses bewegliche Kriterium der Beurteilung der Charaktereim Kunstwerk und des Kunstwerkes als solchem, scheint mireine große Verwandtschaft zu besitzen mit dem, was wir in derkatholischen Kasuistik vor uns sehen. Aber auch dies gehörtnicht in eine Morphologie der Einfachen Formen.

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MEMORABILE

IPNoch eine andere Form müssen wir, wie ich glaube, in die

Reihe unserer Einfachen Formen aufnehmen. Auch diese möchteich unmittelbar aus dem, was wir täglich beobachten, ableiten.

Auf meinem Schreibtisch liegt eine alte Zeitung, sie hatdazu gedient ein Buch einzuschlagen ich glätte sie und lese:

„Der Freitod des Kommerzienrats S.Das Motiv für den Selbstmord des Kommerzienrates Hein-

rich S., der sich gestern abend in seiner Wohnung, Kaiser-allee 203, erschoß, ist in pekuniären Schwierigkeiten zu suchen.S., der aus Turkestan stammt, besaß früher eine Wodka -Fabrik, die er jedoch bereits vor längerer Zeit verkauft hatte.Der 62jährige hatte schon vor längerer Zeit Selbstmord

-absichten geäußert und den gestrigen Abend, an dem seineFrau sich im Konzert befand, zur Ausführung benutzt. DerKnall des Revolvers wurde von A s t a N i e 1 s e n gehört, diedie daneben gelegene Wohnung innehat. Frau Nielsen benach-richtigte dann als Erste Arzt und Polizei."

Diese Mitteilung dient offenbar dazu : 1. von dem ver-storbenen Kommerzienrat S. einen kurzen Lebensabriß zugeben; 2. zu erklären, weshalb ein betagter, angesehenerMann freiwillig in den Tod gegangen ist; 3. über die Art desSelbstmords Auskunft zu erteilen.

Um das Erste zu erreichen, wird mitgeteilt, wo HeinrichS. geboren war; in welchem Alter er sich befand; womit ersein Vermögen erworben hatte; wo er wohnte. Zum Zweitengehören die „pekuniären Schwierigkeiten ", die „geäußertenSelbstmordabsichten". Zum Dritten gehören die Mitteilungen,

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MEMORABILR 201

daß er sich erschossen hat; daß er dazu den Abend auswählte,da seine Frau abwesend war; daß ein Nachbar, durch denKnall des Revolvers aufmerksam geworden, die Polizei benach-richtigte.

Als Bericht gefaßt könnte nun diese Mitteilung lauten:

Der 62 jährige Kommerzienrat Heinrich S. hat sich gesternabend in seiner Wohnung, Kaiserallee 203, erschossen. Erwar in Turkestan geboren, besaß früher eine Wodka-Fabrikund hatte sie vor längerer Zeit verkauft. Er befand sich inpekuniären Schwierigkeiten und hatte schon oft Selbstmord-absichten geäußert. Er wählte zur Ausführung seines Planeseinen Abend, da seine Frau abwesend war. Durch den Knalldes Revolvers aufmerksam geworden, benachrichtigte eineNachbarin die Polizei 'und den Arzt.

Unsere Mitteilung sieht jedoch anders aus sie enthältmehr, sie enthält andere Einzelheiten. Und zwar sind dieseEinzelheiten keineswegs litterarischer Art, sie sind von demAufsteller des Berichts nicht in dem Sinne frei gewählt, wiewir es bei unserm ersten Rechtsfall im Kasus gesehen haben.Auch diese Einzelheiten sind nicht gedanklich, sie sind demkonkreten Gang des Geschehens entnommen, sie sind historisch.

Betrachten wir diese Einzelheiten genauer. Frau S. warnicht nur abwesend, sie war i m K o n z e r t. Diese Tatsachesteht mit dem, was im Berichte mitgeteilt werden soll, nichtin unmittelbarem Zusammenhang. S. wollte nur aus begreif

-lichen Gefühls- und Geschmacksgründen zu seinem Selbstmordeinen Augenblick wählen, da seine Frau abwesend war. AberFrau S. hätte ebensogut einen Trauerbesuch bei Verwandtenabstatten oder einer Einladung von Bekannten Folge leistenkönnen. Und dennoch wird die historische Tatsache desK o n z e r t e s hier ausdrücklich herangezogen. Weshalb? Weilin Konzert hier etwas liegt wie Unterhaltung, Kunstgenuß,Freude; weil diese Freude einen Gegensatz bedeutet zu demeinsamen Manne zu Hause, der vor dem schweren Entschlußsteht, und weil die Frau im Konzertsaal, der Mann einsam zuHause zusammen das, worauf es ankommt S e l b s t m o r din einer bestimmten Weise herausheben.

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202 MEMORABILE

Diese beiden historischen Tatsachen: die Frau im Konzert,der Mann zu Hause, stehen weder in ursächlichem noch in be-gründendem Zusammenhang, sondern sie werden einander bei-geordnet, um die übergeordnete Tatsache Selbstmord im Laufedes Geschehens selbständig zur Geltung zu bringen.

Sehen wir nun weiter. Wenn der Nachbar ein beliebigerJunggeselle oder Frau X. Y. oder Z. gewesen wäre, würde erwohl ebenfalls die Polizei und den Arzt benachrichtigt haben.Aber es wird wiederum ausdrücklich hervorgehoben, daß dieseNachbarin Asta Nielsen war. Wie oft hat unsere vortrefflicheFilmdiva im Spiel einen Selbstmord miterlebt oder sogar einendargestellt, wie oft hat sie bei dem Knall des Revolvers sichdie Ohren zugehalten, die Augen aufgerissen, die Haare ge-rauft, sich in „Großaufnahme" gezeigt. Aber nun : Wand anWand die Wirklichkeit ! Es ist klar wir fragen hier nicht,inwieweit es Frau Nielsen angenehm war, auch bei dieser Ge-legenheit ihren Namen in der Zeitung zu finden. Wir fragen:was geschieht in unsrer Mitteilung? und da sehen wirwiederum, wie zwei Tatsachen : der Knall des Revolversund die Filmschauspielerin, die in einem Geschehen nichtin ursächlichem oder begründendem Zusammenhang stehen,dennoch einander beigeordnet werden, um in ihrs r Gegensätz-lichkeit die übergordnete Tatsache zur Geltung zu bringen,sie so zu gestalten, daß sie sich uns als selbständig einprägt.

In dem B e r i c h t , so wie wir ihn uns aus dem, was mit-geteilt werden sollte, zusammenstellten, wurde ein Geschehen

als solches gegeben; es enthielt nichts, was nicht unmittelbarmit dem Kommerzienrat S. und mit seinem Freitod in Zu-sammenhang stand. Die historischen Tatsachen waren so ge-ordnet, daß sie sich zwar aufeinander bezogen, aber daß ausihrer Bezogenheit der Sinn dessen, was ihnen in ihrer Gesamt-heit übergeordnet war, nicht hervorging.

In dem Zeitungsausschnitt dagegen wurden Tat-sachen herangezogen, die, obwohl ebenso sehr historisch wiedie im Bericht gegebenen, doch mit dem Kommerzienrat S. undseinem Freitod nicht in unmittelbarem Zusammenhang standen— sie wurden aber einander und dem Ganzen in einer Weise

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MEMORABILE 203

beigeordnet, daß dadurch das Übergeordnete eine selbständigeGültigkeit bekam, daß der Sinn des Ganzen heraussprang.

Selbstmord sollte es heißen. Was Selbstmord bedeutet,geht nicht hervor aus den Tatsachen, daß jemand in Turkestangeboren ist, oder eine Wodka -Fabrik besessen hat auchnicht aus der Tatsache, daß er Kaiserallee 203 wohnt aberwohl aus Umständen wie, daß er allein ist und daß die Frausich im Konzert befindet, oder daß nebenan eine Künstlerinwohnt, die das alles oft genug gespielt hat, aber nun durch denKnall des Revolvers in ein wirkliches Geschehen hineingezogenwird. Letzten Endes versucht die Form noch einen weiterenSinn zu geben: Selbstmord eines Kommerzienrats,eines Mannes, der früher reich war und der sich jetzt nichtmehr aus pekuniären Schwierigkeiten retten kann. So ist dieZeit! In diesem einmaligen Geschehen, das sich heraushebt,zeichnet sie sich.

Fassen wir zusammen: der Ausschnitt ist bestrebt, ausdem allgemeinen Geschehen etwas einmalig herauszuheben, dasals Ganzes den Sinn dieses Geschehens bedeutet; in diesemGanzen sind die Einzelheiten in einer Weise angeordnet, daßsie einzeln, in ihren Beziehungen, in ihrer Gesamtheit erklärend,erörternd, vergleichend und gegenüberstellend den Sinn desGeschehens hervorheben.

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II.

Unserem Zeitungsausschnitt möchte ich nun einen Aus-schnitt aus der Geschichte an die Seite stellen. Ich wähle einEreignis aus der niederländischen Geschichte und zwar die Er-mordung des Prinzen von Oranien, Wilhelms I. des Schweigers.

Den Lauf der Geschehnisse brauche ich nur kurz in Er-innerung zu bringen. Wilhelm von Oranien war 1533 auf demSchlosse Dillenburg geboren, war in der Umgebung Karls V.erzogen worden. Er war ein Günstling des Kaisers, der ihnbei seiner Abdankung seinem Sohne Philipp II. empfahl. Erwurde zum Statthalter von Holland, Zeeland, Utrecht ernanntund Mitglied des Staatsrats in Brüssel. Allmählich kommt eszu Streitigkeiten der Abfall der Niederlande bereitet sichin den 60er Jahren vor, vom Jahre 1568 an gilt er als Aufstand.Es ist bekannt, welche hervorragende Rolle Wilhelm als Poli

-tiker und Feldherr dabei spielte. Zu Ende der 70er Jahre, alssich das Schwergewicht des Aufstandes immer stärker nachNorden verlegt hatte und die Tätigkeit des Alexander Farneseim Süden der spanischen Herrschaft aufs Neue Vorschubleistete, schlossen sich auf Oraniens Veranlassung die nörd-lichen Provinzen zu Utrecht zusammen, und damit war derGrund zu einer Republik der Vereinigten Niederlande gelegt.Wilhelm wurde von Philipp II. 1580 in die Acht erklärt, erwurde rechtlos, seinem Mörder wurden Verzeihung seiner Ver-brechen, der Adel falls er ihn noch nicht besaß und 25 000Goldkronen versprochen. Alsbald folgte, 1582, der erste Mord

-anschlag, der jedoch mißlang. Der Prinz wurde nur ziemlichschwer an der Backe verwundet, erholte sich aber wieder. ImJahre 1584 gelang die Tat. Der Mörder, ein gewisser Gérard,hatte den Plan seit mehreren Jahren vorbereitet, er war vonverschiedenen Seiten dazu ermuntert worden. Im Mai 1584wußte er sich Zugang zu dem kalvinistischen Hofprediger des

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MEMORABILE 205

Prinzen, Villiers, zu verschaffen, indem er sich als Opfer derkatholischen Verfolgung ausgab; er wurde mit einer kleinenMission zu dem Gesandten der Generalstaaten in Frankreichgeschickt und kam wiederum mit einer Nachricht an denPrinzen selbst in die Niederlande zurück. Als er zum erstenMale zu dem Prinzen zugelassen wurde, war er unbewaffnet.

Die Darstellung der weiteren Ereignisse zitiere ich ausP. J. Blok, Geschichte der Niederlande (Gotha 1907, Bd. III,S. 356) :

„Am B. Juli erschien er [Gérard] am Prinzenhofe zu Delft,die Ausgänge zu erspähen und die Gelegenheit zum Entfliehensich zu merken. Als er entdeckt wurde, erklärte er . sein Ver

-weilen hier mit seiner Scheu, in seinem schäbigen Anzug dieOraniens Wohnung gegenüberliegende Kirche zu besuchen. Vondem hiervon in Kenntnis gesetzten Prinzen empfing er eineSumme Geldes, um sich besser auszustatten. Er kaufte damitvon einem Soldaten der Leibwache Pistole und Kugeln und begabsich am Dienstag Mittag, dem 10. Juli, nach dem Hof, wo erden Prinzen, der gerade mit den Seinen ins Eßzimmer ging,um einen Paß bat. Die Prinzessin war sehr beunruhigt überdas ungünstige Äußere des Mannes, aber ihr Gemahl achtetewenig darauf und befahl, ihm das Gewünschte verabfolgen zulassen. Nach der Mahlzeit, um zwei Uhr, verließ der Prinz imstattlichen Talar mit den Seinen langsam und sinnend das Speise-zimmer, wo er mit seinem Gast, dem Bürgermeister Ulenburghaus Leeuwarden, sich lebhaft über die friesischen Angelegen-heiten unterhalten hatte, über ein kleines Vestibül nach deraufwärts führenden Treppe. Plötzlich sprang der Mörder untereinem kleinen, dunkeln Bogen hervor, der nach einem engenKorridor führte, und schoß sein Pistol ab, aus dem zwei Kugelnden Prinzen in der Lungen- und Magengegend in die Brusttrafen. Die Wunde war tödlich. Der Prinz rief aus: „Mon Dieu,ayez pitié de mone ame. Mon Dieu, ayez pitié de ce pauvrepeuple", antwortete noch mit einem schwachen Ja auf dieFrage, ob er seine Seele nicht in Christi Hände befehle, undgab nach wenigen Augenblicken den Geist auf ..."

Was wir hier lesen, sind ausschließlich historische Tat-sachen; die Mitteilungen stammen von Augenzeugen, von dem

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Mörder selbst, aus den Prozeßakten. Aber wir sehen wieder,daß wir keinen einfachen Bericht, kein Protokoll vor unshaben.

Gérard konnte, obwohl er sein Unternehmen seit langerZeit vorbereitet hatte, dennoch nicht nach einem in allen Einzel-heiten entworfenen Plane handeln er war von Umständenabhängig. Als er am 8. Juli die Ausgänge erspähte und dabeientdeckt wurde, wird die Angst ihm wohl die Notlüge ein-gegeben haben. Hätte er in dieser Weise kein Geld bekommen,so würde er sich in anderer Weise Waffen verschafft haben,denn er war, wie er selbst im Verhör aussagte, fest ent-schlossen, den Prinzen zu ermorden, „sei es, wenn dieser zurPredigt ging, sei es, wenn er sich zur Mahlzeit herunter begab,oder auch wenn er von der Mahlzeit zurückkehrte." Trotzdemmuß diese Lüge hier erwähnt werden, da tatsächlich durch siedie Mordwaffe erstanden wurde. Lüge und Mordanschlag stehenhier in ursächlichem Zusammenhang aber darüber hinausbringt dieses Heranziehen der Lüge auch noch die Tatsachedes Mordes in anderer Weise zur Geltung. Der Mildtätigkeitdes Fürsten wird die Ruchlosigkeit des Mörders gegenüber

-gestellt, der sich nicht scheut, Geld von seinem Schlachtopferanzunehmen, ja, für dieses Geld die Waffe kauft.

Daneben finden wir nun aber Einzelheiten, die mit demMord selbst keineswegs in Zusammenhang stehen. Die Prin-zessin war beunruhigt über das ungünstige Äußere des Mannes;der Prinz hatte Gérard schon öfters gesehen, ebenso viele ausder Umgebung des Prinzen, an erster Stelle dessen guterFreund, der Hofprediger Villiers. Waren diese weniger emp-findlich in punkto Schelmengesichter oder meinten sie, daßman den Menschen nicht nach seinem Äußeren beurteilen soll?Wir wissen es nicht. Sicher ist aber, daß diese übrigensbeglaubigte historische Tatsache hier eingeordnet wird,weil sie wiederum das Hauptgeschehen, den Mord, in einer be-stimmten Weise heraushebt. Sie bildet hier das, was wir ineiner Kunstform eine Retardierung nennen würden: wir zögerneinen Augenblick sollte dieses Urteil oder Vorurteil derPrinzessin vielleicht die drohende Gefahr noch haben abwendenkönnen ?

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MEMORABILE 207

Endlich : der Prinz verließ im stattlichen Talar mit denSeinen langsam und sinnend das Speisezimmer, wo er mitseinem Gast, dem Bürgermeister Ulenburgh aus Leeuwarden,sich lebhaft über die friesischen Angelegenheiten unterhaltenhatte. Auch dies alles ist von Augenzeugen, von den Personenselbst ausgesagt, aber hier haben wir den ursächlichen oderbegründenden Verband vollends verlassen. Hätte Gérard vonseinem Vorhaben Abstand genommen, wenn der Prinz andersgekleidet gewesen wäre, anders das Eßzimmer verlassen, überanderes mit dem friesischen Bürgermeister geredet hätte? Unddennoch werden diese Tatsachen herangezogen, dennoch er-füllen sie in dem Zusammenhang ihre Aufgabe denn wiederumerklären und erörtern sie das Ereignis, heben sie durch Ver-gleich und Gegenüberstellung das Übergeordnete hervor. Wirsehen den Prinzen in diesem Augenblick, wir bringen die strengeKleidung, den sinnenden Schritt, das Gespräch über Staats

-geschäfte miteinander in Zusammenhang, wir bringen sie inZusammenhang mit dem plötzlichen Tod des Großen, des Un-entbehrlichen, mit dem, was hier vorgeht.

An sich sind diese historischen Einzelheiten ohne Wichtig-keit. Wir können sogar viel weiter gehen wir können sagen,sie sind so wenig maßgebend, daß sie an sich ganz anders,sogar in ihr Gegenteil verwandelt sein könnten. Man denkesich : der Prinz, mit einem kurzen farbigen Wams bekleidet,verläßt leichten Schrittes den Speisesaal, wo er mit seinerjungen Frau Louise de Coligny gescherzt hat und nun wirder plötzlich meuchlings erschossen. Das Bild ist anders, aberwir denken es in der gleichen Weise. Wir sehen wiederumden Prinzen aber wir fühlen jetzt den Gegensatz zwischenbeweglichem Leben und einem plötzlichen Tod, zwischenHeiterkeit und Meuchelmord. Gewiß, was wir hier geben,würde weniger zu dem Charakter des Schweigers gepaßthaben es ist auch eben nicht historisch, es ist eine BezogeneForm, die wir ad hoc herstellen. Aber auch in der BezogenenForm sehen wir, wie die eingeordneten und nebengeordnetenEinzelheiten in derselben Weise sich gegenseitig durchdringen,um das Übergeordnete zur Geltung zu bringen.

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III.

Überschauen wir den Vorgang noch einmal. Wir habenein Geschehen, das wir kurz so zusammenfassen können : Auseinem Länderkomplex, der seit dem Ende des 15. Jahrhundertsvon den Habsburgern zusammengehalten wird und der unterKarl V. seine größte Bedeutung und seinen größten Umfanghat, löst sich zu Ende des 16. Jahrhunderts ein Teil ab, da ersich in staatlicher und religiöser Hinsicht nicht mehr zugehörigfühlt, ein nationales Bewußtsein erwacht in ihm und so weiter.An diesem Geschehen ist eine Persönlichkeit, Wilhelm vonOranien, in so hohem Maße beteiligt, daß wir diese ganze Ver

-selbständigung mit ihm in Verbindung bringen, daß wir sie ihmzurechnen, sie von seinen Handlungen aus beurteilen : wir er-kennen ihn im Geschehen und das Geschehen in ihm. DiesePersönlichkeit stirbt, wird auf Veranlassung seiner Gegner er-mordet. Selbstverständlich gehen Geschehen und Geschichteweiter, und unsre historische Aufgabe bleibt es ebensoselbstverständlich ! dieses weitere Geschehen, die Loslösungder Niederlande aus dem spanisch-habsburgischen Komplex,weiter zu beobachten. In dem Augenblicke aber, da diesePerson aus der Geschichte ausscheidet, da die Geschichte ohnesie weitergehen muß, hebt sich etwas aus dem Geschehenempor, trennt sich etwas aus ihm ab, wird eigenmächtig, wirdübergeordnet. Der Zusammenhang mit der Geschichte wirdnicht unterbrochen, aber das Geschehen wird in diesem Augen-blick anders erfaßt.

Das Geschehen staffelt sich, es stapft von Stufe zu Stufe.Aus dem Geschehen: Abfall der Niederlande, erhebt sich diePerson, der wir das Geschehen zurechnen, sie wird dem Ge-schehen übergeordnet, wir sehen den Abfall in ihr. In dem ent-scheidenden Augenblick, da die Person die Geschichte verläßt,wird aber auch ihr wiederum etwas übergeordnet: der Mo r d,

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der politische Meuchelmord; wir sehen einen durchFanatismus und Geldgier aufgestachelten Mörder, der einenihm unbekannten Menschen, der ihm wohlgetan hat, ermordetim Augenblicke, da dieser sich im Kreise seiner Angehörigenernsthaft mit seiner Lebensaufgabe beschäftigt.

Auf jeder Stufe verlegt sich der Sinn des Geschehens.Wir wollen die Geschichte des Abfalls der Niederlande er-kennen --- und Wilhelm von Oranien wird Träger des Sinns;wir verfolgen die Geschichte in Wilhelm von Oranien und imAugenblicke, da dieser aus der Geschichte ausscheidet, ver-tritt Mo r d den Sinn des Ganzen.

Wir treiben hier weder Geschichtswissenschaft nochGeschichtsphilosophie ; wir beobachten einen sprachlich

-litterarischen Vorgang, wir sehen, wie das unentwegt und un-aufhaltbar fortschreitende Geschehen sich an bestimmtenStellen verdichtet, erhärtet, wie das rinnende Geschehen ansolchen Stellen gerinnt, und wie es dort, wo es erhärtet, wo esgeronnen ist, von der Sprache ergriffen wird, litterarische Formbekommt.

Wir sehen weiter noch einmal: nicht geschichts-philosophisch, sondern sprachlich - litterarisch —, wie dieseForm sich durch S t a f f e l u n g ergibt. Alle Einzelheiten desGeschehens, die doch zum Geschehen gehören, mit dem Ge-schehen fortlaufen, fortrinnen müssen, wenden sich hier plötz-lich anderswohin, richten sich auf etwas, was ihnen über-geordnet ist und was steht ; in ihrer Beiordnung heben sieeinzeln und in ihrer Gesamtheit erklärend, erörternd, ver-gleichend und gegenüberstellend dieses Übergeordnete hervor.Indem die beigeordneten Einzelheiten das Übergeordnete er-füllen, aber ihrerseits von ihm erfüllt werden, wird das Ganzeeine Form, die im Stehen den Sinn des fortschreitendenGeschehens trägt.

Wir haben bei dem Freitod des Kommerzienrats S. voneinem „Zeitungsausschnitt" gesprochen. Wir meinen damiteigentlich nicht etwas, was wir mit der Schere aus einemZeitungsblatt trennen, sondern etwas, was sich selbst ausdem Zeitgeschehen ausschneidet, lostrennt und in der Zeitungselbständig wird, Form annimmt. In derselben Weise nannten

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210 MEMOR,ABILE

wir die Ermordung des Prinzen von Oranien einen „Geschichts-ausschnitt". Auch hier schien esp als ob wir aus einer Gesamt-darstellung etwas herausschnitten in Wirklichkeit abergriffen wir etwas, was sich selbst aus der Geschichte heraus-geschnitten hatte, etwas, in dem geschichtliches Geschehenhart geworden, geronnen war, in dem es F o r in angenommenhatte.

Ich habe diese Form M e m o r a b i 1 e genannt dielateinische tYbersetzung eines griechischen Wortes, das etwasumständlich im Gebrauch ist : dnsoµvr^µovef5ya, Das, was dieGriechen unter einem Apomnemoneuma verstanden, scheintmir der Form, die ich hier meine, ziemlich nahe zu kommen.Als nach dem Tode des Sokrates der Streit zwischen Platound Antisthenes über Sokrates' Persönlichkeit ausgebrochenwar, schrieb der damals in Korinth weilen-de Xenophon seineApomnemoneumata; er war vielleicht der erste, der dieses Wortals Titel eines Buches benutzte. Sein Ziel dabei war, diePersönlichkeit Sokrates' nicht nach einer persönlichen Auf-fassung, wie es die beiden Gegner versuchten, zu geben, sonderiisie aus dem Geschehen, wie es sich seiner Erinnerung ein-geprägt hatte, herauswachsen, sich hervorheben zu lassen.Ebenso nennen die christlichen Apologeten des 2. Jahrhundertsdie Aufzeichnungen der Evangelisten im Gegensatz zu denlügnerischen Erzählungen der Heiden Apomnemoneumata. Auchfür sie scheint die Weise, eine Persönlichkeit zu geben, die zusein, daß man sie aus wirklichem, fortschreitendem Geschehensich erhärten, sich emporheben, sich überordnen läßt.

Indessen kam es Xenophon auf die Persönlichkeit desSokrates, den Evangelisten nach der Auffassung der Apologetenauf die Person Jesu an. Wir gehen unsererseits umgekehrt vonder Form aus, wir versuchen zu erklären, in welcher Weise indieser Form Fließendes gerinnt.

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IV.

Die Geistesbeschäftigung, aus der sich das Memorabile er-gibt, ist mit dem Gesagten schon nahezu umschrieben. Suchenwir ein Wort, das diese Geistesbeschäftigung andeutet, sokönnen wir sie die Geistesbeschäftigung mit dem Tat s ä e h -1 i c h e n nennen. Sowohl das Memorabile des Freitodes desKommerzienrats S. wie das der Ermordung des Prinzen vonO.ranien nahmen nichts in sich auf, was nicht im GeschehenTatsache war, aber zugleich hob sich in ihnen aus der Reihenebengeordneter Tatsachen eine übergeordnete Tatsächlichkeitheraus, auf die nun einmalig alle Einzelheiten sinnreich be-zogen wurden aus freien Tatsachen verwirklichte sich einegebundene Tatsächlichkeit.

Wenn vieles, was einzeln im Wachsen begriffen ist, aneiner Stelle zusammenwächst und wir es nun an dieser Stellesowohl in den Einzelheiten als in dem Zusammenschluß beob-achten, so benutzen wir, um diesen Vorgang zu beschreiben,das lateinische Verbum c o n c r e s c o. In diesem Sinne könnenwir sagen, daß das Memorabile die Form ist, in der sich füruns allerseits das K o n k r e t e ergibt. Und zwar wird in ihmnicht nur die übergeordnete Tatsächlichkeit, auf die sich diegesonderten Tatsachen sinnreich beziehen, sondern auch allesEinzelne in seiner Beziehung und durch seine Bezogenheit.konkret.

Erinnern wir uns — um bei unserem letzten Memorabilezu bleiben noch einmal an den statt 1 i c h e n Talar, anden g e m e s s e n e n S c h r i t t des Prinzen. Sie dienten dazu,die Tatsache E r m o r d u n g zur Geltung zu bringen, durchsie wurde die Mordtat herausgehoben, einer gesonderten Be-trachtung zugänglich, kurz: konkret. Aber erfüllt, wie siehier von dem Übergeordneten sind, kommen diese einzelnen -an sich, wie wir gesehen haben, nicht wichtigen Tatsachen

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212 IIEXORABTLE

nun selbst zur Geltung. Der Prinz war jeden Tag bekleidet,er bewegte sich immer in einer bestimmten Weise : im Flussedes Geschehens, das wir in ihm erkannten, konnten sich dieseTatsachen nicht bemerkbar machen, haben wir sie nicht beob-achtet. Erst hier, wo das Geschehen gerinnt, erst in dieser Form,wo alle Einzeltatsachen die übergeordnete Tatsächlichkeit er-füllen und von ihr erfüllt werden,sehen wir den Prinzen nichtmehr als Vertreter des Geschehens, des Abfalls der Nieder-lande, sondern wir sehen ihn als Menschen, wir sehen, wie ergekleidet ist und seine Kleider selbst, wie er geht und steht,wir sehen ihn als Persönlichkeit in ganzem Umfange, sehenihn konkret.

Ich muß, was den Talar angeht, noch eines erwähnen : derTalar selbst, sowie die ganze Kleidung, die der Prinz am Tageseiner Ermordung trug, befinden sich in einem Museum imHaag. — in Delft im „Prinzenhof" ist die Stelle noch sichtbar,wo die Kugel, die ihn durchbohrt hatte, die Wand getroffen hat.

Wiederum haben wir hier einen Gegenstand und Gegen-ständliches vor uns, die mit der Macht der Form geladen sind.

Wäre der Prinz von Oranien ein imitabile, seine Geschichteeine Legende, so wären diese Gegenstände Reliquien. So wiewir diese Kleider, das Loch in der Wand erblicken, sind sieuns Mittel, uns Person und Vorgang in stärkster Konkretheitzu vergegenwärtigen sie sind D o k u m e n t e des Geschehensda, wo es zu äußerster Tatsächlichkeit zusammengewachsenist. Die ganze Tätigkeit auch dieser Form kann also in einenGegenstand hineingedeutet werden.

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V.

Wir haben bis jetzt gesonderte Memorabilien besprochen --ich möchte nunmehr noch ein Beispiel geben, das zeigt, wie ineiner sprachlichen Periode sich aus einem Geschehen die FormMemorabile aus eigenem Antriebe ergibt. Dieses Beispiel führtuns zugleich in die Richtung, in der wir das Memorabile zusuchen haben.

Daß ein Teil der Erzählungen, die Grimm in seinenDeutschen Sagen zusammengestellt hat, nicht unserer Ein

-fachen Form S a g e entsprechen, haben wir festgestellt. Unterden Erzählungen, die zu Anfang des 1818 erschienenen zweitenTeiles stehen, erkennen wir eine ganze Anzahl als Memorabilien.Ich greife eine von diesen Erzählungen heraus (Nr. 373,Athaulfs Tod) :

„Den Tod König Athaulfs, der mit seinen WestgóthenSpanien eingenommen hatte, erzählt die Sage verschieden.Nach einigen nämlich soll ihn Wernulf, über dessen lächerlicheGestalt der König gespottet hatte, mit dem Schwert erstochenhaben. Nach andern stand Athaulf im Stalle und betrachteteseine Pferde, als ihn Dobbius, einer seiner Hausleute, er-mordete. Dieser hatte früher bei einem andern von Athaulf ausdem Wege geräumten Gothenkönig in Dienst gestanden, undwar hernach in Athaulfs Hausgesinde aufgenommen worden.

So rächte Dobbius seinen ersten Herrn an dem zweiten."Diese Erzählung enthält zwei Arten der Überlieferung -

zwei Memorabilien, die sich auf dasselbe Geschehen beziehen.Das zweite Memorabile wollen wir unbesprochen lassen; daserste Memorabile gebe ich noch einmal in der Quelle, derGrimm es entnahm: Jordans Getica (ed. Mommsen 1882,XXXI, 163) :

„Confirmato ergo Gothus regno in Gallis Spanorum casucoepit dolere, eosque deliberans a Vandalorum incursibus

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eripere, suas opes Barcilona cum certis fidelibus derelictasplebeque inbelle, interiores Spanias introibit, ubi saepe cumVandalis decertans tertio anno, postquam Gallias Spaniasquedomuisset, occubuit gladio ilia perforata Euervulfi, de cuiussolitus erat ridere statura."

Das Ganze bildet einen Satz oder vielmehr eine Periode.In dem ersten Teile ist das Geschehen im Flusse, die Persön-lichkeit, in der wir das Geschehen beobachten, der Gote Athaulf,ist seinerseits nur im Geschehen sichtbar : er hat mit seinenWestgoten sich in Gallien festgesetzt, greift nun nach Spanienherüber, benutzt Barcelona als militärischen Stützpunkt unddringt, in unaufhörlichen Kämpfen mit den Vandalen, tiefer indas Land hinein. Nun aber wird er ermordet, und in derselbenPeriode tauchen mit einem Male jene einzelnen Tatsachen auf,die mit dem Geschehen, den Westgotenzügen, nicht unmittelbarin Verbindung stehen, aber aus denen die Person und die Er-mordung des Königs heraus- und zusammenwachsen.

Wir sehen, wie Atawulf g e w o h n t w a r, einen Menschenseiner kleinen Gestalt wegen zu verhöhnen; undauch dieser Mensch, der von sich aus nicht in das Gescheheneingreift und doch durch seine Tat das Geschehen beeinflußt,tritt persönlich hervor: es ist Ewerwulf durch das Schwertdieses Ewerwulf ist Atawulf gefallen. Nun wird auch die Artdes Sterbens aus den Einzelheiten konkret : Ewerwuif ist klein,er wird seiner untersetzten Gestalt wegen verlacht, aber dieseKleinheit wird bestimmend für die Art, wie er sich rächt ; erzerspaltet nicht wie im Kampfe Atawulf den Schädel, sonderner stößt ihm unerwartet das Schwert i n den Unter 1 e i b.Das ist Mord, das ist die Art, wie ein Kleiner einen Großenumbringt aber es ist zugleich die Art, wie das Historischesich staffelt und gerinnt, wie es eine Form ergreift, in der alletatsächlichen Einzelheiten, auch wo sie nicht unmittelbar zudem Geschehen in Beziehung stehen, dennoch sinnreich sowohlauf ein Übergeordnetes wie aufeinander bezogen werden, eineForm, die den Sinn des Geschehens trägt und in deren Zu-sammenschluß das Ganze und die Einzelheiten konkret werden.

Wir sagten früher, daß wir ein sehr beträchtliches Stückder Welt des Mittelalters vor uns sehen 'würden, wenn wir in

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MEKORABILE 215

Einzelheiten nachwiesen, wo überall die Geistesbeschäftigungder ¡mitatio dem Leben des mittelalterlichen Menschen ein-gelagert ist. In ähnlicher Weise können wir hier feststellen,daß wir ein beträchtliches Stück der neuzeitlichen Welt voruns haben würden, wenn es uns gelänge nachzuweisen, woüberall die Geistesbeschäftigung mit dem Tatsächlichen demLeben des neuzeitlichen Menschen eingelagert ist. Jedenfallsist der Neuzeit keine Form so geläufig wie das Memorabile:wo iman die Welt als eine Ansammlung oder auch als einSystem von Tatsächlichkeiten erfaßt hat, da ist das Memorabiledas Mittel gewesen, diese ununterschiedliche Welt zu scheiden,zu unterscheiden und konkret werden zu lassen.

Gerade aber, weil diese Form einer Zeit so durchaus ver-traut und geläufig war, ist diese Zeit vielleicht am wenigstengeneigt gewesen, sie als Form anzuerkennen. Wenn sich eineForm an die Spitze der anderen Formen stellt, die Formxa' ¿ox v, die Form schlechthin, wird, so hört man auf, siemit anderen Formen zu vergleichen, sie in die Reihe der anderenFormen aufzunehmen. So schien und scheint es zeitweise un-möglich, Geschehen anders als im Memorabile oder in Memora-bilien zu fassen. Wenn eine Geschichtsphilosophie bereit istzu erklären : „Geschichte wird erst dann, wenn in einer nacheinem Wertgesichtspunkt geordneten Zeitreihe das Geschehnisden Charakter des Ereignisses erhält", so führt sie damit denBegriff Geschichte unmittelbar in die Einfache Form Memorabileüber. Andrerseits hat eine Philosophie, die in allgemeinenBegriffen bequeme Denkmittel, Werkzeuge, Kunstgriffe desGeistes, zweckgemäße Fiktionen sehen will, ihrerseits dieGrenze zum Memorabile überschritten.

Jedenfalls erklärt sich aus dem Überhandnehmen dieserForm die Eigenschaft, die man in der Welt des Tatsächlichenmit dem Memorabile zu verbinden pflegt: indem das Tatsäch-liche konkret wird, wird es g 1 a u b w ü r d i g.

Damit sind wir bei dem Bedeutungsvorgang an-€ekommen, den ich in der Einleitung zur Sage erwähnt habe.Wir haben damals das Wort „Historie" benutzt, von der Weltd e r H i s t o r i e geredet und die Bestimmung dieser Welt aufspäter verschoben. In der Einfachen Form Memorabile liegt

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nun diese Welt vor uns. Der Geistesbeschäftigung, in der dasTatsächliche konkret wird, kommt es auf Glaubwürdigkeit an -aber sie findet Glaubwürdigkeit nur in ihrer eigenen Form, siehält nur das, was die Form Memorabile annimmt, für „be-glaubigt". Wir nannten das die Tyrannei der „Historie"wir können an dieser Stelle der Historie und ihrer Muse Ab

-bitte tun und uns genauer ausdrücken : dort, wo die Geistes-beschäftigung, von der wir reden, vorherrschend, über

-herrschend wird, geschieht in dem Verhältnis zu anderenFormen etwas, was sich vergleichen läßt mit dem, was imMemorabile selbst geschieht es kommt zu einer Art Staffe-lung, und in dieser Staffelung erscheinen Sage, Legende oderMythe nur bezogen auf das, was die GeistesbeschäftigungHistorie zu nennen gewohnt ist, was sie in ihrer Form konkretgemacht hat, was sie von sich aus als glaubwürdig und be-glaubigt erkennt und anerkennt. In der Geistesbeschäftigungmit dem Tatsächlichen und im Sprachgebrauche der FormMemorabile wird also die Form Sage zur „Vorstufe", verliertdas Wort Sage seine Bedeutungskraft und soll das Nicht

-glaubenswürdige oder das Nichtbeglaubigte bezeichnen.Vielleicht müssen wir obwohl wir damit das Gebiet der

Einfachen Form verlassen doch auch noch darauf hinweisen,daß Kunstformen, sofern sie bestrebt sind, aus irgendeinemGrunde ein Ausgedachtes einer Tatsächlichkeit entsprechend,also konkret und glaubwürdig,darzustellen, oft zu den Mittelndes Memorabile greifen. Wir haben schon bei der Kleidungdes Prinzen von Oranien gesehen, wie alle tatsächlichen Einzel

-heiten sinnreich aufeinander und auf das Übergeordnete be-zogen werden. Wir haben gesehen -- und wir werden es jedes

-mal, wenn Geschehen die Form Memorabile annimmt, wiedersehen, wie aus Heiterkeit vor einem Unfall der GegensatzGlück--Unglück, aus Ernst vor dem Unfall die Ahnung desUnheils sich ergibt, aus einem Unfall an einem schönen Sommer-morgen wieder der Gegensatz, aus einem in einer stürmischenWinternacht die Übereinstimmung hervorgehen kann undwie, um es noch einmal zu wiederholen, in und aus allem zu-sammen jedesmal der Unfall konkret wird, wir an ihn glauben,er sich unserem Gedächtnis einprägt. Dort aber, wo nicht Ge-

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schehen im Memorabile zusammenwächst, wo nicht von einemtatsächlichen Unfall die Rede ist, der konkret werden soll,sondern von einem der Einbildungskraft entsprungenen Unfall,da sehen wir, daß dieser Unfall, um glaubwürdig zu sein, inderselben V,Teise dargestellt wird, wie er sich im Memorabileergibt, daß man ihn auch dort umgibt mit ähnlichen Einzel-angaben, die alle in derselben Weise sinnreich auf ihn und auf-einander eingestellt werden. Und das kann so weit gehen, daßwir wie es in der Litteratur der Neuzeit oft der Fall ist -den Unterschied zw Bezogenen Form Memorabile und derKunstform Novelle kaum mehr spüren.

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MÄRCHEN

I.Der Gebrauch des Wortes M ä r c h e n als Bezeichnung

für eine litterarische Form ist eigentümlich beschränkt. DieWorte Sage, Rätsel, Sprichwort sind in mehreren germanischenSprachen zu finden; das Wort M ä r c h e n in dieser Bedeutunggibt es nur im Hochdeutschen; selbst das Niederländische, dassonst in den Bezeichnungen der Formen mit dem Hochdeutschenim allgemeinen gleichläuft, hat hier einen anderen Namen:s p r o o k j e. Das Französische benutzt eine Besonderung vonconte, Erzählung : c o n t e d e s f é e s ; das Englische hatfairy-tale.

M ä r c h e n hat seine Bedeutung als Name für eine be-stimmte litterarische Form eigentlich erst, seitdem die GebrüderGrimm ihre Sammlung Kinder- und Hausmärchennannten. Sie benutzten dabei allerdings ein Wort, das schonlange im Gebrauch gewesen war, auch für solche Erzählungen,wie sie sie sammelten. Man redet bereits im 18. Jahrhundertvon Feenmärchen, von Zauber- und Geister

-märchen, von Märchen und Erzählungen fürKinder und Nichtkinder, von Sagen, Märchenund Anekdoten. Musäus gibt seine Volksmärchend e r D e u t s c h e n heraus, Wieland, Goethe, Tieck, Novalisbenutzen das Wort in einer jedesmal anders schattierenden,aber im wesentlichen doch übereinstimmenden Weise unddennoch sind es die Gebrüder Grimm gewesen, die das vieleVorhergehende durch ihre Sammlung zu einem einheitlichenBegriff zusammengebracht haben, so wie denn ihre Sammlungals solche grundlegend wurde für alle späteren Sammlungendes 19. Jahrhunderts und so wie die eigentliche Märchen-

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forschung bei sehr verschiedener wissenschaftlicher An-schauung immer noch in der Art verfährt, in der die GebrüderGrimm begonnen haben.

Man könnte beinahe sagen, allerdings auf die Gefahr hin,eine Kreisdefinition zu geben : ein Märchen ist eine Erzählungoder eine Geschichte in der Art, wie sie die Gebrüder Grimmin ihren Kinder- und Hausmärchen zusammengestellt haben.Die Grimmschen Märchen sind mit ihrem Erscheinen, nicht nurin Deutschland sondern allerwärts, ein Maßstab bei der Be-urteilung ähnlicher Erscheinungen geworden. Man pflegt einlitterarisches Gebilde dann als Märchen anzuerkennen, wennes — allgemein ausgedrückt — mehr oder weniger über-einstimmt mit dem, was in den Grimmschen Kinder- und Haus-märchen zu finden ist. Und so wollen auch wir, ehe wir denBegriff Märchen von uns aus bestimmen, zunächst allgemeinvon der Gattung Grimm sprechen.

Beim Märchen kommt es also auf die Grundbedeutung desalthochdeutschen mári und des gotischen mêrs, „bekannt,berühmt", nicht mehr an, ebensowenig darauf, daß das Sub-stantiv „Märchen" eine verschlechternde Verkleinerung zu,,Märe", Erzählung, Bericht, Überlieferung ist und demnacheine kleine Erzählung bedeutet oder auch nur ein weiter

-getragenes unbestimmtes Gerücht, bei dem man im Unklarenbleibt, ob es zutrifft. Für uns kommt eine Form in Betracht,die in verschiedenen Sprachen sehr verschiedene Namen trägt,aber deren Wesen allgemeiner Anerkennung gemäß in derGrimmschen Sammlung zum Ausdruck gebracht ist.

Die Kinder- und Hausmärchen erschienen 1812. Siestehen. ohne Fortsetzung zu sein im engsten Zusammen

-hang mit einer anderen Sammlung, die einige Jahre früher er-schienen war, mit Arnims und Brentanos ,,Des Knaben Wunder-horn", das seinerseits den Strömungen des vergangenen Jahr-hunderts folgt, den Lebensströmungen der Romantik, die von„Hunger und Durst nach der lebendigen Kraft und innerenSchönheit heimischen Volkstums" zeugten, die weit überDeutschland hinausgingen, aber bei uns ihre Vertretung, jaVerkörperung in Herder fanden. So wie nun Arnim undBrentano die im Volkstum lebende Lyrik und Musik sammelten,

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machten sich Jacob und Wilhelm Grimm ihrerseits daran, dieVolkserzählung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen nieder-zuschreiben.

Und doch bestand und hier müssen wir die Dioskuren-paare auflösen -- zwischen Achim von Arnim einerseits undJacob Grimm andererseits ein sehr beträchtlicher Gegensatz inder Art, wie sie grundsätzlich von dem, was sie aufzeichneten,von Dichtung überhaupt, dachten. Dieser Gegensatz ist auchfür unsere Formbetrachtung und die Grundlagen unserer Form-bestimmung so wichtig, daß wir auf ihn eingehen müssen. Wirbestimmen von diesem Gegensatz aus, der in der Romantikaktuell war, unsererseits das Verhältnis von Sprache undDichtung, zu dessen Bestimmung jeder Gegensatz in der Art,wie er zwischen Arnim und Grimm vorlag, führen muß. Geradedas Märchen verlangt eine Voruntersuchung, die zu einer grund-legenden Auseinandersetzung über S p r a c h e und D i c h t u n gführt und die Abschluß, aber zugleich Einleitung aller EinfachenFormen bedeutet.

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II.In dem Briefwechsel zwischen Arnim und Jacob Grimm

(Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearbeitetvon Reinhold Steig) spielt um 1811 ein Meinungskampf hinund her, den wir kurz darstellen müssen und der um die Stich-worte Naturpoesie und Kunstpoesie geht. DerGegen-satz dieser Begriffe, jener „Lieblingsunterschied" JacobGrimms, existiert für Arnim nicht. „Nach dieser meiner Über-zeugung", schreibt Arnim (S. 110), „wirst Du es in mir be-greiflich finden, daß ich sowohl in der Poesie wie in derHistorie und im Leben überhaupt alle G e g e n s ä t z e, wie siedie Philosophie unsrer Tage zu schaffen beliebt hat, durchausund allgemein ableugne, also auch kein Gegensatz zwischenVolkspoesie und Meistergesang ..." Demgegenüber stellt JacobGrimm in seiner Antwort fest : „Die Poesie ist das was reinaus dem Gemüth ins Wort kommt, entspringt also immerfortaus natürlichem Trieb und angeborenen Vermögen diesen zufassen, — die Volkspoesie tritt aus dem Gemüth des Ganzenhervor; was ich unter Kunstpoesie meine, aus dem des Ein

-zelnen. Darum nennt die neue Poesie ihre Dichter, die alteweiß keine zu nennen, sie ist durchaus nicht von einem oderzweien oder dreien gemacht worden, sondern eine Summe desGanzen; wie sich das zusammengefügt und aufgebracht hat,bleibt unerklärlich, wie ich schon gesagt habe, aber ist dochnicht geheimnisvoller, wie das, daß sich die Wasser in einenFluß zusammenthun, um nun miteinander zu fließen. Mir istundenkbar, daß es einen Homer oder einen Verfasser derNibelungen gegeben habe" (S. 116).

Ich erwähne beiläufig, daß Jacob Grimm auch Formen,die wir Kunstformen nennen, in die Volks- oder Naturpoesiehineinbezieht. Darauf kommt es jedoch hier nicht an, für unsist die Einstellung der beiden wichtig, wie sie sich aus diesemGegensatz ergibt.

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Aus dieser Einstellung heraus entwickeln sich im Ver-laufe ihrer brieflichen Auseinandersetzung deutlich eine AnzahlBegriffsgegensätze.

Für Jacob Grimm ist Kunstpoesie eine „Z u b e r e i t u n g",Naturpoesie „ein Sichvonselbstmachen" (S. 118), die„neue Dichtung" ist etwas von der „alten Dichtung grund-sätzlich Verschiedenes"; deshalb darf an der „alten Dichtung",wo wir sie finden, auch kein Tüttelchen oder kein Jota ge-ändert werden, deshalb sind alle Umgestaltungen, zu welchemZwecke sie auch vorgenommen werden, vom Übel, deshalb sindÜbersetzungen, auch die Umschreibung in Worten der Neuzeitvöllig wertlos ! Wir haben hier keinen ängstlichen Philologenvor uns, der an seinem Text und den Buchstaben seines Textesklebt, sondern einen überzeugten Denker, der sich weigert,Ungleichartiges zu vermischen.

Demgegenüber Arnim er fühlt sich persönlich etwasgetroffen, denn er weiß, wie in „Des Knaben Wunderhorn"manches Tüttelchen geändert und vieles hinzugefügt wordenist, das keineswegs zur „alten Poesie" gerechnet werden kann.Aber auch er ist seiner Sache sicher : Volksdichtung im SinneGrimms gibt es nicht, es gibt nur D i c h t e r ; „je weniger einVolk erlebt hat, desto gleichförmiger ist es in Gesichtszügenund Gedanken; jeder Dichter, der als solcher anerkannt wird,ist ein Volksdichter . . ." (S. 134). Verfassernamen werdenvergessen, gehen verloren. Selbstverständlich ist es Aufgabedes Dichters, aus dem Volke heraus zu dichten oder das, waser dichtet, dem Volke nahe zu bringen: (S. 135) „Ich würde esals einen Segen des Herren achten, wenn ich gewürdigt würde.ein Lied durch meinen Kopf in die Welt zu führen, das einVolk ergriffe, aber da , bleibt auch ihm anheimgestellt, ich binmit meiner Lebensthátigkeit zufrieden, wenn auch nur wenigeMenschen in meinen Arbeiten etwas gefunden, was auch siegeahndet, gesucht haben, ohne es aussprechen zu können ..."

Dem setzt sich Grimm entgegen und antwortet umgehend:„Glaubst Du mit mir, daß die Religion von einer göttlichenOffenbarung ausgegangen ist, daß die Sprache einen ebensowundervollen Ursprung hat und nicht durch Menschenerfindungzuwege gebracht worden ist, so mußt Du schon darum glauben

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und fühlen, daß die alte Poesie und ihre Formen, die Quelledes Reims und der Alliteration ebenso in einem Ganzen aus

-gegangen ist, und gar keine Werkstätten oder Überlegungeneinzelner Dichter in Betracht kommen können" (S. 139).

Ich erinnere daran, daß Seiler in seiner Sprichwörter-kunde von einer „romantisierenden Ansicht" spricht, nach derVolkslied, Volksmärchen usw. ihren „geheimnisvollen Ursprungin den Tiefen der Volksseele" haben sollen. Dieser Brief-wechsel zeigt, wie auch die andere Ansicht, die den Dichter alsschöpferische Kraft hinstellt, als romantisierend hätte bezeichnetwerden können soweit ihr Vertreter der unverdächtigeRomantiker Arnim ist. „Kunstpoesie" und „Naturpoesie" undalles, was sich aus ihnen ergibt, sind romantisch gefaßte Be-griffe des Gegensatzes, der hier vorliegt und der Tieferliegendesbedeutet.

Eine Weile ruhte der Federstreit. Arnim besuchte mit seinesjungen Frau Bettina 1811 die Brüder Grimm in Kassel. Dortbekam er die neue Sammlung zu sehen und war begeistert.Er berichtete darüber an Brentano, er drängte auf möglichstschnelle Veröffentlichung, er übernahm später in Berlin dieVerhandlungen mit dem Verleger. Als Wilhelm Grimm nachArnims Tode Bettina die Kinder- und Hausmärchen widmete,schrieb er: „Er war es, der uns ... zur Herausgabe angetriebenhatte ... Von unsern Sammlungen gefielen ihm dieseMärchen am besten ..."

Indessen die Gegensätze waren nicht überbrückt. 1812beginnt, ausgehend von den Märchen, von neuem der Streitüber die alte und neue Dichtkunst. Jacob Grimm ist erfreut,(laß Arnim die Kinder- und Hausmärchen besser gefallen alsdie Märchenbearbeitungen von Brentano: „Daß Dir ClemensVerarbeitung nicht recht ist, freut mich sehr und ich bedauerenur seinen darauf verwendeten Fleiß und Geist; er mag dasalles stellen und zieren, so wird unsere einfache, treu ge

-sammelte Erzählung die seine jedesmal gewißlich beschämen"(S. 219). Nun läßt er sich aber zu einem Angriff verführen:,,Meine Ehrfurcht vor dem Epischen, das ich für unerfindlichhalte, steigt täglich höher, und ich könnte vielleicht einseitigwerden, und nichts anderes mehr mögen: das ist die gute reine

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Unschuld, und steht s o ganz von selbst da ; ihr neuenDichter könnt mit aller Gewalt keine neue Farbe aufbringen,sondern sie blos untereinander mischen, ja ihr könnt sie nichteinmal ganz rein auftragen ..."

Das läßt sich Arnim nicht gefallen; er wirft in seiner Ant-wort Jacob Grimm vor, daß er die neuen Dichter nicht k e n n e.Nicht in dem Sinne, daß er sie nicht gelesen hätte, sondern indem, daß er sie nicht verstehe. Dann nimmt er, obwohl erdessen Fehler sehr gut kennt, Clemens Brentano in Schutz.Brentanos Märchen sind nicht „etwas, das im Kinderkreisegelebt ohne weitere Verdauung unmittelbar zu den Kindernübergehen kann, sondern ein Buch, das in den Altern die Artder Erfindsamkeit anregt, die jede Mutter, die recht gebildetenetwa ausgenommen, im Nothfalle zeigt, ihren Kindern irgendeinen Umstand, dessen Reiz sich ihnen entdeckt hat, in einerlängeren Erzählung zu einer dauernden Unterhaltung zumachen" (S. 223). In dieser Anregung zur E r f i n d s a m -k e i t liegt für Arnim die Bedeutung des Märchens. Wenn esuns nicht anregt, uns nicht zeigt, wie wir erzählen müssen, ver-liert das alte Märchen seinen Wert und seinen Reiz. Ganz scharfwird betont: „Fixierte Märchen würden endlichder Tod der gesammten Märchenwelt sein"(S. 223). Der Wert des Alten bestehe überhaupt darin, daß esdas Neue anregt und weiterführt „die Poesie ist weder jungnoch alt und hat überhaupt keine Geschichte, wir können nuretwa von ihren Äußerlichkeiten gewisse Folgen von Beziehungenangeben" (S. 225). So arbeitet der neue Dichter zeitlos fort andem, was der alte gedichtet hat. Erst hier kommt Arnims Stand-punkt vollkommen klar heraus, jener Standpunkt, von dem auser auch „Des Knaben Wunderhorn" zusammenstellte. Das Neueist da, es ist das Wesentliche, es soll mit allen Mitteln angeregt,weiter vervollkommnet werden auch durch die Tradition,auch durch das Alte, das Volkstümliche. Nicht um seiner selbstwillen wird Altes gesammelt, sondern nur eben zu diesemZweck.

Daß Grimm nun seinerseits sich getroffen fühlt, ist sehrverständlich. Er faßt Arnims Meinung in seinen Worten zu-sammen und sagt: „Eine Geschichte der Poesie gebe es also

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nicht, Unterschied zwischen Natur- und Kunstpoesie sei einSpaß ... Damit greifst Du mir in mein Liebstes ... all meineArbeit, das fühle ich, beruht darauf, zu lernen uhd zu zeigen,wie eine große, epische Poesie über die Erde hin gelebt undgewaltet hat, nach und nach von den Menschen vergessen undverthan worden ist, oder nicht einmal ganz so, sondern wiesie immer noch davon zehren" (S. 234). Und nun folgt dasGrimmsche poetische Glaubensbekenntnis in sechs Absätzen,das mit den Worten : „ich glaube" im tiefsten Ernst anfängtund dessen erster Satz lautet : „Wie das Paradies verlorenwurde, so ist auch der Garten alter Poesie verschlossenworden, wiewohl jeder noch ein kleines Paradies trägt inseinem Herzen ..." (S. 235).

Ich wiederhole : dieser Streit ist identisch mit unserereigenen begrifflichen Scheidung; die Frage, die vor mehr alseinem Jahrhundert die beiden Romantiker Arnim und JacobGrimm beschäftigt hat, ist auch für unsre Zeit von höchsterWichtigkeit, es ist die Frage nach D i c h t u n g und Sprache.Was ich mit diesen Formbestimmungen beabsichtige, ist derVersuch, eine neue Fassung dieser beiden Gegensätze zufinden, durch eine Morphologie die Begriffe, die damalsNaturpoesie und Kunstpoesie hießen und die sichfür uns als Einfache Formen und Kunstf ormen dar-stellen, zu bestimmen und damit das Problem seiner Lösungnäherzubringen.

Es kommt nun in dem Briefwechsel zu einer eigentüm-lichen Feststellung, die uns auf das Märchen zurückbringt.Arnim erwidert — er bleibt bei seinem Dichter, ja, er drehtgewissermaßen den Spieß um —: was die Gebrüder Grimm beiihrem Märchensammeln getan haben, ist Dichterarbeit : „DenGelehrten wird das Letzte, was er geschichtlich erreichenkann, nur befriedigen : der eigentliche Zuhörer des Dichters,der ungelehrte Zeitgenosse, versteht nur allein diese Vergegen-wärtigung eines Allgemeinen. Ich möchte Dich nicht ver

-wunde(r)n mit einer Behauptung und doch kann ich sie nichtvermeiden: ich glaube es Euch nimmermehr, selbst wenn Ihres glaubt, daß die Kiridermärchen von Euch s o aufgeschriebensind, wie Ihr sie empfangen habt, der bildende f o r t schaffende

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Trieb ist im Menschen gegen alle Vorsätze siegend undschlechterdings unaustilgbar. Gott schafft und der Mensch,sein Ebenbild, arbeitet an der Fortsetzung seines Werks. DerFaden wird nie abgeschnitten, aber es kommt nothwendigimmer eine andre Sorte Flachs zum Vorschein ..." (S.248).

Und damit hatte Arnim getroffen, denn Jacob Grimm warein viel zu ernster Philologe und ein zu aufrichtiger Mensch,um nicht einzusehen, daß darin etwas Wahres steckte, wennes auch letzten Endes weder seine eigentliche Absicht nochseine tiefste Anschauung berührte. Er antwortet es ist dasletzte Zitat, das ich aus diesem Briefwechsel geben möchte •„Wir kommen hier auf die Treue. Eine mathematische istvollends unmöglich und selbst in der wahrsten, strengsten Ge-schichte nicht vorhanden; allein das thut nichts, denn daßTreue etwas wahres ist, kein Schein, das fühlen wir und.darum steht ihr auch eine Untreue wirklich entgegen. Dukannst nichts vollkommen angemessen erzählen, so wenig Duein Ei ausschlagen kannst, ohne daß nicht Eierweiß an denSchalen kleben bliebe ; das ist die Folge alles menschlichen unddie Facon, die immer anders wird. Die rechte Treue wäre mirnach diesem Bild, daß ich den Dotter nicht zerbräche. Be-zweifelst Du die Treue unseres Märchenbuches, so darfst Dudie letztere nicht bezweifeln, denn sie ist da. Was jene unmög-liche angeht, so würde ein anderer und wir selbst großentheilsmit andern Worten nochmals erzählt haben und doch nichtminder treu, in der Sache ist durchaus nichts zugesetzt oderanders gewendet" (S.255).

Wir halten fest und betonen, daß Jacob Grimm im Märcheneine „Sache" erkannt hat, die vollkommen sie selbst bleibenkann, auch wenn sie von anderen mit anderen Worten erzähltwird. Ehe wir nun von uns aus diese „Sache" als EinfacheForm Märchen fassen und die Geistesbeschäftigung bestimmen,die ihr zugrunde liegt, wollen wir Umschau halten, wo die,,Gattung Grimm" sonst noch in der Welt des Abendlandes zufinden ist.

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III.

Ich habe es an anderer Stelle unternommen, die Ge-schichte des Märchens in der abendländischen Litteratur in

ihrer Gesamtheit darzustellen; hier wo es um die Form geht,können wir uns mit einem Auszug begnügen. Wo bei anderenEinfachen Formen von einer Geschichte noch nicht die Redesein kann, da besitzen wir für das Märchen genügend Daten,um wenigstens einen Teil seiner Geschichte beobachten zukönnen. Der tiefere Grund dieser Geschichte aber liegt in demZusammengehen von Einfacher Form Märchen und Kunstform.Das wird uns diesmal von einer anderen Seite her wieder zuunserem Gegensatz Sprache Dichtung, Einfache Form --Kunstform führen.

Seit dem 14. Jahrhundert setzt in Europa eine Form derKurzerzählung in Prosa ein, die wir gewohnt sind KunstformN o v e 11 e zu nennen. Ausgangspunkt dieser Form scheintToscana zu sein, jedenfalls ist die Weise, wie sie zuerst imDekamerone des Boccaccio auftritt, für die Geschichte derNovelle maßgebend. Wir haben sie deshalb die t o s c a n i s c h eN o v e 11 e genannt. Sie wird in der jeweiligen Landessprachegeschrieben in bezug auf die wenigen lateinischen Beispielekönnen wir mit gutem Gewissen behaupten, daß Latein die.Landessprache der Humanisten bedeutet.

Alsbald ergeben sich zwei Abarten der Novelle. Wirfinden sie als Novellen - Sammlung und als vereinzelte No-velle. Als Novellensammlung hat sie meistens die Form desgroßen Vorgängers, des Dekamerone : die einzelnen Erzählungenwerden durch einen Rahmen zusammengehalten, der außervielem anderen auch zum Ausdruck bringt, wo, bei welcher Ge-legenheit und von wem diese Novellen erzählt worden sind.Daß diese Form der Rahmenerzählung älter ist als die tos-canische Novelle, brauche ich nicht zu erwähnen.

Von Toscana aus verbreitet sich nun die Rahmenerzählungwie die Einzelerzählung über alle Länder des litterarischenAbendlandes; sie erfahren gewisse Abänderungen, sie münden

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hier und da in andere Kunstformen, sie sind aber als solcheimmer deutlich zu erkennen. Ohne auf alle Einzelheiten ein-zugehen, möchte ich hier im allgemeinen sagen, das die tos

-canische Novelle versucht, eine Begebenheit oder ein Ereignisvon eindringlicher Bedeutung in einer Weise zu erzählen, dieuns den Eindruck eines tatsächlichen Geschehens gibt undzwar so, daß uns dieses Ereignis selbst wichtiger erscheint alsdie Personen, die es erleben.

Innerhalb des Stromes der toscanischen Novelle findenwir schon im 16. Jahrhundert etwas anderes. Es ist notwendigzu betonen, daß dieses Andere sich in der Gesamtform eng andas erste Beispiel der toscanischen Novelle, an das Dekameronedes Boccaccio, anschließt. Giovanni Francesco Straparola ver

-öffentlicht 1550 in Venedig eine Rahmenerzählung -- Piacevolinotti — die sich in Hinsicht auf den Rahmen durchaus an dasVorbild hält. Auch hier finden wir Damen und Herren, die be-sondere Umstände zusammengeführt haben und die sich mit -

Erzählen die Zeit im sehr buchstäblichen Sinne vertreiben. DerUnterschied zu der toscanischen Rahmenerzählung bestehtdarin, daß ein Teil der Erzählungen keine Novellen sind indem soeben umschriebenen Sinne, sondern Erzählungen, wiewir sie aus Grimms Sammlung kennen, Erzählungen die keines-wegs den Eindruck eines tatsächlichen Geschehens machen.Wir finden hier sogar eine Anzahl Stoffe, die wir in denKinder- und Hausmärchen oder anderen Sammlungen spätererZeit wieder antreffen, wie : Der gestiefelte Kater, die dank-baren Tiere, Der Meisterdieb usw.

Diese Erscheinung bleibt vereinzelt die Novelle ver-folgt ihren Weg. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts wiederholtsich aber dasselbe noch einmal. 1634/36 erscheint eine nach

-gelassene Rahmenerzählung in neapolitanischem Dialekt vonGiambattista Basile Cunto de li Gunti, später unter demNamen Pentamerone bekannt. Wiederum schließt sich derVerfasser eng dem Dekamerone an. Ein Unterschied ist nur, r,

daß auch der Rahmen nicht den Eindruck eines tatsächlichenGeschehens macht, sondern der Grimmschen Gattung an-gehört, und daß hier sämtliche Einzelerzählungen gleichfallszu dieser Gattung gerechnet werden müssen. Es hat den An-

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schein, als ob der Verfasser, der in seinem Rahmen Boccaccioparodiert, aber dabei bestrebt ist, möglichst viele Ausdrückeaus dem Volksmunde aufzuzeichnen und Volksgebräuche zu be-schreiben, absichtlich diese Art der Erzählung der veraltetentoseanischen Novelle gegenüberstellt und so kann man beiMärchenforschern des 19. Jahrhunderts lesen, daß Basile dererste Märchensammler gewesen sei. Wir können hinzufügen,daß sich auch bei ihm Erzählungen finden, wie : Aschenbrödel,Die sieben Raben, Dornröschen, die uns aus den Kinder- undHausmärchen bekannt sind.

Für die Gebrüder Grimm beginnen, wie im dritten Bandder Kinder- und Hausmärchen gesagt wird, die „eigentlichenMärchensammlungen" in Frankreich zu Ende des 17. Jahr-hunderts mit Charles Perrault. Wir überschlagen also Lafon-taine, der in seiner Histoire de Psyché etwas aus dem Alter-tum in einer neuen Gestalt gegeben hatte, das mit den Er-zählungen der Kinder- und Hausmärchen vergleichbar ist, undkommen zu Perraults Contes de ma mère 1'Oie. Ehe dieseProsaerzählungen erschienen waren, hatte Perrault zwischen1691 und 1694 drei Verserzählungen geschrieben : Griselidis,Peau d'áne und Les trois souhaits ridicules. In der äußerenGestalt schlossen sich diese Verserzählungen an die berüch-tigten Contes von Lafontaine an. Während aber LafontainesContes Umdichtungen von Novellen zum größten Teil aus dertoscanischen Schule waren, finden wir in der „Eselshaut" nunwieder jene Grimmsche Gattung. Danach erscheinen 1697 dieErzählungen von Mutter Gans mit dem Haupttitel Histoiresou Contes du temps passé avec des Moralités. Eigentlich istdas Büchlein keine Rahmenerzählung mehr, aber etwas voneinem alten Rahmen schimmert noch durch : Perrault stellt esso dar, als ob die Erzählungen von einer alten Amme seinemSohne erzählt worden wären und er selbst sie wieder vonseinem Sohne gehört hätte. Jedenfalls gehören die Contes dutemps passé zu den Erzählungen der Kinder- und Hausmärchen,und wir finden auch dort wieder Geschichten wie Rotkäppchen,Dornröschen, Frau Holle.

Sehr bald nach dem Erscheinen von Perraults Contesplatzt nun ein Gewitter von ähnlichen Erzählungen über Frank-

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reich und Europa los. Man kann ruhig sagen, daß zu Anfangdes 18. Jahrhunderts die Litteratur von dieser Gattung be-herrscht wird : sie ersetzt einerseits die Großerzählung des17. Jahrhunderts, den Roman, andrerseits alles, was noch vonder toscanischen Novelle übrig war. Die Zahl dieser Erzählungenist kaum abzuschätzen. Dazu kommt 1704 bis 1708 nun auchdie orientalische Erzählungdurch die erste Übersetzung derTausendundeinen Nacht von Galland, und so ist die ganzeLitteratur des 18. Jahrhunderts mit Erzählungen dieser Artdurchsetzt. Man braucht nur Wielands Werke daraufhin nach

-zuschlagen, um sich ein Bild zu machen, wie bedeutend undvielseitig die Gattung wirkte.

Und gerade Wieland gibt uns in den vielen Äußerungen,die wir von ihm über diese Gattung besitzen, ein deutlichesBild von der Art, wie das 18. Jahrhundert sie auffaßte : dasMärchen auch er benutzt das Wort ist eine Kunst-form und zwar eine Kunstform, in der sich zwei entgegen-gesetzte Neigungen der menschlichen Natur, die Neigung zumWunderbaren und die Liebe zum Wahren und Natürlichen,vereinigen und als solche gemeinsam befriedigt werden können.Da nun sowohl die Neigung zum Wunderbaren wie auch dieLiebe zum Wahren der Menschheit von Anbeginn eingeborensind, gibt es überall Märchen, gibt es sehr alte Märchen.Aber alles ' kommt in dieser Kunstform darauf an, diese beidenin ein richtiges Verhältnis zueinander zu bringen ; fehlt dieses,so verliert das Märchen seinen Reiz und seinen Wert unddieses Verhältnis herzustellen, ist Sache des Geschmacks,Sache des Künstlers. Wieland drückt sich scharf aus : ,,Pro-ducte dieser Art müssen Werke des Geschmackes sein, odersie sind nichts. Ammenmärchen, im Ammenton erzählt, mögensich durch mündliche Überlieferung fortpflanzen, aber gedrucktmüssen sie nicht werden."

Wir könnten nun noch bis in die Romantik gehen. Daß fürNovalis diese GattungAnderes, Höheres bedeutet als für Wieland,brauche ich nicht zu erwähnen; aber so verschieden ihre Ansichtist und so sehr Dichtung und Dichter bei Novalis einen tieferenSinn bekommen: Märchen ist auch für ihn eine Kunstform und„der echte Märchendichter ist ein Seher in die Zukunft".

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Iv.

"r uns spitzt sich nun nach diesem kurzen Überblick dieFrage zu : ist das Märchen eine Einfache Form?

Wir besitzen auf der einen Seite eine Form, von der wirgesagt haben, daß sie bestrebt ist, eine Begebenheit oder einEreignis von eindringlicher Bedeutung zu erzählen in einerWeise, daß sie uns den Eindruck eines tatsächlichen Ge

-schehens gibt, und zwar so, daß uns das Ereignis selbst wich-tiger erscheint als die Personen, die es erleben.

Wir sehen, wie sich dem in einem litterarischen Geschichts-ablauf erst schüchtern, aber dann immer bestimmter eineandere Form gegenüberstellt. Diesezweite Form hat, obwohlsie sich zunächst in Äußerlichkeiten der ersten anschließt,doch von vornherein eine andere Tendenz. Sie ist, wenn wiruns zunächst negativ ausdrücken, erstens nicht mehr bestrebt,ein Ereignis von eindringlicher Bedeutung zu geben, denn siegibt von Ereignis zu Ereignis springend ein ganzes Geschehen,das sich erst zuletzt in einer bestimmten Weise zusammen-schließt ; und sie ist zweitens nicht mehr bestrebt, dieses Ge-schehen so darzustellen, daß es uns den Eindruck eines tat-sächlichen Geschehens macht, sondern sie arbeitet unausgesetztmit dem Wunderbaren.

Wir nennen die erste Form N o v e 11 e und rechnen siezu den Kunstformen; wir nennen die zweite M ä r c h e n undbehaupten von ihr, daß sie eine Einfache Form ist. Oder umdie Terminologie Jacob Grimms noch einmal zu benutzen: wirsagen von der ersten Form, daß sie Kunstpoesie und „eine Zu-bereitung", von der zweiten, daß sie Naturpoesie und „einSichvonselbstmachen" ist.

Daß aus der Art, wie die beiden Formen in der litterar-historischen Situation des Abendlandes seit dem 16. Jahr-hundert vor uns liegen, dieser Unterschied nicht festzustellen

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ist, ist klar. Sowohl die Novelle wie das Märchen sind mit Ver-fassernamen verbunden, die Novelle mit Namen wie Boccaccio,Sacchetti, Bandello, das Märchen mit Namen wie Straparola,Basile, Perrault, Madame d'Aulnoy, Wieland.

Ebensowenig dürfen wir sagen, der Unterschied beruhedarauf, daß die Märchen nachgewiesenermaßen im Volke imUmlauf wären und erst aus dem Volksmunde in die Litteraturübergingen, während die Novellen von ihren Verfassern freierdacht wären. Wir wissen, daß, um bei Boccaccio zu bleiben,mindestens neunzig von seinen hundert Novellen schon inanderen litterarischen Werken niedergeschrieben waren; wirwissen darüber hinaus, daß er diese wieder zum größten Teilnicht in jenen indischen, arabischen, lateinischen Quellen ge-lesen hatte, sondern daß sie ihm mündlich zugetragen wordenWaren, daß er sie vom „Hörensagen" kannte.

Wollen wir dennoch nicht mit Wieland annehmen, daß so-wohl die eine wie die andere eine litterarische Kunstform seiund daß in der Novelle bloß eine menschliche Neigung, diezum Natürlichen und Wahren zum Ausdruck komme, währendsich im Märchen zwei menschliche Neigungen, die zum Natür-lichen und Wahren und die zum Wunderbaren entsprechendmischen sondern wollen wir bei unserer Behauptung bleiben,daß hier ein grundsätzlicher Formunterschied vorliegt, so mußsich dieser Unterschied aus der Form selbst, unabhängig vonder litterarhistorischen Situation, nachweisen lassen.

Überschauen wir das Gebiet der Novelle, so sehen wireine unendliche Verschiedenheit von Begebenheiten ver

-schiedenster Art; was sie zusammenhält, ist die Weise, inder sie dargestellt sind. Wir sehen weiter, wie andere Be-gebenheiten, wofern sie den Anforderungen entsprechen, einegewisse Eindringlichkeit besitzen, immer wieder in dieserWeise dargestellt werden können, um in dieser Weise Novellezu werden. Boccaccio entnahm Begebenheiten und Ereignissedieser Art einer litterarischen Überlieferung -wir wissen aber,daß es ebensogut möglich ist, frei zu wählen: unsere Formder Novelle an einen Teil der Welt heranzubringen, und daßsich, sooft wir das tun, jedesmal dieser Teil als Novelle dar-stellt. Noch weiter: wir wissen, daß unsere Wahlfreiheit so

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groß ist, daß wir vermöge unsrer Einbildungskraft ein littera-risches Gebilde herstellen können, das freistehend diesen Teilder Welt in dieser Form selbständig vertritt.

Überschauen wir das Gebiet des Märchens, so erkennenwir auch hier eine Fülle von Begebenheiten verschiedener Art,die wiederum von einer bestimmten Darstellungsweise zu-sammengehalten zu werden scheinen. Versuchen wir nun aber,diese Form in derselben Weise an die Welt heranzubringen,so spüren wir sofort, daß das unmöglich ist nicht weil imMärchen die Begebenheiten wunderbar sein müssen, währendsie es in der Welt nicht sind, sondern weil Begebenheiten, sowie wir sie im Märchen finden, überhaupt nur im Märchenselbst denkbar sind. Kurz gesagt : wir können wohl die Weltan das Märchen heranbringen, aber nicht das Märchen andie Welt.

Betrachten wir die Tätigkeit der Novelle, so sehen wir,wie sie gestaltend in die Welt eingreift, einen Teil dieser Weltfestlegt, ihn bindet in einer Weise, daß nun durch diese Formdieser Teil endgültig und schlechterdings vertreten wird.

Reden wir von der Tätigkeit des Märchens, so sehen wir,daß es an erster Stelle sich selbst gestaltet und nun bereit ist,in dieser Gestalt die Welt in sich aufzunehmen.

Wir können das so zusammenfassen: Sowohl Novelle wieMärchen ist Form — die formende Gesetzlichkeit der Novelleist jedoch so, daß wir durch sie sämtliche Ereignisse, über-lieferte, tatsächliche oder erfundene, sofern sie das gemeinsameKennzeichen der Eindringlichkeit besitzen, bündig gestaltenkönnen; die formende Gesetzlichkeit des Märchens dagegenist so, daß, wo immer wir es in die Welt hineinsetzen, dieWelt sich nach dem nur in dieser Form obwaltendenund nur für diese Form bestimmenden Prinzipumwandelt.

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Was wir hier aber für Märchen und Novelle sagen, läßtsich verallgemeinern : es ist der Unterschied zwischen Ein-facher Form und Kunstform überhaupt. Es ist auch der Unter-schied, den Jacob Grimm meinte. Wo wir mit einer Form andie Welt herangehen, gestaltend in sie hineingreifen, einenTeil von ihr, der durch ein gemeinsames Kennzeichen zusammen

-gehörig erscheint, bündig machen, da redet er von Z u -b e r e i t e n ; wo wir dagegen die Welt in eine Form eingehenlassen, die sich nach einem nur in dieser Form obwaltenden undfür diese Form bestimmenden Prinzip gebildet hat, und wo sichdie Welt nun gemäß dieser Form umwandelt, da nennt eres ein Siehvonselbstmachen. Wir erkennen mit ihmden grundsätzlichen Unterschied der formenden Gesetzlich-keiten an andrer Meinung sind wir darin, daß wir nicht zu-geben, daß die eine Form einer Vergangenheit, die andereeiner Gegenwart angehören sollte. Wäre das der Fall, sokönnte man die eine beobachten, die andre jedoch nur sammeln.Grimm hat auch diese Konsequenz gezogen. Unserer Meinungnach sind sie beide unentwegt und allseitig wirksam, und esgehört zu den ersten Aufgaben der Litteraturwissenschaft, siein ihrer Unterschiedlichkeit, aber auch in ihren Beziehungenzu beobachten.

Wenn wir nun noch einen Augenblick über die Richtungenreden, in denen sich Novelle und Märchen bewegen, so stellenwir folgendes fest: der Novelle, die einen Teil der Welt. ab-schließt, kommt es darauf an, alles in diesem bündigen Ab-schluß fest, besonders, einmalig zu gestalten; in demMärchen dagegen, das sich der Welt offen gegenüberstellt unddie Welt in sich aufnimmt, behält die Welt auch in ihrer Um-wandlung ihre Beweglichkeit, ihre Allgemeinheitund das, was ich ihre J e d e s m a ii g k e it nennen möchte.

Wiederum dürfen wir sagen, daß dieser Satz nicht nurfür Novelle und Märchen, sondern für Kunstform und Einfache

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Form überhaupt gilt, und können dabei an das erinnern, waswir über das Verhältnis von Kasus und Kunstform gesagt haben.

Sehen wir uns zunächst die S p r a c h e an, so kann mansagen, daß in der Kunstform die Sprache so sehr bestrebt ist,fest, besonders, einmalig zu sein, daß wir sie uns letzten Endesnur als die Sprache eines Einzelnen vorstellen können, einesEinzelnen, der durch eine ausgesprochene Begabung in derLage ist, in einem endgültigen Abschluß die höchste Bündig-keit nur hier und nur so zu erreichen, und der diesem Abschlußobendrein die feste, besondere, einmalige Prägung seiner Per-sönlichkeit verleiht. Wir drücken das so aus, daß die Kunst-form sich endgültig letzthin nur durch einen D i c h t e r ver-wirklichen kann wobei selbstverständlich Dichter nicht alsschöpferische, sondern als vollziehende Kraft gemeint ist.

Dagegen bleibt auch in der Einfachen Form die Sprachebeweglich, allgemein, jedesmalig. Wir pflegen zu sagen, daßman ein Märchen, eine Sage, eine Legende „mit seinen eigenenWorten" wiedererzählen kann. Daß diesen „eigenen Worten"unter Umständen äußerst enge Grenzen gezogen sind, habenwir bei Spruch und Sprichwort und auch im Rätsel gesehen.Auch bei Legende, Sage und Märchen ist es doch wohl so,daß, wenn wir das, was wir S p r a c h g e b ä r d e genannthaben, abänderten oder wegließen, die Form jedesmal ihreGültigkeit verlieren würde. Und 'dennoch liegt in dem Er-zählen mit eigenen Worten insoweit etwas Wahres, als esjedenfalls nicht die Worte eines Einzelnen sind, in denen sichdie Einfache Form verwirklicht, als nicht als letzte voll-ziehende Kraft ein Einzelner die Form einmalig zur Verwirk

-lichung bringt und ihr obendrein seine persönliche Prägungverleiht, sondern, daß die vollziehende Kraft hier die Spracheist, in der sich die Form jedesmalig verwirklichen lassen kann.Sowohl bei der Kunstform wie bei der Einfachen Form könnenwir von „eigenen Worten" reden, bei der Kunstform jedochmeinen wir die eigenen Worte des Dichters, indenen sich die Form einmal endgültig vollzieht, bei der Ein-fachen Form die eigenen Worte der Form selbst,in der sie sich jedesmal von neuem in derselben Weise voll-ziehen kann.

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Was wir hier an der Sprache gezeigt haben, läßt sich aufalles, was wir in den beiden Formen finden, ausdehnen, aufPersonen, auf Örtlichkeit, auf Begebenheiten. Wir wollen dashier nicht im einzelnen ausführen, es genügt, wenn wir sagen,daß sie in der Einfachen Form den Charakter des Beweg

-lichen, Allgemeinen, Jedesmaligen bewahren man stelleeine Prinzessin im Märchen neben eine Prinzessin in der No-velle und man spürt den Unterschied.

Wir haben öfters das Wort Vergegenwärtigung benutztauch dieser Begriff läßt sich auf beide Formen anwenden.Denn es ist durchaus denkbar, daß derselbe Teil der Welt voneinem anderen Dichter in einer Kunstform zum Abschluß ge-bracht wird. Aber wir sehen dann wieder, daß auch in diesemAbschluß das Bestreben liegt, fest, besonders, einmalig zu sein,daß dahingegen die Vergegenwärtigung einer Einfachen Formimmer wieder auf das Bewegliche, Allgemeine, Jedesmaligeder Form selbst zurückweist.

Mit diesem letzten sind wir nun aber auf die litterar-historische Situation zurückgekommen, die durch das Er-scheinen des Märchens in der abendländischen Litteratur ent

-standen war und die wir so umschreiben können : eine sichseit Jahrhunderten mit Kunstformen beschäftigende Zunft vonDichtern und Schriftstellern glaubt eine Einfache Form in der-selben Weise vergegenwärtigen zu müssen und zu können, wiesie ihre Kunstformen vergegenwärtigt ; eine Reihe von Novel-listen versucht das Märchen wie eine Novelle zu behandeln, esin derselben Weise zum Abschluß zu bringen, es fest, besonders,einmalig zu gestalten, es persönlich zu prägen. Was im all-gemeinen geschehen kann, und was jeweilig geschieht, wenneine bestimmte Einfache Form und eine Kunstform in der Litte-ratur zusammenkommen, kurz, was sich aus solchen Kreuzungenergeben kann, dies festzustellen ist eine Untersuchung von größterlitterarwissenschaftlicher Bedeutung, auf die wir hier nicht ein-gehen können. An dieser Stelle können wir nur sagen, daß sichin diesem Falle die Einfache Form gegen das Zusammengehensträubt, daß sie einer Ummodelung in diesem Sinne wider=strebt, daß sie sie selbst bleibt. Sie sträubt sich so sehr, siebleibt sich so gleich, daß trotz der zahllosen Umbildungen und

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Verschiebungen die Einsichtigen, die mit Sprach- und Form-gefühl begabten Männer wie Herder oder Grimm das Hybri-dische, das Unzusammengehörige in der Mischung entdecken,die Einfache Form als solche erfassen und nun zu Trennungenkommen, wie sie uns in „Stimmen der Völker", „Natur- undKunstpoesie" vorliegen.

Damit sind wir wieder bei dem letzten Teil des Feder-streites zwischen Jacob Grimm und Arnim angekommen. Jedes-mal wenn sich eine Einfache Form vergegenwärtigt, tut sieeinen Schritt in eine Richtung, die zu einer Verendgültigung,wie wir sie in der Kunstform schließlich besitzen, führen kann,betritt sie den Weg zur Festigkeit, Besonderheit, Einmaligkeitund büßt dabei etwas von ihrer Beweglichkeit, Allgemeinheit,Jedesmaligkeit ein. Wir haben das, als wir das Verhältnis vonLegende zu Vita, von Sage zu Saga, von Mythe zu Mythus be-sprachen, schon gesehen. Hier setzt der Vorwurf, den ArnimJacob Grimm macht, an, indem er sagt „ich glaube es Euchnimmermehr ... daß die Kindermärchen von Euch s o auf

-geschrieben sind, wie Ihr sie empfangen habt". In unsererAusdrucksweise würde das heißen: jede Vergegenwärtigunglenkt von dem, was die Einfache Form zu geben bestrebt ist,ab. Darauf antwortet Grimm : „Wir kommen hier auf dieTreue" und er benutzt das Bild des ausgeschlagenen Eies;dieses würde in unsere Terminologie umgesetzt heißen : umdie Vergegenwärtigung kommen wir nicht herum, aber dieseVergegenwärtigung muß so sein, daß sie möglichst unmittelbarauf die Einfache Form als solche zurückweist, möglichst wenigauf die Festigkeit, Besonderheit und Einmaligkeit der Kunst-form gerichtet ist.

Deshalb gab Jacob Grimm die Beschäftigung mit demMärchen, so wie es in der Litteratur lag, auf er ging zumVolke. Inwieweit nun die Kinder- und Hausmärchen in diesemSinne „treu" sind, inwieweit doch noch beeinflußt von littera-rischen Vorgängen des 18. Jahrhunderts, müßte in einer eigenenUntersuchung festgelegt werden. Sicher ist, daß, wie auch dieGestalt der Kinder- und Hausmärchen ausgefallen sein mag,Jacob Grimm das Märchen selbst als EinfacheForm erkannt hat.

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VI.

Wir haben gesagt, daß sich im Märchen die Welt nacheinem nur in dieser Form obwaltenden und nur für diese Formbestimmenden Prinzip umwandelt. Dieses Prinzip haben wirin allen Einfachen Formen als die Geistesbeschäftigung be-zeichnet. Wir wollen das auch hier tun und nun versuchen, dieGeistesbeschäftigung des Märchens zu bestimmen.

Eigentümlich ist, daß dort, wo sich in dem Lauf derLitteraturgeschichte, den wir geschildert haben, das Märchender Novelle gegenüber oder an die Seite stellt, mit einer ge-wissen Vorliebe betont wird, daß das Märchen eine moralischeErzählung sei. Wir brauchen das hier nicht in Einzelheiten zuverfolgen, es genügt, wenn wir daran erinnern, daß Perraultseine Erzählungen Histoires ou Contes du temps passé avecdes Moralités nannte, daß er jedes einzelne Märchen auchwirklich mit einer gereimten Moralité abschloß und daß er inseiner Einleitung sagt: Überall wird die Tugend belohnt, dasLaster bestraft. Diese Erzählungen wollen zeigen, wie großenNutzen es bringt, anständig, geduldig, besonnen, arbeitsam,gehorsam zu sein ... und wie schlechte Folgen es hat, wennman das nicht ist. So leichtsinnig und sonderbar in ihren Be-gebenheiten (aventures) diese Geschichten sind, es ist gewiß,daß sie in den Kindern das Verlangen wachrufen, denen, diehier glücklich werden, ähnlich zu sein, und zugleich die Furchtvor dem Unglück, dem die Bösen durch ihre Bosheit anheim-fallen ... Die Erzählungen sind wie ein ausgestreuter Samen,zunächst erwachsen aus ihm Freude und Trübsal, aber aus ihnenerblühen wiederum die Neigungen zum Guten.

Zunächst entdecken wir hierin einen gewissen Wider-spruch: wenn die Erzählungen leichtsinnig (frivole) sind, wiesollen sie dann den guten Samen in die Herzen der Jugendstreuen, wenn sie sonderbar. (bizarre) sind, wie sollen sie zum

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Beweis einer feststehenden Lebensregel dienen? Sehen wirgenauer zu, so bemerken wir allerdings, daß hier gewisse Per-sonen glücklich werden, aber inwieweit hier ausgerechnetTugend belohnt, Laster bestraft wird, ist mehr als fraglich.Nehmen wir den Gestiefelten Kater. Woraus ergibt sich denn,daß der Müllerbursche anständig, geduldig, besonnen oderarbeitsam ist? Gehorsam ist er freilich, denn er tut alles, wasder Kater ihm befiehlt. Und dieser Kater selbst : er lügt undbetrügt vom Anfang bis zum Ende, er zwingt auch anderedurch fberredung und Drohung zu lügen, er frißt zuguterletzteinen Zauberer, der ihm wenig oder nichts zu Leide getan hat.Ist Dornröschen so besonders tugendhaft oder der Prinz, dermir nichts dir nichts Küsse von schlafenden jungen Mädchenraubt? Auch Däumling und Rotkäppchen scheinen mir keineunbedingten Tugendhelden zu sein. Andererseits können wiraber auch nicht sagen, daß der listige Kater oder der leicht

-sinnige Prinz uns einen unmoralischen Eindruck machen.Wenn nun aber Personen und Begebenheiten des Märchens

auch nicht den Eindruck des eigentlich Moralischen machen,so kann man doch nicht leugnen, daß sie eine Befriedigung ge-währen und diese Befriedigung beruht weniger darauf, daßhier unsre „Neigung zum Wunderbaren" zugleich mit unsrer„Liebe zum Natürlichen und Wahren" befriedigt wird alsdarauf, daß es in diesen Erzählungen so zugeht, wie es unseremEmpfinden nach in der Welt zugehen m ü ß t e.

Im Gestiefelten Kater sehen wir einen armen Müllerssohn;er stehtseinen Brüdern gegenüber, die beide etwas Wertvollesgeerbt haben: die Mühle und den Esel; er selbst hat dagegenetwas Wertloses bekommen : die Katze. An und für sich istdieses Datum oder dieser Zustand nicht unmoralisch, aber siegeben uns doch das Gefühl der Ungerechtigkeit und das Gefühl,daß diese Ungerechtigkeit ausgeglichen werden muß. ImLaufe der Erzählung erfolgt nun diese Befriedigung undzwar in einer Weise, daß gerade dieses Wertlose, die Katze,das Mittel zum Ausgleich wird, und daß zuletzt das Glückdes Benachteiligten das Glück seiner Brüder um soviel über

-trifft, als es zu Anfang geringer war. Das ist gewiß keineEthik im philosophischen Sinne; was und wer tugendhaft ist,

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was und wer nicht, wird nirgends gesagt; es heißt nicht, daßder Müller böse ist, der seine älteren Söhne besser behandeltals den jüngeren; auch die beiden Brüder sind in diesemMärchen nicht schlechter als der dritte das Ganze heißtnichts anderes, als daß unser Gerechtigkeitsgefühl durch einenZustand oder durch Begebenheiten ins Schwanken geraten istund daß es nun durch eine Reihe von Begebenheiten, durchein Geschehen besonderer Art wieder ins Gleichgewicht ge-bracht, befriedigt wird. Etwas schärfer wird die Situationdurchgeführt in Aschenbrödel, wo ein armes Mädchen einerbösen Stiefmutter und zwei bösen Stiefschwestern gegenüber-gestellt wird, aber auch hier wird weniger das eigentlich Böseder Verwandten betont als das der Ungerechtigkeit; und dieBefriedigung, die wir zuletzt empfinden, entsteht wiederumnicht so sehr dadurch, daß ein fleißiges, gehorsames, geduldigesMädchen belohnt wird, als daraus, daß das ganze Geschehender Erwartung und den Anforderungen, die wir an einen ge-rechten Lauf der Welt stellen, entspricht.

Diese Erwartung, wie es eigentlich in der Welt zugehenmüßte, scheint uns nun für die Form Märchen maßgebend zusein : sie ist die Geistesbeschäftigung des Märchens. Perraultund andere haben wohl recht gesehen, daß sie „moralisch" ist,aber sie ist nicht moralisch im Sinne einer philosophischenEthik. Sagen wir mit Kant, daß die Ethik antwortet auf dieFrage : „was muß ich tun?" und daß unser ethisches Urteil dem

-zufolge eine Wertbestimmung des menschlichen Handelns um-faßt, so gehört das Märchen nicht hierher. Sagen wir aber,daß es darüber hinaus eine Ethik gibt, die antwortet auf dieFrage : „wie muß es in der Welt zugehen?" und ein ethischesUrteil, das sich nicht auf H a n d e l n, sondern auf G e -s c h e h e n richtet, so sehen wir, daß dieses Urteil in der FormMärchen von der Sprache ergriffen wird.

Im Gegensatz zur philosophischen Ethik, zur Ethik desHandelns, nenne ich diese Ethik die E t h i k d e s G e-schehens oder die naive Moral, wobei ich das Wortn a i v in demselben Sinne gebrauche wie Schiller, wenn ervon naiver Dichtung redet. Unser naiv-ethisches Urteil ist einGefühlsurteil; es ist nicht ästhetisch, da es apodiktisch und

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kategorisch zu uns spricht ; es ist weder utilitaristisch nochhedonistisch, weder das Nützliche noch das Angenehme sindhier Maßstab ; es steht außerhalb des Religiösen, denn es istundogmatisch und unabhängig von einer göttlichen Führunges ist ein rein ethisches und zwar ein absolutes Urteil. Be-stimmen wir nun von hier aus unsere Form, so können wirsagen, daß in dem Märchen eine Form vorliegt, in der dasGeschehen, der Lauf der Dinge so geordnet sind, daß sie denAnforderungen der naiven Moral völlig entsprechen, alsonach unserem absoluten Gefühlsurteil „gut" und „gerecht" sind.

Als solches steht nun das Märchen im schärfsten Gegen-satz zu dem, was wir in der Welt als tatsächliches Geschehenzu beobachten gewohnt sind. Der Lauf der Dinge entsprichtin den seltensten Fällen den Anforderungen der naiven Moral,er ist meistens nicht „gerecht" das Märchen stellt sich alsoeiner Welt der „Wirklichkeit" gegenüber. Indessen diese Weltder Wirklichkeit ist nicht die Welt, in der den Dingen ein all-gemein gültiger Seinswert zuerkannt wird, sondern eine Welt,in der das Geschehen den Anforderungen der naiven Moralwiderspricht, eine Welt, die wir naiv als unmoralisch emp-finden. Man kann sagen, daß hier die Geistesbeschäftigungnach zwei Seiten wirksam ist, einerseits greift und begreiftsie verneinend die Welt als eine Wirklichkeit, die der Ethikdes Geschehens nicht entspricht, andererseits gibt sie bejahendeine andere Welt, in der alle Anforderungen der naiven Moralerfüllt werden.

Wir nennen diese Welt des naiv Unmoralischen, diese„wirkliche" Welt, die hier verneint wird, tragisch , undmeinen auch .hier wieder kein ästhetisches Urteil, sondern einUrteil, das kategorisch und apodiktisch zu uns spricht : einGefühlsurteil. Tragisch, so hat man einmal kurz, aber voll-kommen zutreffend gesagt, ist: wenn sein muß, was nicht seinkann, oder: wenn nicht sein kann, was sein muß. Tragisch, sokönnen wir hier sagen, ist der Widerstand zwischen einer naivunmoralisch empfundenen Welt und unsren naiv ethischen An-f orderungen an das Geschehen.

Man könnte nun erwarten, daß aus dieser zweifach ge-richteten Wirksamkeit der Geistesbeschäftigung sich auch

J o 11 e s , Binfache Formen 16

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zwei Formen ergeben würden, daß wir neben der Form, in derder Lauf der Dinge so geordnet ist, daß sie den Anforderungender naiven Moral völlig entsprechen, eine Form finden würden,in der die naiv unmoralische Welt, die Welt des Tragischen,sich verdichtet -- kurz es muß ein Antimärchen geben. In derTat ist dies wirklich der Fall. Nehmen wir die Geschichte derbeiden K ö n i g s k i n d e r, die nicht beisammen kommenkonnten, weil das Wasser viel zu tief war, und die mit demTod endet, oder die Geschichte von Pyramus und Thisbe unddem Löwen, so haben wir hier die deutliche Vergegen-wärtigung dieser Einfachen Form vor uns. Sie entsprechen derWelt des Tragischen; der tragische Lauf der Dinge wird hierin einer Sprachgebärde zusammengezogen, die v i e 1 z u t i e f e sWa s s e r, L ö w e heißt: die Trennung und Tod in sich tragen.Es wäre nicht schwer, eine Anzahl dieser Antimärchen, oderwenn wir eine contradictio in adjecto benutzen wollen, diesert r a g i s c h e n M ä r c h e n zu finden; gerade im Altertumscheinen sie mir häufig zu sein, ebenso stecken sie im Kelti-schen. Daß die Form als solche nicht erkannt worden ist unddemzufolge auch keinen Namen besitzt, liegt erstens daran, daßsie in neuerer Zeit wie wir es schon aus unseren Beispielensahen meistens mit Kunstformen zusammengekommen unduns nur in dieser Vergegenwärtigung geläufig ist, und zweitensdaran, daß die zweite Form, die sich aus der Geistes-beschäftigung der naiven Moral ergibt, und in der die zweifachgerichtete Wirksamkeit sich auch als Ganzes verwirklicht, dieeinseitig wirkende Form verdrängt hat. Sind wir einmal beiden Kunstformen angekommen, so werden wir sehen, wie nötiges ist, auch das tragische Märchen als Einfache Form zu unter

-scheiden.Die Form Märchen ist eben die Form, in der sich die

Geistesbeschäftigung in ihrer Doppelwirkung ergibt, die Form,in der sowohl das Tragische hingestellt wie auch aufgehobenwird. Wir sehen das schon aus der Zusammenstellung derDaten und Begebenheiten. Mit Vorliebe werden Zustände undEreignisse gewählt, die unserm Empfinden des gerechten Ge-schehens widersprechen: ein Knabe erbt weniger als seineBrüder, ist kleiner, dümmer als seine Umgebung; Kinder

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MÄRCHEN 243

werden von armen Eltern ausgesetzt oder von Stiefeltern miß-handelt ; der Bräutigam wird von der richtigen Braut getrennt;Menschen geraten in die Gewalt böser Unholde, sie habenübermenschlich schwere Aufgaben zu erfüllen, sie müssenfliehen, werden verfolgt aber immer wird das alles imLaufe des Geschehens aufgehoben, kommt es zu einem Ende,das unserm Empfinden des gerechten Geschehens entspricht.Mißhandlung, Verkennung, Sünde, Schuld, Willkür sietreten im Märchen nur auf, um nach und nach endgültig auf-gehoben und durch die naive Moral gelöst zu werden. Allearmen Mädchen bekommen zum Schluß den rechten Prinzen,alle dummen und armen Knaben ihre Prinzessin ja, der Todder in gewissem Sinne einen Gipfel der naiven Unmoral be-deutet, wird im Märchen aufgehoben : „wenn sie nicht gestorbensind, leben sie heute noch."

Aus diesem inneren Bau des Märchens erwächst nun diemoralische Befriedigung, von der wir sprachen: sobald wirin die Welt des Märchens eintreten, vernichten wir die alsunmoralisch empfundene Welt der Wirklichkeit.

In allen Einzelheiten wird diese Vernichtung durch-geführt. Sie gibt zunächst die Erklärung jenes Wunderbaren,

das auch die Dichter, die sich mit dem Märchen beschäftigten,schon als Kennzeichen anführten. Wo in einer Geistes

-beschäftigung Wirklichkeit das Naiv -Unmoralische heißt, dadarf keine Begebenheit der Wirklichkeit gleichen. So entstehtdas scheinbare Paradoxon, das die eigentliche Grundlage desMärchens bildet: das Wunderbare ist in dieser Formnicht wunderbar, sondern selbstverständlich.Wir können das Märchen hier mit der Legende vergleichen.Das W u n d e r war dort die einzig mögliche Bestätigung einerTugend, die tätig geworden, sich vergegenständlicht hatte:das Wunderbare ist hier die einzig mögliche Sicherheit,daß die Unmoral der Wirklichkeit aufgehört hat. Wie wirim Wunder erst die Legende als solche verstehen, wie dasWunder dort das Notwendige und Selbstverständliche ist, sowird erst im Wunderbaren das Märchen begreiflich. Es istnicht wunderbar, daß die ärmlich gekleidete Aschenbrödel dieschönsten Kleider bekommt oder daß die sieben Geißlein wieder

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aus dem Bauche des Wolfes hervorgehen, es ist das, was wirerwarten, was wir in der Form beanspruchen; es wäre wunder-bar, das heißt in der Form sinnlos, wenn es nicht geschähe unddamit das Märchen und seine Welt ihre Gültigkeit verlören.

Eine zweite Eigenschaft, die man im Märchen erkannt hat,erklärt sich in derselben Weise. Die Örtlichkeit liegt „ineinem fernen Lande, weit, weit von hier", die Zeit ist „langelange her"; oder der Ort ist nirgends und überall, die Zeit nieund immer. Sobald das Märchen historische Züge bekommtund es geschieht das manchmal dort, wo es mit der Novellezusammentrifft —, büßt es etwas von seiner Kraft ein.Historische Örtlichkeit, historische Zeit nähern sich der un-moralischen Wirklichkeit, brechen die Macht -des selbst

-verständlich und notwendig Wunderbaren.Dies gilt auch von den Personen, auch sie müssen jene

unbestimmte Sicherheit besitzen, an der eine unmoralischeWirklichkeit zerschellt. Wenn der Prinz im Märchen denNamen eines historischen Prinzen trüge, so würden wir sofortvon der Ethik des Geschehens in die Ethik des Handelns über-geführt werden. Wir würden nicht mehr fragen : und was ge-schah da mit dem Prinzen ?, sondern wir würden fragen : was tatder Prinz? und somit würden schon Zweifel an der Notwendig-keit sich einstellen. So ist es auch mit jenen Wesen, die imMärchen eine so wichtige Rolle spielen, daß es in Frankreichund England ihnen seinen Namen verdankt : mit den Feen undden mit ihnen zusammengehörigen Unholden und Ogern. Auchsie sind deutliche Gebilde der Geistesbeschäftigung, die sie inden beiden Richtungen vertreten. Der Unhold, das Ungeheuer,der Menschenfresser, die Hexe vertreten die Richtung zumTragischen; hilfreiche Feen mit allem was dazu gehört, sindmit ihren Wundergaben wieder das sicherste Mittel der Wirk

-lichkeit zu entfliehen. Beide sind sie wunderbar, bei-de sind siekeine eigentlich handelnden Personen, sondern Vollzieher desethischen Geschehens, das durch die eine Sorte gehemmt werdenkann, durch die andere in die Richtung unseres Gefü hlsurteilsgelenkt wird. So steht denn unser Gestiefelter Kater keinemWesen gegenüber, das ihm wenig oder gar nichts zu Leide ge-tan hat und das er nun listig umbringt, sondern das Mittel,

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durch das der gerechte Ausgleich stattfinden muß, die wert-lose Katze, durch die der arme Müllerbursche mehr bekommt,als ihm sein Schicksal vorenthalten hat, siegt hier über einWesen, das seiner Art nach dem gerechten Geschehen, demGlück im Wege steht ; die Schätze des bösen Zauberers ge-hören nicht ihm sie gehören dem, der zuerst zu wenigbekam.

Endlich die sprachliche Gebärde des Märchens. Sie trittso stark hervor, in ihr ordnet sich das Geschehen in so be-stimmter Weise an, daß man sie als den eigentlichen „Inhalt"des Märchens hat betrachten wollen. Das Wort Motiv, daswir aus früher angegebenen Gründen vermieden haben, wirdvon der Märchenforschung mit außerordentlicher Vorliebe be-nutzt; es sind die „Märchenmotive", nach denen man dieMärchen einzuteilen pflegt. Man ist sogar so weit gegangen,zu behaupten, daß das Märchen nichts anderes wäre als eineziemlich beliebige Zusammensetzung solcher Motive, daß manes sozusagen in seine Motive zerlegen und aus anderen Mo-tiven wieder aufbauen könnte, daß man ein Märchen wie einMosaik aus Motiven herstellen könnte. Wir brauchen darübernicht viele Worte zu verlieren. Märchen ist Geschehen, Ge-schehen im Sinne der naiven Moral; entfernen wir dieses Ge-schehen mit seinem tragischen Anfang, seinem Fortschreitenin der Richtung der Gerechtigkeit, seinen tragischen Hem-mungen, seinem ethischen Schluß, so bleibt irgendein sinnlosesSkelett, das uns keine moralische Befriedigung gewähren kannund das höchstens als mnemotechnisches Mittel zu einer Wieder-herstellung der Form dient. Wohl aber können wir sagen, daßdieses Geschehen, das als Ganzes die Form bildet, die sich ausder Geistesbeschäftigung ergibt, sich selbst wieder in nichtteilbare Einheiten teilt und das diese vom Ganzen geladenenund geschwängerten Einheiten als sprachliche Gebilde erfaßtwerden. Wie nun in der Legende die sprachlichen Gebärdenmit Tugend und Wunder geladen sind, in der Sage mit Ver

-wandtschaft und allem was sich aus Verwandtschaft ergebenkann, so sind sie es im Märchen mit dem Tragischen und Ge-rechten im Sinne der naiven Mor^1. In diesem Sinne heißt.Ungerechtigkeit dumm sein, in Lumpen gekleidet

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sein; Tragik: In einer Nacht einen Haufen derverschiedensten Getreide aussuchen und sich-ten; eine endlose Reise unternehmen; ein Un

-geheuer bekämpfen; Gerechtigkeit: einen Schatzbekommen; einen Prinzen heiraten. Aber immer istdiese sprachliche Gebärde zugleich geladen mit dem, was dieunmoralische Wirklichkeit vernichtet, immer bedeutet sie, wieZeit, Ort und Personen, in irgendeiner Weise das Wunder-bare.

Gibt es auch bei dem Märchen einen Gegenstand oderGegenständliches, die mit der Macht der Form geladen sind?Gerade weil das Märchen sich im Gegensatz befindet zu dem,was wir in der Welt als tatsächliches Geschehen zu beob-achten gewohnt sind, weil die Welt des Märchens von einerWelt der Wirklichkeit radikaler getrennt ist als die Weltirgendeiner andern Form, gerade deshalb wird es schwer,Gegenständliches zu finden, das in einer als Wirklichkeit be-griffenen und deshalb verneinten Welt, mit der Macht desMärchens geladen, das Märchen in derselben Weise vertretenkönnte, wie eine Reliquie die Form Legende oder eine Runedie Form Rätsel. Dennoch scheint es mir, daß auch hier Ähn-liches vorliegt bei Gegenständen, die das Märchen einer Wirk-lichkeit entnimmt, um sie nach den Gesetzen des Wunderbarenumzugestalten. Wenn in Perraults Cendrillon der größteKürbis aus dem Garten kein Kürbis sondern eine Kutsche ist,wenn die Mäuse aus der Mausefalle keine Mäuse sondern Pferdesind, oder wenn in andern Märchen eine Nuß keinen Nußkernsondern ein wunderbares Kleid oder eine goldene Henne mitKüchlein enthält, so möchte ich das nicht ganz zur Sprach

-gebärde rechnen, sondern lieber sagen, daß Kürbis, Mäuse oderNuß hier Gegenstände der Wirklichkeit bleiben, die nach denBedürfnissen der naiven Moral in besonderer Weise so wunder-bar geladen werden, daß sie die Wirklichkeit selbst nicht mehrals ihr Eigentum anerkennt.

Ich muß indessen gestehen, für Gegenständliches dieserArt keinen Namen gefunden zu haben.

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WITL

Bei der letzten Form, die wir zu behandeln haben, brauchenwir uns nicht zu fragen, ob und wie sie auch in der Jetztzeitnoch lebendig ist es gibt keine Zeit und wohl auch keineGegend, in der der Witz nicht zu finden wäre, sowohl im Seinwie im Bewußtsein, sowohl im Leben wie in der Litteratur.

Damit soll nicht gesagt sein, daß die Wertschätzung desWitzes immer und überall die gleiche ist. Es gibt Zeiten, indenen der Witz bis in die höchsten Kunstgattungen und Kunst-formen hineinreicht, es gibt andere Zeiten, in denen er sichdamit begnügen muß, im weitesten Sinne volkstümlich zu sein.Wo immer aber der Witz volkstümlich ist, da bezeichnet erdurch seine Art, durch seine Weise zu witzeln die Rasse, dasVolk, die Gruppe, die Zeit, aus denen er jedesmal hervor-gegangen ist : wir können den amerikanischen Witz von demenglischen, den englischen von dem irischen Witz unterscheiden,wir besitzen in Deutschland einen Berliner, einen Hamburger,einen Münchener oder auch wieder einen jüdischen Witz.Ebenso sind der antike, der mittelalterliche und der Renaissance-witz nicht zu verwechseln, unterscheidet sich der Jägerwitzvon dem Verbrecherwitz. Das ist wohl auch der Grund, wes-halb die Namen dieser Form so sehr verschieden sind und wes-halb man innerhalb der Allgemeinbezeichnung noch so vieleUnterbezeichnungen findet. Witz , was außerdem auch nocheine andere Bedeutung hat, gilt als Bezeichnung dieser Formeigentlich nur für das Hochdeutsche; das Niederländische undNiederdeutsche haben grap , mit unsicherer Etymologie, dasEnglische j o k e, das Französische b o n m o t, das Italienischescherzo usw. Daneben haben wir im Neuhochdeutschen

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Worte, die Abarten bezeichnen, wie K a 1 a u e r , das von demfranzösischen calembourg stammt, Z o t e , wohl vom fran-zösischen sotie, wir haben im Englischen p u n , wir reden vonirischen b u 11 s usw. Der Witz bietet uns also die beste Mög-lichkeit zu verstehen, wie bei gleicher Geistesbeschäftigungeine Form sich je nach dem Volke, der Zeit und dem Zeitstilanders vergegenwärtigt.

Für uns kommt es hier aber nicht auf die Unterschiedlich-keit an, sondern auf die Geistesbeschäftigung als Ganzes. Somüssen wir denn zunächst sagen, daß in der Form Witz, woimmer wir sie finden, etwas g e 1 ö s t wird, daß der Witzirgendein Gebundenes entbindet.

Wir wollen das mit einigen Beispielen erläutern. Fangenwir mit der Sprache an, so finden wir hier eine äußerst ver-breitete Weise des Witzelns, die wir Wortspiel nennen.

Insoweit Sprache eine Weise ist, anderen etwas mitzuteilenoder sich mit anderen zu verständigen, ist es von vornhereinklar, daß jeder Teil der Sprache die Eigenschaft der Verständ-lichkeit besitzen muß. Deshalb kann bei der Sprache, sofernsie das zu leisten beabsichtigt, jede Sprachform nur in ihrerverständlichen Bedeutung benutzt werden. Benutze ich nunaber immer in dieser Betätigung ein Wort in einer anderenBedeutung, oder meine ich, während ich es scheinbar in dereinen Bedeutung benutze, eigentlich eine andere, oder ersetzeich ein verständliches Wort durch ein zweites, das den gleichenKlang, aber eine andere Bedeutung hat, so entsteht hier nicht,wie wir es bei dem Rätsel in der Sondersprache gesehen haben,Vieldeutigkeit, sondern es entsteht: Doppelsinn,das heißt die mitteilende Absicht der Sprache wird auf-gehoben, die Sprache wird in ihrer Verständlichkeit gelöst, dieBindung im Verhältnis des Redenden zum Hörenden wirdaugenblicklich entbunden. Gerade aber diese Lösung beab-sichtigt das Spielen mit Worten, das Wortspiel.

Man bittet einen Franzosen ein Wortspiel zu machen übereine herrschende Epidemie, also ein j e u d e m o t s, er ant-wortet: „ je ne f a i s pas un jeu de m a u x." Indem erdas Wort m o t s durch ein gleichklingendes Wort mit andererBedeutung ersetzt, hat er die notwendige Bedingung, daß in

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einem Zusammensprechen Frage und Antwort sich auf den-selben Tatbestand beziehen müssen, aufgehoben es istDoppelsinn entstanden. Aber darüber hinaus hat er noch mehrgetan : er hat, indem er den Bittenden darauf hinwies, daß manmit ernsten Sachen kein Spiel treiben soll, den ganzen Begriffj e u d e mots hier gelöst.

Ein Norddeutscher tritt an einem kalten Wintertag inein sächsisches Warenhaus und bittet den Chef um Ohr -w ä r m e r nach kurzem Nachdenken antwortet der Chef:„Abteilung Vogelfutter". Wiederum Doppelsinn, der darausentsteht, daß der Norddeutsche und der Sachse sich nicht „ver-stehen". Aber wiederum wird mehr und anderes gelöst : erstensder Zustand, daß durch dialektische Umformungen zwei, diedie gleiche Sprache reden, dennoch durch den Gleichklang derWorte etwas anderes meinen, zweitens die Überzeugung desWarenhausbesitzers, daß er jeden Artikel vorrätig haben muß.

Man sieht, auch ein einfacher Witz ist schon ein kompli-ziertes Gefüge. Aber alle Einzelteile in jenem Gefüge be-zwecken immer wieder das gleiche : jedesmal wird durch sieetwas gelöst, eine Gebundenheit entbunden.

Die Mittel, über die die Sprache verfügt, um etwas zulösen, sind ebenso zahlreich wie die Mittel, über die sie ver-fügt, um etwas zu binden. Jede Weise, in der Sprache einenSachverhalt zu fassen, jede Sprachform, die dadurch entsteht,hat in dem Witz ihre komische Antipode. Wir brauchen nur,wo eine Abstraktion benutzt wird, auf das Konkrete zurück

-zugreifen, wo ein Bild gemeint war, auf das Buchstäblichezurückzukommen, und die witzige Lösung ist da.

Was nun in der Sprache an sich möglich ist, können wirauch auf die Logik anwenden. Jeder Denkprozeß, alle Be-dingungen, Prinzipien, Gesetze und Normen des richtigenDenkens können spontan gelöst werden. Man braucht nur dieReihenfolge zu unterbrechen, ein Glied durch ein anderes zuersetzen, von der einen Logik in die andere überzuspringen,jedesmal ergibt sich etwas, das durch seinen Widersinn, seineG egenstreitigkeit, seine Undenkbarkeit die Form Witz an-nimmt.

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Ein Grieche träumt, daß er bei einer berühmten Hetäregewesen ist, und erzählt dies auf der Agora. Die Hetäre hörtdas Gerede und verlangt Bezahlung. Der Fall kommt vor denRichter. Dieser befiehlt dem Mann, das Geld auf den Tisch zulegen, er läßt einen Spiegel bringen und gestattet der Hetäredas Spiegelbild des Geldes als Zahlung für den geträumtenGenuß zu nehmen. Eine Parallele zu dieser Logik finden wirin der Erzählung des Reisenden, der aus Ägypten einen aus-gestopften Ichneumon mitbringt, um die Schlangen zu vertilgen,die sein an Delirium tremens leidender Bruder in Berlin zusehen glaubt, und der auf den Einwurf, „aber das ist dochkein echter Ichneumon" antwortet: „ganz richtig! aber dieSchlangen sind auch nicht echt."

In der Ethik ist es wieder das gleiche. Nehmen wir dieallbekannte moralistische Erzählung des Mannes, der, indem erunter einer Eiche sitzt, darüber grübelt, weshalb die Eichesolche kleinen, unscheinbaren Früchte trägt, während dieschönen großen Kürbisse in seinem Garten an dürftigen Kriech-pflanzen wachsen. Die Natur und die Schöpfung scheinen ihmnicht zielbewußt. Aber während er nachdenkt und zweifelt,fällt ihm eine Eichel auf den Kopf und nun geht ihm einLicht auf und er freut sich zum mindesten darüber, daß Kür-bisse nicht auf Eichbäumen wachsen. Daß die Geschichte eineernste Tendenz hat, scheint mir nicht zweifelhaft, aber es istebenso sicher, daß sie gewisse Lücken zeigt, daß hier i r g e n detwas nicht ganz stimmt. Es ist nun eine Freude, zusehen, wie der Witz wiederum von diesen Lücken ausgehendsich dieser Geschichte bemächtigt und wie er das, was nichtganz stimmt, dazu benutzt, das Ethische der Erzählung oderdie moralische Befriedigung, die sie gewähren könnte, zu zer-stören und zu lösen. Als Witz wird sie nämlich so vorgetragen:Ein Pfarrer spaziert an einem Sommerabend unbedecktenHauptes durch die Gegend und ergeht sich in frommen Ge-danken über die Wunder der Schöpfung. Ein vorüberfliegenderSpatz macht ihm etwas auf die Glatze. Der Geistliche faltetdie Hände und spricht: „Herr ich danke Dir, daß Du die Kühenicht mit Flügeln begabt hast." Hier ist alles gelöst. DerZweifel im Gemüt des Laien ist ersetzt durch die Sicherheit

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in der Seele des Pfarrers. Statt zweier vergleichbarer Früchte:Eichel und Kürbis, erscheinen zwei unvergleichbare Tiere:Spatz und Kuh. Schließlich ist auch die Unanständigkeit zurHilfe gerufen. Denn wie im Witze das Absurde die Lösung desphilosophisch Logischen bedeutet, ebenso bedeutet das Un-anständige im Witze die Lösung dessen, was uns die praktischeMoral, die guten Sitten und der Anstand vorschreiben.

Gehen wir noch weiter, so bemerken wir, wie nicht nurSprache, Logik, Ethik und Derartiges entbunden werden können,sondern wi-e auch alles, was wir im Laufe dieser AbhandlungenEinfache Form genannt haben, sich im Witze löst. Wenn wir einRätsel aufgeben wie : „Unter einem Pflaumenbaum liegt etwasBlaues mit einem Kern darin. Rate, was ist das?", und wir ant-worten demjenigen, der „eine Pflaume" rät, daß es ein blauerHusar ist, „der einen Pflaumenkern verschluckt hat", aber dem

-jenigen, der die Husarenlösung kennt, daß es in diesem Falleausgerechnet „eine Pflaume" ist, so entbinden wir damit dieForm Rätsel, die darauf beruht, daß ein Rätsel geraten werdenkann was hier nicht der Fall ist. Wenn wir den Spruch:„Lerne zu leiden ohne zu klagen" umsetzen in : „Lerne zuklagen ohne zu leiden", so entbinden wir die Erfahrung, diesich in dem Spruch verdichtete. Bei der Geschichte von Bohne,Strohhalm und Feuerkohle haben wir gesehen, daß sich dort,wo man mit einer Scheinfrage an die Welt und ihre Er-scheinungen herantrat, die Form Mythe lockerte, sich löste undzum Witz werden konnte. So könnten wir die Einfachen Formender Reihe nach durchgehen, wir würden finden, daß sie sich imWitze lösen können.

Wir treffen den Witz mit seinen Übertreibungen nachoben und unten, mit seinen Umsetzungen, mit seiner Fähigkeit,die Dinge auf den Kopf zu stellen, auf jedem Gebiete. DieMittel, deren er sich bedient, sind zahllos, denn noch ein-mal diese Mittel sind ebenso zahlreich wie die Mittel, derensich Sprache, Logik, Ethik, Einfache Form bedienen, ihrebindenden Ziele zu erreichen. Jede angestrebte Bindung kannunter gewissen Voraussetzungen an einem bestimmten Punkteentbunden werden und die Form Witz annehmen.

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11.

Wir pflegen die Geistesbeschäftigung, aus der sich derWitz ergibt, mit einem griechischen Wort das K o m i s c h eoder die K o m i k zu nennen. Ich möchte das auch hier tun,muß aber dabei eine Einschränkung machen. Ebenso wie mitdem Begriff des Tragischen hat sich eine philosophischeÄsthetik, die in erster Linie von den Kunstformen ausging, mitdem Begriff des Komischen beschäftigt, sie ist dabei zu ge-wissen Resultaten, zu gewissen Bestimmungen gekommen, siehat sogar das Komische für einen „außerästhetischen Wert"erklärt. Unsere Aufgabe ist und bleibt demgegenüber einemorphologische; wir haben uns überall von der Ästhetik fern-gehalten, wir wollen es auch an dieser Stelle tun; was im Sinneder Ästhetik oder in der Kunstform das Verhältnis des Komischenzum ästhetisch Tragischen, zum Erhabenen, zum Charak-teristischen oder zum Schönen ist, kümmert uns hier nicht.Wir verstehen unter dem Komischen in derselben Weise, wiewir es beim Märchen mit dem Tragischen gemeint haben, eineGeistesbeschäftigung, aus der sich eine Einfache Form ergibt.

Wenn wir nun aber das Komische für das, was wir bisjetzt gesehen haben, einsetzen, so scheint es zunächst etwasNegatives zu sein. Wir haben überall von Entbindung ge-sprochen, und wir haben überall gefunden, daß es irgend etwas,Sprache, Logik, Ethik, Einfache Form gab, das entbundenwurde. Es war nicht so wie im Märchen, wo eine unmoralischempfundene Welt umgeschaffen und danach in ihrer Tragikvernichtet wurde, sondern etwas anderes mußte da sein, mußteexistieren, um in seinem Dasein von dem Witz ergriffen, ent-bunden werden zu können.

Es erhebt sich nun die Frage, ob und inwieweit diesesEntbindende selbst in der Lage ist, eine neue Form zu schaffen,oder ob und inwieweit das, was entbunden wird, trotz der Ent-

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bindung sich gleich bleibt. Man kann auch so fragen: bildetwirklich das Komische, in derselben Weise wie die anderenEinfachen Formen, eine eigene, in sich abgeschlossene Welt,oder bringt es nur die entbindende Umkehrung einer anderenWelt?

Wir können, indem wir an das erinnern, was wir inunserer Einleitung über Erzeugen und Schaffen gesagt haben,die morphologische Bedeutung dieser Frage mit einigen Bei-spielen beleuchten.

Es ist klar, daß ein Gefäß ohne Boden, ein Gefäß also,das weder dem Begriff Gefäß entspricht, noch als Gegenstandden Ansprüchen, die wir an ein Gefäß stellen, genügt, nichts-destoweniger als Form nicht aufgehört hat, ein Gefäß zu sein.Wir können es ein Gefäß mit negativem Vorzeichen nennen.Selbst wenn es sich herausstellte, daß sich dieses bodenloseGefäß gebrauchen ließe, um, sagen wir einem Feinde denSchädel zu zerschmettern, und selbst wenn man dieses Gefäß,wie einen bayrischen 'Maßkrug, zu diesem besonderen Zweckein diesen besonderen Zustand versetzt hätte, so würde mantrotz alledem immer noch sagen müssen, daß in diesem Falledas Gefäß zwar als Waffe diente, aber daß es Gefäß gebliebenwar. Dem steht gegenüber, daß ein Darm, den wir einemSchaf oder einer Katze entnehmen, den wir präparieren undden wir darnach auf einen Bogen spannen, um durch ihn Pfeileabzuschießen, oder auf einen Resonanzboden, um ihm Töne zuentlocken, daß dieser Darm in seiner Veränderung weder mitdem Begriff noch mit dem Gegenstand Darm mehr in Ver

-bindung zu bringen ist, sondern daß er eine S e h n e oder eineS a i t e wurde und daß Sehne und Saite unmöglich als Darmmit negativem Vorzeichen aufgefaßt werden können.

In bezug auf das Komische können wir nun unsere Fragevorläufig so stellen: Ist das, was nach der Lösung zum Witzwurde, ein bodenloses Gefäß oder ist es eine Saite? Oder auch:Ist das, was komisch wird, es selbst mit negativem Vorzeichen,oder ist durch das Komische etwas Neues geschaffen?

Um dies entscheiden zu können, müssen wir einen Augen-blick über die A b s i c h t des Komischen und des Witzes reden.

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Da wir im Witz ein Mittel besitzen, etwas zu lösen,liegt es auf der Hand, daß wir dieses Mittel anzuwenden be-strebt sind, wo immer uns etwas begegnet, was wir bedauern,verurteilen, verabscheuen, oder, um ein allgemeines Wort zubenutzen, was wir t a d e 1 n. Nicht alles Tadelnswerte jedochläßt sich durch Komik umgestalten oder entbinden. Wir habenbei der moralistischen Geschichte des Unzufriedenen und auchbei dem Wortspiele schon gesehen, daß es in dem zu Lösendenetwas geben mußte, was nicht ganz stimmte, was den Anfangoder den Kern einer Lösung schon in sich trug, ja was schonauf dem Wege war, sich selbst zu lösen, und wir können dafürdas Wort u n z u l ä n g l i c h gebrauchen. Die notwendigeVoraussetzung, um das Tadelnswerte oder um überhaupt einGefüge komisch lösen zu können und ihm die Form Witz zugeben, ist also, daß dieses Gefüge unzulänglich ist. Wirmüssen noch hinzufügen, daß die Begriffe tadelnswert undunzulänglich zwar nicht zusammenzufallen brauchen, aber daßsie unter Umständen sehr gut zusammenfallen können, so daßletzten Endes zu einer komischen Lösung das Unzulänglichegenügt.

Was sich nun in einem Witze, insofern er beabsichtigt,das Tadelnswerte aus einer Unzulänglichkeit, oder das Unzu-längliche aus sich selbst zu lösen, ergibt, nennen wir Spott.

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III.

Je nachdem die Entfernung zwischen dem Tadelnswerten,das durch Spott gelöst wird, und dem Spötter, der es löst,größer oder geringer ist, unterscheiden wir wieder zwei Formen,die wir Satire und Ironie nennen.

S a t i r e ist Spott mit dem, was wir tadeln oder verab-scheuen und was uns fern steht. Wir wollen mit dem Getadeltennichts gemeinsam haben, wir stehen ihm schroff gegenüber, des-halb lösen wir es ohne Mitempfinden, ohne Mitleid.

Dagegen spottet I r o n i e zwar über das, was wir tadeln,aber sie stellt sich ihm nicht gegenüber, sie empfindet Teil-nahme, sie ist beteiligt. Deshalb ist Gemeinsamkeit ein fürIronie kennzeichnendes Wort. Der Spötter hat mit dem Gegen

-stand . seines Spottes die Empfindung für das, was verspottetwird, gemeinsam, er kennt es aus sich selber, aber er hat es inseiner Unzulänglichkeit erkannt und er zeigt diese Unzuläng-lichkeit dem, der sie nicht zu kennen scheint. Deshalb bekommtGemeinsamkeit hier eine tiefere Bedeutung. Wir spüren in derIronie etwas von der Vertrautheit und der Vertraulichkeit eineshöher Stehenden mit dem, der unter ihm steht. Und gerade indieser Gemeinsamkeit liegt der große pädagogische Wert derIronie.

Satire vernichtet Ironie erzieht.Aber däs Bewußtsein, daß man das, was man verspottet,

selbst kennt, daß es einen Teil von uns bildet, macht, daß wirin der Ironie mit dem Komischen alle Schattierungen vonMelancholie bis zu Schmerz verbinden können. Bittere Satireist auf ihren Gegenstand erbittert; bittere Ironie ist bitter, weiles bitter ist, das, was wir in anderen verspotten, in uns selbstwieder zu finden.

Und da kann nun andererseits wieder die Verwandtschaftzwischen dem Spötter und dem, was er verspottet, dazu führen,

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daßdiese belden immer mehr zusammenwachsen. Die Tatsache,daß Ironie sich selbst trifft und sich selbst löst, kann die Ur-sache werden, daß sie sich selbst liebkost oder sich selbst be-festigt.

So gehören die Spiralen und Querwege der Ironie zu demHöchsten, was die Form des Komischen zu geben imstande ist.Will man ein Beispiel jener anziehenden und schwer zu folgen-den Pfade, so lese man den ersten Teil von dem L o b d e rN a r r h e i t des Erasmus. In dem zweiten Teil, der vielweniger tief ist, haben wir ein gutes Beispiel der Satire.

Die Ausdrücke Satire und Ironie werden in der Umgangs-sprache oft verwechselt. Kein Wunder es gibt große Kunst-werke, die, als Satire angefangen, als Ironie endeten, Kunst-werke, wo der Dichter zuerst glaubte, seinem Gegenstandspottend gegenüberzustehen, und hoffte, ihn ohne Mitleid lösenzu können, wo er aber nach und nach zu der Einsicht kam, wiesehr er mit dem Verspotteten verwandt war, wie tief er mitseinem Spott sich selber traf. Wir brauchen hier kaum an Cer-vantes und seinen Do n Q u i j o t e zu erinnern. Es gibt andereKunstwerke, in denen die beiden Formen fortwährend neben

-einander gestellt werden, in denen die satirische und dieironische Lösung sich zu haschen scheinen, und hier denkenwir an Ariosto, an Rabelais und an so manchen der großendeutschen Romantiker.

Wir haben aber mit diesen Künstlern das Gebiet der Ein-fachen litterarischen Formen schon verlassen und befinden

uns, was nicht in unserer Absicht lag, auf dem der Kunst-formen.

Wir haben aber zugleich gesehen, daß die Ironie, die beiihrem Spott ausgeht von dem, was wir mit dem Unzulänglichengemeinsam haben, uns auf einen neuen Weg führt. Wir er-kennen hier, wie die Absicht des Komischen oder des Witzeseine tiefere sein kann als die Lösung dessen, was wir tadelnoder verabscheuen, und daß die Form nicht eitel Spott zu be-deuten braucht.

Unser Leben und unser Denken verlaufen unentwegt inSpannung. Spannung innerhalb und Spannung außerhalb vonuns. Jedesmal wenn diese Spannung und diese Anspannung

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Überspannung zu werden droht, versuchen wir sie zu ver-ringern, sie zu lockern. Eines der Mittel manchmal daseinzige, oft das beste —, um von Spannung zu Entspannung zugeraten, ist auch wieder der Witz. Insoweit das Komischedie Absicht hat, eine Spannung zu lockern, steht es nicht demTadelnswerten oder dem Unzulänglichen gegen-über, sondern dem Strengen. Wir nehmen hier streng inder tieferen Bedeutung. Das deutsche Adjektiv s t r e n g istverwandt mit dem Substantiv S t r a n g , das Verbum (sich)a n s t r e n g e n schließt sich hierbei an. Wir befinden uns ineiner etymologischen Gruppe, zu der neben vielem anderenauch das lateinische s t r i n g o und das griechische a ayy«í^r^

gehören. Die Bedeutung dieser Gruppe kann abgeleitet werdenaus einer Schnur, die gedreht wird, dadurch Widerstands-fähigkeit bekommt, aber immer straffer gespannt wird. Ansich ist das Strenge nicht tadelnswert und keineswegs unzu-länglich, im Gegenteil, es ist, wie wir schon sagten, eine not-wendige Bedingung für unser Leben und Denken. Und dochmüssen wir, selbst um das Strenge, wo es nottut, in vollerStrenge durchführen zu können, die Möglichkeit besitzen, esaufzuheben oder uns von ihm zu befreien. Schriftsteller derRenaissance, die sich mit dem Begriff des Komischen, mit demWitz und der Facetie beschäftigen, reden von einer relaxatioanimi, von einer Lockerung des Geistes. In der Tat, unserGeist besitzt in dem Witz ein Mittel, sich, wo er es wünscht,zeitweise von sich selber zu befreien.

Insoweit nun das Komische und der Witz den Zweckhaben, Spannung in Leben und Denken zu lösen und den Geistzu befreien, können wir die Form, die er annimmt, nicht mehrS p o t t nennen, sondern müssen von S c h e r z reden.

Scherz kann im Gegensatz zu Spott. aufgefaßt werden,wenn sich das Komische nicht auf einen besonderen Fall,sondern auf einen allgemeinen Zustand bezieht. Scherz gehtüber Spott, da in ihm das Negative, was uns zu Anfang demKomischen anzuhaften schien, aufhört. Denn die Befreiung desGeistes, die durch die Lockerung oder das Aufheben einerSpannung erfolgt, ist keineswegs die Negation eines Gebunden-oder Gespanntseins, sondern bedeutet eine Freiheit in positivem

J o 11 e s , Einfache Formen 17

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Sinne. Wie sehr Befreiung Freiheit meint, empfinden wir, so-oft uns das Komische aus den strengsten Spannungen der Er-müdung oder des Dilemma befreit hat.

Wenn wir nun aber die beiden Absichten des Komischenals Spott und als Scherz getrennt haben, so müssen wir un-mittelbar daran anschließen, daß die litterarische Form Witzeine Zweieinheit bedeutet, in der sie zu gleicher Zeit getrenntund vereint einbegriffen sind. Ausnahmslos werden in einemund demselben Witz die Entbindung eines unzulänglichen Ge-füges und die Lösung einer Spannung vollzogen. Auch wennein Witz bezweckt, in einem Einzelfalle etwas Tadelnswerteszu lösen, hat das zur Folge, daß er uns von einer allgemeinenSpannung befreit. Selbst die beißendste Satire und die bittersteIronie erfüllen noch ihre zwiefache Aufgabe : So sehr wir inder ersten unseren Feind, in der zweiten uns selbst kränkenund verletzen, sie befreien doch andererseits beide den Geistvon einer inneren Spannung. Und demgegenüber : Selbst wennwir mit unserer Komik an erster Stelle eine Spannung zu lösenbeabsichtigen, so geht doch auch unser unschuldigster Witzimmer wieder von einem Gegenstand, von einem Sonderfallaus, in dem eine Unzulänglichkeit gelöst wird.

Freilich können wir sagen, daß sich in irgendeinem Witzder Schwerpunkt nach der einen oder nach der anderen Seiteherüberneigt. Aber der Witz, in dem eine der beiden Absichtendes Komischen fehlt, verliert notwendig seine Form: er ent-behrt der Pointe oder er wird Beleidigung.

Behalten wir dies im Auge, so können wir nun auf unsereFrage zurückkommen: Besitzt das Komische eine eigene Welt?Was macht der Witz mit dem, was er löst? Oder wie ist dasVerhältnis der alten Form zur neuen?

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IV.

Gehen wir vom Begriff Spott aus, so kann es scheinen, alsob der Witz lediglich das Getadelte mit einem umgekehrtenZeichen wiedergäbe. Es gibt Formen des Spottes ich er-innere an die Parodie , die eine gewisse Ähnlichkeit miteiner Nachahmung haben. Sie wiederholen das, was sie ver-spotten, aber sie wiederholen es, indem sie das, was den Kernder Lösung in sich trug, komisch betonen, sie wiederholen esin einer Weise, durch die es als Ganzes gelöst wird. Wieder-holungen fanden wir in dem Witz des Franzosen, bei demgriechischen Richter, bei dem frommen Pfarrer, und wenn wirweiter suchen wollten, würden wir noch oft Ähnliches finden.Insoweit also der Witz in der Sprache, der Logik, der Ethikoder sonstwo einen Einzelfall löst, und dabei vom Unzuläng-lichen ausgeht das heißt also, insoweit er S p o t t bleibt,ist es möglich, ihn als Wiederholung mit umgekehrtem Zeichenaufzufassen.

Wir sahen aber auch, daß der Witz noch mehr und anderesleistet, daß er außer einer besonderen auch noch eine all-gemeine Absicht hat, in-dem er durch die Lösung einer Spannungden Geist befreit. So wie nun die Freiheit des Geistes nichtdie Negation einer Gebundenheit, sondern etwas in sich Posi-tives ist, ebenso ist der Witz nicht nur eine Form, die eineandere Form mit negativem Vorzeichen wiederholt, sonderner ist immer auch zu gleicher Zeit durch seine doppelte Funk-tion eine Form, die selbständig schafft.

Wir können diesen Vorgang besonders gut beobachten beijenen Witzen, die, ausgehend von Fehlern und Schwächen be-stimmterKreise oder eines bestimmtenMenschenschlages, spon-tan scharf umrissene, autonome Figuren und Gestalten hervor

-bringen, ich meine den Witz, der sich mit dem Jäger, demGigerl, der Köchin, dem Leutnant, dem Strolch, dem Duodez-

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fürsten, dem Homo novus, dem Geizhals, dem Trunkenbold,dem Schulmeister, dem Backfisch und ähnlichem beschäftigteoder beschäftigt und der in Witzblättern der Neuzeit ebensobeliebt ist wie in Schwänken der Vergangenheit. Offenbar isthier das Komische zunächst Spott. Ausgehend von Unzuläng-lichkeiten versucht es das mehr oder weniger Tadelnswerte,das jedem dieser Charaktere anhaftet, zu lösen oder zu ent-binden. Aber zu gleicher Zeit ist das Komische hier Scherz,und in dieser Eigenschaft gelingt es ihm, dieselben Charakterezu Grundformen von sehr positiver Persönlichkeit umzu-wandeln, ja zu binden ! Was in dem Jäger verspottet wurde,wird durch den Scherz : Münchhausen ; die Unzulänglichkeitendes Duodezfürsten werden in der Entspannung des Geistes zueiner so scharf umrissenen Figur, wie Serenissimus; schließ

-lich tröstet uns Frau Raffke über das, was uns bei den Neu-reichen ärgert.

Die Kraft jener neugeschaffenen, völlig autonomen, scherz-haften Persönlichkeiten ist so groß, daß sie imstande sind,ihrerseits allen Spott der Vergangenheit, alle Einzelwitze, diefrüher die gleiche Absicht, die gleiche Richtung zeigten, ansich zu reißen und sie in erneuter Weise auf sich zu beziehen.Sie werden magnetische Zentren so lange, bis wieder eine neueZeit sie löst und ersetzt.

Im Kleinen tut aber jeder Witz das Gleiche: Ausgehendvon der Entbindung des Tadelnswerten, also vom Negativen,wird er durch die Freiheit, die er unserm Geiste bei dem Löseneiner Spannung gewährt, seinerseits bindend und schafft sicheine eigene positive Welt. Nur in der Zweieinheit von Spottund Scherz ist diese Welt des Witzes als Ganzes zu verstehen.Wollen wir sie noch einmal umschreiben, so müssen wir sagen:die Welt des Komischen ist eine Welt, in der dieDinge in ihrer Lösung oder in ihrer Entbindungbündig werden.

Der Vergleich mit dem bodenlosen Gefäß stimmte nicht.War der Vergleich des Darmes mit Saite oder Sehne besser?Vielleicht können wir noch einen dritten hinzufügen. So wiegewisse Stoffe von ihrer gegebenen Zusammensetzung aus einechemische Verwandlung erfahren und durch einen äußerst

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komplizierten Gärungsprozeß eine Form annehmen, durch dieihre Wirkung eine völlig andere wird, kurz, so wie aus Trauben-saft und aus Milch, aus Honig oder aus Reis und Kartoffelndurch Gärung etwas hervorgeht, das erregt und berauscht, soscheint es, als ob aus geistigen Stoffen durch die Gärung desKomischen etwas Neues geschaffen wird, eine Form zustandekommt mit einer eigenen Art und einer neuen Funktion.

Es gibt Gegenstände, die im Sinne unserer Geistes-beschäftigung eine Lösung vollziehen, die also noch einmal als

Gegenstand, mit unserer Geistesbeschäftigung geladen, unsereForm vertreten. Wenn Hauff in eine menschliche Gesellschafteinen mit menschlicher Gesellschaftskleidung angetanen Affeneinführt, so löst er damit litterarisch nach einer bestimmtenRichtung die „Gesellschaft" in ihrer „Menschlichkeit". Abertut nicht ein wirklicher Affe, von einer menschlichen Mengebestaunt und begafft, während er unter der Fuchtel seinesDresseurs im Frack aus einem Glase trinkt, von einem Tellerißt, radelt oder raucht, kurz, sich menschlich gebärdet, genaudas Gleiche? Und kann nicht ein ritterliches Ahnenbild an denWänden des Zimmers eines Emporkömmlings, in dem alles ausallen Zeiten und Stilen zusammengerafft ist, die ganze Haltungdes Neureichen und des Neureichtums lösend veranschau-lichen?

Ich möchte einen solchen Gegenstand, in dem sich aneiner bestimmten Stelle und nur da eine Lösung vollzieht,K a r i k a t u r nennen. Gewöhnlich heißt Karikatur ein Bildnis,das überladen (caricato) einen Angriff (carica) auf einen Cha-rakter unternimmt, das durch Hervorhebung und Übertreibunggewisser Züge eine körperliche und geistige Beschaffenheit inund durch sich selbst zu lösen versucht. Hier aber greift einGegenstand einen Charakter, eine Beschaffenheit, eine Situationin derselben Weise an; mit unserer Geistesbeschäftigung ge-laden, karikiert er sie, löst er sie.

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AUSBLICK

So liegen sie nun vor uns, jene Formen, von denen wir zuAnfang sagten, daß sie sich in einem „andern Aggregatzustand"befinden als die eigentliche Litteratur, und daß sie von denDisziplinen, die den Aufbau von den sprachlichen Einheitenund Gliederungen bis zur endgültigen künstlerischen Kompo-sition beschreiben, nicht erfaßt werden jene Formen, diees scheint uns wichtig, darauf noch einmal hinzuweisen sosehr in der Sprache verankert sind, daß sie auch dem ewigenGewissen der Sprache, der S c h r i f t, zu widerstrebenscheinen.

Wir haben gesehen, wie sich alle diese Formen sowohl imLeben wie in der Sprache vollziehen, sowohl auf der Ebenedes Seins wie auf der Ebene des Bewußtseins wahrgenommenwerden;

wie sie sich jedesmal aus einer bestimmten G e i s t e s -b e s c h a f t i g u n g ableiten lassen;

wie wir sie als Reine Einfache Form und alsVergegenwärtigte Einfache Form erkennen können,und wie sich dann endlich eine Bezogene Form heraus-bildet:

wie schließlich jedesmal die Einfache Form ihre Machtauf einen Gegenstand übertragen, der Gegenstand mit derMacht der Form geladen werden kann.

Wir hätten das alles vielleicht systematischer darstellen,das Gemeinsame aller Einfachen Formen, ihren inneren Zu-sammenhang, von vornherein schärfer hervorheben, schema-tischer vermitteln können. Wir haben es jedoch vorgezogen,sie jedesmal sozusagen aus sich selbst zu entwickeln, jede inihrer eigenen Welt zu belassen und auf das bindend Allgemeine

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AUSBLICK 263

immer nur dort hinzuweisen, wo es sich aus dem Gang derEinzeluntersuchung selbstredend ergab. Es ist die Gefahr einerzergliedernden Arbeit, daß sie uns veranlaßt, die Glieder inihrem Verhältnis zur Gesamtheit falsch zu bewerten; es ist dasVerhängnis aller zerlegenden Arbeit, daß, wenn sie vollzogenist, das „Bild der schönen Welt" zerbrochen vor uns liegt.Wenn wir dennoch diesen Weg wählten, so geschah das, weilwir gegen einen lässigen Sprachgebrauch zu kämpfen hatten,der wir haben dies aus den Wörterbüchern gesehen -Worte mit verschiedener Bedeutung nicht mehr streng zu unter-scheiden vermochte, und gegen eine Denkart, in der Begriffezu verblassen und zu verschwimmen begonnen hatten. Trennenund Umreißen schien hier die erste Aufgabe, Aufbau nach einemwohlerwogenen Schema cura posterior.

Ein Vergleich der Einfachen Formen untereinander imtieferen Sinne müßte also unsere nächste Aufgabe bilden.

Dazu ist aber vieles nötig. Nicht selten habe ich im Laufedieser Abhandlungen darauf hingewiesen, wie an bestimmtenPunkten Einzeluntersuchungen und Erweiterungen einsetzensollten. Ich hätte das noch viel öfter tun können wohl auchtun sollen. Bei Untersuchungen wie den unsrigen spürt manauf Schritt und Tritt, was fehlt; immer wieder zeigen sichLücken, und wenn man einen Teil überschaut, kommt derStoßseufzer: wir stehen noch in den Anfängen; dort, wo wiraufhören, hat die eigentliche Arbeit erst einzusetzen.

Wir haben uns bei der Bestimmung der Formen in einemverhältnismäßig kleinen Kreise bewegt. Wir sprachen von derAntike, von der Völkerwanderung, dem Mittelalter und derNeuzeit. Es war unser Bestreben, nachzuweisen, wie das, wassich in einem Abschnitt dieser Zeitspanne womöglich inschärfster Ausprägung zeigte, für die ganze Zeitspanne -wenn auch óft weniger ausgeprägt Gültigkeit besaß: wiedie Geistesbeschäftigung, aus der sich eine Form ergab, wennauch nicht immer im gleichen Maße wirksam, dennoch unauf-hörlich in dieser Zeitspanne vorhanden und allgegenwärtig war:Andererseits haben wir von den Völkern des klassischen Alter-tums, von Germanen und Romanen, von Semiten und Indern,seltener auch von Naturvölkern geredet. Auch so versuchten

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wir zu zeigen, daß überall die gleichen Geistesbeschäftigungenherrschten, daß sich aus ihnen die gleiche Form ergab, und daßnur die Vergegenwärtigung jeweilig einen anderen Charakterannehmen konnte. Aber die Spanne der Weltgeschichte ist zeit-lich, die Ausdehnung der Völker, die bei dieser Geschichte be-teiligt sind, räumlich sehr viel größer als das, was wir inunseren Kreis einzubeziehen in der Lage waren. Ehe wir voneiner Unaufhörlichkeit und Allgegenwärtigkeit im eigentlichenSinne reden, ehe wir eine Geistesbeschäftigung in ihrer All-gemeingültigkeit und damit Sinn und Wesen der Form auchaus den meist verschiedenen Vergegenwärtigungen be-greifen können, wird es nötig sein, unseren Kreis zeitlich undräumlich beträchtlich zu erweitern.

Daß uns bei dieser Erweiterung Schwierigkeiten bevor-stehen darüber sind wir nicht im Zweifel. Sie liegen in dereben erwähnten Charakterverschiedenheit der Vergegen-wärtigungen.

Der Weg, die einzelnen Formen zu erkennen, zu unter-scheiden, ging über die Vergegenwärtigte Form. In der Ver

-gegenwärtigung lag uns zunächst die Form vor; von ihr ausdrangen wir zu der Einfachen Form als solcher durch; in ihrwiederum erfaßten wir die Geistesbeschäftigung. Daß dieserWeg möglich war, hatte uns Jacob Grimm bewiesen : als eineganze Zeit nicht mehr imstande war, die Einfache FormM ä r c h e n in den Vergegenwärtigungen zu erkennen, die sichvon der Grundform entfernt, mit Kunstformen verbunden hatten,hob er mit sicherm Griff die Eigenart der Einfachen Form, das„Sichvonselbstmachen", hervor. Wir haben versucht, seinemBeispiel zu folgen aber wir dürfen nicht vergessen, daß auchdie „Entdeckung des Märchens" in einem kleinen, dem Forschervöllig vertrauten Kreise begann.

Wird es nun, wenn wir in weit zurückliegenden Zeitenoder bei ferner liegenden Völkern sagen wir bei den Ägyptern,den Chinesen, den nordamerikanischen Indianern Vergegen-wärtigungen jeder Art sammeln und zu beobachten versuchen,ob sich dort, was wir im eigenen Kreise fanden, bestätigt,immer möglich sein, in diesen im Charakter von den unsrigen

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AUSBLICK 265

so verschiedenen Vergegenwärtigungen die Einfachen Formenals solche wiederzuerkennen?

Wir wollen beispielsweise daran erinnern, daß wir dieGeistesbeschäftigung, die zur Einfachen Form L e g e n d eführt, im Mittelalter in einer Heiligenvita, in der Antike ineinem Teil der Epinikien, in der Neuzeit in einem Sportberichtvergegenwärtigt fanden. Sollte nun eine chinesische oder nord-amerikanische Vergegenwärtigung der Einfachen Form Legendeim Charakter ebensoweit von unsern sämtlichen Vergegen-wärtigungen abweichen, wie ein Sportbericht von einer Heiligen-vita, so wird es gewiß nicht leicht sein, ihre Selbigkeit fest

-zustellen.Wir besitzen, wollen wir uns nicht mit Äußerlichkeiten

begnügen, sondern zu gültigen Ergebnissen kommen, hier nure i n Mittel.

Wiederholen wir noch einmal: unter der Herrschaft einerbestimmten Geistesbeschäftigung verdichten sich aus derMannigfaltigkeit des Seins und des Geschehens gleichartigeErscheinungen; sie werden von der Sprache zusammengewirbelt,zusammengerissen, zusammengepreßt und als Gestalt um-griffen ; sie liegen in der Sprache vor uns als nicht weiter teil-bare, von der Geistesbeschäftigung geschwängerte, mit derGeistesbeschäftigung geladene Einheiten, die wir die E i n ze 1 -gebärden der Sprache, der Kürze wegen Sprach-gebärden, genannt haben.

Es ist allen Einfachen Formen gemeinsam, daß sie sichdurch diese Einzelgebärden in der Sprache verwirklichenes sind andererseits diese Einzelgebärden, die es uns als mitder Macht einer Geistesbeschäftigung geladene und dadurchmorphologisch erkennbare sprachliche Einheiten ermöglichen,die Einfachen Formen voneinander zu trennen, sie zu unter-scheiden.

Neben dem Vergleich aller Einfachen Formen als solcherkommt also als weitere Aufgabe: die Untersuchung von derTätigkeit, dem Dienst und dem Bau der Sprachgebärden injeder einzelnen Einfachen Form und wiederum der Vergleichder Sprachgebärden der verschiedenen Einfachen Formen unter

-einander. Wenn wir die Sprachgebärden in den Sprachen

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266 AUSBLICK

unseres Kreises festgelegt haben und den inneren und äußerenSprachbau weiterer Kreise erlernt, müssen wir beobachten, obund inwieweit in jenen anderen Sprachen, dort, wo wir dieGeistesbeschäftigung zu erkennen glauben zwar mit ge-wissen Änderungen und Verschiebungen, aber trotzdem in, ihremSinne nach, vergleichbarer Weise die Sprachgebärde sichbetätigt.

Ich habe in diesen Abhandlungen diesen Weg nur dannund wann andeuten können. Eine folgerichtige Untersuchungder Sprachgebärden würde aber wiederum das Verhältnis derEinfachen Formen untereinander neu beleuchten. Sagten wirsoeben, daß es vielleicht schwer halten würde, eine chinesischeoder eine nordamerikanische Legende als solche zu er-kennen, so können wir dem gegegenüber vermuten, daß es auchbei verhältnismäßig geringen Kenntnissen von dem inneren undäußeren Bau des Chinesischen oder der Algonkinsprachen, mög-lich wäre, in ihnen den Spruch festzustellen. Wir könnendas leicht erklären. In unserer Legende bildet die Sprach

-gebärde, grob gesagt, nur einen Teil der Form. Gewiß den ge-staltenden Teil, den Teil, in dem die Geistesbeschäftigung demSinn und dem Wesen nach vertreten ist, den Teil, an dem wirdie Legende als Legende erkennen. Aber trotzdem liegenzwischen diesen einzelnen Sprachgebärden andere Teile, dievermittelnd oder verbindend die Geistesbeschäftigung wederin dem Maße erfüllen, noch in der Weise von ihr erfüllt sind,wie das bei den eigentlichen Sprachgebärden der Fall ist. Ähn-liches beobachteten wir in allen jenen Formen, die die Gestaltgrößerer fortlaufender Erzählungen annahmen, so in der S a g eund im Märchen. Wir haben bei dem Kasus sogar daraufhingewiesen, wie mit Hilfe der „auswechselbaren" vermitteln

-den Teile die Einfache Form in eine Kunstform übergeführtwerden kann. Auf der größeren Beweglichkeit jener Teileberuhen wesentlich die Charakterunterschiede, die wir in denverschiedenen Vergegenwärtigungen der gleichen EinfachenForm wahrnahmen. Dagegen umfaßte im S p r u c h die Sprach

-gebärde als solche die ganze Form; sie band sie so fest zu-sammen, daß hier kein Wort geändert werden konnte, daß dasGebilde als Ganzes fast den Eindruck machte, ein „persön-

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AUSBLICK 267

liches Gepräge" zu besitzen. Gerade dadurch war der Spruchleicht erkennbar.

Dürfen wir das nun für unsere Legende verallgemeinern?Dürfen wir annehmen, daß diese Verschiedenheiten der Be-tätigung der Sprachgebärde den Formen als solchen eigentüm-lich sind und daß immer und überall in der L e g e n d e zwischenden einzelnen Sprachgebärden verbindende Teile vermitteln,während immer und überall im S p r u c h die Sprachgebärdeals solche das Ganze erfaßt?

Nur eine erweiterte, vertiefte Untersuchung über Tätig-keit, Dienst und Bau der Sprachgebärde kann hier die Antwortbringen. Es kann sich herausstellen, daß einige Formen so be-schaffen sind, daß in ihnen die Sprachgebärden den sinn-tragenden Leitfaden bilden, durch den unter der Herrschafteiner Geistesbeschäftigung ein größeres Gefüge eindeutig be-stimmt und zusammengehalten wird, während andere Formendie Eigenheit besitzen, sich als Ganzes nur in der Sprachgebärdeselbst verwirklichen zu können. Es kann aber auch so sein, daßsämtliche Einfache Formen sich eigentlich und ursprünglichnur in der Sprachgebärde verwirklichen, und daß die ver-mittelnden und verbindenden Teile bei einigen auf einem Wege,der zur Kunstform führt oder der Kunstform entnommen wurde,hinzugekommen sind. Stimmt das erstere, so gehören auch jenevermittelnden und verbindenden Teile zur Geistesbeschäftigungund zur Einfachen Form als solcher ; ist das letztere der Fall,so wären sie, wo sie vorhanden sind, nur ein Mittel zur Ver

-gegenwärtigung.Wie dem auch sei, jedenfalls haben wir durch die Beob-

achtung der verschiedenen Tätigkeiten der Sprachgebärdenhier schon eine Möglichkeit gewonnen, unsere Formen einzu-teilen. Je nach dem Fehlen oder Vorkommen der vermittelndenund verbindenden Teile und je nach dem Verhältnis der eigent-lichen Sprachgebärden zu jenen Teilen können wir sie in Hin-sicht auf den Umfang der Form als G r o ß f o r m e n undKurz f o r m e n, in Hinsicht auf die Bewegung als f o r t-laufende und anhaltende Formen, in Hinsicht aufein Gerichtetsein nach außen oder nach innen als o f f e n e odergeschlossene Formen bezeichnen. Gehören mit den

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268 AUSBLICK

Sprachgebärden auch die vermittelnden und verbindenden Teilezur Einfachen Form selbst, so wäre diese Einteilung grund-sätzlich; gehören sie nur zur Vergegenwärtigung, so würde dieEinteilung immerhin für diese von Wichtigkeit sein.

Bei der Sprachgebärde hat unsere Untersuchung vonneuem einzusetzen. Durch die Sprachgebärde können wir

wenn wir sie nicht so, wie es in der sogenannten Motiv-forschung allzuoft geschehen ist, äußerlich und mit un-genügenden Sprachkenntnissen harmlos aufzählen und grup-pieren, sondern wenn wir sie als letzte Einheit, in der sich einegestaltbildende Geistesbeschäftigung kundtut, im tiefsten Sinnesprachlich deuten den Bau, den wir von außen her vollzogenhaben, von innen heraus noch einmal vollziehen.

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INHALTSeite

GELEITWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . V

EINFUHRUNGI. Die drei Richtungen der Litteraturwissenschaft — Schön-

heit, Sinn, Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . 1

II. Sprache und Litteratur . . . . . . . . . . . . . 8

III. Sprache als Arbeit — Erzeugen, Schaffen, Deuten , . . . 11

IV. Litterarische Formen . . . . . . . . . . . . . . 21

LEGENDE

I. Die Heiligen der Acta Sanctorum . . . . . . . . . 23II. Der Kanonisationsprozeß . . . . . . . . . . . . 26

III. Tätige Tugend und strafbares Unrecht — Vergegenständ-lichung — Wunder — Reliquie . . . . . . . . . . 29

IV. Geistesbeschäftigung derLegende— imitatio

und imitabile . . . . . . . . . . . . . . 34

V. Person — Gegenstand — Sprache — Vita und

historische Lebensbeschreibung . . . . . . . . . . 39

VI. Beispiel — die Sprachgebärde — dreimaliger

Auf b a u — Legende - Vita: potentielle - aktuelle Form —Einfache Form — Gegenwärtige Einfache

Form . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

VII. Erweitertes Beispiel: der heilige Georg . . . . . . . 48

VIII. Gegenform — der Unheilige — A nti 1 e g e n d e . . . 51

IX. Die Geistesbeschäftigung der imitatio an andern Stellen —

Pindars Siegeslieder — Begriindungslegende 56

X. Legende in unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . 60

SAGEI. Bedeutungsübergiinge und Bedeutungsentwertung der Form-

namen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

II. Die isländischen sogar ..............66

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270 INHALT

SeiteIII. Die Geistesbeschäftigung der Sage — Kenn-

worte: Familie, Stamm, Blutsverwandt -schaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

IV. Gegenbeispiel — Beispiel — die S p r a c h g e b ä r d e der,Sage — Beweglichkeit — griechische Sage — Vergegen-wärtigte und Einfache Form: S a g a und S a g e . . . . 76

V. Die „Urform" der Stoffgeschichte — Sage und E p o s —Nibelungenlied . . . . . . . . . . . . . . . . s3

VI. Sage im Alten Testament — Antisage — Erbsünde —,Darwinis7nus — Stammbaum- Cl und Person der Sage . . . . . . . . . .

MYTHE

I. Definitionen — Jacob Grimms Begriff . . . . . . . . 91

II. Mythologie und Mythus — Beispiel aus Genesis — Fr a g eund Antwort — Orakel — Mythe und Mythus —Beschaffenheit: Schöpfung . . . . . . . . . . . 96

III. Mythe — Erkenntnis — p üeos : Wahrsage — Cl e i s t e s -beschäftigung, Kennwort: Wissen, Wissen -Gehaft 102

IV. Der Aetnamythus bei Pindar -- Mythologie . . . . . . 105V. Die Bezogene Form — Beispiel — Platons Mythen 108

VI. Das Geschehen in der Mythe — Besonderheit derSprachgebärde . . . . . . . . . . . . . . 113

VII. Tell — Wandermythen — die Mythen vom rettendenWesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

VIII. Untergangsmythe — Symbol . . . . . . . 124

RÄTSELI. Sammlungen und Methoden der Rätselforschung . . . . 126

II. Mythe und Rätsel . . . . . . . . . . . . . . . 129III. Examen — Gerichtssitzung — Sphinxrätsel — Ilorätsel —

Halsrätsel . . . . . . . . . . . . . . . 131

IV. G r u n d der Verrätselung — Weihe und Bund 134

V. Was wird verrätselt? . . . . . . . . 137

VI. Wie wird verrät-selt? — Sonderspraehe —

Sprachgebärde des Rätsels . . . , . . . . 140

VII. Sondersprache und Form des Rätsele — doppelte Lösung . 144

VIII. Die Geistesbeschäftigung des Wissens —

Beispiele — die Rune . . . . . . . . . . . . . 147

SPRUCHI. Definitionen -- Seilers Deutsche Sprichwörterkunde . . . 150

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INHALT 271Seite

II. Geistessbeschäftigung: Erfahrung — dieVergegenwärtigungen . . . . . . . . . . . . . . 155

III. Die Welt der Empirie — Klugrede . . . . . . . . . 157

IV. das Geflügelte Wort — „Volk" und „Persönlichkeit" —die behauptende Art — S4prache des Sprich

-worts — Stilmittel — klangliche Bewegung — „Bild" —Vergegenwärtigung und Geistesbesehiiftigung — Apo-phthegmata — Emblem . . . , . . . , .. . . 160

KASUSI. Das S y s t e m der Einfachen Formen — neue Namen . . 171.

II. Beispiel — qualitatives uni quantitatives Messen von Rechtund Unrecht - die Norm Gesetzesparagraph - Exempel

und Beispiel - Geistesbeschäaftiguung des Kasus--- Streuung der Normen . . . . . 173

III. Die auswechselbaren Bestandteile — Übergang zur K u n s t -f o rm — Novelle. . . . . . . . . . . 181

IV. Weitere Beispiele — Geist und Buchstabe des Gesetzes . 184

V. Der indásche Kasus . . . . . . . . . . . . . . 187VI. Kasuts des Gefühls und Geschmacks — der Logik — def

Minne — der Theologie — L o h n als Gegenstand --Kasuistik — Psychologie . . . . . . . . . . . . . 194

MEMORABILEI. Beispiel: ein Tagesereignis — Bericht und Zeitungsaus-

schnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

II. Ein Geschichtsausschnitt . . . . . . . . . . . . 204III. Die St

....................................................208 u

Historie . . . . . . . . . . . . . IV. Die Geistesbeschäftigung mit dem Tatsäch-

lichen — das Konkrete — Dokument als

Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 211V. Beispiele — das Glaubwürdige — die Welt der Historie . 213

MXRCHENI. Name — Arten — Gattung Grimm — Sprache und Dichtung 218

1I. Grimm - Arnim — Naturpoesie und Kunstpoesie — Ein-fache Formen und Kunstformen . . . . . . . . . . 221

III. Die toseanische Novelle — Geschichte des Märchens . . . 227

IV. Märchen als Einfache Form — Formende Gesetzlichkeit

in Novelle und Märchen . . . . . . . . . . . . 231

V. Fest, besonders, einmalig — beweglich, allgemein, jedes-ma.lig — die Sprachgebärde . . . . . . , . . 234

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272 INHALTSeite

VI. Geistesbeschitftigung : naive Moral — diet r a g i s c h e Welt — Sprachgebärden des tragischen

Märchens — das Wunderbare als Selbstverständliches —Sprachgebärden des Märchens — der G e g e n s t a n d des

Märchens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

WITZ

I. Arten — Geistesbeschäftigung: Lösen undEntbinden — in der Sprache — in der Logik — in

der Ethik 247

II. Das Komische — das Unzulängliche — Spott 252

III. Satire — Ironie — in Kunstformen — dasStrenge — Scherz . . . . . . . . . . . . 255

IV. Zweifache Funktion — autonome Figuren — die Welt desKomischen — Karikatur als Gegenstand . . . . . 279

AUSBLICKZusammenfassung — Erweiterung des Kreises — die Sprach-

gebärde — Weiterordnung und Weiterführung . . . . . . . 262

INHALT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .69

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