Jian Teng - ciando eBooks

45
Jian Teng Taijiquan - eine neue Interpretation Doktorarbeit / Dissertation Medizin

Transcript of Jian Teng - ciando eBooks

Page 1: Jian Teng - ciando eBooks

Jian Teng

Taijiquan - eine neue Interpretation

Doktorarbeit / Dissertation

Medizin

Page 2: Jian Teng - ciando eBooks

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die DeutscheBibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de/ abrufbar.

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungensind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vomUrheberrechtsschutz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verla-ges. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen, Auswertungen durch Datenbanken und für die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronische Systeme. Alle Rechte, auch die des auszugsweisenNachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe (einschließlich Mikrokopie) sowieder Auswertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen, vorbehalten.

Copyright © 2005 Diplomica Verlag GmbHISBN: 9783832488932

http://www.diplom.de/e-book/224070/taijiquan-eine-neue-interpretation

Page 3: Jian Teng - ciando eBooks

Jian Teng

Taijiquan - eine neue Interpretation

Diplom.de

Page 4: Jian Teng - ciando eBooks
Page 5: Jian Teng - ciando eBooks

ID 8893

Teng Jian

Taijiquan - eine neue Interpretation Dissertation / Doktorarbeit Deutsche Sporthochschule Köln Institut für Freizeitwissenschaft, Abgabe Februar 2005

Page 6: Jian Teng - ciando eBooks

ID 8893 Jian, Teng: Taijiquan - eine neue Interpretation Hamburg: Diplomica GmbH, 2005 Zugl.: Deutsche Sporthochschule Köln, Dissertation / Doktorarbeit, 2005 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtes.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Die Informationen in diesem Werk wurden mit Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden, und die Diplomarbeiten Agentur, die Autoren oder Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für evtl. verbliebene fehlerhafte Angaben und deren Folgen.

Diplomica GmbH http://www.diplom.de, Hamburg 2005 Printed in Germany

Page 7: Jian Teng - ciando eBooks

1

Lebenslauf

Name: Teng, Jian

Geburtsdatum: 15.07.1957

Geburtsort: Lanzhou, Volksrepublik China

1964-1969: Grundschule, Lanzhou

1970-1974: Gymnasium, Gansu

1974-1977: Volleyballtrainer der Mannschaft der Stadt Wuwei

1978-1982: Studium der Sportwissenschaft an der Sport Universität Beijing

1982-1984: Fortbildung in Pädagogik und Management an der Beijing Normal

University

1982-1985: Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Lehrstuhl von Prof.

Zhichao Wu an der Sport Universität Beijing

1985-1991: Institutsleiter für Sportmanagement und Sportökonomie an der

Sport Universität Beijing

1985-1992: Vize-Generalsekretär des Verbands „Sozial- und Geisteswissen-

schaften im Sport Chinas“

1987-1991: Stellvertretender Dekan des Fachbereichs Sportmanagement und

Sportökonomie an der Sport Universität Beijing

1988-1991: Vorstandsmitglied der Sport Universität Beijing

1988-1991: Hauptdozent des Masterstudiengangs Sportmanagement für das

Sportministerium Chinas

1989: Erster Preis der Nationalen Sportwissenschaft des Jahres

1992-1995: Fortbildung an der Deutschen Sporthochschule Köln

1995-2000: Gründung des Qian Kun-Taiji-Systems

1996- Teilnahme an Seminaren zur Vorbereitung der Dissertation an der

Deutschen Sporthochschule Köln

2000- Erster Vorsitzender der International Qian Kun Taiji Association

e.V. in Köln

Page 8: Jian Teng - ciando eBooks

2

Akademischer Werdegang

1982-1984: Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Lehrstuhl am

Institut für Sportpädagogik und allgemeine Sporttheorie an der

Sport Universität Beijing.

ca. 500 Stunden Unterricht zu den Themen:

• Pädagogik

• Sport Pädagogik

• Moderne Management

1985-1991: Institutsleiter und Dozent für Sportmanagement und

Sportökonomie an der Sport Universität Beijing.

ca.1000 Stunden Unterricht zu den Themen:

• Modernes Management

• Sportmanagement

• Sportorganisation

1985-1991: Hauptdozent des Masterstudiengangs Sportmanagement für das

Sportministerium China.

ca. 500 Stunden Unterricht für Sportminister und Direktoren aus

verschiedenen Provinzen und Städten der V.R.China

zu den Themen:

• Modernes Management

• Sportmanagement

• Politikwissenschaft (Moderne Führungswissenschaft)

• Moderne Systemtheorie und Management

1988-2004: Forschung über traditionelle chinesische Bewegungs- und

Kampfkünste. Gründung und Entwicklung des Qian

Kun-Taiji-Systems.

Entwicklung der folgenden Formen:

• 120 Formen des Qian Kun Taijiquan,

• 82 Formen des Qian Kun Taiji Schert

Page 9: Jian Teng - ciando eBooks

3

• Das Spiel der 5 Tiere des Qian Kun Taiji

• 8 Formen des Qian Kun Taiji Gong

Veröffentlichungen in Zeitschriften

1981 Forschung über Trainingsmodelle über die Beziehung von Schrittgröße und

Geschwindigkeit beim 100m Lauf. Beijing ti yuan xue bao, 3, Beijing.

100 米短跑步长步频训练模型系数计算。《北京体院学报》3 期,北京。

1982 Forschung über Trainingsmodelle in der Leichtathletik. Beijing ti yuan xue bao,

3, Beijing.

田径训练模型研究。《北京体院学报》3 期,主要作者,北京。

1983 System von Beurteilungsmethoden zur Optimierung von Trainingsplänen.

Beijing ti yu ke ji, 2, Beijing.

训练计划整体最优化的系统评价方法。载《北京体育科技》2 期,北京。

1983 Forschung über die Auswahl von Studienfächern und Disziplinen auf Basis der

Fähigkeiten der Studenten zur Erlangung des Sportdiploms. Beijing ti yuan xue

bao, 3, Beijing.

体育学院本科生基本能力与课程设置的研究。《北京体院学报》3 期,北京。

北京体院国际学术报告会大会报告论文。主要作者。

1983 Forschung über Entwicklungsstrategien der Sporthochschule Peking. Quan guo

ti wei zhu ren lun wen bao gao ji, Beijing.

北京体院发展战略研究。载《全国体委主任论文报告集》。主要作者,北

京。

1983 Neue Planungsmethoden für den Leistungssport. Ti yu yan jiou, 3, Beijing.

论运动训练设计。《体育研究》,3 期,第一作者,北京。

1985 Analyse der Managementprozesse beim Leistungssporttraining mit moderner

Systemtheorie. Beijing ti yu ke ji, 1, Beijing.

用系统观点分析运动训练管理过程。《北京体育科技》,1 期,北京。

1985 Moderne Systemtheorie und Auswirkungen auf die Sportforschung. Haerbin ti

yuan xue bao, 2, Haerbin.

Page 10: Jian Teng - ciando eBooks

4

系统方法与体育研究。《哈尔滨体院学报》,2 期,哈尔滨。

1985 Abhandlung zu Praxis und Theorie des Sportmanagements. Haerbin ti yuan

xue bao, 4, Haerbin.

论体育管理与体育管理学。《哈尔滨体院学报》,4 期,哈尔滨。

全国体育科学理论学术报告会大会报告论文。

1985 Basistheorie über Sportmanagement. Ti yu ke xue, 3, Beijing.

关于体育管理学基本理论问题的研究。《体育科学》,3 期,北京。

1986 全国体育科学理论学术报告会大会报告论文。

1987 Forschung über Sportmanagementprozesse. Shanghai ti yu ka xue xue hui ti yu

xue shu bao gao lun wen ji, Shanghai.

关于体育管理过程研究。《上海体育科学学会体育学术报告论文集》,上海。

上海体育科学学会体育学术报告会大会报告。

Monographien

1985 Sportmanagement. Beijing ti yu xue yuan chu ban che, Beijing.

《体育运动管理学》。北京体育学院出版社,第一作者,北京。

1984 Führungswissenschaft und Sportmanagement. Beijing ti yu xue yuan chu ban

che, Beijing

《领导科学与体育管理》。北京体育学院出版社,第一作者,北京。

1985 Forschung über Wissensmanagement im Leistungssporttraining. Ren min ti yu

chu ban che, Beijing.

”运动训练科学管理探索”,《运动训练科学化探索》,人民体育出版社,北

京。

国家部委课题,主要作者之一。获得 1989 国家体委体育科技进步一等奖

(最高奖)。

1989 Lehrbuch für Sportmanagement. Ren min ti yu chu ban she, Beijing.

《体育管理学》。人民体育出版社。

国家体委全国体育学院统编教材,主要作者及负责最后统稿。

Page 11: Jian Teng - ciando eBooks

1

Inhaltsverzeichnis 1

Vorwort 5

Einleitung 10

1. Die Bedeutung des Taiji, Wuji und des Dao in der

traditionellen chinesischen Philosophie und ihr Einfluss auf

das Taijiquan 17

1.1 Die Bedeutung des „Yi Zhuan“ für die Taijiquan-Theorie 21

1.1.1 Die Zahlen und Wandlungen im „Kommentar zum Buch der Wandlungen“

23

1.1.2 Die Bedeutung von Bildern und Symbolen im „Kommentar zum Buch der

Wandlungen“ 24

1.1.3 Der Begriff des Dao im ,, Kommentar zum Buch der Wandlungen“ 26

1.1.4 Der dialektische Grundgedanke und die ganzheitliche Interpretation des

Taijiquan 29

1.2 Zhou Dunyis Verständnis von Taiji und Wuji 38

1.3 Zhu Xis Ansichten über Taiji und Wuji 41

1.4 Wang Fuzhis Ansichten über das Gesetz und die Materie und ihren Einfluss

auf das Taijiquan 44

1.5 Dai Zhens Verständnis des Dao und Taiji 46

1.6 Der Einfluss von Lao Zi auf Theorie und Praktiken des Taijiquan 47

1.6.1 Das namen- und formlose Dao als Grundlage für die Entstehung des Seins

48

1.6.2 Der dialektische Gehalt des Dao 49

1.6.3 Dao als Prozess ohne Anfang und Ende 51

1.6.4 Das Dao folgt seinen eigenen Regeln 53

1.6.5 Das Dao als Geist der Gesellschaft 54

Page 12: Jian Teng - ciando eBooks

2

1.7 Die Weiterentwicklung der Theorie Lao Zi’s durch Zhuang Zi 56

1.7.1 Alle Dinge gehen aus dem Dao hervor, das allgegenwärtige Dao 56

1.7.2 Das Dao als die Eins 59

2. Die Grundlagen der Theorie und Praxis des traditionellen

Taijiquan – eine Bewertung der Theorie und Praxis Wang

Zongyues 65

2.1 Die Bedeutung der Einheit für das Taijiquan 71

2.1.1 Die Theorien Wu Yuxiangs und Li Yiyus über das Taiji und Wuji 76

2.1.2 Die Ergänzung und Erweiterung des Verständnisses von Taiji und Wuji

durch Hao Yueru 80

2.1.2.1 Taiji als Bezeichnung für den ganzen Körper 81

2.1.2.2 Taijiquan als Zustand der Vollkommenheit der Bewegungen 83

2.1.2.3 Das Verständnis des Wuji und Taiji als Zustand der Ruhe und Bewegung –

der ganzheitliche Zustand vor Übungsbeginn 84

2.1.2.4 Die Bedeutung der „Leere“ im Taijiquan 88

2.2 Die Bedeutung der Yin/Yang- Lehre im Taijiquan nach Wang Zongyue 90

2.2.1 Die Trennung von Yin und Yang 96

2.2.2 Die Verbindung von Yin und Yang 101

2.2.3 Der Wechsel zwischen Yin und Yang 110

2.2.4 Die Balance zwischen Yin und Yang 112

2.3 Die Lehre vom Verständnis des Jin 117

2.3.1 Die Lehre vom Verständnis des Jin (Dong Jin) von Wang Zongyue 127

2.3.2 Das Verständnis des Jin nach Wu Yuxiang 143

2.3.3 Vereintes Jin - Li Yiyu´s Ergänzungen über Jin 162

3. Meister der Herzmethode – Die Taijiquan Theorie nach Wu

Yuxiang 179

3.1 Die Herz-Methode von Wu Yuxiang 191

Page 13: Jian Teng - ciando eBooks

3

3.2 Die Entwicklung der Herz-Methode nach Li Yiyu 216

3.3 Ergänzungen der Herz-Methode von Hao Yueru und Hao Shaoru 226

4. Meister darin, „den Gegner zu verleiten, vorzudringen und

sich im Leeren zu erschöpfen“ sowie „Jin von innen

auszustoßen“ – Li Yiyu 233

4.1 Die 5-Wörter-Theorie von Li Yiyu 233

4.2 Verleiten vorzudringen, sich im Leeren zu erschöpfen – Jin im Innern

wechseln 248

4.2.1 „Das Lied des Kampfes” und verleiten vorzudringen, sich im Leeren zu

erschöpfen 248

4.2.2 Wang Zongyue´s Taijiquan Theorie vom Verleiten vorzudringen und sich im

Leeren zu erschöpfen 250

4.2.3 Wu Yuxiang’s Ausführungen zu „Verleiten vorzudringen, sich im Leeren zu

erschöpfen” 255

4.2.4 Li Yiyu’s Erläuterungen über „Verleiten vorzudringen, sich im Leeren zu

erschöpfen” 258

4.2.4.1 „Verleiten vorzudringen, sich im Leeren zu erschöpfen”, „mit vier Liang

1000 Jin bewegen” 260

4.2.4.2 Sich selbst und den Anderen kennen 269

4.2.4.3 Man vernachlässigt sich selbst und folgt dem Gegenüber nach 279

4.2.4.4 Der gesamte Körper wird zu einer Familie 303

4.2.4.5 Vereinte Form und perfektionierte Technik 308

4.2.4.6 Den Geist und das Qi stimulieren, die allgemeine Verfassung soll angehoben

werden 319

4.2.4.7 Den Geist konzentrieren, die äußere und die innere Form soll einsatzbereit

sein 329

4.2.4.8 Die vereinte Jin-Kraft 333

4.3 „Die Jin-Kraft im Inneren wechseln“ 346

Page 14: Jian Teng - ciando eBooks

4

5. Schlußbemerkungen 359

6. Literaturverzeichnis 373

7. Glossar 388

8. Anhang 402

Die klassischen Schriften

Page 15: Jian Teng - ciando eBooks

5

Vorwort

Die Idee für diese Arbeit entstand in Zusammenarbeit mit Professor Zhichao Wu. Als

Sportpädagoge beschäftigte Professor Wu sich lange Zeit mit der traditionellen

chinesischen Bewegungskultur und mit verschiedenen Gesundheitsmethoden an der

Sporthochschule Beijing. Sein Forschungsgebiet war über lange Jahre das Qigong.

Sein Schwerpunkt lag auf archäologischen Studien sowie der Analyse antiker

Schriften über das Qigong und andere Bewegungskulturen. Gern hätte er eine

wissenschaftliche Arbeit über das traditionelle Taijiquan verfasst, es fehlte ihm

jedoch immer an Zeit. Anfang der achtziger Jahre war ich als wissenschaftlicher

Mitarbeiter und Dozent am Lehrstuhl von Professor Wu an der Sporthochschule

Beijing tätig. In dieser Phase wurde ich von seiner Denk- und Arbeitsweise erheblich

beeinflusst. Zudem interessierte ich mich schon lange Zeit für die Forschung über die

traditionelle chinesische Kampf- und Bewegungskunst des Wushu und Taijiquan. Ich

hatte bereits bei verschiedenen Wushu- und Taijiquanspezialisten, insbesondere bei

Professor Mingda Ma, Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Lanzhou, der

zudem aus einer angesehenen Wushu-Familie stammt und durch seine zahlreichen

Veröffentlichungen zur chinesischen Kampf- und Bewegungskunst zu großem

Ansehen gelangt war, gelernt. Dies veranlasste mich, eine Forschungsarbeit über das

traditionelle Taijiquan zu schreiben, welches bisher noch nicht systematisch

analysiert worden war. Bis Anfang der neunziger Jahre beschäftigten mich jedoch

noch andere wissenschaftliche Arbeiten, zudem entschloss ich mich zu einer

Fortbildung an der Deutschen Sporthochschule Köln. In Deutschland interessierten

sich viele für das Taijiquan und Qigong. Sie stellten mir die unterschiedlichsten

Fragen, etwa was bedeutet Taiji oder was Yin und Yang? Sie fragten nach Theorie

und Methoden des traditionellen Taijiquan, ob es eine sogenannte Geheimmethode

für das Erlernen dieser Kampfkunst gebe. Es bestand Bedarf für eine

wissenschaftliche Forschungsarbeit. Die Deutsche Sporthochschule Köln bot mir ein

attraktives akademisches Forschungszentum, welches für die vielgestaltigsten

wissenschaftlichen Themen eine offene Tür hat. Professor Dr. Walter Tokarski und

Professor Dr. Bernd Wirkus nahmen mein Thema an, ihre wissenschaftliche

Page 16: Jian Teng - ciando eBooks

6

Forschungsmethode und Denkweise haben entscheidenden Einfluss auf meine Arbeit

ausgeübt. Ihnen gilt insbesondere mein Dank für ihr verständnisvolles Eingehen auf

meine Konzeption und die Betreuung meiner Arbeit bis zum Abschluß. Für die

Übernahme des zweiten Gutachtens bin ich Herrn Professor Dr. Wolfgang

Ommerborn, Ruhr-Universität Bochum, zu großen Dank verpflichtet.

Das traditionelle Taijiquan ist ein Teil der traditionellen chinesischen Kampf- und

Bewegungskultur und steht mit der traditionellen chinesischen Philosophie, der

Medizin, der Kunst, insbesondere der Kampfkunst, den Bewegungsübungen und

Atemübungen in direkter Verbindung. Gibt es eine systematische Theorie über das

Taijiquan? Was sind ihre Kernaussagen? Diese zu erfassen ist ein schwieriges

Unterfangen. Zunächst ist es unabdingbar die einzelnen Bewegungsabläufe des

Taijiquan und den eigentlichen Lernprozess zu verstehen. Es geht nicht allein darum

eine Kampfmethode zu beherrschen oder seinen Gesundheitszustand zu verbessern,

sondern vielmehr darum die einzelne Übung und den Übungsprozess selbst zu

erlernen. Mit den Übungen erlernt man zugleich die schönen traditionellen

Bewegungen und einzelnen Methoden, entwickelt die eigene Bewegungsfähigkeit

und verbessert das eigene Verständnis für die traditionelle chinesische

Bewegungskultur. Damit einher geht die Entwicklung eines Verständnisses für die

Prinzipien, Begrifflichkeiten und unterschiedlichen Aspekte der traditionellen

chinesischen Kultur, Philosophie und Medizin. Kennzeichnend für das Taijiquan ist

die ihm eigene Sprache der traditionellen Texte, welche von Taijiquanmeistern

überliefert worden sind. „Bewegen sie sich, dann trennen [sie sich]; sind sie in Ruhe,

dann [sind sie] vereint“. „Ist der Gegner hart, bin ich weich; dies heißt Ausweichen.

Ich folge, und der Gegner [kommt in eine] ungünstige [Position]; dies heißt Sich-

Anheften“ (Wang Zongyue,1791, Seite 24). „Obwohl der Körper sich bereits bewegt,

ist es wichtig, dass das Herz noch ruhig bleibt; das Qi muss gesammelt werden, der

Geist und die Verfassung sollen entspannt sein“. „Zuerst das Herz, dann der

Körper“ (Wu Yuxiang, 1852, Seite 60). Diese Übungsprinzipen sind zwar sehr kurz

gehalten, sind jedoch reich an Bedeutung und enthalten verschiedene Aspekte der

traditionellen chinesischen Bewegungskultur, Kampfkunst und Gesundheitsübungen

diverser Taijiquan-Schulen oder Meister, welche über einen langen Zeitraum

Page 17: Jian Teng - ciando eBooks

7

überliefert worden sind. Einige Prinzipien sind der traditionellen chinesischen

Philosophie entlehnt wie etwa das Zitat „was das Taiji betrifft, so entsteht es aus dem

Wuji. [Es] hat den Zustand von Bewegung oder Ruhe und ist die Mutter von Yin und

Yang“ (Wang Zongyue,1791, Seite 24). Daher bilden die traditionellen Ideen,

Aspekte und Prinzipen die Anforderungen an die Bewegung des Taijiquan, welche in

den klassischen Schriften niedergelegt und Jahre lang praktisch umgesetzt worden

sind, den zentralen Anknüpfungspunkt für die Taijiquan-Theorie und für den ihr

eigenen kulturellen Reichtum. Damit ist klar, dass der Schwerpunkt dieser Arbeit auf

der Erforschung eben dieser Prinzipien, Ideen und Aspekte der klassischen Texte der

wichtigsten Taijiquanschulen und Meister liegt. Zunächst werden die einzelnen Ideen

und Denkweisen sowie ihr Einfluss auf die Taijiquanpraxis behandelt, sodann die

Unterschiede und Zusammenhänge ihrer Aspekte beleuchtet. Manche Ideen sind in

den Texten versteckt, vieles erscheint nebulös und ist nur schwer zu klären. Wichtig

ist es daher durch eingehende Erläuterungen, Ergänzungen und neue Interpretationen

ein grundlegendes Theoriesystem für das Taijiquan aufzubauen. Insbesondere soll

versucht werden die den Ideen eigenen Ausgangspunkte sowie die Gedankengänge

herauszuarbeiten. Hier ist auszuwählen zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem.

Mein Blick richtet sich stets auf die Kernprinzipien der traditionellen chinesischen

Bewegungskultur, um sie unter dem Gesichtpunkt der einzigartigen traditionellen

Taijiquan-Theorie zu bündeln. Jedoch ist die Untersuchung nicht allein eine

philosophische Forschungsarbeit, obgleich die Begriffe des Taiji, Wuji, Dao, Yin und

Yang, welche allesamt der traditionellen chinesischen Philosophie entstammen,

erheblichen Einfluss auf die Taijiqantheorie ausgeübt haben. Um das Dickicht zu

lichten und die zunächst nur schwer zu durchschauenden Zusammenhänge zwischen

dem Taijiquan und diesen Begriffen aufzudecken, soll die tatsächliche Bedeutung

dieser Begriffe erläutert werden.

In diese Arbeit werden zunächst das Verständnis des Jin, sodann die Herz-Methode

und im Anschluss daran das Prinzip „den Gegner verleiten vorzudringen, sich im

Leeren zu erschöpfen“ als die drei bedeutendsten Lehren des Taijiquan, die bisher

wenig beschrieben worden sind, erläutert und neu interpretiert. Diese Lehren sind die

Kerntheorien des Taijiquan und bilden für dessen Studium und Weiterentwicklung

Page 18: Jian Teng - ciando eBooks

8

den Leitfaden.

Das Fundament der Taijiquan-Forschung besteht aus den klassischen Texten, welche

in der klassischen chinesischen Sprache geschrieben sind. Ihre Interpretation ist den

Philologen vorbehalten. Obwohl die Forscher des Taijiquan auf die philologischen

Analysen zurückgreifen können, bedarf es weiterer mühevoller Anstrengungen, die

logische Struktur des jeweiligen theoretischen Systems zu erkennen und dessen

Denkansatz zu verstehen. Insbesondere das richtige Verständnis der oftmals

mehrdeutigen alten chinesischen Sprache und ihre Übersetzung ins Deutsche ist

schwierig. Zum Teil fehlt es an deutschen Entsprechungen, die den Inhalt identisch

wiedergeben könnten. Obwohl ich mich jahrelang mit den Originalschriften befasst

habe, hat mich so manches Wort unendlich lange beschäftigt. So sind einige

Unzulänglichkeiten wohl unvermeidlich. Für das richtige Verständnis der klassischen

Texte ist daher die Einbettung der Zitate in ihren Kontext unabdingbar.

Will man über die traditionelle Theorie des Taijiquan forschen, sollte man daher die

früheren Werke, die Materialien aus erster Hand studieren und ihre theoretische

Bedeutung verstehen lernen. Auch die Praxis des Taijiquan kann dazu beitragen, ein

Gefühl für diese Bewegungskultur zu erlangen. Dies kann zweifellos das Verständnis

früherer Schriften über das Taijiquan erleichtern und zur Bildung eigener

Erkenntnisse beitragen. Aus diesem Grund ist meine jahrelange Erfahrung im

Taijiquan, Qigong und Wushu, meine eigene Ausbildung durch verschiedene Meister

sowie meine langjährige Unterrichtspraxis äußerst hilfreich für die Analyse und

Neuinterpretation des Taijiquan.

Für das Verständnis der Arbeit seien mir noch einige Hinweise gestattet: bei der

Definition von Fachbegriffen und der zeitlichen Einordnung historischer Daten habe

ich mich hauptsächlich auf das „Große Wörterbuch des chinesischen Wushu“ von

Mingda Ma und auf die „Chinesischen Enzyklopädie“ von Sheng Hu gestützt. Im

Anhang finden sich die zehn klassischen Schriften in der alten chinesischen Sprache

sowie meine Übersetzung ins Deutsche.

Page 19: Jian Teng - ciando eBooks

9

Das Interesse meiner Schüler am Taijiqan und an meinen theoretischen Forschungen

hat mich stets angespornt und mir die Kraft gegeben, die Arbeit fertigzustellen. Ich

hoffe, dass diese Arbeit ihnen nunmehr die langersehnten Antworten gibt. Ganz

besonders ist für ihre Unterstützung zu danken: Dr. jur. Stefanie Beyer, Dipl.

Psychologin Gudrun Kriesche, Dipl. Sportwissenschaftlerin Ines Kutt, Dipl. Ing.

Uwe Meyer, Dipl. Phys. Jochen Müller, Vertreter von Yang Zhenduo Taijiquan in

Deutschland, Frank Grothstück, Dipl. Sportwissenschaftler, Vorsitzender der Daoyin

Yangsheng Gong Vereinigung Deutschlands, Martin Pendzialek, Dipl. Bibl. Elke

Steinhausen.

Besonders danke ich Herrn Dr. Gerd Helmer, Sporthochschule Köln, für langjährige

Begleitung meiner Studien. Danken möchte ich auch Frau Dipl. Übers. Chu Hui-lien

für tatkräftige Hilfe bei der technischen Fertigstellung des Manuskripts und Dr.

Sabine Werner für hilfsreiche Hinweise.

Den Lesern wünsche ich viel Erfolg beim Studium dieser Arbeit und viel Freude

beim Erlernen der Kampf- und Bewegungskunst des Taijiquan.

Page 20: Jian Teng - ciando eBooks

10

Einleitung

Theorie und Methoden des Taijiquan sind nicht leicht zu erschließen. Die in der

Qing-Zeit entstehende literarische Überlieferung besteht aus zumeist kurz und knapp

gefassten Texten, deren Inhalt reich, aber auch vieldeutig ist. Das klassische Werk

„Über das Taijiquan“ von Wang Zongyue (1736-1795) aus der Provinz Shanxi,

umfasst nur etwa 300 Schriftzeichen. Von ähnlicher Kürze sind die Dokumente

„Wichtige Erklärungen über die Ausführung der dreizehn Stellungen“ von Wu

Yuxiang (1812-1880) und „Erläuterung zu den fünf Wörtern [Begriffen]“ von Li

Yiyu (1832-1892). Diese Werke fassen den jeweiligen Forschungsstand über das

Taijiquan zusammen. Ihre Kürze darf jedoch nicht darüber täuschen, dass sie das

Ergebnis intensiver theoretischer Studien sind. Beispielsweise schreibt Wang

Zongyue in seinem Werk „Über das Taijiquan“: „Was das Taiji betrifft, so entsteht es

aus dem Wuji. [Es] hat den Zustand von Bewegung und Ruhe und ist die Mutter von

Yin und Yang“ (Wang Zongyue, 1791, Seite 24).

Hierbei handelt es sich offensichtlich um die Zusammenfassung seiner Theorie über

die Bewegungen des Taijiquan, zu dem er aufgrund seiner intensiven Studien über

die chinesische traditionelle Philosophie und Kultur gelangte. In seiner Schrift finden

sich jedoch keinerlei Äußerungen über die von ihm benutzten Quellen oder den von

ihm eingeschlagenen Erkenntnisweg. Dies führt dazu, dass seine Theorien und

Methoden des Taijiquan nicht nur schwer zu begreifen sind, sondern auch dazu, dass

in der weiteren Entwicklung von Theorie und Methode des Taijiquan Mehrdeutigkeit

und Unklarheit auftauchen. Es geht daher heute darum, sowohl die theoretischen

Voraussetzungen als auch die Denkweise der Verfasser der klassischen Schriften des

Taijiquan zu ergründen und sich dabei bewusst zu sein, dass dies die eigentliche

Schwierigkeit beim Verständnis der traditionellen Theorien und Methoden des

Taijiquan ist. Bis heute fehlen für die Praxis des Taijiquan eindeutige Begriffe, die

das System erhellen. Allein dass ein Gelehrter wie Wang Zongyue seinen

Denkprozess nicht offenlegt, bedeutet nicht, dass dem Ergebnis kein Prozess

intensiver theoretischer Überlegungen vorausgegangen ist. Wenn es der heutigen

Page 21: Jian Teng - ciando eBooks

11

Forschung gelingt, sowohl diesen Prozess als auch dessen Prämissen

herauszuarbeiten und so die traditionellen theoretischen Auffassungen und Methoden

greifbar und für die Praxis verständlich zu machen, dann werden gerade die von der

traditionellen chinesischen Philosophie geprägten Begriffe des Taijiquan durch ihre

Offenheit Raum für neue Interpretationen bieten.

Wenn ein Taiji-Gelehrter tief in sein Forschungsgebiet eingedrungen ist und die von

ihm erzielten Einsichten vielfältig sind, dann darf man dahinter ein systematisches

Denken vermuten, selbst wenn dies die äußere Form seiner Aussagen nicht ohne

weiteres erkennen lässt. Würde es an diesem systematischen Denken fehlen, so wäre

er gar kein Gelehrter des Taijiquan, und weder würden seine Erklärungen und

Einsichten die Praxis des Taijiquan anleiten, noch würde er in der Theorie des

Taijiquan eine Position einnehmen. Aufgabe der vorliegenden Untersuchung soll es

sein, hinter den Schriftzeugnissen dieser frühen Gelehrten das System ihres Denkens

und ihrer Theorien sichtbar zu machen. Dies soll durch die Einordnung, Beurteilung

sowie Ergänzung der zum Teil nur bruchstückhaft erhaltener Materialien erfolgen.

In den ursprünglichen Theorien und Schriften des Taijiquan werden zahlreiche

ausgewählte Begriffe der chinesischen Philosophie verwendet wie etwa die des Taiji,

Yin und Yang oder des Dao. Diese Begriffe dienen dazu, das Taijiquan als

Körperbewegungskultur zu beschreiben und zu erklären. Ihr Gebrauch erfolgt jedoch

nicht einheitlich, und es wird weder ihr genauer Inhalt noch ihre Funktion definiert.

Das erschwert die Analyse und Beurteilung der traditionellen Theorie und der

Methoden des Taijiquan. Will man einen Gedanken oder Lehrsatz des Taijiquan

erklären und seine Stellung innerhalb des Systems des traditionellen Taijiquan

bestimmen, so kann dies nicht gelingen, wenn man sich keine klare Vorstellung von

der ursprünglichen Quelle und von den der traditionellen chinesischen Philosophie

entlehnten Inhalten macht. Erst danach ist es möglich zu erkennen, wie diese

Begriffe in die Theorie des Taijiquan eingeführt wurden, welchen Einfluß und welche

Funktion sie hatten und haben.

Die erste Aufgabe der vorliegenden Arbeit liegt daher darin, die in der traditionellen

Page 22: Jian Teng - ciando eBooks

12

Taijiquan-Theorie üblichen Begriffe zu klären und zu diskutieren. Welche

Bedeutungen und Inhalte haben sie? Auf welche Weise wurden sie in die traditionelle

Theorie des Taijiquan eingeführt? Welchen Veränderungen unterliegen sie nach der

Einführung in das System und welche Funktion nehmen sie darin ein? Bei der

Analyse der Begriffe wie Taiji, Wuji, Yin und Yang, Dao u.a., die eine wichtige

Position und grundlegende Funktion in den traditionellen Theorien des Taijiquan

haben, wird daher zuerst nach der Quelle gesucht. Die genauen und teilweise

unterschiedlichen Inhalte dieser Begriffe in der Philosophie einerseits und den

traditionellen Theorien des Taijiquan andererseits sind zu untersuchen sowie

Bedeutung und Einfluss der traditionellen chinesischen Philosophie auf das Taijiquan

zu klären. Das soll die theoretische Grundlage und Voraussetzung für die weitere

Diskussion bilden, in der es um die Analyse der Besonderheit und Systematik der

traditionellen Theorien des Taijiquan geht. Die Suche nach den theoretischen Quellen

des Taijiquan ist eine grundlegende Arbeit und unabdingbar für das tiefere

Verständnis der traditionellen Theorie und der Methoden des Taijiquan.

Die zweite Aufgabe der hier vorgelegten Untersuchung ist es, die traditionellen

Theorien und Methoden des Taijiquan zu erklären und einzuordnen. Die mehr als

zweihundert Jahre alte Schrift von Wang Zongyue „Über das Taijiquan“ ist

wegweisend für die Entstehung von Theorie und Methoden des Taijiquan. Heute gibt

es zahllose Artikel und Bücher über das Taijiquan. Diese beschreiben jedoch zumeist

die Eindrücke von Praktizierenden und Liebhabern des Taijiquan bzw. beschäftigen

sich mit einzelnen Fragen des Taijiquan. Einige handeln von der Theorie und den

Methoden des Taijiquan und geben den jeweiligen Stand der Forschung wieder.

Hieraus folgt die Aufgabe, aus den vorhandenen Darstellungen und Materialien jene

Werke, die einen starken Einfluss auf Bildung und Entwicklung des Taijiquan

ausüben, auszuwählen und in Beziehung zueinander zu setzen, um der Theorie und

den Methoden des Taijiquan eine klare Struktur zu geben. Ferner sollen die

wichtigsten Theorien und Methoden seit Entstehung des Taijiquan beleuchtet werden.

Neben den traditionellen Schriften des Taijiquan entstanden im Zeitraum zwischen

Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts heute

allgemein anerkannte klassische Dokumente von großer wissenschaftlicher

Page 23: Jian Teng - ciando eBooks

13

Bedeutung. Diese knapp gefassten Texte sind in altertümlicher Sprache geschrieben

und enthalten nur wenige Fachausdrücke. Sie müssen daher in die moderne Sprache

übertragen und kommentiert werden, um die traditionellen Theorien und Dokumente

besser verstehen zu können. Dies stellt eine wesentliche Aufgabe der Taijiquan -

Forschung dar.

Die dritte Aufgabe besteht darin, das theoretische System des Taijiquan in den Texten

einzelner Gelehrter herauszuarbeiten. Praxis und Theorien des Taijiquan beschäftigen

sich mit den gleichen Fragen, die Wissenschaftler haben zum Teil aber

unterschiedliche Denkansätze. So setzt der Gelehrte, der das „Wushi“ (Kampfkultur),

d.h. den Angriff und die Abwehr betont, andere Schwerpunkte als derjenige, der sich

den positiven Auswirkungen des Taijiquan auf die Gesundheit oder seinem

Freizeitwert widmet. Jedes einzelne System ist vergleichbar einem menschlichen

Individuum, welches eine einzigartige Gestalt besitzt. Die Gelehrten mögen die

gleichen Bewegungsformen des Taijquan erlernt haben, bilden aber ihren je eigenen

Stil aus. Ihr jeweiliges System sollte daher konkret erklärt werden, um es lebendig

und anschaulich werden zu lassen. Der Interpretation des Taijiquan ist es nicht

zuträglich, das lebendige System eines Taijiquan Meisters unnatürlich aufzuspalten.

Dies wäre wie einen lebenden Menschen zu zerteilen um ihn anschließend wieder

zusammenzusetzen. Selbst wenn dies gelänge, wäre dieser Mensch nicht mehr am

Leben.

Die vierte Aufgabe liegt darin, die Prämissen und Denkansätze der Auffassungen und

theoretischen Systeme verschiedener Gelehrter zueinander in Beziehung zu setzen

sowie deren Übereinstimmungen und Differenzen herauszuarbeiten. Die

Ausgangsfragen des theoretischen und praktischen Ansatzes sind dabei gleich. Daher

existiert eine objektive Beziehung zwischen den einzelnen wissenschaftlichen

Arbeiten, sie bilden den gemeinsamen Ausgangspunkt für die Erforschung des

Taijiquan. In diesem Zusammenhang soll weiterhin versucht werden zu klären, wie

die einzelnen Autoren zu bestimmten Schlussfolgerungen gelangt sind, was bedeutet,

sowohl die Voraussetzungen als auch den Prozess selbst, der zu den jeweiligen

Aussagen geführt hat, zu analysieren. Das kann nicht nur zum Verständnis der

Page 24: Jian Teng - ciando eBooks

14

klassischen traditionellen Theorie und Methoden des Taijiquan führen, sondern

zugleich der Schulung des theoretischen Denkens des Taijiquan-Übenden wie der

heutigen Taijiquan-Forscher dienen.

Wenn die vorangegangenen Überlegungen und Untersuchungen zur Entwicklung

einer objektiven Basis für die Betrachtung der unterschiedlichen Theorien,

Äußerungen und Methoden geführt haben, so sollen zuletzt die jeweiligen

Besonderheiten analysiert werden. Jeder Forscher des Taijiquan beobachtet, denkt

und berichtet aus seiner Sicht und aufgrund seiner persönlichen Erfahrung. Von

diesen Darlegungen sind manche wesentlich, andere unwesentlich, teils sind sie

vielseitig, teils einseitig. Manchmal handelt es sich sogar um bloße Mutmaßungen,

die jeder Grundlage entbehren. An dieser Stelle werden nur solche Theorien und

Methoden, deren Geschichte einer objektiven Überprüfung standhält und die das

Wesen der Praxis des Taijiquan widerspiegeln, ausgewählt. Ein umfassendes

theoretisches System, welches auch die wesentlichen Besonderheiten des Taijiquan

einschließt, bedarf der Erläuterung und Begründung, damit das Wesen des Taijiquan

tiefer begriffen werden kann. Dann lässt sich auch von einem fundamentalen System

sprechen, das die Basis der Forschung bilden kann und quasi den Prototyp der

Taijiquan-Theorie. In der vorliegenden Arbeit soll dies das Ergebnis der

Überarbeitung der Theorien, bei der Ganzheitaspekt und das Außerordentliche des

Taijiquan im Vordergrund stehen, sein.

Sämtliche Aspekte dieser Untersuchung haben folgendes gemeinsam: will man die

Meinungen und Theorien des Taijiquan erforschen, hat man sich zunächst der

Prämissen der Forscher zu vergegenwärtigen, d.h. die Frage nach dem Inhalt seiner

Gedanken aufzuwerfen und zu untersuchen, wie und warum er auf seine Weise denkt

und sich ausdrückt. Erst dann lassen sich die Theorien, unterschiedlichen Meinungen

und Vorstellungen richtig wiedergeben. Dies ist ein äußerst schwieriges Unterfangen.

Denn das Taijiquan ist als traditionelle Körperbewegung und Bewegungskultur

zunächst Praxis. Ohne Blick auf die praktische Seite des Taijiquan lassen sich die

Meinungen und Theorien daher nicht verstehen. Daher gilt es auch diese Seite zu

begreifen und zu beherrschen. So sind die Ergebnisse der praktischen Taijiquan-

Page 25: Jian Teng - ciando eBooks

15

Forschung nicht nur hilfreich, um die Praxiserfahrungen zu vertiefen, sondern auch

um zum Verständnis der Theorie des Taijiquan beizutragen. Auf dieser Basis lassen

sich Leitlinien und Regeln für die Theorie des Taijiquan aufstellen, welche der Praxis

des Taijiquan eine klare theoretische Anleitung geben und die Herausforderung für

ihre Weiterentwicklung darstellen.

Bedeutsam für die Forschung sind ferner geschichtliche Daten und Fakten. Unsere

Kenntnisse über das Taijiquan basieren auf ausreichend umfassenden, historischen

Dokumenten, die sorgfältig zu analysieren und in einen Gesamtkontext zu stellen

sind. Der Forschungsprozess ist vergleichbar mit dem eines Bauprojektes, bei dem

das Fundament die notwendige Basis für den gesamten Bau bildet. Bei der Taijiquan-

Forschung besteht das Fundament aus geschichtlichen Daten und Fakten. Die

heutigen Erkenntnisse gründen sämtlich auf den Schriften der frühen Taijiquan-

Gelehrten. Dieses sind die aufschlussreichsten Materialien, weil sie Primärquellen

aus erster Hand sind, d.h. direkt von den frühen Gelehrten verfasst wurden. Da sie in

der klassischen Schriftform geschrieben sind, ist ihre Interpretation zumeist den

Philologen vorbehalten. Die Forscher des Taijiquan können jedoch aufbauend auf

den Ergebnissen der philologischen Forschung die theoretische Bedeutung der

philosophischen Texte analysieren. Insoweit ist die logische Struktur des jeweiligen

theoretischen Systems zu erkennen und dessen Denkansatz zu verstehen. Erst dann

lassen sich die philosophischen Meinungen und Erkenntnisse über das Taijiquan

sicher einschätzen und die Inhalte einzelner Theorien lebendig und anschaulich

beschreiben.

Will man über die traditionelle Theorie des Taijiquan forschen, sollte man daher die

früheren Werke, die Materialien aus erster Hand studieren und ihre theoretische

Bedeutung verstehen lernen. Auch die Beobachtung und Ausübung des Taijiquan

kann dazu beitragen, ein Gefühl für diese Bewegungskultur zu bekommen. Dies kann

zweifellos das Verständnis früherer Schriften über das Taijiquan erleichtern und zur

Bildung eigener Erkenntnisse beitragen.

Als traditionelle Kultur weist die Theorie des Taijiquan einen Mischcharakter auf.

Page 26: Jian Teng - ciando eBooks

16

Deren theoretische Aussagen stehen in enger Beziehung zur Philosophie, Kultur und

traditionellen chinesischen Medizin. Insbesondere in den frühen Schriften des

Taijiquan finden sich die Begriffe der traditionellen chinesischen Philosophie wie die

des Taiji, Wuji, Yin und Yang. Mittels dieser Begriffe versuchte man bereits damals,

das Taijiquan zu analysieren und zu veranschaulichen. Die Besonderheit des

Taijiquan zeichnet sich durch eben seinen engen Bezug zur chinesischen Philosophie

und Kultur aus. Sowohl diese philosophische Fachsprache als auch der Inhalt dieser

Kategorien ist Gegenstand der vorliegenden Forschungsarbeit.

Page 27: Jian Teng - ciando eBooks

17

1. Die Bedeutung des Taiji, Wuji und des Dao in der

traditionellen chinesischen Philosophie und ihr Einfluss auf das

Taijiquan

Das Wort Taiji, das sich zum ersten Mal in dem Yi-Buch der Zhou-Zeit, einem

philosophischen Werk aus der Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.) findet,

entstammt der traditionellen chinesischen Philosophie und ist Gegenstand zahlreicher

Erörterungen. Auch in der traditionellen chinesischen Kultur und Medizin ist es seit

langem gebräuchlich. Während der Regierungszeit des Kaisers Qianlong der Qing-

Dynastie verfasste Wang Zongyue, wie bereits erwähnt, nach gründlichem Studium

chinesischer Schriften über die Philosophie, Kultur und Bewegungslehren sowie

basierend auf eigenen Erfahrungen in den Faustkampf-Übungen das Werk „Über das

Taijiquan“. Darin führte er erstmals die Begriffe des Taiji sowie Yin und Yang in die

Übungen des Faustkampfs ein, mit denen er die theoretischen Grundlagen für das

Taijiquan zu veranschaulichen suchte. Seitdem fand das Taijiquan als Bezeichnung

für die Kampf- und Bewegungskunst allmählich Verbreitung.

Die Frage, von wem Wang Zongyue das Taijiquan erlernte und welchen Stil er

praktizierte, ist bisher ungeklärt. Es existieren lediglich lückenhafte historische

Berichte, so dass die Auffassungen stark divergieren. Das heißt, dass die

Bezeichnung Taijiquan von Wang Zongyue stammt, dass aber die Frage, wann und

wie das Taijiquan entwickelt wurde, trotzdem offen bleiben muss. Einige bekannte

Meister des Taijiquan vertreten die Ansicht, dass das Taijiquan auf einen daoistischen

Priester namens Zhang Sanfeng im Wudang-Gebirge zurückgeht. Doch diese sowohl

in China als auch im Ausland verbreitete Auffassung entbehrt jeder überzeugenden

Grundlage. Nach einer anderen Theorie soll das Taijiquan von Chen Wangting (?-

1719), einem ehemaligen General der späten Ming-Dynastie, entwickelt worden sein.

Ein schlagendes Argument für diese Behauptung ist, dass die gegenwärtig beliebten

fünf Schulen des Taijiquan – Chen-, Yang-, Wu-Hao-, Wu- und der Sun-Stil – dem

von Chen Wangting geschaffenen Taijiquan ähneln, und zwar in ihren Sequenzen,

den Namen der einzelnen Übungen, sowie den Haltungen und Besonderheiten der

Page 28: Jian Teng - ciando eBooks

18

Bewegungen an sich. Chen Wangting hat die theoretischen Prinzipien des Taijiquan

jedoch nicht systematisiert, so dass an dieser Theorie wohl eher Zweifel angebracht

sind. Auch Xu Xuanping und Li Daozi, die während der Tang-Dynastie (618-907)

lebten, sowie Qi Jiguang (1568-1644) und Chen Bu (1528-1587) kommen als

Begründer des Taijiquan in Betracht. Die Diskussion darüber ist jedoch bis heute

nicht abgeschlossen.

Fest steht lediglich, dass das Taijiquan gegen Ende der Ming-Dynastie (1368-1644)

und Anfang der Qing-Dynastie (1644-1911) bekannter wurde. Dies ist ein allgemein

anerkanntes historisches Faktum. Zwar kam der Begriff des Taijiquan erst relativ spät

auf, gesichert ist aber, dass der Ursprung des Taijiquan in der Song-Dynastie (960-

1179) liegt oder sogar auf eine noch frühere Zeit zurückzuführen ist. Denn das

Taijiquan steht nicht nur mit der traditionellen chinesischen Philosophie in

Beziehung, sondern auch mit den traditionellen chinesischen Körperübungen und

dem Qigong, insbesondere mit der chinesischen Wushu-Kultur. Wushu,

früher ,,Shoubo“ , ,,Jiji“ oder ,,Wuyi“ genannt, ist eine chinesische Kampfkunst,

deren Entstehung bis in die Dynastien Shang (1600-1066 v. Chr.) und Zhou (1066-

476 v. Chr.) zurückverfolgt werden kann (Ma Mingda, 1987, Seite 22). Das Taijiquan

kann also auf eine Geschichte von mehreren Jahrtausenden zurückblicken. Erst in

den Jahren des Übergangs von der Ming- zur Qing-Dynastie entwickelte sich das

Taijiquan zu einer selbständigen Art der Bewegungskultur. In seinem Werk ,,Über

das Taijiquan“ setzte Wang Zongyue das Taijiquan mit der chinesischen Philosophie

und Kultur in Beziehung und schuf damit einen intellektuellen Überbau. Das

Taijiquan wurde in der Folge zu einer bedeutenden Kampf- und Bewegungskunst

(Ren Hai, 1997, Seite 97).

In der Schrift ,,Über das Taijiquan“ finden sich Kategorien und Begriffe wie etwa

Taiji, Wuji, Yin und Yang, Geist, Bewusstsein, Ruhe und Bewegung, Sanftheit und

Gemächlichkeit oder das Anhaften. Einige dieser Begriffe werden von Wang erläutert,

zu anderen äußert er nur Grundgedanken. Zu den Begriffen, die der traditionellen

chinesischen Philosophie entstammen, kommen Ausdrücke wie der eines sanften und

gemächlichen Kräfteeinsatzes oder der des sich-Anheftens hinzu, die aus der Praxis

Page 29: Jian Teng - ciando eBooks

19

des Taijiquan selbst hervorgingen.

Was jedoch bedeuten diese Begriffe? Warum wurden sie in das Taijiquan eingeführt?

Wie fasste Wang Zongyue diese Begriffe auf? Eine eindeutige Antwort lässt sich in

dem Werk ,,Über das Taijiquan“ nicht finden. Es erfordert einen intensiven

Denkprozess, ehe sich Fragen zum Taijiquan beantworten lassen, selbst die

Entwicklung neuer Ansätze ist für einen Taijiquan Meister zumeist langwierig.

Leider hat Wang Zongyue seine Gedankengänge nicht niedergeschrieben. Das was er

ausgelassen hat, soll nunmehr in Worte gefasst und durch Erläuterungen ergänzt

werden. Daher ist es erforderlich sich ein klares Bild von den Begriffen Taiji, Wuji,

Yin und Yang, der Bewegung und Ruhe sowie deren Beziehungen, Inhalten und

ursprünglichen Bedeutungen zu verschaffen. Anderenfalls lassen sich das Werk von

Wang Zongyue sowie andere Schriften des Taijiquan nicht sachgemäß verstehen.

Wang Zongyue schrieb: ,, Was das Taiji betrifft, so entsteht es aus dem Wuji. [Es]

hat den Zustand von Bewegung und Ruhe und ist die Mutter von Yin und Yang“

(Wang Zongyue, 1791, Seite 24). Das Verständnis von Taiji verdankte Wang

Zongyue vornehmlich Zhou Dunyi (1017-1073), einem der Begründer des Neo-

Konfuzianismus. Aus dem Buch ,,Das illustrierte Taiji“ von Zhou Dunyi stammt

folgendes Zitat: ,,Von Wuji zu Taiji. Durch die Bewegung des Taiji entsteht Yang,

die äußerste Bewegung führt zur Ruhe, durch Ruhe entsteht Yin und die äußerste

Ruhe führt erneut zur Bewegung. Ruhe und Bewegung bedingen sich gegenseitig,

wenn sich Yin und Yang trennen, bestehen bereits die zwei Grundkräfte“ (Zhou

Dunyi, „Illustrierte Lehre des Taiji“, 1994, Seite 643). Mit seiner Schrift ,,Illustrierte

Lehre des Taiji“ wollte Zhou Dunyi die ,,Große Abhandlung, das Yi-Buch der Zhou-

Zeit“ erläutern, in welchem sich zum ersten Mal der Begriff des Taiji findet: ,,In den

Wandlungen gibt es den großen Uranfang. Dieser erzeugt die zwei Grundkräfte. Die

zwei Grundkräfte erzeugen die vier Bilder. Die vier Bilder erzeugen die acht

Zeichen“ (,,Das Yi-Buch der Zhou-Zeit, Große Abhandlung“, I. Abteilung, Seite

424). Hier wird Taiji (großer Uranfang) als die höchste Kategorie eingestuft. Wang

Zongyues und Zhou Dunyis Erklärungsansätze scheinen identisch zu sein, es bedarf

Page 30: Jian Teng - ciando eBooks

20

jedoch einer detaillierten Analyse, sie ist ein Anliegen der hier vorgelegten

Abhandlung.

In den Schriften zum Taijiquan finden sich diverse Meinungen über den

Bedeutungsgehalt des Begriffes Taiji. Chen Xin (1849-1929), der das Taijiquan im

Chen-Stil theoretisch zusammenfasste, schrieb folgendes: ,,Taiji und die zwei

Grundkräfte, Himmel und Erde, Yin und Yang“ (Chen Xin, 1955, Seite 121). Nach

diesem Verständnis ist Taiji die höchste Kategorie und wird nicht zu Wuji in

Beziehung gesetzt. In diesem Zusammenhang führt der zeitgenössische Taijiquan-

Experte Kang Gewu aus: ,,In den Wandlungen gibt es den großen Uranfang. Dieser

erzeugt die zwei Grundkräfte.“ Dies bedeutet, dass das Taiji als Ursprung aller Dinge

anzusehen ist. Nach dieser Auffassung gab es einen großen Uranfang, bei dem die

zwei Grundkräfte noch nicht getrennt waren (Kang Gewu, 1990, Seite 50). Taiji wird

in diesem Kontext als Zustand beschrieben, der durch einen ,,Geist ohne Gestalt“,

durch ,,Bewegung im Inneren und Ruhe im Äußeren“ gekennzeichnet ist. Auch Yu

Gongbao, ein zeitgenössischer Wissenschaftler der Qigong- Bewegungskultur vertritt

die Auffassung: „dass die eingangs beschriebene These den ursprünglichen Zustand

der Entstehung aller Dinge beschreibe. In der Praxis des Taijiquan symbolisiert die

Standposition diesen Uranfang, mithin das Taiji; der Beginn der Bewegung hingegen

ist Ausdruck der Trennung der gegensätzlichen Kräfte. Wie Yang Chengfu meint‚

‚verkörpert das Taiji die Bewegung‘. Für Chen Xin ist ‚Taiji der erste Augenblick

und, auf den Körper bezogen, ein ruhiger Zustand, in dem man den Körper noch

nicht bewegt, dies jedoch zu tun gedenkt’“ ( Yu Gongbao, 1999, Seite 153). Taiji

existiert damit objektiv. Ren Hai, ein zeitgenössicher chinesischer

Sportwissenschaftler äußerte sich zur Bedeutung des Begriffes Taiji wie folgt: ,,Das

Wort Taiji kommt zum ersten Mal im Yi-Buch der Zhou-Zeit vor. Mit Taiji ist das

trübe Element vor der Trennung von Himmel und Erde gemeint. Alle Dinge der Welt

stammen aus diesem Element. Für das Taijiquan macht man von dieser alles

umfassenden Taiji-Theorie Gebrauch um zu zeigen, dass diese Art Faustkampf dem

zwischen Himmel und Erde herrschenden Element zugrunde liegt und dass sie

genauso wie dieses Element zahlreiche Wandlungen ermöglicht, wobei das

Wesentliche jedoch unverändert bleibt. Es wundert mich nicht, wenn man Taijiquan

Page 31: Jian Teng - ciando eBooks

21

den philosophischen Faustkampf nennt“ (Ren Hai, 1996, Seite 86-87).

Aus den oben genannten Ansichten ist zu ersehen, dass bei der Auslegung des

Begriffs Taiji nicht nur Wang Zongyues ,,Über das Taijiquan“ und das ,,Illustrierte

Taiji“ von Zhou Dunyi, sondern das frühe „Buch der Wandlungen“ (Yi Jing) der

Zhou-Zeit“ herangezogen worden sind. Die Ansichten beider weisen trotz einiger

Unterschiede Gemeinsamkeiten auf. Sie teilten nämlich die Auffassung, dass Taiji

eine objektive Existenz der Materie sei, die mit der Reihenfolge der Zeit zu tun habe;

Taiji sei ein trübes Element, überall zwischen Himmel und Erde, während das

Taijiquan eine Körperbewegung sei, deren Veränderungen und Übungen auf diesem

Element basieren. Was ist jedoch der tiefere Sinn des Wortes Taiji in den

„Beigefügten Urteilen“ (Xici-Zhuan) des Yi Zhuan? Ist dasselbe gemeint, wie es

Zhou Dunyi und Wang Zongyue ausgelegt haben? Das sind Grundlagen, über die

keine speziellen Darlegungen in den vorhandenen Taijiquan-Schriften existieren, die

aber für das richtige Verständnis der Taijiquan-Theorie zu klären sind.

1.1 Die Bedeutung des „Yi Zhuan“ für die Taijiquan-Theorie – Der

ganzheitliche Aspekt des Taijiquans

Das ,,Yi-Buch der Zhou-Zeit (Zhou Yi 周 易 ) besteht aus dem ,,Buch der

Wandlungen“ (Yi Jing 易经) und dem „Kommentar zum Buch der Wandlungen“ (Yi

Zhuan 易传 ). Das Buch der Wandlungen ist eine aus zwei Teilen bestehende

Anleitung zur Vorhersage zukünftiger Entwicklungen, welche Zeichen (Gua 卦),

Urteile (卦辞 Gua Ci), und Linienkommentare (爻辞 Yao Ci) enthält. Es wird der

Yin- und Zhou-Dynastie (1066-771 v. Chr.) zugerechnet. ,,Der Kommentar zum

Buch der Wandlungen“ (722-481 v. Chr.) ist eine Sammlung von Texten, sie bestehen

aus den Namen sowie Entscheidungen (彖辞 Tuan Ci), den Urteilen zu den Zeichen

(象辞 Xiang Ci), den Beigefügten Urteile (系辞 Xi Ci), den Kommentaren zu den

Textworten (文言 Wen Yan), der Anordnung der Zeichen (序卦 Xu Gua), der

Besprechung der Zeichen (说卦 Shuo Gua) und vermischte Zeichen (杂卦 Za Gua).

Page 32: Jian Teng - ciando eBooks

22

Diese Texte dienen zur Auslegung des Buchs der Wandlungen.

Bis heute ist ungeklärt, wann das „Buch der Wandlungen“ entstanden ist und wer es

geschrieben hat. Es wird allgemein angenommen, dass das Buch nicht einem

einzigen Zeitalter entstammt sowie einer einzigen Person zuzurechnen ist, sondern

von mehreren Autoren verfasst wurde. In der ,,Geschichte der Han-Dynastie (206

v.Chr.- 9 n.Chr.)“, dem Han Shu, heißt es, dass der legendäre Kaiser Fu Xi die acht

Zeichen (八卦 Ba Gua) malte, König Wen der Zhou-Dynastie die acht Zeichen durch

mögliche Kombinationen zu 64 Zeichen (卦 Gua) erweiterte und zudem Urteile (卦

辞 Gua Ci) und Linienkommentare (爻辞 Yao Ci) geschrieben habe. Auch Kong Zi

(Konfuzius) soll Erläuterungen zum Buch der Wandlungen verfasst haben. Diese

Behauptung lässt sich jedoch nicht belegen.

Das „Buch der Wandlungen“ diente ursprünglich der Vorhersage zukünftiger

Ereignisse, wurde im Laufe der Zeit durch die ergänzenden Kommentare jedoch zu

einem sogenannten „Weisheitsbuch“. Während der Frühling- und Herbst-Periode

(722-481 v. Chr.) und der Zeit der Streitenden Reiche (403- 221 v. Chr.) begann man

für die Veränderungen der Dinge Erklärungen zu suchen. In den Auslegungs- und

Deutungshilfen, wie sie in ,,Zuo Qiumings Kommentar zu den Frühlings- und

Herbstannalen“ (Zuo Qiuming, 722-454 v. Chr.) und im Buch „Guo Yu“ (Zuo

Qiuming, 722-454 v. Chr.) zu lesen sind, finden sich bereits philosophische Ansätze.

Kong Zi zählte zu den Befürwortern solcher Studien (Zhu Bokun, 1987, Seite 1093).

Er schrieb: ,,Mit fünfzig würde ich anfangen, die „Wandlungen“ zu studieren, und

würde das Leben kennen und weniger Fehler machen“ (Konfuzius, ,,Gespräche“,

1962 neue Auflage, Seite 76). Für ihn war das „Buch der Wandlungen“ daher wohl

nicht nur ein Buch zur Voraussage zukünftiger Ereignisse, sondern auch eine

Morallehre. Xun Kuang (313-238 v. Chr.) zitiert des öfteren das „Buch der

Wandlungen“ und erweitert dabei die Bedeutung der Zeichen und Auslegungshilfen,

hiervon machte er auch in der philosophischen Diskussion Gebrauch. (Xun Kuang,

1991 neue Auflage, Seite 344).

Page 33: Jian Teng - ciando eBooks

23

In der Frühling- und Herbst-Periode und während der Zeit der Streitenden Reiche

studierten und kommentierten viele Leute die „Wandlungen“. Ihre Äußerungen

wurden gesammelt und zusammengestellt. So entstanden Werke wie der

„Kommentar zum Buch der Wandlungen“. Das hierin enthaltene Gedanken- und

Erkenntnissystem ist Ausdruck der zeitgenössischen Ansichten der Chinesen über die

Gesellschaft, Mensch und Natur. Diese Ideen finden sich vor allem in

den ,,Beigefügten Urteilen“ des ,,Kommentars zum Buch der Wandlungen“. Wie

bereits erwähnt, fand das Wort Taiji zum ersten Mal in diesem Teil des Kommentars

Erwähnung. Um den Begriff des Taiji zu erfassen, ist es daher unerlässlich sich näher

mit dem Inhalt der ,,Beigefügten Urteile“ zu beschäftigen.

1.1.1 Die Zahlen und Veränderungen im „Kommentar zum Buch der

Wandlungen“

Das Buch der Wandlungen war ursprünglich eine Art Wahrsagebuch zur

Vorausbestimmung zukünftiger Ereignisse. Das Kapitel IX der ,,Beigefügten

Urteile“ des ,,Kommentars zum Buch der Wandlungen“ befasst sich mit den

Methoden zur Weissagung. So heißt es dort: ,,Der Himmel ist eins, die Erde zwei, der

Himmel drei, die Erde vier, der Himmel fünf, die Erde sechs, der Himmel sieben, die

Erde acht, der Himmel neun, die Erde zehn. Zahlen des Himmels gibt es fünf, Zahlen

der Erde gibt es auch fünf. Wenn man sie auf die fünf Plätze verteilt, so hat jede ihre

Ergänzung. Die Summe der Zahlen des Himmels ist 25. Die Summe der Zahlen der

Erde ist 30. Die Gesamtsumme der Zahlen des Himmels und der Erde ist 55. Dies ist

es, was die Veränderungen und das Umgestalten vollendet und Dämonen und Götter

in Bewegung bringt“ (,,Beigefügte Urteile“, Chen Xuguo, 1991 neue Auflage, Seite

199).

Die Veränderungen von Natur, Gesellschaft und Mensch sind kompliziert und

vielfältig. Die Verfasser der ,,Beigefügten Urteile“ hatten im Buch der Wandlungen

einige relevante Eigenschaften der Zahl entdeckt und versuchten mit Hilfe der Zahl

die Naturerscheinungen zu erklären und auf die Wandlungen des Menschenlebens

aktiv einzuwirken. Sie glaubten von der Addition gerader und ungerader Zahlen

Page 34: Jian Teng - ciando eBooks

24

gingen bestimmte Wirkungen aus.,,Die Gesamtsumme der Zahlen des Himmels und

der Erde ist 55. Dies ist es, was die Veränderungen und Umgestaltungen vollendet

und Dämonen und Götter in Bewegung bringt“. Das heißt, mit den Kombinationen

der Zahl 55 wollte man die Erscheinungen und Veränderungen des Himmels und der

Erde vergleichen und das Orakel befragen, um Heil und Unheil in der Natur und der

Gesellschaft vorherzusehen und Entscheidungen für anstehende Handlungen zu

treffen. Nach den ,,Beigefügten Urteilen“ sollten die Zahlen mit den Erscheinungen

der Natur und der menschlichen Gesellschaft in Beziehung stehen. Auch wenn zu

den damaligen Zeiten den Zahlen nicht vergleichbar wie heute in den

unterschiedlichsten Anwendungsfeldern Bedeutung zukam, glaubte man doch

gewisse, gar mystische Wirkungen der Zahlen zu kennen. So meinte man durch

Zahlenveränderungen die Komplexität der Natur und der Gesellschaft erfassen zu

können; die Zahlen könnten, von der Materie getrennt, allein existieren, durch die

Zahlen würden alle Dinge ins Leben gerufen und wären die Wandlungen der Dinge

vorherzusehen. Die wichtige objektive Rolle der Zahlen aufzudecken, die

Veränderungen der Dinge mit Hilfe der Zahlen zu errechnen und vorauszusagen und

die Gesetze der Veränderungen der Natur und Gesellschaft herauszufinden, das war

der Zweck des ,,Kommentars zum Buch der Wandlungen“.

Der zweite Abschnitt des Kapitels IX der ,,Beigefügten Urteile“ handelt von dem

Ablauf und den Prinzipien des Orakels mit Schafgarbenstengeln. Während des

ganzen Prozesses verändern sich die von Schafgarbenstengeln vertretenen

Zahlen. ,,Darum: Es sind vier Verrichtungen nötig, um eine Wandlung zu ergeben; 18

Veränderungen ergeben ein Zeichen“ (,,Beigefügte Urteile“, Deng Qiubai, 1993 neue

Auflage, Seite 419 ). Der ,,Kommentar zum Buch der Wandlungen“ ist durch eben

diesen Begriff der Wandlung gekennzeichnet. Durch Beobachtung dieser

Veränderungen der in den Zeichen enthaltenen Bilder und der Striche bildete sich die

Vorstellung von der Wandlung und letztlich die Begrifflichkeit der Wandlung selbst,

welche zur Entstehung der alten dialektischen Gesichtspunkte wesentlich beigetragen

haben.

Page 35: Jian Teng - ciando eBooks

25

1.1.2 Die Bedeutung von Bildern und Symbolen im „Kommentar zum Buch

der Wandlungen“

Insbesondere „Bilder“ sind kennzeichnend für den „Kommentar zum Buch der

Wandlungen“. An vielen Stellen der ,,Beigefügten Urteile“ finden sich

Beschreibungen von Bildern. Man liest zum Beispiel an einer Stelle: ,,So besteht das

Buch der Wandlungen aus Bildern“ („Kommentar zum Buch der Wandlungen“, Chen

Xuguo, 1991, Seite 201). An einer anderen Stelle: ,,Die heiligen Weisen vermochten

die wirren Erscheinungen unter dem Himmel zu erkennen. Sie beobachteten die

Formen und Erscheinungen und bildeten die Dinge und ihre Eigenschaften ab. Das

nannte man „die Bilder“ („Kommentar zum Buch der Wandlungen“, Chen Xuguo,

1991, Seite 200). Dies bedeutet, dass die für die Dinge geltenden Regeln,

insbesondere die für die Bewegung an sich geltenden Gesetze, sich in den Bildern

der Welt widerspiegeln (Deng Qiubai, 1993, Seite 431). Bilder sind dieser

Erläuterung nach Abbildungen von Zuständen existenter Dinge der Welt. Dieser

Schluss findet in den ,,Beigefügten Urteilen “seine Bestätigung: ,,Die Bilder sind

Nachbildungen“ („Kommentar zum Buch der Wandlungen“, Chen Xuguo, 1991,

Seite 201).

Diese Nachbildungen bzw. Bilder sind weder Abbildungen objektiver Erscheinungen

noch der menschlichen Gesellschaft. Sie sind ,,Wege (Dao)“ oder ,,Gesetze (Li)“,

die als Symbole bzw. Formeln die Dinge darstellen. Sie sind abstrakte Variablen. Ein

variabler Terminus lässt sich durch eine oder mehrere Kategorien ersetzen, soweit

bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Schon am Anfang der ,,Beigefügten

Urteile“ heißt es: ,,Bewegung und Ruhe haben ihre bestimmten Gesetze, danach

werden feste und weiche Linien unterschieden. Die Ereignisse folgen entsprechend

ihrem Wesen bestimmten Richtungen. Die Dinge unterscheiden sich voneinander

nach bestimmten Klassen. Auf diese Weise entstehen Heil und Unheil. Am Himmel

bilden sich Erscheinungen, auf Erden bilden sich Gestalten, daran offenbaren sich

Veränderung und Umgestaltung“ („Kommentar zum Buch der Wandlungen“, Chen

Xuguo, 1991, Seite 201). In den ,,Beigefügten Urteilen“ heißt es, jedes Ding gehöre

Page 36: Jian Teng - ciando eBooks

26

zu einer Klasse; Dinge, die zu einer oder mehreren Klassen gehören, könnten ein

gewisses Zeichen oder einen gewissen Strich vertreten, wenn sie bestimmte

Bedingungen erfüllten. Die Texte zu dem jeweiligen Zeichen und Strichen seien

Formeln, Wege oder Gesetze, die für die Dinge Geltung beanspruchten. Die

gesamten Wandlungen seien ein Satz von ,,Bildern“, welche die Gestalt der

objektiven Welt einschließlich der diversen Gestalten des Himmels und der Erde, des

Menschen und der Tiere darstellen. Das bedeutet, dass das Wesen der Wandlungen

die Bilder selbst sind und das Wesen der Bilder die Symbole der Wandlungen.

Das „Buch der Wandlungen“ spiegelt nicht nur Erscheinungen der Natur wider,

sondern auch gesellschaftliche Entwicklungen. Es enthält die Erkenntnis, dass die

Dinge im Universum und in der Gesellschaft komplex und veränderlich sind. Durch

Wege oder Gesetze, die sich durch Bilder und Zeichen veranschaulichen lassen, kann

die ursprüngliche Bedeutung der Dinge erkannt und als Anleitung für das richtige

Handeln des Menschen herangezogen werden. Bilder sind ein zentrales Element des

„Buchs der Wandlungen“. Sie zeigen die objektive Welt mittels Symbolen, welche

den Weg (Dao) bzw. das Gesetz (Li) widerspiegeln.

1.1.3 Der Begriff des Dao im ,, Kommentar zum Buch der Wandlungen“

In Anknüpfung an die im „Buch der Wandlungen“ beschriebenen Methoden zur

Weissagung stellt der Kommentar zu diesem Werk die Welt in ihrer Gesamtheit dar,

der gewisse Veränderungsgesetze innewohnen. Anhand der Betrachtung der Natur,

der Gesellschaft und des menschlichen Lebens versuchte man diese Ganzheit zu

erfassen und aufzuzeigen. Insbesondere sollte der Beweis angetreten werden, dass

die Welt als Ganzheit existiert, der gewisse Veränderungsgesetze innewohnen,

welche erfahrbar und anwendbar sind.

In den ,,Beigefügten Urteilen“ finden sich folgende Thesen: ,,in den Wandlungen

liegt der Anfang aller Dinge, die Wandlungen vollenden die Dinge und umfassen alle

Wege auf Erden. Dies und nichts anderes. Deshalb nutzten sie die Heiligen, um alle

Page 37: Jian Teng - ciando eBooks

27

Willen auf Erden zu durchdringen, alle Wirkungsfelder auf Erden zu bestimmen und

alle Zweifel auf Erden zu entscheiden. Darum gibt es in den Wandlungen das Taiji.

Das Taiji erzeugt die zwei Grundkräfte. Die zwei Grundkräfte erzeugen die vier

Bilder. Die vier Bilder erzeugen die acht Zeichen. Die acht Zeichen bestimmen Heil

und Unheil. Heil und Unheil bestimmen die Entwicklung aller Dinge“(,,Beigefügte

Urteile“, Chen Xuguo, 1991 neue Auflage, Seite 199). Diese Thesen bringen den

wesentlichen Inhalt des „Buchs der Wandlungen“ und dessen Kommentars zum

Ausdruck. Die Wandlungen umfassen alle Wege auf Erden, d.h. die Wandlungen

vollziehen sich entsprechend dem Wesen der Dinge. Das Wesen selbst weist auf die

Ursachen für die Veränderungen der Natur hin und führt zu einer natürlichen

Entwicklung der Gesellschaft und Natur. Die Relevanz der ,,Beigefügten

Urteile“ liegt gerade darin, dass sie den Begriff des Dao als Kategorie neben anderen

hervorheben und das Wort Taiji zum ersten Mal verwenden.

Was ist jedoch mit dem Begriff des ,,Dao“ gemeint? In Zeichen und Strichen, für die

man im „Buch der Wandlungen“ nach einer Deutung suchte, sollte ein das Orakel

Befragender die Antwort auf seine Fragen finden. Die im „Buch der Wandlungen

enthaltenen Zeichen- und Auslegungshilfen sind Formeln bzw. Ausdrücke für

Zustände gleichartiger Dinge. Die Verfasser des Kommentars gingen einen Schritt

weiter, indem sie die Bedeutung eben dieser Formeln herausstellten. Ihrer Ansicht

nach vertrat jedes Zeichen eine Kategorie, jede Erklärung eines Zeichens bzw. jede

Auslegungshilfe eine Formel und jede Formel drückte Prinzipien der Natur, der

Gesellschaft und des Menschen aus. Diese Prinzipien nannten sie Wege oder Gesetze

(Feng Youlan, 1964(2), Seite 128).

Nach alledem lässt sich folgendes Zitat „darum gibt es in den Wandlungen das Taiji.

Dieses erzeugt die zwei Grundkräfte. Die zwei Grundkräfte erzeugen die vier Bilder.

Die vier Bilder erzeugen die acht Zeichen. Die acht Zeichen bestimmen Heil und

Unheil. Heil und Unheil erzeugen das große Wirkungsfeld“ (,,Beigefügte Urteile“,

Chen Xuguo, 1991 neue Auflage, Seite 199) aus dem „Kommentar zum Buch der

Wandlungen“ so verstehen, dass es eine Formel, eine Kategorie ausdrückt, ein

Prinzip der Natur und der Gesellschaft, nämlich das Dao. Das heißt, dass das Taiji

Page 38: Jian Teng - ciando eBooks

28

hier keine Materie, sondern die Besonderheit der Entwicklung der Dinge

kennzeichnet, ein zusammenfassender Ausdruck für die Veränderung und den Grund

ist. Das Taiji ist der Weg bzw. das Gesetz nach welchem die Dinge sich ausrichten.

Das Taiji ist damit eine Abstraktion für alle Dinge. Das Taiji als Einheit teilt sich in

zwei Hälften, dann in vier und so weiter. Mit dieser Aufteilung entsteht der

Entwicklungsprozess. Dies ist eine Regel, genannt Dao, wonach sich alle Dinge

orientieren.

Im ,,Kommentar zum Buch der Wandlungen“ findet sich weitere bedeutsame

Aussage: ,,Was einmal das Dunkle und einmal das Lichte hervortreten lässt, das ist

das Dao“ (,,Beigefügte Urteile“, Chen Xuguo, 1991 neue Auflage, Seite 196). Das

entspricht der Behauptung: ,,In den Wandlungen gibt es das Taiji. Diese erzeugt die

zwei Grundkräfte“. Das Dao ist hier im Sinne des Taiji zu verstehen, das Dunkle und

das Helle, nämlich die zwei Grundkräfte. Dem korrespondiert die These, dass es in

den Wandlungen das Taiji gebe, welches die zwei Grundkräfte erzeuge. Dies stellt

das grundlegende Prinzip der Wandlungen dar. Das bedeutet, dass jede Ganzheit oder

jedes System in zwei Teile aufgeteilt werden kann und gleiches für diese zwei Teile

gilt. Dieses Prinzip folgt dem Grundsatz: Eins teilt sich in zwei. So ist es möglich,

alle Dinge, seien sie auch noch so komplex, zu analysieren. ,,Was einmal das Dunkle

und einmal das Lichte hervortreten lässt, das ist das Dao“ (,,Beigefügte Urteile“,

Chen Xuguo, 1991, Seite 196). Dies ist das Hauptgesetz der Zusammensetzung und

Entwicklung aller Dinge.

Yin (das Dunkele) und Yang (das Helle) sind die wichtigsten Begriffe des ,,Yi-Buchs

der Zhou-Zeit“. Im „Zhuang Zi“, Kapitel Zhuang Zi – die Erde heißt es, „dass die

Wandlungen Yin und Yang erklären“ („Lao Zi, Zhuang Zi, Lie Zi“, Zhang Zhen,

1996, Seite 414). Mit Yin und Yang ist hier die Kategorie der gegensätzlichen Seiten

der Dinge gemeint. Das bedeutet, dass die Gegensatzbeziehung und Bewegung von

Yin und Yang, diesen zwei dem Wesen nach verschiedenen Teilen, die Ursache und

die treibende Kraft für die Herausbildung bzw. die Entwicklung der Dinge ist. Diese

Regel wurde Dao oder Gesetz genannt. Die von dem Dao verkörperten

Gesetzmäßigkeiten der Herausbildung und Entwicklung der Dinge erkannten die

Page 39: Jian Teng - ciando eBooks

29

Verfasser des ,,Kommentars zum Buch der Wandlungen“, nachdem sie die

komplexen Erscheinungen in der Natur und Gesellschaft sowie in den menschlichen

Beziehungen betrachtet, analysiert und sich an den im Buch der Wandlungen

beschriebenen Methoden des Weissagung orientiert hatten. Im ,,Kommentar zum

Buch der Wandlungen“ heißt es zudem, dass es möglich sein solle, mit Hilfe der

Gesetzmäßigkeiten und Erkenntnismethoden auf die das Dao hinweist, sämtliche

Dinge und Fragen zu unterscheiden und die Richtung der Entwicklung der Dinge zu

erfassen. Das Dao ist demnach das Gesetz der Dinge im Universum und in der

Gesellschaft, die Beziehung zwischen den Dingen selbst, die sich aus der Natur, der

Gesellschaft und den Menschen ergibt. Im ,,Kommentar zum Buch der

Wandlungen“ wird ferner die Ansicht vertreten, dass die im Buch der Wandlungen

erwähnten 64 Zeichen und 384 Striche sowie die dem ,,Kommentar zum Buch der

Wandlungen“ enthaltenen Kategorien, Symbole und Formeln das Dao der Dinge im

Universum verkörpern und die Beziehungen zwischen den Dingen wieder spiegeln.

Daraus folgt, dass die Aussage, dass es in den Wandlungen das Taiji gebe, welches

die zwei Grundkräfte erzeuge, die Wechselbeziehung zwischen den vom Dao

verkörperten gegensätzlichen Teilen der Dinge sowie die Gesetzmäßigkeit der

Einheit der Gegensätze beschreiben. Das Wort Taiji, also der große Uranfang, ist der

zusammenfassende Ausdruck der Regeln für die Entwicklung und Veränderung der

Dinge, welcher auf der Betrachtung vielfältiger und komplexer Erscheinungsformen

der Dinge basiert. In der chinesischen Philosophie bildet Taiji eine wichtige

Kategorie, die das Wesen der Dinge und deren allgemeine Beziehungen aufzeigen.

Hier heißt das Wort Taiji soviel wie Dao im Sinne einer anderen Bezeichnung für

Regel und Gesetz.

Die Kategorien Taiji und Dao wie oben beschrieben sind mittlerweile zu abstrakten

Begriffen geworden, ihr Bedeutungsgehalt wurde erheblich erweitert, indem sie sich

von konkreten Dingen der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Lebens

losgelöst haben. Die Abstraktion hat auf der einen Seite den Vorteil, dass diese

Begriffe auch in anderen Kontexten Anwendung finden können. Auf der anderen

Seite entsteht dadurch ein weiter Interpretationsspielraum. Der Bedeutungsgehalt der

Begriffe ist daher oftmals nur schwer zu erfassen, mitunter kommt es zu falschen

Page 40: Jian Teng - ciando eBooks

30

Auslegungen. Ersetzt man die Erscheinungen der Natur und Gesellschaft durch

allgemeine abstrakte Begriffe, führt dies häufig zu schematischen und

formalistischen Fehlern, was die Interpretation des Taijiquan erschwert.

1.1.4 Der dialektische Grundgedanke und die ganzheitliche Interpretation

des Taijiquan

Durch die Betrachtung der Natur und Gesellschaft und auch durch die Befragung des

Orakels versuchten die Verfasser des „Kommentars zum Buch der Wandlungen“ die

den Veränderungen der Dinge innewohnenden Gesetzlichkeiten zu erfassen, um

mittels daraus neu gewonnener Erkenntnisse die im Buch der Wandlungen

enthaltenen dialektischen Ideen systematisch weiter zu entwickeln. Durch eben

dieses dialektische Gedankengut zeichnet sich der ,,Kommentar zum Buch der

Wandlungen“ aus. Diese Ideen haben auch das Taijiquan geprägt.

Im „Kommentar zum Buch der Wandlungen“ heißt es: ,,durch die Betrachtung der

Veränderung von Yin und Yang ensteht das Bild (Gua) bestehend aus mehreren

Zeichen, und einzelne Striche (Yao) entwickeln sich aus harten und sanften

Elementen“ („Kommentar zum Buch der Wandlungen“, Chen Xuguo, 1991, Seite

206). Mit den Zeichen sind die sich durch die Lichtverhältnisse verändernden Dinge

gemeint, mit den Strichen die Wechselwirkung zwischen den harten und sanften

Elementen. Einfacherer gesagt bedeutet dies, dass sich die Veränderungen der

Zeichen aus dem Gegensatz zwischen den negativen und positiven Strichen ergeben.

Mittels dieser Spiele erkannte man demnach die zwei gegensätzlichen Seiten eines

Dings sowie den jeweiligen Veränderungsprozess.

Im „Kommentar zum Buch der Wandlungen“ wird die Ansicht vertreten, dass

Gleiches auch für die Veränderung sämtlicher anderer Dinge gelte. Jedes Ding habe

zwei Seiten, die dunkle und die helle Seite die gegensätzlich sind, sich aber zugleich

ergänzen (Feng Youlan, 1964, Seite 346).

Diese Ansicht hat die chinesische Philosophie erheblich geprägt. Ihre Wirkung auf

Wang Zongyues Schrift ,,Über das Taijiquan“ ist offensichtlich. Wang Zongyue

Page 41: Jian Teng - ciando eBooks

31

schrieb: „Was das Taiji betrifft, so entsteht es aus dem Wuji.. [Es] hat den Zustand

von Bewegung und Ruhe und ist die Mutter von Yin und Yang“. Und er fährt fort:

„Bewegen sie sich, dann trennen [sie sich]; sind sie in Ruhe, dann [sind sie] vereint.

[Es soll] kein Zuviel oder Zuwenig [geben], folgt [man dem Gebeugten, [so erreicht

man] die Streckung. Ist der Gegner hart, bin ich weich; dies heißt Ausweichen. Ich

folge und der Gegner [kommt in seine] ungünstige [Position]; dies heißt sich-

Anheften. Auf schnelle Bewegung [folgt] schnelle Reaktion, auf langsame

Bewegung reagiert man mit langsamen Folgen. Obwohl die Änderungen unzählig,

bleibt das Prinzip [doch immer dasselbe]“ (Wang Zongyue, 1791, Seite 24).

Bewegung und Ruhe, nicht mehr und nicht weniger, Krümmung und Ausdehnung,

Härte und Weichheit, vorteilhaft und nachteilig, das alles spiegelt die den Dingen

innewohnenden beiden Seiten wider, die miteinander in Gegensatz wie in

Wechselwirkung stehen. Der Gegensatz und die Einheit dieser beiden Seiten ergeben

die Bewegungen und Veränderungen in allen Dingen und treiben die

Körperbewegungskunst – Taijiquan voran. Mit Hilfe der traditionellen chinesischen

Philosophie, insbesondere aufgrund der im ,,Kommentar zum Buch der

Wandlungen“ erwähnten Kategorien, Begriffe und Aspekte hat Wang Zongyue in

seinem Buch ,,Über das Taijiquan“ seine Erfahrungen und Erkenntnisse analysiert

und dargelegt, so dass das Buch keine Zusammenfassung von allgemeinen oder

persönlichen Erfahrungen darstellt, sondern vielmehr ein verhältnismäßig komplettes

System der Theorie und Technik von Taijiquan vermittelt. Dieses System wurde von

den Taijiquan-Meistern des Chen-Stils, Yang-Stils, Wu-Hao Stils, Sun-Stils und Wu-

Stils übernommen, und Wang Zongyues Theorie des Taijiquan gilt bis heute als

klassisches Werk. In der Tat spiegelt das Buch ,,Über das Taijiquan“ viele Prinzipien

und Regeln, die den Taijiquan-Übungen entsprechen.

Im „Kommentar zum Buch der Wandlungen“ wird die Frage nach der Ursache für

die Veränderung der Dinge aufgeworfen. Zur Erklärung stellte man auf die in den

Dingen selbst vereinigten Gegensätze ab, welche sich gegenseitig bedingen und

letztlich die Veränderung verursachen. Was jedoch genau macht das Wesen dieser

gegensätzlichen Seiten aus und wie vollziehen sich die Veränderungen selbst? Diese

Fragen beantwortet das Werk wie folgt: ,,In den Wandlungen gibt es das Taiji. Dieses

Page 42: Jian Teng - ciando eBooks

32

erzeugt die zwei Grundkräfte. Die zwei Grundkräfte erzeugen die vier Bilder. Die

vier Bilder erzeugen die acht Zeichen. Die acht Zeichen bestimmen Heil und Unheil.

Heil und Unheil erzeugen das große Wirkungsfeld“. Nach dieser These enthält das

Taiji zwei gegensätzliche Seiten, aus deren gegenseitiger Beeinflussung weitere

Erscheinungen resultieren. Daraus folgt, dass der Entwicklungsprozess der Dinge ein

Prozess ist, welcher sich aus der Spaltung und anschließenden erneuten Vereinigung

von Gegensätzen ergibt (Feng Youlan, 1984, Seite 347). Zu dem Schluss, dass die

Veränderungen auf die in den Dingen selbst angelegte Widersprüchlichkeit

zurückzuführen seien, gelangten die Verfasser des Kommentars durch die

Betrachtung der Dinge. Sie konkretisierten diese Wechselwirkung der

gegensätzlichen Seiten wie folgt: ,,Festes und Weiches verdrängen einander“, ,,Festes

und Weiches reiben sich aneinander“ und ,,die acht Zeichen lösen einander

ab“ (,,Beigefügte Urteile“, Chen Xuguo, 1991, Seite 201). Eben diese Formen von

Wechselwirkungen erzeugen die Wandlung der Dinge. Ohne Veränderung der einen

Seite entsteht keine gegenseitige Beeinflussung.

Diese Gedanken hatten großen Einfluss auf die Theorie und Methoden des Taiji.

Shen Jiazhen, ein Taijiforscher des letzten Jahrhunderts, hat in vieler Hinsicht die

Merkmale des Taijiquan im Chen-Stil erläutert: „Der ganze Körper muss aufrecht

sein, der Ober- und Unterkörper müssen durch den Hüftbereich als Achse

miteinander verbunden sein“. Die Kraft kommt aus dem Rücken und der Taille, das

Bewusstein muss mit der Bewegung des Körpers eins sein, die Bewegungen müssen

ununterbrochen und fließend ausgeführt werden, von hart zu weich und umgekehrt,

demnach Härte und Weichheit verbinden, von langsam zu schnell und umgekehrt und

so Schnelligkeit und Langsamkeit in gleicher Weise betonen“ (Shen Jiazhen, 1988,

Seite 5-59). Die Bewegungen des Taijiquan sind durch gegensätzliche Faktoren wie

oben und unten, hohl und massiv, innen und außen, hart und sanft, schnell und

langsam gekennzeichnet, die miteinander in Wechselwirkung stehen und einander

bedingen. Taijiquan besteht daher nicht nur aus sanften und langsamen Bewegungen.

So werden auch ,,Härte im Nachgeben“ und „Nachgeben in der Härte“ angestrebt. In

der Langsamkeit steckt zugleich die Schnelligkeit, in der Weichheit die Kraft.

Taijiquan zielt nicht allein auf die Bewegung des Inneren ab, es erfordert eine

Page 43: Jian Teng - ciando eBooks

33

harmonische Übereinstimmung zwischen dem Inneren und dem Äußeren, dem

Bewusstsein und dem Körper. Dieser ganzheitliche Ansatz stellt eines der

wesentlichsten Merkmale des Taijiquan dar. Es besteht aus Bewegungen, die sich

durch eben die Veränderungen von Gegensätzen auszeichnen, d.h. durch die

Aufspaltung der ursprünglichen Einheit von Yin und Yang selbst und ist daher

unmittelbar Ausdruck des im „Buch der Wandlungen“ enthaltenen dialektischen

Grundgedankens. In manchen Schriften wird Taijiquan als ,,leichte und langsame

Bewegungen“, als ,,Kampfkunst zur Stärkung der inneren Organe“, als ,,Weg zur

Ruhe” und als ,,Innere-Faustkampfmethode“ bezeichnet. Diese Beschreibungen

reduzieren das Taijiquan auf den einen genannten Aspekt und übersehen dabei die im

Taijiquan selbst angelegte Dialektik. Das Wesen des Taijiquan erhält gerade durch

die ihm innewohnenden Gegensätze seine Prägung, durch die Wandlungen der

Gegensätze, die ursprünglich eine Einheit bildeten. Hart und sanft, schnell und

langsam, innen und außen, Ruhe und Bewegung, eben diese Unterschiede und

Widersprüche führten zur Entwicklung des Taijiquan.

Im ,,Kommentar zum Buch der Wandlungen“ wird weiterhin

festgestellt: ,,Veränderungen und das Umgestalten sind die Nachbildungen von

Fortschritt und Rückschritt“ („Kommentar zum Buch der Wandlungen“ Chen Xuguo,

1991, Seite 196). In den Veränderungen der Dinge erfolgt also eine Abbildung der

Entwicklung selbst. Weiter heißt es: ,,Wenn eine Wandlung an ihr Ende gelangt ist,

beginnt eine neue. Durch Veränderung wurde ein Zusammenhang hergestellt und

durch den Zusammenhang wurde Dauer erreicht“ („Kommentar zum Buch der

Wandlungen“, Chen Xuguo, 1991, Seite 201). Mit dem Begriff Ende ist der

Extrempunkt gemeint, den die Dinge infolge ihrer Entwicklung erreichen. Nach

Erreichen dieses Höchstmaßes verkehren sie sich in ihr Gegenteil. Zusammenhang

steht für eine neue Entwicklung der Dinge, die Herstellung eines neuen Bezuges,

nachdem sich die Dinge in ihr Gegenteil verwandelt haben. Unter Dauer ist die Zeit

zu verstehen, die diese neue Entwicklung beansprucht. Diese jedoch ist nicht ewig.

Irgendwann wird auch sie an ihr Ende gelangen. Die Dinge verkehren sich in ihr

Gegenteil, wenn sie ihren Extrempunkt erreicht haben. Nach dem Kommentar ist

dies ein Gesetz für die Veränderung der Dinge, gleichsam für Leben und Tod. Daher

Page 44: Jian Teng - ciando eBooks

34

stellt die Veränderung der Dinge einen Prozess dar, in dem sich die gegensätzlichen

Seiten ineinander verwandeln. Yin und Yang, Leben und Tod, Gedeih und Verderb,

Kommen und Gehen bilden diese jeweiligen gegensätzlichen Seiten. Die

gegenseitige Verwandlung von Entstehen und Verschwinden der Dinge ist unendlich.

Ausgehend von dieser Theorie erläuterte Wang Zongyue: „Was das Taiji betrifft, so

entsteht es aus dem Wuji. [Es] hat den Zustand von Bewegung und Ruhe und ist die

Mutter von Yin und Yang“. Hier wird der gegenseitige Verwandlungsprozess

zwischen dem Sein und Nichtsein bzw. der sie vertretenden Kategorien des Taiji und

Wuji umschrieben. Unter der Schlußfolgerung „Was das Taiji betrifft, so entsteht es

aus dem Wuji“ ist eben diese Verwandlung von Sein und Nichtsein zu verstehen. Mit

anderen Worten bedeutet dies, dass sich das Taiji als Vertretung für die Einheit der

Dinge bildet, verändert und entwickelt, indem die unterschiedlichen Seiten einander

fördern und sich ineinander verwandeln. Die Kategorie des Taiji steht für die Einheit

an sich. Hier geht es nicht um die zeitliche Dimension, wann das Sein erstmals

entsteht, sondern um die Bedeutung dieser Einheit und um die in ihr angelegten

Widersprüche. Mit Sein ist nicht die Materie gemeint, genauso wie das Nichtsein

nicht im Sinne von „nichts vorhanden“ zu verstehen ist. Vielmehr geht es um die

zwei gegensätzlichen Seiten eines Dinges oder eines Widerpruchs. Das heißt, dass

Taiji aus Sein und Nichtsein, den beiden gegensätzlichen Seiten besteht, die einander

bedingen und sich ineinander verwandeln. Die Entstehung und Entwicklung von

Taiji ist ein Prozess, in dem die beiden in Taiji als Einheit enthaltenen

gegensätzlichen Seiten – Sein und Nichtsein – einander vorantreiben und sich

ineinander verwandeln. Darüber hinaus ist Taiji der Zustand von Bewegung und

Ruhe. Mit Zustand ist sowohl Ursache als auch der Prozess selbst gemeint. Taiji ist

also zugleich ein Prozess, in dem die gegensätzlichen Seiten – Bewegung und Ruhe

– sich gegenseitig bedingen und ineinander verwandeln oder anders gesagt, die

Veränderung und Verwandlung von Bewegung und Ruhe sind die Ursache und die

treibende Kraft für die Veränderung und Entwicklung der von Taiji dargestellten

Einheit.

Mit dem Ausdruck ,,Mutter von Yin und Yang“ beschreibt Wang Zongyue diese zwei

gegensätzlichen Seiten einer Einheit. Das unterschiedliche Wesen von Yin und Yang

Page 45: Jian Teng - ciando eBooks

35

begründet sowohl diese Widersprüchlichkeit als auch durch ihre Verbindung die

Einheit von Taiji. Da das Taiji den Yin/Yang-Gegensatz (Ruhe und Bewegung,

Nichtsein und Sein) in sich vereinigt, verändert es sich mit dem Beginn der

Aufspaltung in Yin und Yang selbst ebenfalls. Dies ist die eigentliche Ursache für die

ständige Veränderung des Taiji. Hier wird ersichtlich, wie sehr Wang Zongyue von

der traditionellen chinesischen Philosophie beeinflusst war, als er versuchte, die

Gesetzmäßigkeiten des Taijiquan zu erklären. Die Erkenntnis dass zunächst das Wuji,

dann das Taiji entstehe, das Taiji den Zustand von Bewegung und Ruhe habe und die

Mutter von Yin und Yang sei, machte deutlich, dass diverse Faktoren das Taiji

bestimmen, in dem sie sich gegenseitig beeinflussen und fördern. Eben ihr Gegensatz

und ihre Verwandlung ermöglichen dem Taijiquan die Wandlung und Entwicklung.

Diese sind zu erforschen und darzulegen, will man die Gesetzlichkeiten des Taijiquan

erfassen.

Im „Kommentar zum Buch der Wandlungen“ findet sich ferner folgende

Aussage: ,,Als Erzeuger der Dinge heißt [der Weg (Dao)] die

Wandlung.“(„Kommentar zum Buch der Wandlungen“, Chen Xuguo, 1991, Seite

197) Dies bedeutet dass sich alles in Bewegung, in einer ständigen Veränderung und

Wandel befindet. Wang Zongyue schrieb: ,,Ist [der Übende mit dem System] vertraut,

dann versteht er allmählich Jin. Versteht man diese Kraft, so folgt ein tiefes

Verständnis und ein vollständiges Beherrschen.“ (Wang Zongyue, 1791, Seite 24).

Das sind die drei Phasen, die der das Taijiquan Lernende zu durchlaufen hat, will er

diese Bewegungsform beherrschen. Die erste Phase besteht aus dem Erlernen der

Kampftechnik und der Kampfmethoden. Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch

die Eigengesetzlichkeiten des Krafteinsatzes, die es zu erkennen gilt. Das Erreichen

der dritten Phase der Vollkommenheit führt zu einer Wesensänderung,

einem ,,qualitativen Sprung“, der Übende beherrscht nunmehr das Taijiquan und

wird daher ,,heiliger Weiser“ genannt. Nach Gu Fuhou, einem bekannten Taijiquan-

Forscher, erreicht der Übende dann den Höhepunkt, wenn er das Taijiquan so

praktiziert, wie es seinem Willen entspricht. Diese Einsicht beruht auf dem im

„Kommentar zum Buch der Wandlungen“ enthaltenen Gedanken, dass die den