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Wolfgang Wiegand Prof. Dr. iur., Ordinarius für Privatrecht, Privatrechtsgeschichte, Bank-
und Wirtschaftsrecht an der Universität Bern
Iura novit curia vs. ne ultra petita -Die Anfechtbarkeit von Schiedsgerichts
urteilen im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichts
Sonderdruck aus
Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung
Zivil- und schiedsverfahrensrechtliche Aspekte
Festschrift für Franz Kellerhals zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von:
Monique Jametti Greiner Bernhard Berger
Andreas Güngerich
Nicht im Handel
Stämpfli Verlag AG Bern 2005
Iura novit curia vs. ne ultra petita -Die Anfechtbarkeit von Schiedsgerichtsurteilen im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichts WOLFGANG WIEGAND
Inhaltsübersicht
I. Vorbemerkungen II. Entstehung und Bedeutung der Regel iura novit curia
III. Entstehung und Bedeutung der Regel ne eat iudex ultra petita IV. Ein erstes Résumé V. Rechtsanwendung und rechtliches Gehör
VI. Résumé
I. Vorbemerkungen
Es gehört zu den schönen Eigenheiten der Schiedsgerichtsbarkeit, zumal im internationalen Bereich, dass lateinische Parömien nicht übersetzt werden müssen. Ihre Bedeutung ist nicht nur präsent, sie sind vielmehr topoi. die mit Selbstverständlichkeit verwendet und auch verstanden werden. Ein anschauliches Beispiel dafür bildet ein Beitrag, den MARTIN KURKELA, ein finnischer Rechtsanwalt, unter dem Titel «Iura novit curia and the burden of education in international arbitration - A Nordic perspective» im ASA-Bulletin veröffentlicht hat. Der Verfasser beschreibt den Inhalt dieses Prinzips mit den Worten: «The iura novit curia principle (...) means, that the court knows the substantive law of the forum (lex fori) and that the parties need not submit any evidence on it.»' Er legt dann dar, dass dieses Prinzip schon im 16. Jahrhundert in den skandinavischen Ländern geläufig war, um daran die Feststellung anzuschliessen, dass es bis heute an den skandinavischen Gerichten unverändert praktiziert werde und auch in der Schiedsgerichtsbarkeit anerkannt sei. Dies gilt natürlich in gleicher Weise für die Schweiz. Das Bundesgericht verwendet die Rechtsregel iura novit curia nicht nur, aber vor allem in Entschei-
MARIIN KURKELA. Iura novit curia and the burden of education in international arbitration -A Nordic perspective. ASA Bull. 2003. 486ff.
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W O L F G A N G W I E G A N D Iura novit curia vs. ne ultra petita - Die An
den2 zur Frage der Anfechtbarkeit gemäss Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG3. Dessen Gehalt wird wiederum mit einer lateinischen Rechtsregel umschrieben, nämlich dem Postulat «ne eat iudex ultra petita».
Wenn ich diese Bemerkung vorausschicke, so hat das einen einfachen Grund: Sie erklärt den Titel und das Thema des Beitrages gleich in mehrfacher Weise. Die Verwendung der lateinischen Parömien erfolgt zunächst deshalb, weil es zu den bis heute durch nichts anderes erreichten und offenbar auch durch nichts zu ersetzenden Vorteilen solcher historisch gewachsenen Formeln gehört, dass sie eine Problematik in einer auf wenige Worte reduzierten Floskel umschreiben, ohne sie ihres Kerngehaltes zu berauben. Durch die Gegenüberstellung der beiden Prinzipien soll zugleich das Spannungsverhältnis angedeutet werden, das zwischen ihnen zu bestehen scheint und das -wie schon angedeutet - in jüngster Zeit Gegenstand mehrer bundesgerichtlicher Entscheidungen über die Anfechtbarkeit von Schiedsgerichtsurteilen war, was durch den hinzugefügten deutschen Untertitel verdeutlicht werden soll.
Verständlich wird dies jedoch nur dann, wenn man den historischen Hintergrund und die Entwicklung beider Regeln in die Betrachtung einbezieht. Eben diese sollen im Folgenden skizziert werden, was im Rahmen einer Festschrift deshalb leichter gewagt werden kann, weil sie weniger als andere Publikationen auf Nützlichkeit angelegt ist.
II. Entstehung und Bedeutung der Regel iura novit curia
Ein Grossteil der lateinischen Rechtssprichwörter, die wir heute verwenden -wie etwa die Regel pacta sunt servanda - ist im Hochmittelalter entstanden. Mit ihnen wurden retrospektiv Rechtsinstitute oder dogmatische Prinzipien zusammengefasst, die längst in Wissenschaft und Praxis etabliert waren. Dies gilt auch für den Satz iura novit curia. Das dahinter stehende Denkmodell ist in der Entstehungsphase des Europäischen Zivilprozessrechts, im 12.-14. Jahrhundert, von den italienischen und französischen Rechtsschulen entwickelt worden, wobei im Bereich des Prozessrechts der Einfluss des kanonischen Rechts von besonderem Gewicht war. Ein zentrales Element dieses Zivilprozesssystems, das in der rechtshistorischen Literatur auch als «gelehrter Prozess» bezeichnet wird, bildet eine Maxime, die schon im römischen Recht ihren Ursprung hat. Sie wird später ebenfalls in einer berühmten Parö-mie zusammengefasst, die wir auch heute noch gelegentlich verwenden: da mihi facta, dabo tibi ins. Der erste Teil des Satzes fasst in prägnanter Form den Beibringungsgrundsatz zusammen, der zu den zentralen Elementen unseres Zivilprozesses gehört. Die Beteiligten haben diejenigen Tatsachen und Um-
- Unter anderem BC'.E 4P.260/2000; 4P. 17/2002: BGE 130 III 35. • BG vom IS. Dezember 1987 über das Internationale Privatrecht. IPRG; SR 291
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fechtbarkeit von Schiedsgerichtsurteilen im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichts
stände in den Prozess einzuführen, die für die Entscheidung erheblich sind, anderseits darf der Richter sich aber auch nur auf diese von den Parteien eingeführten4 Tatsachen stützen. In der mittelalterlichen Doktrin entwickelte sich daraus zunächst ein Verbot für den Richter, den Sachvortrag der Partei in irgendeiner Weise zu ergänzen5.
Der zweite Teil der Parömie enthält dagegen - aus der Sicht des Richters formuliert - ein Versprechen, das eine doppelte Bedeutung hat: «Ich werde dir Recht geben» bedeutet zum einen, dass der Richter verpflichtet ist, das anwendbare Recht zu ermitteln, zugleich aber auch das ermittelte Recht anzuwenden. In der Theorie nennt man dies die suppletio de iure. Diese von Amts wegen vorzunehmende Rechtsermittlung und die dementsprechende Rechtsanwendung bilden eine unabdingbare richterliche Pflicht oder gehören - in der Sprache des Mittelalters ausgedrückt - zum officium iudicis. Mit den hier nur kurz skizzierten Basisannahmen und den daraus entwickelten Denkmodellen sind die Grundlagen für das gelegt, was wir heute als Untersuchungsmaxime auf der einen und Verhandlungs- oder Beibringungsgrundsatz auf der anderen Seite bezeichnen6. Damit waren zwar die Grundprinzipien fixiert, die eigentlichen Schwierigkeiten begannen aber erst mit diesen Festlegungen.
Es liegt auf der Hand, dass die Richter in den oberitalienischen Kommunen, in denen diese Modelle praktiziert werden sollten, wie auch an den kirchlichen Gerichten, natürlich nicht jegliches Recht, dessen Anwendung in Betracht kam, kennen konnten. Infolgedessen ist ein weiteres Modell entwickelt worden, das bis heute Nachwirkungen hat und ebenfalls für das Verständnis der iura novit cnna-Maxime unerlässlich ist. Man hat dasjenige Recht, das der Richter von Amts wegen zu kennen und anzuwenden hatte, durch eine Reihe ineinander greifender Regeln begrenzt, die hier nicht im Einzelnen darzulegen sind. Die wichtigste ist diejenige, dass der Richter das ins commune kennen und auch anwenden müsse, sofern nicht die Geltung eines nichtgemeinen Rechts behauptet und bewiesen werde. Dieses Konzept findet sich in dem später berühmt gewordenen Eid wieder, den nach der Reichskammergerichtsordnung von 1495 die Richter leisten mussten. Ihre Pflichten werden wie folgt umschrieben: «Unserm Königlichen oder Kaiserlichen Camergericht getrewlich und mit Vleis ob sein und nach des Reichs gemainen Rechten, auch nach redlichen, erbern und leidlichen Ordnungen, Statuten und Gewonhaiten der Fürstenthumb, Herrschaften und Gericht, die für sy
4 Die mittelalterliche Bezeichnung dafür war «Allegation», ein Begriff, der heute noch im anglo-ame-rikanischen Verfahren verwendet wird und deshalb in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit verbreitet ist.
5 Dazu die grundlegende Schrift von KNUI NÖRR. Zur Stellung des Richters im gelehrten Prozess der Frühzeit: Iudex secundum allegata non secundum conscientiam iudicat. Habil. München 1967.
6 Eine eingehende Schilderung dieser Entwicklung findet sich im Kapitel »Iudex suppléât de iure» bei WOLFGANG WIEGAND. Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit. Habil. München 1977.75-90.
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WOLFGANG WIF.GAND Iura novit curia vs. ne ultra petita - Die An-
pracht werden, dem Hohen und dem Nidern nach seinem besten Verstentnus gleich zu richten [...J.»1 In diesem Satz kommt zugleich die entscheidende Differenzierung zum Ausdruck, die bis ins 19. Jahrhundert massgeblich geblieben ist. Es gibt ein gemeines, d. h. allgemeines, dem Gericht bekanntes Recht, welches von Amts wegen angewandt werden muss, und es gibt ein Recht, das in der Sprache der Reichskammergerichtsordnung «vor das Gericht gebracht» werden muss8. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass ein Teil des Rechts, nämlich derjenige, den das Gericht nicht von Amts wegen anwenden muss, als beweisbedürftiges Recht behandelt wird.
In dem oben skizzierten Schema hat man dies dadurch erreicht, dass man solche Rechte, die das Gericht nicht von Amts wegen kennen und anwenden muss, nicht als Recht, sondern als Faktum und damit als beweisbedürftige Tatsache behandelt hat9. Auf dieser Basis hat die Rechtspraxis in Zentraleuropa bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts operiert. Theoretisch wurde der Ansatz erst dadurch überwunden, dass das Gewohnheitsrecht, das über Jahrhunderte als Faktum qualifiziert worden war, von den Juristen des 19. Jahrhunderts als Recht betrachtet und anerkannt wurde, so dass die Unterscheidung zwischen eigentlichem Recht und «faktischem», infolgedessen also beweisbedürftigem Recht, obsolet wurde10. In der deutschen Prozessrechtswissenschaft hat sich deshalb trotz einer missverständlichen Formulierung des entsprechenden Paragraphen der deutschen Zivilprozessordnung11 bald die Auffassung durchgesetzt, dass der Richter eine umfassende Rechtsermittlungs- und Rechtsanwendungspflicht habe.
In der Schweiz gilt heute das Prinzip iura novit curia als ungeschriebenes Recht12. In Art. 16 IPRG ist die Ermittlungspflicht ausdrücklich auf ausländisches Recht ausgedehnt worden. Der in Art. 16 Abs. 1 Satz 2IPRG enthaltene Vorbehalt, wonach bei vermögensrechtlichen Ansprüchen der Nachweis den Parteien Überbunden werden kann, lässt noch in abgemilderter Form die Anknüpfung an das oben dargelegte Allegationsprinzip erkennen. Er beruht mehr auf praktischen Erwägungen als auf einer theoretischen Einschränkung des Grundsatzes iura novit curia und entspricht insofern dem Ansatz, den auch S 293 DZPO heute noch enthält und der in viel deutlicherer Weise die
7 Reichskammergerichtsordnung vom 7. August 1495. §3. 8 Dazu WIEOAND (Fn.6), 162ff. 4 Zum Ganzen ausführlich WIEGAND (Fn.6). 91 ff. 10 Grundlegend GEORG PuCHTA, Das Gewohnheitsrecht. Teil II. Nachdruck der Ausgabe Erlangen
1828/32, Darmstadt 1965. 151 ff. 11 Zivilprozeßordnung (ZPO) vom 30Januar 1877/12.Septernber 1950: RGBl. 1877.83: BGBl. 1950.
455 (zit. DZPO). § 293 DZPO lautet: «Das in einem anderen Staat geltende Recht, die Gewohnheitsrechte und Statuten bedürfen des Beweises nur insofern, als sie dem Gericht unbekannt sind. Bei Ermittlung dieser Rechtsnormen ist das Gericht auf die von den Parteien beigebrachten Nachweise nicht beschränkt: es ist befugt, auch andere Erkenntnisquellen zu benutzen und zum Zwecke einer solchen Benutzung das Erforderliche anzuordnen.».
12 MAX GÜLDENER. Schweizerisches Zivilprozessrecht. 3. Aufl.. Zürich 1979. 155 ff. m.Nw.; MAX KELLER/DANIEL GIRSBERGER, Zürcher Kommentar zum IPRG. 2. Aufl.. Zürich 2004. Art. 16 N 16.
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fechtbarkeit von Schiedsgerichtsurleilen im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichts
ältere Theorie widerspiegelt, welche freilich in der Praxis nicht mehr angewandt wird13.
Fasst man das beschriebene Prinzip iura novit curia zusammen, so ist es wichtig, beide in dieser Regel enthaltenen, innerlich verknüpften Aspekte zu sehen: Das Gericht hat das Recht von Amts wegen zu ermitteln. Die geringen Einschränkungen der Amtsermittlungspflicht in Bezug auf das ausländische Recht haben keine prinzipielle Bedeutung. Von gleichem Gewicht, aber von noch grösserer Tragweite ist der zweite Aspekt. Das ermittelte Recht muss von Amts wegen angewandt werden. Die weitreichenden Konsequenzen dieses Prinzips erschliessen sich erst, wenn man den historischen Hintergrund in die Betrachtung einbezieht. Während der Richter in Bezug auf die Tatsachen an die von den Parteien in den Prozess eingeführten Umstände gebunden ist, wird er hinsichtlich der Rechtsanwendung verpflichtet, das gesamte ihm bekannte Recht anzuwenden. Er ist dabei weder an die Auffassungen der Parteien noch an deren Vorstellungen gebunden. Hierauf beruht nun das eingangs angesprochene Spannungsverhältnis, das in den erwähnten Entscheiden und der entsprechenden Literatur zu Art. 190 IPRG14 immer wieder anklingt. Es wird diskutiert, ob ein Richter, der auf Grund eigener Rechtsanwendung und ungeachtet anderer oder überhaupt nicht angestellter rechtlicher Erwägungen der Parteien zu einem Entscheid kommt, ein anfechtbares Urteil erlassen hat, weil er im Sinne von Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG über Streitpunkte entschieden hat, die ihm nicht unterbreitet wurden. Ehe dazu Stellung zu nehmen ist, ist der schon angedeutete Hintergrund dieser Regelung, der in Kurzform als Grundsatz ne ultra petita bezeichnet wird, ebenfalls einer historischen Analyse zu unterziehen.
III. Entstehung und Bedeutung der Regel ne eat iudex ultra petita15
Der allgemein geläufige und zumindest in den deutschsprachigen Rechtsordnungen einheitlich kodifizierte Grundsatz16 beruht auf den Grundstrukturen des römischen Zivilprozessrechts17. Ausgangspunkt ist das Formularverfah-
13 Vgl. Fn. 12. Zur oben schon erwähnten heutigen Interpretation und Anwendung von § 293 DZPO STEIN/JONAS/LEIPOLD. Kommentar zur Zivilprozessordnung. 21. Aufl.. Tübingen 1997. § 293 N 1 ff.
14 ANTON HEINI. Zürcher Kommentar zum IPRG. 2. Aufl.. Zürich 2004, Art. 190 N 27 ff.; BSKBi RII/ SCHNVDER. Art. 190 IPRG N 52ff.:BGE 12011 175 sowie die in Fn.4 zitierten Entscheide: dazu unten Ziff. IV.
15 Dazu die knappen Hinweise bei DETLEF LIEBS. Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. 6-Aufl.. München 1998. N 15 S.20.
16 Vgl. Art. 190 Abs.2 lit.c IPRG. Art 53 Abs. 1 VEZPO. Art.359Ziff.4ZPOBE .§ 308DZPO.S 405 Österreichische ZPO.
17 Knappe, auf die äussere Beschreibung beschränkte Skizze bei GERASSIMOS MEI.ISSINOS. Die Bindung des Gerichts an die Parteianträge nach § 308 I ZPO. Diss. Berlin 1982. 19ff.
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WOLKGANG WIEGAND Iura novit curia vs. ne ultra petita - Die An-
ren, in dem der Klagantrag, die intentio, das «Prozessprogramm» festlegt oder, im modernen Sinne, den Streitgegenstand fixiert. Dessen unbedingte Einhaltung war Voraussetzung für die Durchführung und die Wirksamkeit des Prozesses. Daraus ergaben sich mannigfache Folgen, die hier nicht im Einzelnen diskutiert, aber immerhin angedeutet werden sollen. Hat der Kläger in der intentio mehr verlangt, als ihm nach der Auffassung des Richters zustand, so lag eine Zuvielforderung vor18, die zur Abweisung der Klage und zum Verlust des Klagerechts führte. Umgekehrt durfte der Richter den von der Partei gestellten Antrag nicht unterschreiten. Tat er dies, so war das Urteil nichtig, und der Richter selbst war einer Haftungsklage ausgesetztl9.
Aus diesem Grundansatz hat sich im mittelalterlichen Prozessrecht die Maxime ne eat iudex ultra petita entwickelt, obwohl die Voraussetzungen des Formularprozesses schon im so genannten Kognitionsverfahren aufgegeben und von JUSTINIAN weitgehend beseitigt worden waren20. In dem bereits erwähnten Entwicklungsstadium der Europäischen Rechtsgeschichte, in dem der moderne Zivilprozess entstanden ist21, wurde dieser Grundsatz beibehalten, methodisch freilich anders eingeordnet, weil er der nunmehr entwickelten und oben schon beschriebenen Konzeption des Prozessrechts angepasst und der Dispositionsmaxime22 zugeordnet wurde. Das hat nichts daran geändert, dass eine Verankerung in dem dem Formularprozess entstammenden Begriff der intentio erhalten blieb. Im Ergebnis bedeutet dies, dass man die Maxime immer dahin verstanden hat, dass der Richter sich innerhalb des durch den Antrag des Klägers beschriebenen «Spielraums» bewegen muss und diesen auf keinen Fall überschreiten darf, damit er nicht litem suam facti. Ein Richter, der «seinen eigenen Prozess macht», verletzt sein officium iudicis, macht sich selbst haftbar und verursacht zudem die Nichtigkeit des Urteils.
Dieses Konzept blieb ungebrochen erhalten bis in die Prozessrechtslitera-tur des 19.Jahrhunderts23, wobei ausdrücklich betont wird, dass innerhalb dieses Spielraums die Freiheit des Richters vollkommen gewährleistet ist, ohne mit dem Prinzip der Verhandlungs- und Dispositionsmaxime in Konflikt zu kommen. Die moderne Prozessrechtsdoktrin hat diese traditionellen Ansätze
18 Diese Zuvielforderung,plus peiitio. konnte die Quantität, den Leistungsgegenstand, den Leistungsort und den Erfüllungstermin betreffen. Im geltenden Schweizer Recht findet sich eine «Rezeption» dieses Instituts bei der verzugsauslösenden Mahnung, dazu EUGEN BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht. Allgemeiner Teil. 2. Aufl.. Zürich 1988. 357; zur historischen Entwicklung wie zur tnodernrechtlichen Bedeutung WOLFGANG WIEGAND. Plus Petitio. Diss. Berlin 1974.
" MAX KÄSER. Das Römische Zivilprozessrecht. 2. Aufl.. neu bearbeitet von KAHL HACKE. München 1996.37lff.insbes.Anm. 17.
20 MELISSINOS (Fn. 17). 22. Der Richter darf die Parteianträge nicht überschreiten: «ultra id quod in Judicium deductum est excedere potestas iudicis non potest» (Dig. 10.3.18).
: i Zur Entstehung des «gelehrten Prozesses» oben unter Ziff. II. : : Als prozessuales Prinzip wurde die Dispositionsmaxime erst in der Prozessrechtswissenschaft des
19. Jahrhunderts explizit formuliert. Vgl. die in Fn. 23 genannten Autoren. 23 Vgl. etwa ACHILLES RENAUD. Lehrbuch des Gemeinen deutschen Civilprozessrechts. Leipzig/Hei
delberg 1867. § 78 und GEORG WII HELM WETZELL, System des ordentlichen Civilprozesses. 3. Aufl.. Leipzig I87S. 5 43.
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fechtbarkeit von Schiedsgerichtsurteilen im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichts
fortgeführt24, ist sich allerdings vielfach der historischen Zusammenhänge nicht bewusst.
IV. Ein erstes Résumé
Die beiden Prinzipien iura novit curia und ne ultra petita basieren auf Grundmaximen, die im gelehrten Recht entwickelt wurden; sie haben die Strukturen des kontinental-europäischen Prozesses geprägt und bestimmen diese bis heute weitgehend25. Versteht man sie so, wie das nach ihrer historischen Genese geboten ist, besteht kein eigentliches Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Maximen. Sie ergänzen sich vielmehr in folgender Weise:
Durch das Rechtsbegehren26 wird der Streitgegenstand festgelegt und zugleich begrenzt. Unter der Dispositionsmaxime ist der Richter an diese Fixierung gebunden und darf über nichts entscheiden, was ihm nicht durch das Rechtsbegehren zur Entscheidung unterbreitet wurde27. Die Anwendung dieses Grundsatzes führt auch im modernen Prozessrecht zu klaren Resultaten: Die quantitative Überschreitung des Klagantrags stellt immer eine Verletzung des Grundsatzes ne ultra petita dar. Dieser kommt aber auch dann zur Anwendung, wenn das Gericht Rechtsfolgen ausspricht, die im Rechtsbegehren nicht enthalten waren. Hat etwa der Kläger beantragt, den in Streit stehenden Vertrag nach den Grundsätzen der clausula rebus sie stantibus den veränderten Umständen anzupassen, so darf das Gericht diesen nicht aufheben, auch wenn es die Aufhebung für die einzig angemessene Lösung hält. In diesem Falle ist die Klage auf Anpassung abzuweisen. Dieses Beispiel verdeutlicht zugleich die Funktion und die Möglichkeiten, die das Gericht durch die Anwendung des Satzes iura novit curia hat: Begehrt etwa der Kläger die Aufhebung eines Vertrages nach den Grundsätzen der clausula rebus sie stantibus und kommt das Gericht zu der Auffassung, dass ein Grundlagenirrtum über eine zukünftige Entwicklung vorlag, so kann es feststellen, dass der Vertrag unwirksam sei28. Noch einfacher liegen die Dinge, wenn es um Klagen auf
:4 Exemplarisch WALTHER J. HABSCHEID. Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisations-recht. 2. Aufl.. Basel 1W0. N 309 ff.
25 Vgl. nur den oben (Fn. I ) zitierten Aufsatz von KURKEI.A: zu den Besonderheiten einzelner Prozess-rechtsentwicklungen. wie etwa der eingeschränkten Bedeutung der Maxime iura novit curia in Frankreich vgl. PETER SCHLOSSER, Rechtsvergleichendes zur Schiedsgerichtsbarkeit, in: CANARIS et al. (Hrsg.). 50 Jahre Bundesgerichtshof. Festgabe aus der Wissenschaft. München 2000. 405ff. Die Darstellung beschränkt sich im Folgenden primär auf die deutschsprachigen Prozessrechte.
2,1 Dazu und zum Folgenden HABSCHEIEI (Fn.24). N 381 ff. 27 Die Situation stimmt also heute noch mit dem oben (Fn.20) wiedergegebenen Text aus den Digc-
sten überein. 211 Zu dieser Problematik hat sich das Bundesgericht eingehend geäussert im Entscheid vom
21. April 2001 = 4C.34/2000: die hier massgeblichen Erwägungen sind in der Amtlichen Sammlung (BGE 127 III 300) leider nicht abgedruckt, vgl. im Einzelnen WOLFGANG WIEGAND. Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts in den Jahren 2001 und 21X12. ZBJV 2003. 803ff.
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WOLFGANG WIEGAND Iura novit curia vs. ne ultra petita - Die An-
Geldleistungen geht. Hier ist selbstverständlich, dass das Gericht berechtigt und verpflichtet ist, jede Grundlage zu prüfen, aus der sich der geltend gemachte Leistungsanspruch ableiten lässt. So bestehen keinerlei Bedenken, Schadensersatz zuzusprechen, wenn der Kläger sich auf eine Vertragsverletzung berufen hat, die das Gericht verneint, während es auf Grund des unterbreiteten Sachverhalts das Vorliegen eines Delikts im Sinne von Art. 41 OR29
bejaht. Dazu ist meines Erachtens das Gericht auch verpflichtet, denn der Kerngehalt der Maxime iura novit curia liegt in einer untrennbaren Verknüpfung der Rechtsermittlungs- und der Rechtsanwendungspflicht30.
Die beschriebenen Grundsätze finden auf das Verfahren vor Schiedsgerichten grundsätzlich in unveränderter Weise Anwendung31. Dabei ist freilich eine Einschränkung zu beachten, die in der Funktion und Struktur des Schiedsverfahrens ihre Ursache hat. Durch die Schiedsabrede wird die Kompetenz des Schiedsgerichts begründet und begrenzt. Eine solche Begrenzung ist in vielfacher Hinsicht möglich, im vorliegenden Zusammenhang aber nur unter einem Aspekt relevant: Beschränken die Parteien die Zuständigkeit des Schiedsgerichts auf eine bestimmte Frage, etwa diejenige der Vertragsverletzung, so kann das Schiedsgericht - anders als im zuvor geschilderten Normalfall - einen eventuellen Schadensersatzanspruch nicht auf Grund eines angenommenen Deliktes zusprechen. Aus der unterschiedlichen prozessdogmatischen Ausgangslage ergibt sich allerdings, dass es sich hier nicht um einen Fall der Überschreitung des Parteiantrages und damit einer Verletzung der Maxime ne ultra petita handelt, sondern um eine Kompetenzüberschreitung, die unter Art. 190 Abs. 2 lit.b IPRG fällt32. In der Sache stellt dies keine Einschränkung des Prinzips iura novit curia dar. Das Schiedsgericht darf, obwohl es dem gestellten Rechtsbegehren auf Grund des ihm unterbreiteten Sachverhalts an sich stattgeben könnte, ein dementsprechendes Urteil nicht erlassen, weil die Parteien seine Zuständigkeit durch die Schiedsvereinbarung auf einen bestimmten rechtlichen Aspekt beschränkt haben. Die Beschränkung der Maxime iura novit curia betrifft indessen nicht diese als solche. Sie gilt vielmehr im Rahmen der von den Parteien abgesteckten Kompetenz uneinge-
N Obligationenrecht vom 30. März 1911. OR: SR 220. 3(1 Das Bundesgericht hat sich zwar wiederholt zu diesem Grundsatz bekannt (etwa in den in Fn. 2 ge
nannten Entscheiden), verfährt aber nicht immer nach diesem Prinzip, wie das Urteil vom U.November 21X12 (40210/2002) beweist. In diesem Falle hat das Hundesgericht eine Klage auf Haftung einer Bank aus deliktischem Verhalten abgelehnt und ist auf eine vertragliche Begründung dieses Anspruchs nicht eingetreten, die aber auf Grund des Sachverhaltes ohne weiteres naheliegend gewesen wäre. Dazu WOLFGANG WIEGAND/CORINNE GUTKNECHT, Rechtsprechungschronik des Bundesgerichts, in: PETER NOBEL (Hrsg.). Aktuelle Rechtsprobleme des Finanz- und Börsenplatzes Schweiz. Bern 21)04. 456f.
" Vgl. etwa BOE 120 II 172 sowie die in Fn.2 genannten Entscheide. •': HANS PETE« WALTER, Praktische Probleme der staatsrechtlichen Beschwerde gegen internationale
Schiedsentscheide (Art. 190 IPR(i). ASA Bull. 2001.217 ff.: PAOLO MICHÈLE PATOCCIII/ELLIOTI GEI-SINGER. Internationales Privatrecht. Zürich 2000, Art. 190 N 21; BOE 120 It 172.175; 4P.260/20O0. E.5 (vgl. unten Ziff. VI).
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fechtbarkeit von Schiedsgerichtsurteilen im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichts
schränkt. So steht es dem Schiedsgericht durchaus frei, den Schadensersatzanspruch als einen solchen wegen Nichterfüllung nach Art. 97 OR zu qualifizieren, wenn die Klägerin sich auf Art. 107 OR oder den Tatbestand der positiven Vertragsverletzung berufen hatte.
Aus dieser kompetenzbegrenzenden Funktion der Schiedsabrede und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Möglichkeit einer Nichtigkeitsbeschwerde gemäss Art. 190IPRG ergibt sich ohne weiteres, dass die Schiedsgerichte bei der Auslegung der Schiedsklauseln äusserste Sorgfalt walten lassen müssen, um eine Kompetenzüberschreitung zu vermeiden33. Sieht man von dieser Besonderheit ab, so lässt sich als Résumé festhalten, dass bei richtigem Verständnis des Grundsatzes iura novit curia dessen Anwendung weder je zu einer Überschreitung der Kompetenz im eben dargelegten Sinne, noch zu einer Verletzung der Regel ne ultra petita oder - allgemeiner ausgedrückt -der Dispositionsmaxime führen kann.
Es muss deshalb bis zu einem gewissen Grad verwundern, wenn in gerichtlichen Entscheiden, aber auch in der diesbezüglichen Literatur, die Grundsätze iura novit curia und ne ultra petita gewissermassen als Gegensatzpaar diskutiert werden. Dazu besteht nach deren historischer Genese, ihrer richtig verstandenen Deutung und ihrer prozessualen Funktion an sich keinerlei Grund. Wenn das Bundesgericht gleichwohl in einer ganzen Reihe von Entscheiden auf diese Problematik eingehen musste. so liegt das daran, dass die Parteien eine an sich sachlich verfehlte Rüge erheben. Beispielhaft dafür ist das mehrfach erwähnte Urteil vom 2. März 2001. Dort heisst es: «Die Beschwerdeführerin rügt, das Schiedsgericht habe den Grundsatz <ne eat judex ultra petita partium> verletzt, indem es der Beschwerdegegnerin einen Schadenersatzanspruch zugestanden habe, obwohl diese auf Erfüllung des Garantievertrages geklagt und im Schiedsverfahren einen Schadenersatzanspruch nicht geltend gemacht habe.»34 Das Bundesgericht verweist zunächst zutreffend darauf, dass für die Überprüfung dieser Rüge auf den französischen Text von Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG abzustellen ist. da dieser - anders als der deutsche und der italienische Text - den Grundsatz ne ultra petita in klarer Weise zum Ausdruck bringe, um dann fortzufahren:
33 Primär ist es natürlich Sache der Parteien, durch eine entsprechende Klausel die Kompetenzen des Schiedsgerichts klar zu bestimmen. Als gelungener Versuch in dieser Hinsicht kann die Musterschiedsklausel der Internationalen Schiedsordnungder Schweizerischen Handelskammern angesehen werden, die folgendermassen lautet: «Streitigkeiten. Meinungsverschiedenheiten oder Ansprüche aus oder im Zusammenhang mit diesem Vertrag, einschliesslich dessen Gültigkeit. Ungültigkeit. Verletzung oder Auflösung, sind durch ein Schiedsverfahren gemäss der Internationalen Schiedsordnung der Schweizerischen Handelskammern zu entscheiden.» (vgl. www.swissarbi-tration.ch). Durch die Wendung «aus oder im Zusammenhang mit diesem Vertrag» ergibt sich eindeutig, dass auch solche Ansprüche in die Kompetenz des Schiedsgerichts fallen, die nicht im Vertrag selbst, sondern in gesetzlichen Anspruchsgrundlagen wie Bereicherungsrecht. Geschäftsführung ohne Auftrag oder Deliktsrecht ihre Basis haben.
14 BGE 4P.26O/2000, E.5.
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WOLFGANG WIEGAND Iura novit curia vs. ne ultra petita - Die An-
«Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind sowohl die staatlichen Gerichte als auch private Schiedsgerichte verpflichtet, die Rechtswirkungen des prozessual gültig vorgetragenen oder festgestellten Sachverhalts von Amtes wegen zu beurteilen, ohne an die Rechtsauffassungen der Parteien gebunden zu sein (...). Diese Verpflichtung gründet namentlich darin, dass nur dann urteilsmässige Klarheit über den Streitgegenstand zu gewinnen ist, wenn das Gericht eine behauptete Rechtsfolge unter sämtlichen rechtlichen Gesichtspunkten prüft (...). [...].
Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung liegt eine Verletzung des Grundsatzes «ne eat judex ultra petita partium» nicht vor, wenn ein Gericht den eingeklagten Anspruch in rechtlicher Hinsicht ganz oder teilweise abweichend von den Begründungen der Parteien würdigt, sofern er vom Rechtsbegehren gedeckt ist (...). Die Beschwerdegegnerin verlangte in ihrem Rechtsbegehren vor dem Schiedsgericht die Zahlung von [...] und stützte diesen Antrag in rechtlicher Hinsieht auf ihren Erfüllungsanspruch aus dem Garantievertrag mit der Beschwerdeführerin. Das Schiedsgericht leitete aus dem von den Parteien vorgebrachten Sachverhalt jedoch keinen Erfüllungs-, sondern einen Schadenersatzanspruch der Beschwerdegegnerin ab und sprach dieser einen Betrag von [...] zu. Das Schiedsgericht sprach damit der Beschwerdegegnerin nicht mehr oder anderes zu, als diese verlangte, sondern hat deren Anspruch lediglich auf eine andere rechtliehe Grundlage gestützt. Nach dem Gesagten kann aus dem Grundsatz «iura novit curia» nicht nur die Berechtigung, sondern sogar die Verpflichtung zur Prüfung sämtlicher Anspruchsgrundlagen abgeleitet werden (...). Das Schiedsgericht entschied damit nicht ultra petita, wenn es den Anspruch der Beschwerdegegnerin auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Vertragsverletzung beurteilte. [,..]»?s
Die Analyse des bewusst ausführlich wiedergegebenen Zitats zeigt zweierlei:
Das Bundesgericht versteht und wendet die beiden Maximen ganz im Sinne
ihrer historischen Genese und Funktion an, wobei es sich neben der Standard
literatur und früheren Entscheiden vor allem auf die grundlegenden Ausfüh
rungen von MAX KUMMER stützt36. Von diesem richtigen Ansatz ausgehend,
macht der Entscheid in eindeutiger Weise klar, dass ein Urteil den Grundsatz
ne ultra petita nicht allein deshalb verletzen kann, weil das Gericht in Anwen
dung der Maxime iura novit curia im Rahmen eines vorgegebenen Rechtsbe
gehrens eigene, von den Parteien nicht vorgetragene Rechtsauffassungen ent
wickelt und angewendet hat17. Betrachtet man die Urteile etwas näher38, so
geht es im Kern denn auch nicht wirklich um den Gegensatz der zwei bisher
besprochenen Prinzipien, sondern um die Frage, ob eigene, vom Gericht ent
wickelte Rechtsauffassungen, die von den Parteien nicht vorgetragen und
•'• BGE 4P.26O/20O0, E.5b und c. ,h MAX KUMMER, Das Klagrecht und die materielle Rechtskraft im schweizerischen Recht. Bern 1954.
105, der sich freilich für die historischen Zusammenhänge nicht interessiert, sondern seine Thesen aus dem Streitgegenstandskonzept ableitet.
n Für die Praxis sollte daraus die Konsequenz gezogen werden, dass derartige Rügen von vornherein ohne Chance und deshalb zwecklos sind. Dass Anwälte, die auf Wunsch des Mandanten versuchen, den Schiedsentscheid anzufechten, derartige aussichtslose Rügen erheben, wird man ihnen nicht vorwerfen können, obgleich sie zu einer unnötigen Belastung des Gerichts führen.
H V'gl. die Zusammenstellung hei FRANÇOIS KNOEPFLER/PHIUPPE SCHWEIZER, Arbitrage international: jurisprudence suisse commenté depuis l'entrée en vigeur de la LDIP. Zürich 21W).\ unter den Schlagworten «iura novit curia» und «ne ultra petita».
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fechtbarkeit von Schiedsgerichtsurteilen im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichts
nicht diskutiert worden sind, zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs führen, wenn das Urteil daraufgestützt wird. Diese Auffassung ist im nationalen wie im internationalen Schiedsverfahrensrecht weit verbreitet; sie beruht auf einer zumindest teilweise merkwürdigen Verknüpfung und Vermischung von Denkansätzen, die im Folgenden skizziert werden.
V. Rechtsanwendung und rechtliches Gehör
Beschränkt man sich zunächst auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung, so findet sich hier ein Ansatz, der nach den zuvor dargelegten historischen Voraussetzungen zumindest überraschen muss. Gestützt auf entsprechende Deutungen in der Literatur nimmt das Bundesgericht an, dass eine Beziehung bestehe zwischen dem verfassungsrechtlich garantierten Grundsatz des rechtlichen Gehörs und Art. 190 Abs.2 lit.c IPRG. Wenn auch spürbar zögernd, räumt es ein: «La relation entre le premier motif et l'art. 4 Cst. est moins évidente mais doit cependant être admise.»39 Ohne dass die anfänglichen Zweifel noch sichtbar wären, wird dieser Gedanke in einem späteren Entscheid aufgegriffen und wie folgt formuliert: «La règle <ne eat judex ultra petita partium) garantit un aspect particulier du droit d'être entendu»4". Eine nähere Erläuterung dieses Satzes erfolgt nicht. Vielmehr wird - ohne jede Begründung - angenommen, das «droit d'être entendu» müsse so verslanden werden, dass damit nicht nur die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck kommt, dass die Parteien Gelegenheit haben müssen, sich zu den vorgetragenen Fakten zu äussern, sondern dass diese Befugnis auch auf das Recht erstreckt wird. In den späteren Entscheiden wird dieser Ansatz weiterverfolgt, jedoch die Verknüpfung mit dem Prinzip ne ultra petita nicht mehr wieder aufgenommen. Zumindest dies ist ein Fortschritt, denn auf Grund der oben dargelegten Entstehungsgeschichte und Funktion dieses Prinzips und seines Verhältnisses zur Maxime iura novit curia kann ein Recht auf Anhörung der Parteien zu Rechtsfragen mit diesen beiden Prinzipien nicht begründet werden. Was bleibt, ist die Frage, ob die Garantie des rechtlichen Gehörs auch den Anspruch um-fasst, zu Rechtsauffassungen des Gerichts gehört zu werden.
In der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit wird ein solcher Anspruch allgemein bejaht. Rechtsvergleichend ist dies eingehend dargestellt worden von PETER SCHLOSSER41, wobei insbesondere hervorgehoben wird, dass sich eine solche Pflicht des Gerichts nicht nur aus dem verfassungsrechtlich garan-
" BÜE 116 II 80. E.la. J" BGE 120 II 172. E.3a. 41 ScHLOSsm (Fn.25). 405ff. Ausserdem STEIN/JONAS/SCHLOSSEB (Fn. 1.1). Anhang zu § lOhl N %:
«Der Grundsatz iura novit curia gilt mit der Massgabe. dass der Schiedsrichter bisher nicht erörterte, wichtige neue Rechtsgedanken (im Gegensatz zu blossen Einzelargumenten), die ihm selbst kommen, mit den Parteien erörtern muss »
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derten Anspruch auf rechtliches Gehör, sondern auch aus der Rechtsnatur des kontradiktorischen Verfahrens ergibt. DiesenGesichtspunkt hebt MICHAEL
SCHNEIDER besonders hervor, der in seiner Erläuterung zu Art. 182 Abs. 3 IPRG wie folgt zu der Problematik Stellung nimmt: «In einem kontradiktorischen Verfahren darf sich das Schiedsgericht in seinen Schiedsurteilen nur auf Sachverhalt und nur auf Rechtssätze stützen, zu denen die Parteien Stellung haben nehmen können. Hinsichtlich des dem Schiedsspruch zugrunde liegenden Sachverhalts ist das wohl unbestritten. Dagegen wird in der Praxis nicht immer beachtet, dass der Schiedsrichter den Parteien einen besonderen Hinweis und Gelegenheit zur Stellungnahme geben muss, wenn er den Schiedsspruch auf eine Rechtsauffassung stützen will, die die Parteien in ihrem Vortrag nicht in Erwägung gezogen haben.»42 Nach Hinweisen auf das französische Recht und die Darstellung von SCHLOSSER fährt SCHNEIDER fort: «Im schweizerischen Zivilprozessrecht besteht eine solche Verpflichtung unter dem Begriff der richterlichen Hinweispflichten.» Diese Prinzipien, die auch im staatlichen Gerichtsverfahren gelten, sollen vor allem dann zur Anwendung kommen, wenn es sich um von den Parteien nicht erörterte und sie offenbar überraschende Rechtsansichten handelt. Besonders wichtig sei diese Hinweispflicht in internationalen Schiedsverfahren wegen der oft unterschiedlichen Erfahrungen und Vorstellungen der Beteiligten.
Ganz auf diese Gesichtspunkte stellt das Bundesgericht auch in seinen späteren Entscheiden43 zu dieser Problematik ab, und nur darauf kommt es im Folgenden an. Es geht um die Frage, ob es tatsächlich Sinn macht, eine Verletzung des rechtlichen Gehörs anzunehmen, wenn das Gericht auf Grund des ihm unterbreiteten Sachverhalts diesen rechtlich anders subsumiert als die Parteien dies vorgetragen oder auch nur in Betracht gezogen haben. So einleuchtend das Postulat des Anhörens der Parteien bezüglich der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen ist, so problematisch erscheint es hinsichtlich der Rechtsanwendung. Natürlich kann man die Rechtsfindung als einen dialektischen Prozess im Gespräch zwischen den Parteien und dem Gericht betrachten. Tut man dies, so stellt sich sogleich die Frage, wo dieser Dialog sein Ende findet44. Jedenfalls aber ist solch ein Ansatz mit den Grundgedanken des Prinzips iura novit curia nicht vereinbar, so dass sich die Frage stellt, ob dieses Prinzip aufgegeben oder eingeschränkt werden muss. Um dazu Stellung zu nehmen, ist nochmals die Funktion des mit der Parömie iura novit curia zum Ausdruck gelangenden Prinzips in Erinnerung zu rufen. Während die Verhandlungsmaxime den Parteien die Herrschaft über den zu beurteilenden Sachverhalt einräumt (da mihi facta) und die Dispositionsmaxime als prozessuale Entsprechung der Privatautonomie den Parteien die Herrschaft über den Streitgegenstand sichert, ist die Rechtsermittlung und Rechtsanwendung 4 : BSK-SCMNEIDER. Art. 182 IPRG N 60. 41 Insbes. die in Fn. 2 genannten. 44 Dazu sogleich.
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die elementare Pflicht des Gerichts. Ihm obliegt es, die für die Entscheidung über die unterbreiteten Tatsachen und den gestellten Antrag relevanten Normen aufzufinden sowie anschliessend die Entscheidung darüber zu treffen, ob eine der in Betracht kommenden Regelungen Anwendung findet, und, wenn ja, wie diese Anwendung zu gestalten ist.
Angesichts dieser Ausgangslage stellt sich die Frage, inwieweit eine Rechtsanwendung für die Parteien unvorhersehbar oder überraschend sein kann, denn das Gericht kann und darf nur existierendes Recht anwenden, das ihm - ebenso wie den Parteien - bekannt ist45. Aber selbst, wenn man annähme, dass die richterliche Rechtsanwendung die Parteien in dem von Rechtsprechung und Literatur verwendeten Sinne überrascht, weil sie mit einer solchen Rechtsanwendung nicht gerechnet haben oder auch nicht rechnen konnten - was, um das nochmals zu betonen, an sich nicht möglich ist oder nicht passieren sollte! - , so stellt sich die Frage, was die Einräumung rechtlichen Gehörs bedeuten würde: Im Kern wird die Funktion des rechtlichen Gehörs und des kontradiktorischen Prinzips darin gesehen, dass die Parteien nicht nur eine Mitwirkungsobliegenheit, sondern ein Mitwirkungsrecht haben. Dadurch soll ihnen die Möglichkeit gegeben werden, den Entscheidungsprozess durch ihr Vorbringen zu beeinflussen. Dass dies für die Beibringung von Tatsachen, Präsentation und Widerlegung von Beweisen zutrifft, bedarf keiner weiteren Begründung. Ebenso selbstverständlich ist aber, dass rechtliche Erwägungen der Parteien eben gerade diese Funktion nicht haben. Das Gericht findet das Recht in einem ihm obliegenden Entscheidungsprozess. Geben wir das Bild von der «richtigen» richterlichen Entscheidung nicht auf. so ist es logisch notwendig, dass die Rechtsanwendung zur richtigen Norm führen muss, unabhängig davon, ob die Parteien daran mitwirken oder nicht. Um dies zu verdeutlichen: Es ist Sache des Schiedsgerichts, zu entscheiden, ob es in einem nach schweizerischem Recht zu beurteilenden Auftragsverhältnis am zwingenden Charakter von Art. 404 OR festhält46, ob es die Wirkungen des Rücktritts mit dem Bundesgericht darin sieht, dass ein Rückabwicklungs-Schuid-verhältnis entsteht47, oder ob es die Anfechtung eines Dauerschuldverhältnisses als eine Kündigung ex nunc betrachtet, wie dies das Bundesgericht im sogenannten Klärschlamm-Fall getan hat4X. Ob die Parteien sich dazu äussern können, darf und kann das Ergebnis letzten Endes nicht beeinflussen. Ausführungen der Parteien zu solchen Rechtsfragen können, richtig verstanden.
J5 Für die zu erörternde Frage ist von traditionellen Konzeptionen der Rechtsfindung auszugehen. Dass im Bereich der richterlichen Rechtsfortbildung ein differenzierterer Prozess stattfindet - dazu HANS PETER WALTER. Zeitgemässe richterliche Rechtsfortbildung, recht 2003.2 ff. - steht dem ebenso wenig entgegen wie der l'mstand. dass es theoretische Ansätze gibt, wonach jede richterliche Entscheidung einen neuen kreativen Akt der Rechtsschöpfung darstellt.
* Dazu statt aller MARKLS REBER. Die Baubindung beim Grundstückkauf, Diss. Bern 1<W9. 98ff. 47 BÜE 114 11 152. 48 Dazu und zur «Rückabwicklung gescheiterter Verträge» WOLFGANG WIEGAND. Zur Ruckabwick
lung gescheiterter Verträge (Festschrift im Druck).
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nur als Vorschläge und Anregungen aufgefasst werden. Aus beiden dargelegten Gründen kann es weder eine im eigentlichen Sinne überraschende Rechtsanwendung geben noch einen Anspruch der Parteien darauf, bei der richterlichen Entscheidungsfindung rechtliches Gehör zu haben. Dies bedarf freilich der Relativierung und Präzisierung:
Hat das Schiedsgericht gegenüber den Parteien eine Rechtsansicht geäussert, von der es im Laufe des Verfahrens abrückt, so wird vielfach die Auffassung vertreten, den Parteien müsse eine solche Änderung mitgeteilt werden mit der Massgabe, dass sie nochmals Gelegenheit zur rechtlichen Stellungnahme hätten. Aus den oben genannten Gründen besteht eine solche Hinweispflicht nicht und deren Verletzung bedeutet sicher keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Davon ist zu unterscheiden, dass es ein Gebot der Transparenz und Plausibilität des Verfahrens ist, Parteien auf derartige Änderungen hinzuweisen, um das Vertrauen in das schiedsrichterliche Verfahren als solches nicht zu gefährden. Notwendig ist das indessen nicht in allen Fällen. Kommt das Schiedsgericht in der abschliessenden Beratung und nach Abschluss des Beweisverfahrens und der Schriftenwechsel zu dem Ergebnis, dass es einen geltend gemachten Anspruch aus einem anderen Grund, als dem bisher in Betracht gezogenen für gerechtfertigt hält, so ist prinzipiell gewiss weder ein weiterer Schriftenwechsel noch gar die Neueröffnung des Beweisverfahrens erforderlich. Das gilt freilich nur dann, wenn die Anwendung der neuen Rechtsgrundlage ohne jede Ergänzung des Parteivortrags möglich ist. Darin liegt die entscheidende Präzisierung, die durch Beispiele verdeutlicht werden soll.
Beantragt der Kläger Zahlung eines Betrages aus einer Bürgschaft und wendet der Beklagte ein, dass die Bürgschaft formungültig sei, so kann das Schiedsgericht, auch wenn es erst in der Schlussberatung zu dieser Ansicht gelangt, die getroffene Vereinbarung als Garantievertrag qualifizieren und den Beklagten zur Leistung verurteilen, ohne ihm nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Es handelt sich um eine reine Subsumtions- und Auslegungsfrage. Selbst wenn die Parteien übereinstimmend davon ausgegangen wären, dass es sich um eine Bürgschaft handelt, ist das Gericht in der Qualifikation des geschlossenen Vertrages und dessen Subsumtion frei.
Anders liegen die Dinge in den beiden folgenden Fällen: Der Kläger verlangt Rückzahlung eines Darlehens, das er dem Beklagten gewährt hat. Die Auszahlung ist unstreitig, der Beklagte verweigert jedoch die Rückzahlung auf Grund verschiedener Vertragsklauseln. Das Gericht gelangt zu der Auffassung, dass der Darlehensvertrag nichtig sei und deshalb das Begehren des Klägers nur auf ungerechtfertigte Bereicherung gestützt werden könne, eine Rechtsgrundlage, die von keiner der Parteien bisher diskutiert und auch vom Gericht noch nicht in Erwägung gezogen worden war. Im Rahmen des Grundsatzes iura novit curia kann das Gericht den Anspruch auf Bereicherungsrecht stützen. In diesem Falle freilich muss (zumindest) der Beklagte gehört wer-
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den. Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass er gegenüber dem Bereicherungsanspruch Einreden und Einwendungen erheben kann; zu denken wäre hier etwa an die Einwendung des Wegfalls der Bereicherung. Das Gericht muss hier dem Beklagten Gelegenheit geben, diejenigen Tatsachen vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen, aus denen sich der Wegfall der Bereicherung ergibt. Ebenso liegt es in einem zweiten Beispielsfall: Der Kläger verlangt von der Bank Schadensersatz wegen nicht gehöriger Erfüllung eines Vermögensverwaltungsvertrages. Dabei wirft er der Bank vor, sie habe bei der Platzierung der Anlagen nicht mit der zu erwartenden Sorgfalt gehandelt49. Das Gericht gelangt zu der Auffassung, dass zwar nicht die Sorgfaltsmassstäbe verletzt wurden, dass aber im Hinblick auf die konkret vorgenommenen Anlagen eine erhöhte Aufklärungspflicht bestanden hätte, welche die Bank nicht beachtet hat50. Auf den ersten Blick könnte das Gericht auch hier den Schadensersatz ohne weiteres zusprechen. Es ist jedoch wiederum zu beachten, dass die Bestimmung des Schadensersatzes bei Verletzung von Aufklärungspflichten nach einer anderen Formel erfolgt als bei Sorgfaltspflichtverletzungen. Der Kläger hat den Beklagten so zu stellen, wie dieser stünde, wenn er rechtzeitig und richtig aufgeklärt worden wäre. Aus diesem Ansatz ergibt sich eine Schadensersatzbestimmung, die auf einen anderen hypothetischen Kausalverlauf abstellt als bei der Sorgfaltspflichtverletzung. Daraus folgt weiter, dass nach nunmehr gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichts der Beklagte die Möglichkeit hat, den Nachweis zu führen, dass der Auftraggeber auch bei richtig erfolgter Aufklärung nicht anders entschieden hätte51. Das Gericht muss auch hier dem Beklagten die Möglichkeit einräumen, Tatsachen vorzutragen und gegebenenfalls Beweise anzutreten.
Aus den beiden letzten Beispielen ergibt sich einerseits, dass für die Frage, ob und unter welchen Umständen bei einem bisher im Verfahren nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden muss, keine generelle Lösung gefunden werden kann. Alle drei Beispiele verdeutlichen anderseits, wo und wie die Grenzlinie verläuft. Kann das Recht, dessen Anwendung das Gericht in Betracht zieht, auf Grund des vorgetragenen und bewiesenen Sachverhalts ohne weiteres angewendet werden, besteht keine Anhörungspflicht gegenüber den Parteien, sofern und solange das Urteil sich im Rahmen der gestellten Anträge bewegt. Umgekehrt müssen die Parteien gehört werden, wenn die Möglichkeit (nicht die Gewissheit!) besteht, dass die Parteien durch nochmalige Anhörung Umstän-
49 Zu der nunmehr vom Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung verwendeten, auf die Erwartung des Auftraggebers abstellenden Bestimmung des Sorgfaltsmassstabes vgl. WOLFGANG WIEGAND. Ärztliche Sorgfalts- und Aufklärungspflichten im Lichte der Veränderungen im (iesundheitswesen. in: FS Hausheer. Bern 2002. 754ff.
5,1 Zur Sorgfalts- und Aufklärungspflicht im Bankbereich vgl. WOLFGANG WIEGAND. Sorgfaltspflichten des Bankiers, in: WIEGAND (Hrsg.). Banken und Bankrecht im Wandel. Berner Bankrechtstag 2003. Bern 2004. 169ff. m.w.Nw.
51 WIEGAND (Fn.49). 762 und BC.E 4C.276/I993. E. 5.5.
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de einbringen könnten, welche die Rechtsfindung oder Rechtsanwendung im Resultat verändern könnten. Folgt man dieser Linie, so liegt auf der Hand, dass es weder um eine Einschränkung des Prinzips iura novit curia geht, noch um einen Anspruch auf rechtliches Gehör zu Rechtsfragen. Richtig ist vielmehr, dass aus der Geschichte der Parömie iura novit curia und dem dahinter stehenden Konzept da mi facta, dabo tibi ius mit Selbstverständlichkeit folgt, dass, sofern und soweit die Rechtsanwendung auch nur die Möglichkeit eröffnet, dass bisher im Verfahren nicht vorgebrachte Tatsachen und Umstände relevant werden könnten, den Parteien Gelegenheit gegeben werden muss, diese einzuführen. Dabei handelt es sich um nichts anderes als eine Bestätigung der Verhandlungsmaxime. Wird den Parteien diese Möglichkeit nicht gewährt, so folgt daraus ebenso selbstverständlich, dass unter diesen Umständen der Anspruch auf rechtliches Gehör wie auch das Postulat nach der Durchführung eines kontradiktorischen Verfahrens verletzt sind. Dies freilich nicht, weil es um Rechtsfragen, sondern um die Möglichkeit geht, Angriffsund Verteidigungsmittel vorzubringen52.
Der hier vertretene Standpunkt ist nicht neu. Das Bundesgericht hat in zahlreichen anderen Entscheiden wie auch in den meisten soeben zitierten Urteilen im Grunde diesen Weg gewählt und dabei eigentlich eher routine-mässig immer wieder von überraschender Rechtsanwendung oder dem Recht, zu neuen Rechtsansichten gehört zu werden, gesprochen. Ähnliches gilt für die Literatur. In Tat und Wahrheit dürfte man sich darüber einig sein, dass ein Verstoss gegen Art. 190 Abs. 2 lit.d IPRG nur dann angenommen werden darf, wenn die neu aufgeworfene Rechtsfrage untrennbar mit dem Vorbringen bisher noch nicht eingeführter Tatsachen zusammenhängt. Bleibt man auf dieser Linie, so gibt das für die Schiedsgerichte und die Parteien zumindest Klarheit im Grundsatz. Dass die Abgrenzung nicht immer ganz leicht fallen wird, liegt auf der Hand und mag manches Schiedsgericht dazu bewegen, vorsorglich den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Allzu grosse Vorsicht in dieser Hinsicht würde indessen dazu führen, dass Verfahren unnötig verzögert und Ketten von weiteren Schriftwechseln ausgelöst werden.
Dies dürfte freilich auch dann der Fall sein, wenn das Bundesgericht seine bisher in der Sache - wenn auch nicht immer in der Diktion33 - klare Linie aufgibt. Anlass zu solcher Besorgnis gibt der neueste Entscheid des Bundesgerichts in dieser Sache54. Der Verstoss gegen das rechtliche Gehör wird darin gesehen, dass der Entscheid des Schiedsgerichts auf einem Artikel des in 52 So schon BGE 116 II639.643 sowie die in ASA Bull. 199(1.51. und ASA Bull. 1991.415 publizierten
Entscheide. 3 Vgl. dazu auch die kritischen Anmerkungen von FRANÇOIS KNOEPFLER/PHIUPPE SCHWEIZER. Juris
prudence suisse en matière d'arbitrage international. SZIER 1996. 549. sowie DIES.. SZIER 2000. 582. alle auch abgedruckt in KNOEPFI.ER/SCHWEIZER (Fn.38).
54 Es handelt sich um den bereits in Fn.2 oben zitierten BGE 130 III 35. in dem ein Schiedsurteil gestützt auf Art. 190 Abs.2 lit.d IPRG aufgehoben wurde.
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Streit stehenden Vertrages beruht, der in den Prozessakten nur beiläufig erwähnt wurde und mit dessen Anwendung die Parteien deshalb nicht rechnen konnten. Der Entscheid ist nur dann akzeptabel, wenn man ihn dahingehend versteht, dass bei einem entsprechenden Hinweis des Schiedsgerichts die Parteien nicht nur Gelegenheit, sondern vor allem Anlass gehabt hätten, tatsächliche Umstände in das Verfahren einzubringen, die für die Interpretation und Wirkungsweise der fraglichen Bestimmung von Bedeutung gewesen wären. Ist dies der Fall, so handelt es sich auch hier um eine Entscheidung nach dem Grundkonzept, das oben dargelegt wurde und eine klare Abgrenzung ermöglicht. Andernfalls wäre zu befürchten, dass der Entscheid erhebliche Rechtsunsicherheit für die Schiedsgerichte verursacht.
VI. Résumé
Ausgehend vom historischen Ursprung und der Entwicklung des Grundsatzes iura novit curia hat sich ergeben, dass dieser bei richtigem Verständnis in keinem Spannungsverhältnis zur Maxime ne eat iudex ultra petita steht. Beide Grundsätze sind Ausprägung fundamentaler Prozessprinzipien, die einander ergänzen und nicht widersprechen. Dies gilt auch und gerade im Schiedsverfahren, in dem die Dispositionsmaxime auf Grund der noch gesteigerten Parteiautonomie besondere Bedeutung hat. In deren Rahmen steht indessen nichts entgegen, das Prinzip iura novit curia konsequent anzuwenden. Bei richtigem Verständnis dieses Grundsatzes kann er von vornherein in keine Kollision zum Anspruch auf rechtliches Gehör geraten. Die zentrale Rolle der Parteien, die sich aus der Verhandlungsmaxime ergibt, beschränkt sich bei der Rechtsfindung darauf, dem Gericht denjenigen Sachverhalt zu unterbreiten und gegebenenfalls zu beweisen, auf den das Gericht das Recht anzuwenden hat. Selbstverständlich können die Parteien bei dieser Rechtsfindung Argumente und Anregungen einbringen, die Entscheidung indessen liegt letztlich beim Gericht selbst. Infolgedessen kann eine Rechtsanwendung als solche keineswegs überraschend sein. Ein Schutz vor Überraschungen bei der Rechtsanwendung gestützt auf die Garantie des rechtlichen Gehörs kommt deshalb vom Ansatz her nicht in Betracht. Seine Verletzung kommt nur dann in Frage, wenn die vom Gericht ins Auge gefasste, von den Parteien nicht vorhergesehene und auch mit ihnen nicht diskutierte Rechtsanwendung die Möglichkeit einschliesst, dass bei Anwendung eines Rechtssatzes oder auch bei der Auslegung eines Vertrages Umstände und Tatsachen eine Rolle spielen, welche die Parteien bisher nicht in das Verfahren eingebracht haben, weil sie mit der Anwendung dieser Regel nicht gerechnet hatten. In diesen, aber auch nur in diesen Fällen, kommt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in Betracht. Nichts anderes gilt für das in Art. 182 Abs. 3 IPRG aufgestellte Postulat des kontradiktorischen Verfahrens. Es kann nicht angenom-
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