Intertextuelle Bezüge in Tom Stoppards Travesties
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Intertextuelle Bezüge in Tom Stoppards Travesties
Inhalt
I. Einführung.........................................................................................................3
II. Intertextualität in der Literaturwissenschaft
1.
Bachtin.............................................................................................................5
2. Kristeva...........................................................................................................7
3. Markierung von Intertextualität........................................................................9
III. Intertextualität in Tom Stoppards Travesties
1. Sekundäre Bezüge.........................................................................................11
2. Shakespeare - Tzara......................................................................................13
3. Joyces Ulysses..............................................................................................15
4. Wildes The Importance of Being Earnest......................................................18
IV. Bewertung der intertextuellen Bezüge.........................................................21
Literaturverzeichnis............................................................................................23
2
I. Einführung
Stoppard konfrontiert in seinen Dramen das Problem der Verselbständigung von >Textualität< als einer das Integrationsvermögen der Menschen überfordernden und ihre Wirklichkeitsansprüche dementierenden Metawelt kultureller Zeichen. Die einzelnen sind der Interpretationsmacht der Zeichen ausgesetzt, ohne ihren existentiellen Interessen kommensurable Bedeutungsmöglichkeiten in ihnen entziffern zu können.1
Mit diesen stark philologisch angehauchten Worten wird der thematische Gehalt des
Stoppardschen Œuvres in Seebers Englische Literaturgeschichte beschrieben. Diese Definition
bezieht sich im Besonderen auf das (bei Seeber) nachfolgend angesprochene Drama Rosencrantz
and Guildenstern Are Dead aus dem Jahr 1966. Darin macht Stoppard zwei Nebenfiguren aus
Shakespeares Hamlet zu Protagonisten, die sich in Anlehnung an Becketts Waiting for Godot in
einer sinnentleerten Welt darum bemühen, die Zeichen, denen sie begegnen, zu entziffern in der
Hoffnung, auf diese Weise ihrer Existenz Bedeutung zu verschaffen. Stoppard benutzt also in
seiner Tätigkeit als Dramatiker etablierte literarische Texte und schafft mit ihrer Hilfe im Stil
der postmodernen Pastiche und Collage eigenständige Werke, die jedoch den Bezug zu den
Prätexten nicht verbergen können und wollen. Im Vergleich zum Schaffen eines Edward Bond,
das bei Seeber „politisches Drama“ genannt wird, werden Stoppards Stücke als „spiel-
ästhetische Dramen“ bezeichnet:2 „[Stoppard] nimmt die Welt der Texte und den gesamten
semiotischen Überbau der Kultur als Spielmaterial, mit dem er die Relativität von
Wahrheitsansprüchen erkundet.“3 Diese vermeintlichen Wahrheitsansprüche werden dann, wie
im Falle von Rosencrantz and Guildenstern Are Dead, problematisiert und als bloßer Schein
entlarvt: Es gelingt den beiden entlehnten Figuren nicht, die Zeichen richtig zu deuten und selbst
da, wo sie augenscheinlich vernunftorientiert handeln, besiegelt der Zufall ihr Schicksal.
Auch in den späteren Werken greift Stoppard immer wieder auf literarische Quellen zurück
und macht sie zu strukturellen und inhaltlichen Mustern für seine eigenen Dramen. Sehr exzessiv
geschah dies bei der Abfassung von Travesties (1974), dessen Titel schon andeutet, daß es sich
hier um eine Bearbeitung von Quellenmaterial handelt. Ursprünglich sollte sich das Stück
lediglich auf die historische Tatsache stützen, daß sich der sowjetrussische Revolutionär
Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, und der rumänische Dadaist Tristan Tzara im Jahr
1917 in Zürich aufhielten, ohne daß sie jedoch zueinander in Beziehung standen. Stoppard
erfuhr dann aber, daß auch der irische Schriftsteller James Joyce infolge des Krieges seine Zelte
in der schweizerischen Stadt aufgeschlagen hatte und dort an seinem Roman Ulysses arbeitete.
Bald kam ein weiterer Umstand hinzu: Joyce war 1918 Geschäftsführer der in Zürich
1 Hans Ulrich Seeber (Hrsg.), Englische Literaturgeschichte (Stuttgart: 1993), p. 373. 2 ibid., p. 372.3 ibid., p. 372f.
3
gegründeten English Players, die eine Aufführung von Oscar Wildes The Importance of Being
Earnest vorbereiteten. Aus dem Engagement des britischen Konsularangestellten Henry Carr,
der Algernon Moncrieff verkörperte, entwickelte sich ein Rechtsstreit, der sich auch auf Joyces
Ulysses auswirkte. Carr erwarb nämlich ungebeten Kleider für seine Rolle, forderte den
Kaufpreis bei den English Players ein und traf infolgedessen bei Joyce auf taube Ohren. Nach
mehreren Gerichtsverhandlungen mit unterschiedlichem Ausgang beschloß Joyce, seinem
nunmehr erklärten Feind Carr in seinem Roman ein literarisches Denkmal zu setzen und
verewigte ihn als „Private Carr.“ Indem nun Stoppard das Wildestück und Henry Carr in sein
Drama integrierte und mit dem anderen Material verband, entwickelte er ein Netz von Zitaten,
Anspielungen, Querverweisen et cetera, das in der Weltliteratur seinesgleichen sucht.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die intertextuellen Bezüge in Travesties möglichst
vollständig zusammenzutragen. Zu diesem Zweck erscheint es ratsam, eine Definition des
Begriffes „Intertextualität“ vorauszuschicken, da sowohl der Terminus selbst als auch ein
dahinterstehendes Konzept nicht eindeutig zu bestimmen sind. „Intertextualität“ war von Beginn
an nicht klar umrissen, hat in der Folge die verschiedensten Bedeutungsnuancen aufgenommen
und hat, ausgehend vom Bereich der Literaturwissenschaft über die Semiotik bis hin zur
Kulturwissenschaft, vielfach Beachtung gefunden. Es ist deshalb nötig, die zugrundeliegende
Problematik kurz zu besprechen und ein einigermaßen vertretbares Fundament zu finden, von
dem aus das Stopparddrama auf seine Intertextualität hin analysiert werden kann.
II. Intertextualität in der Literaturwissenschaft
4
Intertextualität, Sammelbez. für die Wechsel- und Referenzbeziehungen e. konkreten lit. Textes zu e. Vielzahl konstitutiver und zugrundeliegender anderer Texte, Textstrukturen und allg. semiot. Codes, auf die er durch Zitate, Anspielungen u.ä. verweist und damit e. enges Netz von textl. Beziehungen ausbreitet. Typ. Großformen lit. I. sind Plagiat, Imitation, Adaption, Parodie, Travestie und Übersetzung/Nachdichtung. Auch Wechselbeziehungen zur Bildkunst werden als I. verstanden.4
Dies ist die Definition von Wilperts, die sich auf den rein literaturwissenschaftlichen Gebrauch
des Begriffes bezieht. Doch auch sie inkorporiert die Tatsache, daß „Text“ nicht nur als
geschriebenes literarisches oder außerliterarisches Dokument verstanden werden muß, sondern
eine Vielzahl anderer Zeichenstrukturen bedeuten kann. Das Problem, mit dem sich die
Literaturwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte konfrontiert sah, war die zunehmende
Ausweitung des Textbegriffes, der schließlich alles als „Text“ ansah. Damit wurde
„Intertextualität“ im ursprünglichen Sinn ad absurdum geführt, weil, wenn alles Text ist, alles
theoretisch auf alles verweisen kann. Diese Problematik soll im Folgenden noch einmal näher
erläutert werden.5
1. Bachtin
Das Phänomen Intertextualität in der Literatur ist keine Erfindung der Moderne. Es war
schon in der Antike bekannt (zum Beispiel bei Vergil, der sein Epos in Anlehnung an Homer
schrieb) und findet sich in allen Epochen und Kulturen, die Literatur hervorgebracht haben. Als
wissenschaftliches Forschungsgebiet wurde es jedoch erst in unserem Jahrhundert entdeckt. Dies
begann vor allem mit der Arbeit des Russen Michail Bachtin, der seine Schriften zur Literatur
bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren verfaßte. Seine gegen alle Ideologie
ankämpfenden Theorien machten ihn jedoch zum Feind der Sowjetregierung, die ihn 1929 dann
auch zum langjährigen Exil in Kasachstan verurteilte.
Bachtins zentrales Denkgebäude ist das der Dialogizität (er selbst verwendete den Begriff
nie), den er in seiner Beschäftigung mit den Romanen Dostojewskijs und Rabelais’ entwickelte.
Demnach setzt sich ein Autor neben der Wirklichkeit auch mit der vorgefundenen Literatur
auseinander: Er kämpft für oder gegen sie, benutzt, kombiniert sie, überwindet ihre Widerstände
oder läßt sich von ihr unterstützen. Letztlich entscheidend ist dann aber für das Werk „der
primäre Kampf mit der Wirklichkeit von Erkennen und Handeln.“6 Bachtin setzt Intertextualität
im engeren Sinn also an die zweite Stelle. Viel wichtiger noch ist die antagonistische
Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Texten. Dialog bezeichnet in diesem 4 Gero v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur (Stuttgart 71989). 5 Das Folgende ist stark an Ulrich Broich /Manfred Pfister, Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien (Tübingen 1985), Kapitel I, „Konzepte der Intertextualität“, angelehnt.6 Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, ed. R. Grübel (Frankfurt/M. 1979); zit. nach Broich/Pfister, a.a.O., p. 2.
5
Zusammenhang die offene Auseinandersetzung divergierender Standpunkte, während Monolog
für die Bekräftigung von Tradition und Autorität steht. Diese beiden Begriffe überträgt Bachtin
auf Gesellschaft, Sprache und Kunst.
Der Roman ist, so Bachtin, in einer Gesellschaft und Zeit entstanden, die dialogisch geprägt
waren. Dialogisch sind auch Schaubuden, Jahrmarktsbühnen, Maskerade und Karneval, da es
dort erlaubt ist, Sprachen, Dia- und Soziolekte nachzuäffen und Masken jeglicher Art zu tragen.
Bachtin entwickelte in seiner selbst erstellten „Metalinguistik“ das Konzept der Polyphonie
in der Literatur. Dabei unterscheidet er grundsätzlich zwischen Erzähler- und Figurenrede.
Daraus ergibt sich eine Auffächerung des literarischen Textes in verschiedene Arten des
„Wortes“: So kann sich ein Satz direkt auf einen Zusammenhang beziehen (direkte Rede) oder
aber auf ein anderes Wort (Erzählerkommentar). Bachtin definiert drei Arten des Prosawortes:
(1) Das direkt und unmittelbar gegenständlich gerichtete Wort; (2) das dargestellte/objekthafte
Wort (Erzähler) und (3) eine Überlagerung von (1) und (2), das zweistimmige oder polyphone
Wort. Die dritte Form ist gegeben, wenn ein „Wort“ zwei Intentionen beinhaltet, die direkte
Intention der sprechenden Person und die gebrochene Intention des Autors (die Rede, die ein
Autor einer seiner Figuren in den Mund legt, ist „fremde Rede in fremder Sprache“.7).
Polyphonie ist ein Kennzeichen ironischer Stilisierung, der Parodie, Polemik u. ä.
In diesem Konzept Bachtins äußert sich außerdem eine deutliche Sprachskepsis: Eine
konkrete Aussage hat keine absolute Bedeutung mehr, da jeder außersprachliche Gegenstand
verschiedene Bezeichnungen besitzt.
Mit Bezug auf Intertextualität ist festzustellen, daß Bachtins Untersuchungen zum Roman in
der Hauptsache werkimmanent verlaufen. Er analysiert Polyphonie innerhalb einzelner Werke.
Zwar enthält ein guter polyphoner Roman auch intertextuelle Bezüge zu bereits existenten
Werken (da er ja idealerweise die Gesamtheit der sozioideologischen Stimmen seiner Epoche
bündeln soll), doch sind diese lediglich Bestandteil des jeweiligen Kulturschatzes und verdienen
keine besondere Beachtung. Bachtins Dialogizität ist damit eher i n t r a - als inter textuell.
2. Kristeva
7 Bachtin, a.a.O.; zit. nach Broich/Pfister, p. 4.
6
Julia Kristeva begeisterte sich hauptsächlich für die Rigorosität, mit der Bachtin Kritik an
der Erstarrung der sowjetischen Kulturpolitilk und der Kanonisierung des sozialistischen
Realismus übte. Der von ihr geprägte Begriff „Intertextualität“ ist generell eine Erweiterung
dessen, was Bachtins Dialogismus ausmacht. Für Kristeva ist jeder literarische Text ein Mosaik
aus Zitaten, denn das literarische Wort orientiert sich am Korpus der Vergangenheit und der
Gegenwart. Zudem erfuhr der Textbegriff selbst eine enorme Ausweitung: alles, zumindest
jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur, ist Text. Diese Auffassung von „Text“ steht
auch hinter Kristevas Definition von „Intertextualität“:
Nous appellerons INTERTEXTUALITÉ cette inter-action textuelle qui se pro-duit à l’intérieur d’un seul texte. Pour le sujet connaissant, l’intertextualité est une notion qui sera l’indice de la façon dont un texte lit l’histoire et s’insère en elle.8
Damit ist kein Text mehr nicht intertextuell und Intertextualität benennt somit kein besonderes
Merkmal bestimmter Texte oder Textklassen, sondern ist allein mit der Textualität bereits
gegeben. Daraus ergibt sich für Kristeva weiterhin eine Dekonstruktion der Subjektivität: „Der
Autor eines Textes wird damit zum bloßen Projektionsraum des intertextuellen Spiels, während
die Produktivität auf den Text selbst übergeht.“9 Damit wird auch das Werk seiner Individualität
beraubt, wird zum „bloßen Abschnitt in einem universalen, kollektiven Text entgrenzt.“10 Es
entsteht ein „Universum der Texte“, in welchem die einzelnen Texte in einem regressus ad
infinitum immer auf andere und dadurch prinzipiell auf alle anderen Texte verweisen. Dies stellt
eine Grundvorstellung des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion dar. Diese kritischen
Schulen haben sich insbesondere der Analyse von modernen und postmodernen Werken
verschrieben, da diese die Krise der Subjektivität besonders deutlich reflektieren. Es ist
außerdem nicht verwunderlich, daß zahlreiche postmoderne Texte im Horizont einer globalen
Intertextualitätstheorie entstanden sind (so zum Beispiel Derridas Glas).
Kristevas Theorie sah sich schnell starker Kritik ausgesetzt, die vor allem auf die
ideologischen Züge ihrer Arbeit abzielte. Man versuchte statt dessen, Intertextualität „als
systematischen Oberbegriff für die verschiedenen Formen konkreter Bezüge zwischen
Einzeltexten“11 zu definieren, was einer Rückbesinnung auf traditionelle Termini wie Parodie,
Travestie, Zitat, Anspielung, Übersetzung, Adaption gleichkommt. Aufgrund der entstehenden
Diskussion sah sich Julia Kristeva gezwungen, den Begriff Intertextualität in ihrer Nomenklatur
durch „transposition“ zu ersetzen.
8 Julia Kristeva, „Narration et transformation“, Semeiotica, 1 (1969); zit. nach Broich/Pfister, p. 7.9 Broich/Pfister, p. 8.10 ibid., p. 9.11 ibid., p. 10.
7
Wenn es darum geht, Intertextualität als konkretes Phänomen zu betrachten, beschränkt sich
die Kritik in der Regel auf literarische Texte als Untersuchungsgegenstand. Gérard Genette
unterscheidet in seinem aufsehenerregenden Werk Palimpsestes fünf Kategorien der
Intertextualität:
(1) Intertextualität als Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte mit greifbarer Anwesenheit
eines Textes im anderen (z. B. Zitat, Anspielung, Plagiat etc.)
(2) Paratextualität: Bezüge zwischen Texten im Titel, Vor-/Nachwort, Motto
etc.
(3) Metatextualität: in der Form eines kommentierenden, oft kritischen Verweises auf
einen Prätext
(4) Hypertextualität: ein Text wird zur Folie für einen anderen (z.B. Imitation, Adaption,
Fortsetzung, Parodie u. ä.)
(5) Architextualität: Bezüge eines Textes zu (s)einer literarischen Gattung
Andere Kritiker, wie zum Beispiel Laurent Jenny, wollen Intertextualität nur da
anerkennen, wo der Zwischenbezug nicht nur punktuell ist, sondern eine strukturelle Homologie
zwischen Text und Prätext besteht (vgl. Genettes Kriterium der Hypertextualität). Wieder andere
legen Wert auf die semantisch-ideologische Differenz/Divergenz und bewerten syntaktische
Anomalien und Grammatikverstöße in den Intertextualitätssignalen.
Insgesamt gesehen gibt es demnach zwei Modelle der Intertextualität: ein eher globales des
Poststrukturalismus, das jedoch mit der Auflösung des Textbegriffes sein Fundament verliert,
und ein zweites, eingeschränktes und deshalb prägnanteres Modell, das literarische Texte
strukturalistisch-hermeneutisch auf Beziehungen zu anderen Texten oder Textgruppen
untersucht. Statt einer strengen Trennung der beiden Modelle schlägt Pfister jedoch eine
Vermittlung vor. Intertextualität sei demgemäß graduell zu differenzieren. Bildlich gesehen
würde sich dadurch ein „System konzentrischer Kreise oder Schalen“ ergeben, „dessen
Mittelpunkt die höchstmögliche Intensität und Verdichtung der Intertextualität markiert,
während diese, je weiter wir uns vom »harten Kern« des Zentrums entfernen, immer mehr
abnimmt und sich asymptotisch dem Wert Null annähert.“12 Intertextualität sei zwar nicht exakt
meßbar, doch gäbe es verschiedene Kriterien, die bei gemeinsamer Beurteilung den Grad der
intertextuellen Intensität gut bestimmen könnten. Es handelt sich dabei um folgende sechs
Kriterien:
12 ibid., p. 25.
8
(1) Referentialität: Ein bloßes Zitat ist wenig intertextuell; je deutlicher das Zitat als solches
markiert wird, je stärker der Verweis auf den Ursprung und dessen Kontext ausfällt, desto höher
ist der Grad an Intertextualität.
(2) Kommunikativität: Wie bewußt ist der intertextuelle Bezug dem Leser beziehungsweise
Autor? Auch dies drückt sich in der Markierung aus.
(3) Autoreflexivität: Inwieweit werden die Bezüge reflektiert oder thematisiert (besonders in
moderner und postmoderner Literatur)?
(4) Strukturalität: Wie stark ist die syntagmatische Integration der intertextuellen Bezüge,
das heißt, wie sehr wird ein Prätext zur strukturellen Folie (vgl. The Waste Land, Ulysses;
Parodie, Travestie, Kontrafaktur, Übersetzung, Imitation, Adaption)?
(5) Selektivität: Betrifftt die Auswahl der Bezüge, so vor allem die Inklusivität
beziehungsweise Exklusivität der Auswahl. Dabei kann ein einzelnes Zitat intertextueller sein
als der bloße namentliche Verweis auf ein gesamtes Werk (man beachte dabei aber natürlich
(1)).
(6) Divergenz/Diversion: Wie groß ist die semantische und/oder ideologische Spannung?
Wie stark ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Prätext (vgl. Bachtin, Kristeva)?
Neben diesen qualitativen Kriterien muß natürlich auch die Häufigkeit und Dichte
intertextueller Bezüge festgestellt und bewertet werden.
3. Markierung von Intertextualität
Die Markierung der Intertextualität ist kein unbedingt notwendiges Konstituens des
Phänomens. Manche Bezüge müssen überhaupt nicht markiert werden, da sie so verbreitet sind,
daß eine Markierung überflüssig wäre; Beispiele hierfür sind Shakespearezitate oder auch
Bibelstellen. Das Erkennen dieser Bezüge ist jedoch immer abhängig vom jeweiligen
Wissenshorizont des Lesers/Interpreten.
Ulrich Broich unterscheidet drei Formen der Markierung.13 Die erste, Markierung in
Nebentexten, betrifft Hinweise auf Intertextualität in Fußnoten (vgl. Alexander Pope, der
teilweise den gesamten Prätext in Fußnoten beifügt), im Titel, so vor allem auch in Parodie und
Travestie, wo oft Namen von Figuren oder der Titel des Prätextes zitiert werden (oft auch
Textzitate; vgl. Golding, Huxley), im Untertitel (Joseph Andrews: Written in Imitation of the
Manner of Cervantes, Author of Don Quixote), im Motto, in Vor-/Nachwort oder aber im
Klappentext. Die zweite Form der Markierung geschieht im inneren Kommunikationssystem,
also im Text, in der Handlung selbst. Dies kann sich darin äußern, daß Figuren Prätexte lesen
13 ibid., p. 31ff.
9
(Don Quixote, Wilhelm Meister), daß sie Merkmale von Figuren aus solchen besitzen (Graham
Greenes Monsignor Quixote), daß Prätexte als reale Gegenstände vorkommen (Plenzdorfs Die
neuen Leiden des jungen W., Suzanne et le Pazifique) oder daß Figuren aus der Quelle
persönlich auftreten (Joseph Andrews). Die dritte Form der Markierung von Intertextualität
betrifft das äußere Kommunikationssystem und ist deshalb oft nur für den Leser erkennbar. Sie
ist gegeben in der Wahl von Figurennamen (William von Baskerville, Adson in Ecos Il nome
della rose mit Bezug auf Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten [The Hound of the
Baskervilles, Doktor Watson]), in der Wahl von Drucktypen (Anführungszeichen,
Kursivdruck), im Stilkontrast des Erzählens (mock heroic bei Fielding) oder im Übergang vom
werkimmanenten Verweis zum Sprachstil der Figuren. Zusätzlich bedeutet auch die Übernahme
von inhaltlichen patterns eine Markierung dieser Form (Joseph Andrews wird in den Graben
geworfen und gerettet der biblische Joseph landet in einer Zisterne; das Gleichnis vom
Barmherzigen Samariter).
Die Markierung geschieht aber nicht unbedingt nur auf eine der drei Arten; zumeist wird ein
Bezug auf verschiedenen Ebenen und auf verschiedene Weise markiert. In einer dynamischen
Markierung werden die Verweise auf einen anderen Text im Verlauf des Werkes mehr oder
weniger deutlich herausgestellt. Insgesamt gesehen hat sich gezeigt, daß die Moderne immer
mehr dazu neigt, die Markierung zu unterlassen; zwei markante Beispiele dafür sind Eliots The
Waste Land und Joyces Ulysses. Beide Autoren machten erst im Nachhinein detaillierte
Angaben zu den intertextuellen Bestandteilen ihrer Werke.
Nachdem nun das theoretische Feld abgesteckt ist, auf dem sich der Begriff Intertextualität
für die vorliegende Arbeit bewegen soll, wird nun die Grenze von der Theorie zur Praxis
überschritten werden. Untersuchungsgegenstand ist dabei das 1974 veröffentlichte Theaterstück
Travesties von Tom Stoppard. Wie schon der Titel verrät, handelt es sich dabei um eine
satirische Verspottung einer vorgegebenen Dichtung, im Gegensatz zur Parodie jedoch unter
Beibehaltung des Inhaltes, der in eine andere, verfremdende Form gekleidet wird. Stoppard
wählt den Plural als Titel und macht dadurch schon deutlich, daß er nicht nur einen Prätext
travestiert, sondern mehrere. Er beweist großen Einfallsreichtum bei der Verflechtung der
Bezüge und schafft somit ein erkennbar intertextuelles Werk. Auf welche Weise ihm das gelingt,
ist Gegenstand des nun folgenden Abschnittes.
10
III. Intertextualität in Tom Stoppards Travesties
Travesties hat als historischen Hintergrund die Tatsache, daß sich im Jahre 1917 drei
Persönlichkeiten, die großen Einfluß auf Kunst und Politik ausüben sollten, in der Stadt Zürich
aufhielten: Lenin, der die Revolution vorbereitete, Tristan Tzara, der mit Dada an einer
revolutionären Kunstrichtung beteiligt war, und James Joyce, dessen Roman Ulysses neue
Maßstäbe in der Literatur setzte. Verständlicherweise flossen deshalb auch deren Werke in den
Dramentext von Travesties ein. Doch sie sind nicht die einzigen intertextuellen Quellen für das
Stück. Zahllose Anspielungen, Fragmente anderer Texte haben Eingang gefunden, wie nun
gezeigt werden soll.
1. Sekundäre Bezüge
Schon im Vorwort zu Travesties, betitelt Henry Wilfred Carr, 1894-1962, gibt Stoppard
bekannt, woher er viele der historischen Details bezieht: Aus Biographien und ähnlichem
dokumentarischen Material. So hat er vieles, was über Joyce und Henry Carr bekannt ist, aus
Richard Ellmanns Joycebiographie James Joyce übernommen: „I quote from Ellmann’s superb
biography, whose companionship was not the least pleasure in the writing of Travesties.“14 In
den Acknowledgements nennt Stoppard dann weitere Quellen: „nearly everything spoken by
Lenin and Nadezhda Krupskaya herein comes from his Collected Writings and from her Memor-
ies of Lenin.“15 Des weiteren werden genannt Michael C. Morgans Lenin, Robert Paynes Lenin,
Adam B. Ulams Lenin and the Bolsheviks, Edmund Wilsons To the Finland Station, Maxim
Gorkis Days with Lenin, A. J. P. Taylors The First World War, an Illustrated History, John
Gross’ Joyce, Hans Richters Dada, Art and Anti-Art und Robert Motherwells The Dada Painters
and Poets. Beate Blüggel zitiert in ihrer Arbeit zu Stoppard Heinrich F. Plett, der strukturelle
Bezüge folgender Art feststellt: „Der inhaltlichen Polysemie entspricht die strukturelle: stream-
of-consciousness-Technik (Joyce), Montage-Methode (Tzara), Komödienstruktur (Wilde),
Erinnerungsdrama (Miller), Thesenstück (Ibsen, Shaw), absurdes Theater (Beckett, Pinter),
Music Hall-Revue und dokumentarisches Verfahren gehen ständig ineinander über, heben sich
gegenseitig auf.“16 Blüggel selbst findet noch Folgendes: „Die intertextuellen Bezüge von
Travesties sind zahlreich. Zunächst finden sie sich in Wortspielen: Aus Cole Porters ‘My heart
belongs to Daddy’ wird beispielsweise ‘My art belongs to Dada’ [...] Bekannte Künstler und
14
? Tom Stoppard, Travesties (London 1993), p. ix. 15 ibid., p. xii.16 Heinrich F. Plett, „Tom Stoppard: Travesties“, Englische Literatur der Gegenwart 1971-1975, hg. Rainer Lengeler (Düsseldorf 1977), p. 93; zit. nach Beate Blüggel, Tom Stoppard - Metadrama und Postmoderne (Frankfurt 1992), p. 169f. (Fn.).
11
Kunstwerke werden erwähnt: Gilbert und Sullivan, Gorki und Mayakowsky sowie Die
Kameliendame, Krieg und Frieden und Onkel Wanja.“17 Außerdem lassen sich Anspielungen auf
Remarques Im Westen nichts Neues18, La Rochefoucaulds Maximes19, die Bennett später falsch
zitiert20, Lewis Carrolls Through the Looking-Glas („the word Art means whatever you wish it
to mean“21), Gertrude Stein („We’re here because we’re here because we’re here [...].“22),
Tennysons „The Charge of the Light Brigade“ („-entente to the left, détente to the right, into the
valley of the invalided blundered and wandered myself when young-“23). Daneben wird das Lied
„The Stripper“ erwähnt,24 sowie Dostojewskij und Dickens’ Cricket on the Hearth.25 Einen
interessanten Aspekt bietet Blüggel zum Verhältnis Carr-Bennett in Travesties. Sie liest darin
eine Anspielung auf das berühmte Man-Servant-Paar Bertie Wooster und Butler Jeeves, die P.
G. Wodehouse in seinen Romanen der zwanziger bis vierziger Jahre auftreten läßt.26 Hier wie in
Travesties sei der Herr ignorant im Vergleich zu seinem intelligenten Diener, der durch seine
auffällig gewählte und schöngeistige Redeweise von seinem Herrn absticht; Wooster, wie auch
Carr, sind weniger mit der Welt vertraut als Jeeves und Bennett und Letztere neigen deshalb oft
zur Belehrung ihrer Herren.
Dies sind vermutlich weitaus nicht alle sekundären, das heißt eher punktuellen Bezüge in
Travesties,27 doch demonstriert ihre Vielfalt und die Häufigkeit ihres Auftretens schon, wie dicht
geknüpft das Netz der Bezüge in Stoppards Komödie ist. Noch aufschlußreicher erscheinen für
eine Betrachtung der Intertextualität aber die vordergründigen Verweise, wobei wir den Einfluß
des dokumentarischen Materials von und über Lenin eher vernachlässigen wollen, da er sich
hauptsächlich auf den zweiten Akt erstreckt, welcher intertextuell betrachtet nur noch wenig
Neues bietet. Näher beleuchtet werden sollen demgegenüber der Einfluß von Shakespeare, Joyce
und Wilde.
2. Shakespeare - Tzara
17 ibid., p. 179.18 Stoppard, p. 11/23.19 ibid., p. 12.20 ibid., p. 15.21 ibid., p. 21.22 ibid., p. 23.23 ibid., p. 9; ähnlich p. 23.24 ibid., p. 52.25 ibid., p. 61.26 Blüggel, p. 182f.27 weitere führt z. B. Heidrun-Edda Weikert in Tom Stoppards Dramen - Untersuchungen zu Sprache und Dialog (Tübingen 1982), p. 193ff., an.
12
Stoppard bedient sich gerne der Stücke des Barden, um seine eigenen Werke anzureichern.
Für sein Erfolgsstück Rosencrantz and Guildenstern Are Dead (1966) nahm er Hamlet als
strukturelle und inhaltliche Folie und verknüpfte diese mit der absurden Thematik von Waiting
for Godot und philosophischen Standpunkten. In Travesties sind die Bezüge zu Shakespeare
nicht so umfangreich, doch verdienen sie einer eingehenden Betrachtung. Neben dem
zweimaligen Zitat von Hamlets „caviar for the general public“28 ist vor allem die Szene um
Tzara und Gwendolen Ausdruck für Stoppards Virtuosität in der Verwendung von literarischen
Vorbildern.
Tzara zerschneidet den Text von Shakespeares Sonett 18 und fordert Gwendolen auf, die
einzelnen Schnipsel wieder zu einem neuen Gedicht zusammenzusetzen.29 Was entsteht ist, der
sich anbahnenden Liebesbeziehung zwischen Tzara und Gwen entsprechend, eine ziemlich
zweideutige und schlüpfrige Aussage, die in einem überraschten Ausruf Gwendolens ihren
Höhepunkt findet. Eine Antiklimax entsteht, als Tzara versucht, das Gedicht fortzusetzen.30
Des weiteren ist die Unterhaltung zwischen den beiden ab der Rezitation von Sonett 18
durch Gwen bis zur dadaistischen Neuschöpfung eine Collage aus den verschiedensten
Shakespearezitaten. Mit wenigen Abweichungen in Wortlaut und Interpunktion verwendet
Stoppard Stellen aus folgenden Werken:31 Julius Caesar, Hamlet, As You Like It, Much Ado
About Nothing, Henry V, Henry IV, Othello, The Merry Wives of Windsor und Sonett 32. Es
handelt sich bei diesem Abschnitt, wie Weikert näher ausführt, um eine Sonderform der Parodie,
die Cento oder auch Quodlibet genannt wird; darin werden verschiedenste Zitate (vorrangig
Gedichte) zu einem neuen, einheitlichen Werk zusammengefügt. Dies dient nicht der
Verspottung der Quellen, sondern eher zur Kritik an Gegebenheiten der eigenen Zeit und
Situation.32 Geschildert wird hier die Enttäuschung Gwendolens darüber, daß Tzara in ihren
Augen kein Poet ist. Tzara bekundet, daß das auch gar nicht seine Absicht sei. Er definiert sein
Schaffen folgendermaßen:
TZARA: All poetry is a reshuffling of a pack of picture cards, and all poets are cheats. I offer you a Shakespeare sonnet, but it is no longer his. It comes from the wellspring where my atoms are uniquely organized, and my signature is written in the hand of chance.33
28
? Stoppard, p. 6/16. 29 ibid., p. 35f.30 Blüggel und auch Beate Neumeier, Spiel und Politik - Aspekte der Komik in Tom Stoppards Dramen (Diss.: Würzburg 1986) sehen in der Szene auch einen Verweis auf Tzaras tatsächliche Hamlet-Collage Mouchoirs des Nuages (1924). 31 genaue Stellenangaben bei Weikert, p. 187f.32 ibid., p. 188f.33 Stoppard, p. 35.
13
Was sich hier im ersten Satz andeutet, ist interessanterweise auch eine Aussage über
Intertextualität: Dichtung benutzt immer die gleichen Karten, das gleiche sprachliche Material,
das nur neu angeordnet, gemischt wird.34 Tzara beruft sich außerdem, wie es im Dadaismus
durchaus programmatisch vorgegeben war, auf den Zufall als die treibende Kraft in der
Dichtung. Der Dadaismus lehnte sich gegen jede Kausalität auf und machte Nonsens zum
obersten Ziel der Literatur.35
Stoppard übt Kritik daran, indem er herausstellt, daß nichts völlig sinnentleert sein kann.
Das Dadasonett Gwendolens läßt eine inhaltliche Auslegung zu und ebenso verhält es sich auch
mit dem scheinbar völlig bedeutungslosen Gedicht, mit dem Tzara das Stück eröffnet. Es ist eine
Aneinanderreihung von englischen Wörtern, die nur andeutungsweise Kohärenz erahnen läßt
(zum Beispiel Zeile 1: „Eel ate enormous appletzara“36). Die Kritik erklärt dies jedoch als eine
Scherz Stoppards: Liest man die Zeilen als phonetische Wiedergabe eines französischen Textes
in Englisch, so ergibt sich tatsächlich eine erkennbare Aussage. Allerdings gibt es keine
endgültige Fassung in der Kritik, obwohl Stoppard doch offensichtlich (ähnlich wie Eliot und
Joyce) sein Rätsel in einem Interview gelöst hat, wie Weikert erläutert.37
Il est un homme s’apelle [sic.] TzaraQui de richesses a-t-il un embarras!Il reste à la SuisseParce qu’il est un artiste,Nous n’avons que la, il déclara.38
Il est un homme qui s’appelle Tzaraqui de richesse a-t-il un embarras!Il reste à la Suisse parce qu’il est un artiste,nous n’avons que l’art, il declara [sic.]!39
Il est énorme, s’appelle Tzara,Qui déréchef se hâte. Hilare nonpareil!Il reste à la Suisse parce qu’il est un artiste.„Nous n’avons que l’art“, il déclara.40
Welche Version die von Stoppard erdachte ist, kann nur schwer beurteilt werden; Heidrun-Edda
Weikert führt jedoch eine Quelle an, die sich auf ein Stoppardinterview bezieht, stellt außerdem
die sicherlich beabsichtigte Limerickform heraus und kommt damit wohl dem „Original“ sehr
nahe. So gibt sie auch wieder, was Stoppard selbst zu diesem Sprachspiel äußerte: „Er hält es für
34
? Ähnliches ließe sich auch von der Musik sagen, insbesondere der populären Form der Gegenwart, die vermehrt Altes neuentdeckt und re-mixt. 35 Stoppard, p. 19f.36 ibid., p. 2.37 Weikert, p. 168.38 ibid.39 Neumeier, p. 150.40 Felicia Hardison Londré, Tom Stoppard (New York, 1981), 71f.; zit. nach Blüggel, p. 174.
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unendlich schwierig, reinen Nonsens zu schreiben, hinter dem sich keinerlei semantischer Sinn
verbirgt.“41 Man muß dem jedoch entgegenhalten, daß es Dada durchaus schaffte, Werke ohne
jede Aussage beziehungsweise ohne jeglichen Sinn hervorzubringen.
3. Joyces Ulysses
Der Einfluß dieses Werkes auf die Gestaltung von Travesties ist nicht zu unterschätzen, wie
auch Beate Neumeier unterstreicht.42 Es lassen sich gute Belege dafür finden, daß es
„Entsprechungen thematischer, symbolischer, struktureller und stilistischer Art“ zwischen
Ulysses und Travesties gibt:43 „Joyces Vorliebe für Sprachspielereien, insbesondere mit Hilfe
von Alliteration, Homonymien und hard words, wird in Travesties aufgenommen.44 Dazu
gehören auch die Szenen, die in Limerick- und Liedform gestaltet sind.45 Manche der Wortspiele
beruhen auch auf der Verschiedenheit der Muttersprachen von Joyce, Tzara und Lenin: Das
„Da“, Russisch für „Ja“, wird von Tzara in einem völlig anderen Zusammenhang gebraucht
(„Dada dada dada dada [...]“46).
Eine andere Parallele zwischen Ulysses und Travesties besteht darin, wie der Verhördialog
zwischen Tzara und Joyce strukturiert ist:47 Joyce als Lady Augusta Bracknell stellt eine Frage
nach der anderen, und Tzara beantwortet diese so umfassend wie möglich. Dieses Schema findet
sich auch in Joyces Roman: Das 17. Kapitel, „Ithaca“, hat in seiner gesamten Länge (ca. hundert
Seiten) die Form eines Katechismus; es besteht völlig aus Fragen und Antworten, die in einer
Parodie wissenschaftlicher Präzision sehr detailliert formuliert sind:
What, reduced to their simplest reciprocal form, were Bloom’s thoughts about Stephen’s thoughts about Bloom and Bloom’s thoughts about Stephen’s thoughts about Bloom’s thoughts about Stephen? He thought that he thought that he was a jew whereas he knew that he knew that he knew that he was not.48
Eine Stelle bei Stoppard ist eine fast wortgetreue Übernahme dieser Passage:
JOYCE: What, reduced to their simplest reciprocal form, were Tzara’s thoughts about Ball’s thoughts about Tzara, and Tzara’s thoughts about Ball’s thoughts about Tzara’s thoughts about Ball?TZARA: He thought that he thought that he knew what he was thinking, whereas he knew that he knew that he knew that he did not.49
41
? Weikert, p. 169.42 Neumeier, p. 143.43 Weikert, p. 174.44 Neumeier, p. 144.45 Stoppard, p. 16-19 bzw. 62-66.46 ibid., p. 20.47 ibid., p. 38-41; Stoppard nennt die Szene „conjuring“.48 James Joyce, Ulysses (Harmondsworth 1992), p. 797.49 Stoppard, p. 40.
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Joyce fungiert in Travesties als Augusta Bracknell und auch dabei kommt Stoppard ein
historischer Umstand zu Hilfe: James Augustine Aloysius Joyce ist versehentlich als James
Augusta im Kirchenregister eingetragen worden. Diese „footnote to expatriate Irish literature“,
wie Carr sie nennt,50 wird im Stück auch erklärt,51 und verleiht Travesties dadurch ein
zusätzliches komisches Element, zumal Joyce sowieso ein sehr gespaltenes Verhältnis zur
katholischen Kirche hatte.
Henry Carr selbst kann als Verkörperung von Joyces Leopold Bloom interpretiert werden,
wie Blüggel deutlich macht.52 Der alte Carr im Jahr 1974 in seinem Züricher Zimmer (in
Wahrheit starb er schon 1962 in London, was Stoppard allerdings erst erfuhr, als sein Stück
schon inszeniert war53) bildet den Rahmen für das gesamte Stück. Alles spielt sich in seiner
Erinnerung, die naturgemäß Lücken und Fehler aufweist, ab, was für das ständige Neustarten der
Handlung, für die Vermengung der Texte, überhaupt erst verantwortlich ist: der intertextuelle
„Prozessor“ ist somit Carrs Gehirn. Was ihn zu einem späten Bloom macht, ist der Stil, in dem
seine Monologe ablaufen. Es sind endlose, sehr überzeugend gestaltete Gedankenströme, wie sie
auch Joyce mit der stream-of-consciousness-Technik für seinen „Helden“ Bloom erdichtet hat.
Sehr deutlich wird dies in der ersten Szene mit Old Carr in den Lautmalereien („[...] Dublin,
tum-ti-ti-tum-ti-ti- troublin’“) und in den elliptischen Sätzen („Irish lout. Not one to bear a
grudge, however, not after all these years, and him dead in the cemetery up the hill, no hard feel-
ings either side [...]“54) Eine vergleichbare Stelle von Bloom lautet: „Poor girl. That’s why she’s
left on the shelf and the others did a sprint. Thought something was wrong by the cut of her jib.
Jilted beauty.“55 Für eine Identifikation Carrs mit Bloom spricht auch, daß Old Cecily als Carrs
Frau einen Satz spricht, der in Ulysses den Schlußmonolog der Molly Bloom beendet: „and yes,
I said yes when you asked me“56/“and his heart was going like mad and yes I said yes I will
Yes.“57 Beide Sätze beziehen sich auf den einstigen Heiratsantrag der gegenwärtigen
Ehemänner.
Nicht zu übersehen sind zudem die Zitate aus Joyces Gedichten „Bahnhofstraße“58, das, wie
der Name andeutet, in Zürich entstanden ist, und „Dooleysprudence.“59 Neumeier findet außer-
dem Zitate in Ulysses, die sich auf Tzaras Umgang mit Shakespeare beziehen lassen: „Shake-
50 ibid., p. 29.51 ibid., p. 24.52 Blüggel, p. 178ff.53 Stoppard, p. x/xi.54 ibid., p. 5.55 Joyce, p. 479.56 Stoppard, p. 70.57 Joyce, p. 933.58 Stoppard, p. 30.59 ibid., p. 31f.
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speare is the happy hunting-ground for all minds that have lost their balance;“ „He drew Shylock
out of his own long pocket.“60 Auch die Worte, die Joyce ganz zu Anfang von Travesties äußert,
scheinen sinnlos zu sein wie Tzaras Gedicht. Tatsächlich sind es Zitate aus Ulysses: „Und alle
Schiffe brucken“ stammt aus „Eumaeus“ und „Entweder transubstantiality, oder
consubstantiality, but in no way substantiality“ aus „Proteus“.
Die ersten drei Sätze, die Joyce Gwendolen diktiert, sind die ersten Sätze des Kapitels
„Oxen of the Sun“, das am Ende von Travesties auf verschiedene Weise charakterisiert wird:
JOYCE: Miss Carr, did I or did I not give you to type a chapter in which Mr. Bloom’s adventures correspond to the Homeric episode of the Oxen of the Sun?[...]CARR: And is it a chapter, inordinate in length and erratic in style, remotely connected with midwifery?JOYCE: It is a chapter which by a miracle of compression, uses the gamut of English literature from Chaucer to Carlyle to describe events taking place in a lying-in hospital in Dublin.61
Der erste Satz dieses Kapitels besteht aus dem gälischen „Deshill“ für „nach Süden“, „Holles“,
das den Namen der Straße bezeichnet, in der sich die Klinik befindet, die Bloom besucht, und
dem lateinischen „Eamus“ für „wir gehen.“ Ohne all diese Rätsel entziffern zu wollen, muß
doch darauf verwiesen werden, was Weikert aus diesen Bezügen ableitet62:
(1) Joyces Kapitel symbolisiert die Geburt eines Kindes in Dr. Horns Klinik in Dublin; in
Travesties verweisen die Sätze auf die Geburt der Revolutionen in der Züricher Bibliothek, die
Tzara, Joyce und Lenin betreffen.
(2) Joyces Roman parodiert Homers Epos; Stoppards Drama travestiert Joyces Roman.
(3) Was Joyce über seine Kunstauffassung äußert, gilt auch für Stoppard: Das Zitieren,
Verweisen, kurz intertextuelle Bezüge überhaupt, trägt dazu bei, Geschichte und Geschichten
über lange Zeit hinweg immer wieder neu zu erzählen und so unsterblich zu machen.
Obwohl man gerade die letzte Aussage nicht so ausdrücklich auf Stoppard beziehen sollte,
da dieser eine solche Absicht wahrscheinlich abstreiten würde, sind gerade diese Anleihen an
Ulysses sehr aussagekräftig: Joyce versuchte, mit „The Oxen of the Sun“ einen umfangreichen
Überblick über die Geschichte der englischen Sprache und Sprachstile in der Literatur zu bieten;
für Stoppard proklamiert Beate Blüggel Ähnliches: „Stoppards erklärte Absicht lag in der
Erstellung einer Anthologie verschiedener Sprach- und Stilformen.“63
60 zit. nach Neumeier, p. 145.61 Stoppard, p. 69f.62 Weikert, p. 172-175.
63 Blüggel, p. 169.
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4. Wildes The Importance of Being Earnest
Travesties lebt insgesamt aus dem Geist von The Importance of Being Earnest: Die Grundstimmung der Dramen ist identisch. In beiden Stücken führen Dandys geistreiche Konversationen, verlieben sich in junge Mädchen und gelangen durch einige Irrungen und Wirrungen, an denen ältere Tanten bzw. Künstler nicht unbeteiligt sind, zu einem Happy-End. Die Handlung spielt in dem Stück Wildes eine ausgesprochen untergeordnete Rolle; wichtig ist eher die Geisteshaltung des Dandys und der elegante, geistreiche Stil.64
Dies ist die eher allgemeine Beurteilung Beate Blüggels. Präziser fällt die Betrachtung Weikerts
aus: Sie sucht zum Beispiel nach einer Begründung für Stoppards Wahl der Wildekomödie als
strukturelles Muster.65 Aus seiner Verehrung für die viktorianische high comedy stamme
demnach der Wunsch, diese in modernem Gewand wiederzubeleben. Dabei komme ihm der
Umstand zu Hilfe, daß Henry Carr sowohl mit Joyce, einer der „prominenten“ Figuren, als auch
mit der Wildekomödie in Verbindung stand. Einen zweiten Grund sieht Weikert darin, daß
Stoppard zur Zeit der Entstehung von Travesties die L’art-pour-l’art-Haltung Oscar Wildes
entschieden teilte. Dennoch zeichnet sich in diesem Stück, besonders in den Passagen um Lenin
und die Rolle der Kunst in der Gesellschaft, schon eine beginnende Hinwendung zu der Frage
ab, die für Stoppard später noch bedeutsamer wurde: Inwiefern soll Kunst engagiert sein?66
Dennoch bleibt unbestritten, daß „sich Entsprechungen in der Wahl der Dramenfiguren, in
der Wahl der inhaltlichen Motive, in der Dialogführung und der Redeweise der Figuren“ finden
lassen.67 Die Parallele zwischen Carr und Algernon ist mehrfach erwähnt worden, auch Joyce in
der Rolle der Lady Augusta hat seine Berechtigung. In dieser Verkleidung gelingt es ihm dann
auch, mit Tzara als John Worthing ein Gespräch über Entstehung und Grundsätze des
Dadaismus zu führen. Cecily und Gwendolen sind der Wildehandlung ohne historische
Auffüllung entnommen: Gwendolen Fairfax wird zu Gwen Carr, Henrys Schwester, Cecily
Cardew wird zu Cecily Carruthers, die Carr später heiratet. „Die von Stoppard erwogene Idee
der Ersetzung der Gouvernante Miss Prism und des Reverend Chasuble durch die beiden
historischen Figuren [i. e. Nadja und Lenin; RH] wurde fallengelassen.“68
Inhaltlich gesehen läßt sich für den ersten Akt von Travesties eine zunehmende Angleichung
an die Handlung von The Importance of Being Earnest konstatieren;69 der zweite Akt hat
lediglich in der Hinführung zum Happy-End einen Bezug zu Wilde. Übernommen werden von
64 ibid., p. 184f.65 Weikert, p. 176ff.66 ibid., p. 177.67 ibid., p. 176.68 Neumeier, p. 138f.
69
? Weikert, p. 177.
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Stoppard der Namenskonflikt, die Wahl der Pseudonyme, daraus entstehende Mißverständnisse
und deren Auflösung, die Werbung (Tzara-Gwen) mit Hindernissen (Carr; Joyce), das
Verhörmuster, das strukturell nicht nur mit dem Ulysses-Kapitel übereinstimmt (siehe oben,
Punkt 3), sondern schon bei Wilde vorgeprägt ist (allerdings weniger manieriert, aber doch
ähnlich impulsiv); zudem werden auch Gegenstände (Manuskripte-Tasche mit Romanentwurf,
Bibliotheksausweis-Zigarettenetui) verloren und wieder gefunden.
Am Dialog fällt auf, daß er, bedingt durch Carrs Gedächtnisschwäche, mehrfach
abgebrochen und an einer früheren Stelle wieder aufgenommen wird, und dies in der Regel mit
Zitaten aus dem Wildestück. Als Beispiel dafür wie auch für die zunehmende Übereinstimmung
zwischen den beiden Stücken führt Weikert die Ankunft Tzara-Worthings bei Carr-Moncrieff
an:70
BENNETT (Entering): Mr Tzara. (TZARA enters. BENNETT retires.)CARR: How are you, my dear Tristan. What brings you here? (This TZARA (there is to be another) is a Romanian nonsense. His entrance might be set to appropriate music.) TZARA (Ebulliently): Plaizure, plaizure! What else? Eating ez usual, I see ‘Enri? [...]71
Besonders an Tzaras rumänischem Akzent ist die Distanz zum Originaltext erkennbar, die aber
immer mehr abnimmt:
BENNETT (entering): Mr Tzara. (TZARA enters. BENNETT retires.)CARR: How are you, my dear Tristan? What brings you here? (TZARA, no less than CARR, is straight out of The Importance of Being Earnest.)TZARA: Oh, pleasure, pleasure! What else should bring anyone anywhere? Eating and drinking, as usual, I see, Henry?72
Ein weiterer Zusatz kommt dann beim dritten Anlauf:
CARR: [...] And what brings you here, my dear Tristan?TZARA: Oh, pleasure, pleasure...What else should bring anyone anywhere? Eating as usual, I see, Henry? CARR: I believe it is customary in good society to take a cucumber sandwich at five o’clock. Where have you been since last Thurs- day?73
Der vierte Anlauf ist nur hörbar, wird von Carr hinter der Bühne gesprochen. Hier werden aber
schließlich auch die entsprechenden Namen aus The Importance of Being Earnest benutzt:
(Voice off) ‘How are you, my dear Ernest. What brings you up to town?’ - ‘Pleasure, pleasure - eating as usual, I see, Algy...’74
70 ibid., p. 178f.71 Stoppard, p. 15.72 ibid., p. 19.73 ibid., p. 24.74
? ibid., p. 42.
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Vorstellbar ist hier ein Carr, der versucht, seinen Text auswendig zu lernen und dabei den Part
seines Gegenübers mit übernimmt. Zum Vergleich folgt die entsprechende Stelle bei Wilde:
LANE: Mr. Ernest Worthing. Enter JACK. LANE goes out.ALGERNON: How are you, my dear Ernest? What brings you up to town?JACK: Oh, pleasure, pleasure! What else should bring one anywhere? Ea- ting as usual, I see, Algy!ALGERNON (stiffly): I believe it is customary in good society to take some slight refreshment at five o’clock. Where have you been since last Thursday?75
Heidrun-Edda Weikert stellt fest, daß auch da, wo Stoppard den Ursprungstext von Wilde
abwandelt, nie die Kunstauffassung Oscar Wildes in Frage gestellt wird.76 An der Redeweise ist
erkennbar, daß Stoppard Wildes epigrammatische Redehaltung nachahmt, repartees und
verallgemeinernde Repliken übernimmt, abändert und eigene formuliert.77
Eine interessante Beobachtung macht Beate Neumeier. Carrs wiederholtes „Not Ernest - the
other one“ könnte neben dem offensichtlichen Verweis auf die Wildekomödie auch auf Wildes
„The Critic As Artist“ anspielen. Darin unterhalten sich zwei Dandys, Ernest und Gilbert, über
ästhetische Fragen, wobei Gilbert die Positionen seines Schöpfers Wilde vertritt.78 Mit „the other
one“ könnte demnach auch Gilbert gemeint sein.
Wildes Komödie The Importance Of Being Earnest kann somit als primäres Strukturschema von Stoppards Stück gelten. Darüber hinaus kann Travesties insgesamt als dramatische Kommentierung der kunsttheoretischen Positionen Oscar Wildes betrachtet werden. Besonders in den seiner Spiel-Phase zugerechneten Werken teilt Stoppard, der sich selbst als „a confirmed addict and admirer (literary) of Wilde“ bezeichnet, dessen Vorliebe für Wortspiele, epigrammatische Wendungen und dramatische „tour de force conclusions“.79
IV. Bewertung der intertextuellen Bezüge
Mit Bezug auf die im ersten Abschnitt erarbeitete Definition des Phänomens Intertextualität
in der Literatur läßt sich für Tom Stoppards Travesties Folgendes festhalten: Die von Genette
geforderten fünf Kategorien der Intertextualität sind sämtlich im Stück vertreten: Kopräsenz der
verschiedensten Texte besteht in der Form von Zitaten, Anspielungen vielfältiger Art. Auch
75 Oscar Wilde, Complete Works of Oscar Wilde (Glasgow 1994), p. 358.76 Weikert, .p. 181.77 ibid., p. 217; dort auch zahlreiche Beispiele hierfür.78 Neumeier, p. 143.79 ibid., p.141.
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Paratextualität ist gegeben, denn sowohl der Titel als auch das Vorwort enthalten
Gattungsbezüge sowie Angaben zu Quellen. Metatextualität findet sich beispielsweise in den
Kommentaren zu Joyces und Tzaras Werk, bei Joyce über Tzara und Lenin. Als hypertextuelle
Folie für Travesties dient in erster Linie Oscar Wildes The Importance of Being Earnest,
teilweise auch Joyces Ulysses. Architextualität, hier anzuwenden auf „Travestie“, ist ebenfalls
enthalten in der Art und Weise, wie zum Beispiel Joyce im Stück sein eigenes Verfahren
kommentiert, das auch travestierende Züge besitzt.
Auch eine Analyse anhand der Kriterien Manfred Pfisters attestiert dem Stück ein hohes
Maß an Intertextualität. Bloße Zitate ohne Verdeutlichung des Ursprungs sind hier höchst selten,
das Kriterium der Refrentialität ist damit weitgehend erfüllt. Auch Kommunikativität ist
gegeben, allerdings setzt diese beim Leser ein nicht geringes Maß an Vorwissen voraus. Dazu ist
zu bemerken, daß Leser oder Zuschauer des Stückes, die nie von Joyce und Tzara/Dada (oder
auch Lenin und der russischen Revolution?) gehört oder gelesen haben, dem Werk nur sehr
wenig abgewinnen können. Autoreflexivität begegnet da, wo die Werke von Joyce, Tzara und
Lenin von den jeweils anderen Charakteren kritisiert werden, was sehr häufig der Fall ist, wie
gezeigt wurde. Die syntagmatische Integration der Prätexte, die Strukturalität, ist vor allem in
Bezug auf Wildes Komödie erfüllt, die große Teile des ersten Aktes beherrscht; streckenweise
(zum Beispiel im Verhördialog) gilt dies auch für Joyces Roman, von dem eine Kapitelstruktur
übernommen wurde. Die Auswahl der Bezüge ist deshalb, von Prätext zu Prätext verschieden,
teils sehr exklusiv, zuweilen aber auch höchst inklusiv. Die Divergenz oder Diversion der
intertextuellen Bezüge äußert sich wiederholt sehr stark, wo Joyces, Tzaras und Lenins
Kunstauffassungen aufeinandertreffen, in Diskussionen, in die sich auch Carr als mastermind
einschaltet. Schließlich ist die Häufigkeit und Dichte von Intertextualität in Travesties
außergewöhnlich stark gegeben.
Alle Formen der Markierung sind vorhanden. In Nebentexten (Titel, Vorwort,
Regieanweisungen), im inneren Kommunikationssytem (Manuskripte von Joyce und Lenin,
Tzaras zerschnittenes Shakespearesonett; die Namen der Figuren; historische/literarische
Figuren) und im äußeren Kommunikationssystem (Stilkontrast in Tzaras und Gwendolens
Shakespearedialog). Damit ist erwiesen, daß es sich bei Travesties um einen hochgradig
intertextuellen Text handelt, was mit Sicherheit keiner der Kritiker, die den
Intertextualitätsbegriff, in welcher Form auch immer, gebrauchen, widerlegen kann. Dieser
Meinung ist auch Heinrich F. Plett, dessen Bemerkungen zur Collage-Technik in Travesties die
vorliegenden Betrachtungen beschließen sollen:
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The collage-within-the-collage technique can be viewed as being extended over the whole play. This is in its entirety not only composed of permuta-tions of one text by one author (Shakespeare’s sonnet 18) or of several texts by one author (Shakespeare’s plays) but of several texts by several authors (O. Wilde’s The Importance of Being Earnest, J. Joyce’s Ulysses, etc.). Texts border on texts, are based on texts, transform texts, retreat into texts - a perennial process of inter-textualization.80
Literaturverzeichnis:
Blüggel, Beate: Tom Stoppard - Metadrama und Postmoderne (Arbeiten zur Ästhetik, Di-
daktik, Literatur- und Sprachwissenschaft; Bd. 16). Zugl. Diss., Univ. Mün-
80 Heinrich F. Plett (Hrsg.), Intertextuality (Berlin 1991), p. 23.
22
ster, Westfalen. Frankfurt: Lang, 1992.
Broich, Ulrich und Manfred Pfister (Hrsgg.): Intertextualität - Formen, Funktionen, angli-
stische Fallstudien (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; Bd.
35). Tübingen: Niemeyer, 1985.
Joyce, James: Ulysses. Introd. by Declan Kiberd. Harmondsworth: Penguin, 1992.
Neumeier, Beate: Spiel und Politik - Aspekte der Komik in Tom Stoppards Dramen. Diss.,
Würzburg, 1986.
Plett, Heinrich F. (Hrsg.): Intertextuality (Untersuchungen zur Texttheorie; Bd. 15). Ber-
lin/New York: de Gruyter, 1991.
Seeber, Hans Ulrich (Hrsg.): Englische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: Metzler,
1993.
Stoppard, Tom: Travesties. London: Faber, 1993.
Weikert, Heidrun-Edda: Tom Stoppards Dramen - Untersuchungen zu Sprache und Dialog
(Tübinger Beiträge zur Anglistik; Bd. 4). Tübingen: Narr, 1982.
Wilde, Oscar: Complete Works of Oscar Wilde. Ed. by Merlin Holland. Glasgow: Harper
Collins, 1994.
Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur (Kröners Taschenausgabe; Bd. 231). 7.,
verb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1989.
23