Interkulturelle Religionswissenschaft · 2010. 5. 20. · Interkulturelle Religionswissenschaft...

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Interkulturelle Religionswissenschaft Struktur – Gegenstand – Aufgabe von Hamid Reza Yousefi Einleitende Gedanken Mit der Frage ›Was ist Religionswissenschaft‹, beginnt jedes Seminar und jede Vorlesung zur Einführung in die Religionswissenschaft. Dabei geht es auch um die Frage nach Ursprung, Struktur, Gegenstand und Aufgaben dieser Disziplin. Angesichts der Tatsache, daß auch unsere Gesellschaft hinsichtlich ihrer öffentlichen Institutionen zwar säkular erscheint, ist die Präsenz der Religionen unübersehbar. Diese Tatsache wirft die Frage auf: ›Wozu überhaupt Religionswissenschaft?‹ Die Antworten sind erwartungsgemäß sehr unterschiedlich; sie reichen von theologisch geprägten Erklärungsversuchen bis zu sogenannten rein rationalistischen und bloß analytischen Denkweisen. Die Verwundbarkeit und Krisenanfälligkeit einer kulturwissenschaftlichen Disziplin wie der Religionswissenschaft hängt nicht nur von der Auswahl ihrer Methode und Selbstwahrnehmung bzw. Selbsteinschätzung ab, sondern auch von ihren Antworten auf die gesamtkulturelle Weltsituation, in der sie tätig ist. Im Allgemeinen lassen sich zwei Traditionslinien innerhalb der bestehenden Religionswissenschaft ausmachen, die zwei grundsätzlich verschiedene Antworten auf die Frage geben, was religionswissenschaftliche Tätigkeitsformen voneinander unterscheidet. Es geht um eine phänomenologische und eine philologisch ausgerichtete Verfahrensweise. Während Religionsphänomenologen die Kategorie des Heiligen nicht preisgeben und faktisch eine Religionswissenschaft des Verstehens betreiben, distanzieren sich philologisch ausgerichtete Religionswissenschaftler von dieser methodischen Tätigkeitsform und halten an der Religionswissenschaft als einer ›reinen‹ Wissenschaft fest.

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  • Interkulturelle Religionswissenschaft 

    Struktur – Gegenstand – Aufgabe 

    von Hamid Reza Yousefi 

    Einleitende Gedanken Mit der Frage  ›Was  ist Religionswissenschaft‹, beginnt  jedes Seminar und jede Vorlesung zur Einführung in die Religionswissenschaft. Dabei geht es auch um die  Frage  nach Ursprung,  Struktur, Gegenstand und Aufgaben dieser  Disziplin. Angesichts  der  Tatsache,  daß  auch  unsere  Gesellschaft hinsichtlich  ihrer öffentlichen  Institutionen zwar säkular erscheint,  ist die Präsenz der Religionen unübersehbar. Diese Tatsache wirft die Frage auf: ›Wozu  überhaupt  Religionswissenschaft?‹  Die  Antworten  sind  erwar‐tungsgemäß  sehr  unterschiedlich;  sie  reichen  von  theologisch  geprägten Erklärungsversuchen  bis  zu  sogenannten  rein  rationalistischen  und  bloß analytischen  Denkweisen.  Die  Verwundbarkeit  und  Krisenanfälligkeit einer  kulturwissenschaftlichen  Disziplin  wie  der  Religionswissenschaft hängt nicht nur von der Auswahl ihrer Methode und Selbstwahrnehmung bzw.  Selbsteinschätzung  ab,  sondern  auch  von  ihren Antworten  auf  die gesamtkulturelle Weltsituation, in der sie tätig ist. Im Allgemeinen  lassen  sich  zwei  Traditionslinien  innerhalb  der  beste‐

    henden  Religionswissenschaft  ausmachen,  die  zwei  grundsätzlich  ver‐schiedene Antworten auf die Frage geben, was  religionswissenschaftliche Tätigkeitsformen  voneinander  unterscheidet.  Es  geht  um  eine  phänome‐nologische und eine philologisch ausgerichtete Verfahrensweise. Während Religionsphänomenologen  die  Kategorie  des  Heiligen  nicht  preisgeben und  faktisch eine Religionswissenschaft des Verstehens betreiben, distan‐zieren  sich philologisch ausgerichtete Religionswissenschaftler von dieser methodischen Tätigkeitsform und halten an der Religionswissenschaft als einer ›reinen‹ Wissenschaft fest. 

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    Die  interkulturelle Religionswissenschaft  setzt  als  eine  interdisziplinäre Ausrichtung gerade hier an. Dabei vernachlässigt sie weder die Kategorie des Heiligen, die in allen Religionen je nach Form und Inhalt das konstitu‐tive Element bildet noch die philologisch  ausgerichtete Orientierung, die unerläßlich ist. Sie fügt beide Traditionslinien zusammen und umfaßt drei Tätigkeitsformen,  die  sich  in  vielerlei  Hinsicht  überlappen:  Engagierte, Praktische und Angewandte.1 Interkulturelle  Orientierung  schafft  verschiedene  Zugänge,  auf  die  im 

    Zeitalter der Globalisierung, in der alles interdependenter wird, nicht ver‐zichtet werden kann. Diese Zugänge ermöglichen die Entfaltung von Fra‐gen auf variierenden methodischen Wegen und bieten Lösungsansätze an. Streng wissenschaftlich oder  an praktischen Problemen orientiert, distan‐ziert oder engagiert, prinzipientreu oder skeptisch, vermitteln sie Orientie‐rungsmuster mannigfacher Art. Hierbei handelt es sich um: 1. einen philosophischen Zugang, der die Einsicht kultiviert, daß die philosophia perennis

    etwas von allen zu Suchendes und nie endgültig Gefundenes ist; 2. einen intertextuellen Zugang, der eine kulturenübergreifende weltliterarische Haltung

    bezeichnet, welche die Ausprägungen kultureller Vielfalt in unterschiedlichen Sprachen ohne Scheuklappen würdigt;

    3. einen kulturellen Zugang, der keine Tradition privilegiert, aber eine wechselseitige Be-fruchtung und Bereicherung durch Kommunikation und Interaktion intendiert;

    4. einen religiösen Zugang, der aufzeigt, daß die religio perennis in unterschiedlichen Ersch-einungsformen auftritt;

    5. einen politischen Zugang, verbunden mit einer ästhetischen Kultur, die deutlich macht, daß interkulturelle Orientierung eine grundsätzlich-pluralistische und demokratische Überzeugung darstellt;

    6. einen wirtschaftlichen Zugang mit dem Ziel, Grundproblemen der Globalisierung und Wirtschaftsethik sowie Verteilungskonflikte im Kontext der Weltwirtschaft herauszuar-beiten;

    1   Dieser  Themenkomplex  wurde  an  anderer  Stelle  ausführlich  diskutiert.  Vgl. 

    Yousefi, H. R.: Grundlagen der interkulturellen Religionswissenschaft (Interkulturelle Bibliothek Bd. 10), Nordhausen 2006. Unter dem Dach der interkulturellen Reli‐gionswissenschaft  können  Einzeldisziplinen  zusammen  operieren,  von  denen vor allem Kulturphilosophie, Anthropologie, Ethnologie, Sozialpsychologie, Re‐ligionspsychologie,  Religionssoziologie,  Religionspolitik,  Pädagogik  mit  ihren Unterfeldern Kultur‐  und Medienpädagogik,  Friedens‐  und Konfliktforschung und humanistische Staatenlehren zu nennen sind. Vgl. Ebenda. 

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    7. einen pädagogisch-erzieherischen Zugang mit dem Ziel, vom Kindergarten bis zu den Institutionen der Erwachsenenbildung eine interkulturelle Einstellung wechselseitiger Toleranz zu fördern und den Aufbau des Faches ›Toleranzkunde‹ zu ermöglichen;

    8. einen psychologischen Zugang, der darauf bedacht ist, die Grundzüge des seelischen Verhaltens der Menschen auf der Ebene der Einstellung ernst zu nehmen;

    9. einen soziologischen Zugang, der die Auswirkungen intra- und interkulturellen Verhal-tens auf gesellschaftliche Strukturen hin untersucht.

    Ein weiterer Zugang  ist ein  religionswissenschaftlicher, der die Säule des vorliegenden Beitrags bildet. Er beinhaltet, daß Religionen und Kulturen in einer über weite Strecken gemeinsamen ›Lebenswelt‹ verwurzelt sind, die sie miteinander verbindet: Nicht nur Gemeinsamkeiten,  sondern auch er‐hellende Differenzen gibt es zwischen ihnen. 

    Das Konzept der interkulturellen Religionswissenschaft 

    Was heißt Kultur im Kontext des Interkulturellen? Mit der Entstehung und Entwicklung der Kultur  ›domestizierte‹  sich der Mensch selbst und schuf durch diesen immerwährenden Prozeß eine Reihe neuer Welten, die  äußerst  heterogen  sind. Man denke  hier  etwa  an  eine Haltung,  die  Gewalt  auslöst  und  innerhalb  eines  bestimmten  Kulturbe‐reichs Widerstand erzeugt, bei einem anderen hingegen aber wirkungslos bleibt. Die Thematisierung der Religionswissenschaft  im Kontext des  Interkul‐

    turellen  setzt  die  Bestimmung  eines  flexiblen,  jedoch  überlappend  ver‐bindlichen Kulturbegriffs voraus, weil  es  eine Vielzahl von Kulturdefini‐tionen gibt2, die von unterschiedlichen Konzeptionen ausgehen. Es ist eine berechtigte  Frage,  ob  mit  einem  traditionellen  engen  Kulturbegriff  den gegenwärtigen Herausforderungen noch Rechnung getragen werden kann. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde die Mensch‐Kultur‐

    beziehung zunehmend zum zentralen Thema der ethnologischen und an‐thropologischen  Forschung  erhoben.  Dabei war  es maßgeblich,  daß  der 

    2   Die systematische Entwicklung des Kulturbegriffs ist mit Ethnologen wie Gustav 

    Klemm, Edward Tylor, Bronislaw Malinowski und Franz Boas verbunden. Al‐fred Louis Kroeber und Clyde Kluckhohn stellen mehr als 160 Definitionen von Kultur zusammen, die sich  in vielerlei Hinsichten ähneln. Vgl. Kroeber, Alfred Louis und Clyde Kluckhohn: Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, New York 1963. 

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    Mensch zwar einerseits Kulturen bildet und Gesellschaften prägt, anderer‐seits aber auch selbst von beiden so stark geprägt und bestimmt wird, daß selbst  die  Befriedigung  elementarster  Bedürfnisse,  die  als  biologisch  be‐zeichnet werden könnten, außer unter ungewöhnlichen Umständen immer im Bann der Regeln bleibt, die von Gebräuchen und Gewohnheiten diktiert werden. Die Ethnologen dieser Zeit untersuchten  traditionell Stammesge‐sellschaften bzw. außereuropäische schriftlose Völker. Dabei hegte man im wesentlichen einen Kulturbegriff, der dem Johann Gottfried Herders (1744‐1803) ähnlich  ist. Herder ging von der Kugelförmigkeit der Kulturen aus, die  sich  in  abgeschlossenen  Sphären  bilden.  Für  ihn  bedeutete  eine Mi‐schung  von  Kulturen  Verlust  an  »Eindrang,  Tiefe  und  Bestimmtheit.«3 Nach Herder »bringt eine Kultur nur so weit Verständnis für fremde Kul‐turleistungen  auf,  als  diese  assimilierbar  sind.  Eine Übernahme wird  zu einer  Integration und nicht  zu  einer  eigentlichen  Innovation der  eigenen Weltanschauung.  Sie  folgt  den  Verständnisgesichtspunkten  der  eigenen, nicht der fremden Kultur.«4 Noch  zu Beginn des  20.  Jahrhunderts galten Kulturen  als  statische Ge‐

    bilde und homogene Gefüge. Dieser enge Kulturbegriff ist in einer globali‐sierten Welt nicht mehr haltbar und bedarf einer gründlichen Erweiterung. Es gibt faktisch »eine reine eigene Kultur [...] ebensowenig, wie es eine reine andere Kultur gibt.«5 Kulturen  sind wie die Fäden eines Gewebes, die auf vielfältige Weise miteinander verbunden  sind.6 Sarvepalli Radhakrishnan (1888‐1975) bezeichnet die verschiedenen Kulturen als »Dialekte einer ein‐

    3   Herder, Johann Gottfried: Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völ‐ker in alten und neuen Zeiten, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 8, Hildesheim 1967 (334‐346), S. 423. 

    4   Holenstein,  Elmar:  Kulturphilosophische  Perspektiven.  Schulbeispiel  Schweiz  – Europäische  Identität  auf dem Prüfstein  – Globale Verständigungsmöglichkei‐ten, Frankfurt/Main 1998 S. 272. 

    5   Mall, Ram Adhar: Philosophie  im Vergleich  der Kulturen.  Interkulturelle Philoso‐phie – Eine neue Orientierung, Darmstadt 1995 S. 1. 

    6   Vgl. Holzbrecher, Alfred:  ›Vielfalt  als Herausforderung‹,  in: Holzbrecher, Alfred (Hrsg.): Dem Fremden auf der Spur. Interkulturelles Lernen im Pädagogikunter‐richt, (Didactica nova) Bd. 7, Hohengehren 1999 S. 9. 

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    zigen  Sprache  der  Seele. Die Unterschiede  sind  solche  des Akzents,  der geschichtlichen Umstände und der Entwicklungsstufen.«7 Es gibt seit Menschengedenken faktisch keine homogenen und unverän‐

    derlichen Kulturgebilde. Kulturen  sind dynamisch und veränderbar.  Ihre Grenzen  sind  fließend,  und  sie  haben  nie  hermetisch  voneinander  abge‐trennt existiert. Kulturelle Wechselwirkung und Entwicklung hat es immer gegeben. Selbst das Studium der Religionsgeschichte belegt dies. Hier  ist zu  beobachten, wie Macht, Glaube, Autorität, Gewalt  und  Liebe  in  ver‐schiedenen Kulturräumen und Gesellschaften  auf unterschiedliche Weise interpretiert und praktiziert werden. Der Mensch ist ein kulturbildendes und bildungsorientiertes Wesen. Bil‐

    dung entwickelt und  schafft Kultur als einen offenen Raum,  in dem und aus dem heraus gehandelt wird. Kultur umfaßt die Gesamtheit der Lebens‐ und Organisationsformen sowie den Inhalt und die Ausdrucksformen der vorherrschenden  Wert‐  und  Geisteshaltung.  Sowohl  regionale  als  auch globalisierte Kulturen sind von einer offenen Systematik geleitet, die Zwi‐schenräume  für  Kommunikation  zwischen  diesen  Trägern  schafft.  Der Dialog der Kulturen und Religionen ist ein gutes Beispiel hierfür. Kommu‐nikation macht  somit  den  Kern  der  Kultur  und  das menschliche  Leben selbst  aus. Es  sind  allerdings  nicht  die Kulturen,  die miteinander  reden, sondern es sind immer die Träger dieser Kulturen und Traditionen. Kom‐munikationen scheitern, wenn die Beteiligten sich darüber nicht im klaren sind, daß jeder in einer eigenen Wahrnehmungswelt verharrt.8 Das Konzept der Interkulturalität geht nicht von der Herausbildung der 

    Idee einer künftigen ›einheitlichen Menschheits‐ bzw. Weltkultur‹ aus, die den  Prämissen  einer  übergeordneten  Leitkultur  unterliegt.  Unter  dieser Voraussetzung wird zwangsläufig die Assimilation und damit die Einheit‐lichkeit aller Kulturen zugunsten einer einzigen ›Einheitskultur‹ vorausge‐

    7   Radhakrishnan, Sarvepalli: Die Gemeinschaft des Geistes. Östliche Religionen und 

    westliches Denken, Darmstadt 1952 S. 366. 8   Im  Hinblick  auf  Probleme,  Störungen  und  Bedingungen  der  interkulturellen 

    Kommunikation sei grundsätzlich verwiesen auf: Yousefi, H. R.: Toleranz als Weg zur interkulturellen Kommunikation und Verständigung, in: Wege zur Kommunika‐tion. Theorie und Praxis interkultureller Toleranz, hrsg. v. Hamid H. R. Yousefi u.a., Nordhausen 2006 (19‐48). 

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    setzt. Die Unifizierung der Kulturen  ist sowohl  theoretisch als auch prak‐tisch eine Fehlleistung, eine Fehltat, weil Differenzen ausgeblendet werden. Interkulturalität ist und bleibt von einer offenen Systematik der Kulturfor‐men geleitet. Der  Interkulturalität  liegt eine Pluralität zugrunde, die einer geistigen Einheit  – keiner Einheitlichkeit  –  aus der Vielheit der Kulturen den Weg ebnet. Das Eigene und das Fremde suchen zwar das Gemeinsame und  ergänzen  sich,  ohne Differenzen werden  sie  aber  farblos. An dieser Stelle  soll  folgender Arbeitsbegriff  von  Kultur  gelten:  Kulturen  sind  im Kontext  der  interkulturellen  Religionswissenschaft  in  unterschiedlicher Weise und  in unterschiedlichem Ausmaß  in Partialkulturen differenzierte Netzwerke mit lokal unterschiedlichen Dichtegraden. 

    Struktur und Aufgaben der interkulturellen Religionswissenschaft Auf der Basis  eines  so verstandenen Kulturbegriffs  ist die  interkulturelle Religionswissenschaft  dem  Dialog  zwischen  den  Religionen  verpflichtet und hat stets eine Aufklärungsfunktion zu erfüllen. Es geht um die theore‐tische und praktische Anerkennung, daß auch andere Völker Vernunft und Rationalität besitzen. Hier wird die oft gestellte Frage beantwortet, wozu diese  Art  von  Religionswissenschaft  überhaupt  notwendig  ist.  Dement‐sprechend liegt eine Aufgabe der interkulturell‐religionswissenschaftlichen Aufklärung darin, den selbsterhobenen Universalitätsanspruch der Religi‐onsgeschichte  im Abendland  nicht  nur  ideengeschichtlich,  sondern  auch entwicklungsgeschichtlich  zu hinterfragen und  zu  relativieren, damit  ein Dialog zwischen den Denktraditionen auf gleicher Augenhöhe stattfinden kann. Religionswissenschaft essentialistisch aufzufassen oder sie nur unter bestimmten  Bedingungen  als  relevant  erklären  zu  wollen,  widerspricht dem Kern religionswissenschaftlicher Reflexion selbst. Interkulturelle  Religionswissenschaft  umfaßt  als  ein  human‐  und  kul‐

    turwissenschaftliches  Programm  sowohl  Praktische  und  Engagierte  als auch Angewandte Religionswissenschaft.  Sie  ist  zum  einen  bemüht,  gei‐steswissenschaftliche Begriffe  zu  entkolonialisieren, die geschichtlich  stu‐fentheoretisch  gebildet worden  sind,  und  zum  anderen  die  europäisch‐westliche Religionswissenschaft zu säkularisieren, die in vielerlei Hinsicht intern dialogisch und  extern  konservativ und monologisch  agiert. Damit verfolgt  die  interkulturelle  Religionswissenschaft  das  Ziel,  ein  neues Selbstverständnis des Menschen zu entwickeln. 

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    Interkulturelle Religionswissenschaft beschränkt sich als offene Systema‐tik  nicht  auf  die  Analyse  der  religiösen Quellen  unter  literarischen  Ge‐sichtspunkten;  sie  hat  auch  ein  undogmatisch,  rein  historisch  erforschter Bezug zu Religionen der Menschheit. Interkulturelle  Religionswissenschaft  distanziert  sich  von  jeglicher  Art 

    von  Absolutheitsansprüchen  und  kulturegoistischen  Handlungsweisen. Interkulturelle  bzw.  interreligiöse  Kompetenz  spielt  im  Rahmen  dieses Konzepts eine Schlüsselrolle, die noch zu behandeln sein wird. In der  interkulturellen Religionswissenschaft gilt eine ›orthafte Ortlosig‐

    keit‹ wie auch eine ›ortlose Orthaftigkeit‹.9 Ihre Notwendigkeit ist im Pro‐zeß der Globalisierung eine zukunftsgerichtete Neugestaltung der  interre‐ligiösen Gegenwartskultur. Interkulturelle  Religionswissenschaft  wirft  eine  Reihe  von  Problemen 

    auf, die eine neue Historiographie erfordern. Zu  ihren wesentlichen Auf‐gaben gehört vor allem die Überwindung einer Denkart, die einen konti‐nentzentrischen  Ausgangspunkt  a  priori  festlegt.  Dieses  unverkennbare Erbe der kolonialistischen Phase der westlichen Geschichte, die mit ande‐ren Kulturen, Religionen und Philosophien selektiv verfährt, ist durch eine interkulturelle Sichtweise zu ersetzen. Interkulturelle Religionswissenschaft nimmt nationale  Identitäten wahr, 

    hält die  interkulturelle Weltbürgerlichkeit  für wichtig und  ist  ihrer welt‐bürgerlichen Bedeutung nach dem Weltbegriff verpflichtet. Sie räumt dem sensus numinis, der  für Milliarden von Menschen zentral  ist, den  ihm ge‐bührenden Platz ein. Interkulturelle Religionswissenschaft nimmt an der Gestaltung des Welt‐

    friedens  teil und  stellt keine Gebote und Verbote  auf.  Sie untersucht die Erscheinungsformen, vergleicht  sie, klärt die Ursachen von Diskrepanzen und zeigt Wege zur Lösung der Probleme auf. In ihrem Zentrum steht ein rationales und ethisches Bewußtsein, welches dem generellen und essenti‐ellen Religionsverständnis vorausgeht. Wahrheits‐ und Wesensfrage dür‐fen nicht miteinander vermengt werden. Sonst »treten tatsächlich religiöse Denkurteile auf mit erschlichenen Prämissen gegen echte Denkurteile des 

    9   Mall, R. A.: Philosophie im Vergleich der Kulturen, 1995 S. 20. 

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    wissenschaftlichen Denkens.«10  Religion wird  hier  gesehen  als  »erlebnis‐hafte Begegnung mit dem Heiligen und  antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.«11 Dieser doppelte Aspekt verbindet alle Religionen. »Von daher kann die Religion des anderen im Kern verstanden werden  und  sollte  das Verstehen  des  anderen  das Zusammenleben  und Zusammenwirken der Religionen stimulieren.«12 Für die interkulturelle Religionswissenschaft  ist die Kategorie des Heili‐

    gen konstitutiv13: »Es ist die Frage«, stellt Hans Jonas (1903‐1993) fest, »ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die am gründ‐lichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört wurde, eine Ethik haben können, die die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen und dauernd hinzuerwerben und auszuüben beinahe gezwungen sind.«14 William James (1842‐1910) argumentiert in dieselbe Richtung und kritisiert darüber hinaus eine reine philologisch ausgerichtete Religionswissenschaft. Wir müssen uns nach James mit der Tatsache abfinden, »daß der Versuch, auf dem Wege der reinen Vernunft die Echtheit religiöser Befreiungserleb‐nisse  zu  demonstrieren,  absolut  hoffnungslos  ist.«15  Die  Kategorie  des Heiligen läßt sich im interkulturellen bzw. interreligiösen Kontext verdeut‐lichen:  Buddhismus,  Judentum, Christentum,  Islam  und  die Zande  (dar‐über später) können als Beispiel angeführt werden. »Das Heilige in diesen Religionen bildet  in verschiedener Weise  ihren Kern. Während der Budd‐hismus vom Nirvana ausgeht und das  Judentum von  Jahwe,  ist  Jesus als 

    10  Mensching,  Gustav:  Das  religiöse  Urteil.  Ein  Beitrag  zur  Wesensfrage,  in: 

    Sozialistische Monatshefte, 28. Jg., Bd. 58, Berlin 1922 (520‐521), S. 521. 11  Mensching, Gustav: Die Religionen und die Welt. Typen  religiöser Weltdeutung, 

    Bonn 1947 S. 17. 12  Tröger, Karl‐Wolfgang: Das Heilige als interreligiöse Kategorie, Mit Rudolf Otto im 

    Gespräch,  in: RIG, Bd. 7, Neue Herausforderungen  für den  Interreligiösen Dia‐log, 2002 (92‐101), S. 98. 

    13  Zur Kategorie des Heiligen  in der Religion, Philosophie und Religionswissen‐schaft vgl. Yousefi, H. R.: Der Toleranzbegriff  im Denken Gustav Menschings. Eine interkulturelle philosophische Orientierung, Nordhausen 2004 S. 27‐41. 

    14  Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Kritik für die technologi‐sche Zivilisation, Frankfurt/Main 1989 S. 57. 

    15   James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrungen. Eine Studie über die menschli‐che Natur, Frankfurt/Main 1997 S. 447. 

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    Gottesgestalt für das Christentum, Allah für den Islam und Orakel, Magie und  Hexerei  für  die  sogenannten  primitiven  Kulturen  wesentlich.  Dies verhält sich mit allen anderen Religionen, Weisheitsreligionen oder religiö‐sen Vorstellungen nicht anders, die an ›Etwas‹ glauben, was für sie ›heilig‹ ist.  Das  Heilige  kann  neben magischen  Vorstellungen  auch  auf  Gegen‐stände  bezogen  sein. Deshalb  kann  von der  ›unbestimmten Bestimmung des Heiligen‹ gesprochen werden, die je nach Vorstellung anders ausfallen wird.«16  Religionsverstehen  kommt  im  Symbolverstehen  zum Ausdruck, welches das Wesen der Religionen erfaßt. Eine interreligiöse und interkulturelle Orientierung sieht in dem Heiligen 

    das verbindende Glied unter den Religionen, das für den Dialog unerläß‐lich ist. Damit trägt sie dazu bei, durch den Dialog zu besseren Einsichten über das Eigene und das Fremde zu verhelfen und ein besseres Miteinan‐der in Gang zu bringen. Überlieferte Unterscheidungen, voreilige Identifi‐zierungen  und Unterscheidungen,  die  häufig  zu  Polarisierungen  führen, werden nicht mehr kritiklos akzeptiert. Im Kontext des Interkulturellen gilt es die Frage zu beantworten, ob wir 

    berechtigt sind, eine ›Superkultur‹ bzw. ›Superreligion‹ zu fördern, die den Anspruch erhebt, bestehende kulturelle bzw.  religiöse Vorstellungen und Handlungsweisen zu ersetzen? Diese Frage ist kurz und deutlich mit nein zu beantworten. Interkulturelle Religionswissenschaft  schafft  einen  integrativen Rahmen 

    zur Zusammenstellung der Ursachen von Vorurteilen und praktiziert eine parallele Heranziehung der  kulturspezifischen  und  kulturübergreifenden Themen. Um Religionen zu verstehen, genügt es nicht, eine reine textuelle und philologische Orientierung zu pflegen. Das war die traditionelle Form der Religionswissenschaft.  Im Kontext des  Interkulturellen bzw.  Interreli‐giösen geht es vielmehr darum, die religionsgeschichtliche Entstehung, die Gesamtheit der Lehre  samt  ihrer Soziologie und verbunden mit  ihrer  so‐

    16  Yousefi, H. R.: Der Toleranzbegriff im Denken Gustav Menschings. Eine interkultu‐

    relle philosophische Orientierung, Nordhausen 2004 S. 225. Diese unbestimmte Bestimmung läßt zu, daß die Lehre Buddhas nicht als ein onto‐theologischer Be‐griff aufgefaßt wird. Auch wenn Mensching trotz aller Differenzen das Überlap‐pende unter den Religionen hervorhebt und es als das Heilige bezeichnet, darf es nach buddhistischem Verständnis nicht ontologisiert werden. 

  • 30

    zialen Struktur, das Fundament sakraler Vorstellungen, subjektiver Erfah‐rungen und das religiöse Verhalten in den Religionen in den Blick zu neh‐men und diese mit denselben Aspekten anderer Religionen  in Beziehung zu setzen. Diese dialogorientierte Begegnung der Religionen nimmt fremd‐kulturelle Muster wahr,  ohne  darauf  gerichtet  zu  sein,  sie  negativ  oder positiv  zu  bewerten,  da  eine  dauernde  negative  Bewertung  eine  kultur‐spezifische Relevanzverletzung darstellt. Interkulturelle Religionswissenschaft leitet auf dem Gebiet des Religiösen 

    eine  gründliche  Auseinandersetzung mit  der  Boulevard‐  und  Qualitäts‐presse ein, die vorwiegend konfliktorientiert und einseitig ausgerichtet  ist und bei der Auseinandersetzung mit Nichteuropäern zynische Züge auf‐weisen. Interkulturelle  Religionswissenschaft  stellt  sich, wie Olaf  Schumann  in 

    seinem Beitrag darauf hinweist, auch dem oberflächlichen und irreführen‐den Populismus der  sogenannten  ›Sachbücher‹ von Pseudo‐seriösen und Pseudo‐Experten wie Peter Scholl‐Latour, Gerhard Konzelmann und vielen anderen Schriftstellern, die auf einer unwahrhaftigen und beängstigenden Exotik ein verzerrtes Bild von anderen Religionen ausmalen.17 Umfassende Studien weisen  auf die Gefahr  hin, daß dieser Tendenzjournalismus das Fach Religionswissenschaft obsolet machen könnte.18 Interkulturelle  Religionswissenschaft  plädiert  für  einen  friedensorien‐

    tierten Journalismus, der auf die folgenden vier Orientierungen nicht ver‐zichten kann: Er ist wahrheitsorientiert und demzufolge konfliktorientiert, zweitens ist er menschlichorientiert und demzufolge lösungsorientiert. Der Friedensjournalismus  fügt  zusammen, was  die  Tendenzjournalisten  stets mißachten und auseinanderdividieren.19 Friedensjournalismus geht bei der 

    17  Zu diesem Thema vgl. Yousefi, H. R. und Ina Braun: Interkulturelles Denken oder Achse des Bösen. Das Islambild im christlichen Abendland, Nordhausen 2005. Vgl. auch Rotter, Gernot: Allahs Plagiator. Die publizistischen Raubzüge des ›Nahost‐experten‹ Gerhard Konzelmann, Heidelberg 1992. 

    18  Vgl. Schönhuth, Michael: Ist da wer? Strategien und Fallstricke einer populären Eth‐nologie, in: Aus der Ferne in die Nähe. Neue Wege der Ethnologie in die Öffen‐tlichkeit, hrsg. v. Ursula Bertels und Birgit Baumann, Münster 2004 (77‐104). 

    19  Vgl. Galtung,  Johan:  Beiträge  zur  Friedens‐  und Konfliktforschung, Hamburg 1975 S. 41. 

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    Konfliktlösung  nicht  von  idealistischen Harmonievorstellungen  aus,  son‐dern von realen Fakten. Im Rahmen der interkulturellen Religionswissenschaft gilt es unter ande‐

    rem  die  bereits  von  dem  rumänischen  Religionswissenschaftler  Mircea Eliade  (1907‐1986)  gestellte  Frage  zu  beantworten, warum  außereuropäi‐sche Kulturen  im  europäischen Raum  in  ihrer Vollständigkeit unbekannt geblieben sind. Jenen gelang es nicht, breiten Eingang in die Kultur zu fin‐den, wie dies  in der ›ersten Renaissance‹ der gräkolateinischen Kultur ge‐lungen war. Eliade geht davon aus, daß die Entdeckung des Avesta, des Sanskrit, der Upanischaden und des Buddhismus Ende des 18. und im 19. Jahrhundert  in Europa zu sehr auf den Bereich der Philologie beschränkt blieb und dadurch die Etablierung des asiatischen Geistes als eine ›zweite Renaissance‹ verhindert wurde.20 Ein zentrales Anliegen der interkulturellen Religionswissenschaft besteht 

    darin, eine ›dritte Renaissance‹ zu vollziehen, unterschiedliche Traditionen nicht nur mit ihren je eigenen Frage‐ und Problemstellungen, sondern auch mit ihren je eigenen Lösungsansätzen als gleichberechtigte Diskursbeiträge zusammenzubringen. An dieser Stelle setzt Helmuth Plessner (1892‐1985) an. Er geht von dem 

    ›Prinzip  der  offenen  Frage‹  aus  und warnt  vor  dem  kategorischen  An‐spruch  auf Absolutheit,  apriorischen Kategoriensystemen  und  dem Ver‐such, Kulturen stufentheoretisch zu behandeln. Aus dem Geist dieser reli‐gionswissenschaftlichen  Praxis  entwickelten  sich Diskursformen,  die  bis‐lang die Möglichkeit einer interkulturellen bzw. interreligiösen Kommuni‐kation und Verständigung im Keim erstickten21: — der apologetische Diskurs, in dem die eigene Religion verteidigt wird und 

    immer wieder auf Trennendes zu anderen Religionen verwiesen wird, die als etwas Unheimlich‐Unverstandenes dargestellt werden, 

    — der Romantisierungsdiskurs, in dem schwärmerisch‐exotische Vorstellun‐gen  im Mittelpunkt stehen. Hier spielt die Geographie des Denkens eine Rolle:  Vernunftbezogenes,  begrifflich  stringentes  und  sachlich  ausdiffe‐

    20  Vgl. Eliade, Mircea: Die Sehnsucht nach dem Ursprung, Wien 1973 S. 76. Vgl. auch 

    Mall, R. A.: Philosophie im Vergleich der Kulturen, 1995 S. 23. 21  Vgl. Yousefi, H. R. und  Ina Braun:  Interkulturelles Denken  oder Achse  des Bösen, 

    2005 S. 101. 

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    renziertes Denken wird als westliches Attribut vereinnahmt, während  ir‐rationales  und  exotisch‐schwärmerisches,  unberechenbar‐tyrannisches Dasein  als  fremd  gilt. Mit  diesem  Diskurs  geht  die  Degradierung  des Fremden zum Projektionsobjekt Hand in Hand, 

    — der Mitleidsdiskurs, der von der Darstellung von Chaos, Rückständigkeit, Hilflosigkeit, Krankheit, Armut, Gewalt oder allgemeiner Unfähigkeit zu effektivem ökonomischen Handeln usw. geprägt ist, 

    — der  paternalistische  Bevormundungsdiskurs,  welcher  der  Einschätzung folgt, die Fremdgruppe bedürfe der notwendigen Hilfe von außen. Dieser Diskurs  enthält  insbesondere  die  Strategien  der  Entsubjektivierung,  des Nicht‐Anhörens  und Nicht‐Ernstnehmens  und  beinhaltet  für  die  eigene Gruppe ein privilegiertes Rederecht. 

    Die Praxis solcher Diskurse zeigt, daß keine Kultur bzw. Religion ganz frei von Reduktionismus, Fanatismus und Gewaltbereitschaft  ist oder sich da‐von freisprechen kann. Im  Geist  der  interkulturellen  Religionswissenschaft  faßt  Plessner  zu‐

    sammen:  »In  dem  Verzicht  auf  die  Vormachtstellung  des  europäischen Wert‐ und Kategoriensystems gibt sich der europäische Geist erst den Ho‐rizont  auf die ursprüngliche Mannigfaltigkeit der geschichtlich geworde‐nen Kulturen und ihrer Weltaspekte frei. In dem Verzicht auf die Absolut‐heit der Voraussetzungen, welche diese Freilegung selbst erst möglich ma‐chen,  werden  diese  Voraussetzungen  zum  Siege  geführt.  Europa  siegt, indem es entbindet.«22 

    Methodologische Perspektive der interkulturellen Religionswissenschaft Jede  wissenschaftliche  Ausrichtung  bildet  eigene  Theorien  und  hat  ein eigenes  Inventar  von Methoden, mit  denen  Erkenntnisse  erzielt werden können. Die Methode  der  interkulturellen Religionswissenschaft  ist  die  verglei‐

    chend‐dialogische.  Sie  legt  großen Wert  auf  die  Exploration  und  Erkun‐dungsmethode, um die Lebenswirklichkeit des Anderen in seiner Anders‐heit aus nächster Nähe zu erleben. Auch verfährt sie vergleichend‐kultur‐analytisch und will damit zur Selbstreflexion verhelfen und die Interaktion fördern. 

    22  Plessner, Helmuth: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1979 S. 299. 

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    Interkulturelle Religionswissenschaft setzt methodisch bei der Enge kul‐turalistischer Tendenzen an, die das tertium comparationis auf allen fachwis‐senschaftlichen Gebieten  von  vornherein  für  alle Vergleiche und  für  alle Kommunikationen  festlegen.  Hierauf  beruhen  Theorien  und  Lehren,  in deren Namen Gewalt ausgeübt wurde: Kolonialismus, Imperialismus und Expansionismus. Das eigentliche Defizit vieler vergleichender Studien war, daß sie den Maßstab des Vergleichs in einer bestimmten Tradition fixierten. Eigene kulturelle Handlungsweisen werden als Meßlatte hypostasiert, ver‐absolutiert und mit  fremden Handlungsweisen beliebig verglichen.  James plädiert für die Konzeption einer »unparteiischen Religionswissenschaft«23, die das tertium comparationis nicht an einer bestimmten religiösen Tradition fixiert. Es ist ein Anliegen der interkulturellen Orientierung, das tertium compara‐

    tionis nicht ausschließlich  in einer bestimmten Tradition zu  fixieren, denn dies würde praktisch bedeuten, das Ergebnis des Vergleichs schon ab ovo vorwegzunehmen.  Einer  der Gründe, warum  vergleichende  Studien  der letzten Jahrhunderte uns eher enttäuschen und nicht zum erhofften Erfolg geführt haben, mag hierin zu suchen sein. Zu den Praktiken der  interkulturellen Religionswissenschaft gehört me‐

    thodisch die Berücksichtigung der religiös‐spirituellen Dimension, die seit der Aufklärung  vernachlässigt worden  ist. Die Aufklärung  setzte  an  die Stelle  der  religiösen  und  politischen Autorität  die Vernunft,  obwohl  die Aufklärer  selbst wußten, daß das Überrationale  in erheblichem Maße die menschlichen Entscheidungen und  ›vernünftigen‹ Einstellungen mitprägt. Die Aufklärung  ist für die bessere, vernünftigere, humanere und mensch‐lich weiterentwickelte Epoche gehalten worden, blieb aber einem theoreti‐schen Rahmen verhaftet. Beide Dimensionen sind zu berücksichtigen auf‐grund der Erkenntnis, daß eine Ausklammerung des Religiösen eine Denk‐art  abstrakt macht,  eine Vernachlässigung der Vernunft  sie blind bleiben läßt. Die  interkulturelle  Religionswissenschaft  arbeitet  mit  Methoden,  die 

    auch anderen Einzeldisziplinen eigen sind. Sie beschäftigt sich sowohl mit Fakten als auch mit Wegen und Problemen und  ist weder  ethnisch noch konfessionell. Die geistige Einheit der Religionen und die Forderung nach 

    23   James, W.: Die Vielfalt religiöser Erfahrungen, 1997 S. 447. 

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    ihrer Zusammenarbeit  in  gemeinsamem  friedlichen Wirken  ergeben  sich »aus den Errungenschaften der Vergleichenden Praktischen Religionswis‐senschaft.«24 

    Analogische Hermeneutik Die  traditionelle,  reduktive Hermeneutik  ging  immer  von  einem  dicho‐tomen Denken ›wie ich mich selbst verstehe‹ und ›wie ich das Fremde ver‐stehe‹  aus.  Seit  den  1980er  Jahren  hat  diese  Form  von  hermeneutischer Praxis, die den Kern der bisherigen Religionswissenschaft bildet, mit der Entstehung  der  ›Interkulturellen  Hermeneutik‹  eine  Erweiterung  erfah‐ren.25 Diese modifiziert die traditionell‐dualen Denkwege um zwei weitere Dimensionen und fragt: 1. wie ich mich selbst verstehe, 2. wie ich das Fremde verstehe, 3. wie das Fremde sich selbst versteht, 4. wie das Fremde mich versteht. Pragmatisch‐hermeneutische Religionswissenschaft erfolgt  in zwei aufein‐ander  abgestimmten  Schritten.  Sie  ist  geleitet  von  einer  parallelistischen Selbst‐  und  Fremdhermeneutik.  Diese  analogische  Hermeneutik26  muß stets engagiert vollzogen werden und hat einer permanenten Selbst‐ und Fremdprüfung oder Selbst‐ und Fremdkritik standzuhalten. Diese bei der Komparatistik  der Kulturen,  Religionen  und  Philosophien  innerhalb  der interkulturellen  Religionswissenschaft  zum  Tragen  kommende  Herme‐neutik bezeichne ich als ›Engagierte Hermeneutik‹. Daß ohne eine vierfache Hermeneutik nicht auszukommen ist, macht der 

    Vergleich  der westlichen  Logik mit  derjenigen  des  Stammes  der  Zande, einer  heterogenen  zentralafrikanischen  Bevölkerungsgruppe,  deutlich. Nach David Bloors Auffassung unterliegt die Anwendung von Logik  im‐mer und überall unlogischen Motiven. Grenzen und Gehalt  logischer Be‐ 24  Yousefi, H. R.  und  Ina Braun: Gustav Mensching  –  Leben  und Werk, Würzburg 

    2002 S. 313. 25  Vgl. Mall, Ram Adhar: Die  orthafte Ortlosigkeit  der Hermeneutik. Zur Kritik der 

    reduktiven  Hermeneutik,  in: Widerspruch, Münchner  Zeitschrift  für  Philoso‐phie, Jg. 8, Nr. 15, München 1988 (38‐49). 

    26  Vgl. Mall, Ram Adhar: Essays zur Interkulturellen Philosophie, hrsg. v. H. R. You‐sefi, Nordhausen 2003 S. 141. 

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    griffe werden  nicht  entdeckt,  sondern  geschaffen. Der Aufbau  logischer Schemata sei nur ein Weg, um Gedanken nachträglich zu ordnen. Sie sind als Verhandlungsgegenstand anzusehen, der durch andere, ebenso logisch erscheinende Strukturen ersetzt werden kann. Die  Zande  sind  der Auffassung,  daß  sich  die Anlage  zur Hexerei  auf 

    männliche Nachfahren vererbt. Demnach müßten sie anerkennen, daß alle männlichen, miteinander verwandten Mitglieder  ihres Stammes  ipso  facto Hexer sind. Da dies  in der Praxis aber nicht der Fall  ist,  lehnen sie diesen logischen Schluß, der eine  ihrer wichtigsten sozialen  Institutionen unhalt‐bar machen würde, ab.27 Daß nicht der gesamte Stamm eines Hexers aus Hexen besteht, erklären sie sich dadurch, daß manche zwar das Potential zum Hexer haben, es in ihnen aber nicht aktiviert ist. Innerhalb ihrer Gren‐zen bildet diese Logik  ein  sich  selbst genügendes Ganzes, das dann ver‐fälscht wird, wenn es als Bruchstück eines größeren oder anderen Ganzen angesehen wird. In der westlichen Welt  ist die Anwendung  logischer Schemata nicht an‐

    ders. So gilt als ein Mörder  jemand, der einen anderen Menschen absicht‐lich tötet. Ein Bomberpilot wird hingegen nicht als Mörder angesehen. Zur Rechtfertigung hierfür dient eine Fülle an Unterscheidungen und logischen Argumenten. Die  Infragestellung der  institutionell sanktionierten  ›Arbeit‹ eines  Bomberpiloten  käme  nämlich  einer  Revolution  gleich. Dieser  Ver‐gleich zeigt, daß sich die Logik überall,  insbesondere dann, wenn es  sich um  religiöse Angelegenheiten handelt, ähnelt: »Die Abneigung, die  ›logi‐sche‹ Schlußfolgerung  aus  ihren Glaubensinhalten  zu  ziehen,  ähnelt  sehr unserer Abneigung, unsere Glaubensinhalte des gesunden Menschenvers‐tandes und unsere fruchtbaren wissenschaftlichen Theorien aufzugeben.«28 Wirkliches Verständnis füreinander kann nur dann entstehen, wenn ver‐

    sucht wird,  jede Kultur aus  ihrer eigenen Logik heraus zu verstehen. Um  27  Vgl. Bloor, David: Die Logik der Zande und die westliche Logik, in: Soziale Struktur 

    und  Vernunft.  Jean  Piagets Modell  entwickelten  Denkens  in  der  Diskussion kulturvergleichender Forschung, hrsg. v. Traugott Schöfthalter u.a., Frankfurt/‐Main 1984 (157‐168), S. 158. 

    28  Bloor, David: Die Logik der Zande und die westliche Logik, in: Soziale Struktur und Vernunft.  Jean Piagets Modell entwickelten Denkens  in der Diskussion kultur‐vergleichender  Forschung,  hrsg.  v.  Traugott  Schöfthalter  u.a.,  Frankfurt/Main 1984 (157‐168), S. 166. 

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    mit Wilhelm Dilthey (1833‐1911) zu sprechen, setzt »unser Handeln [...] das Verstehen  anderer  Personen  überall  voraus.«29  Der  Betrachter  eines Sachverhaltes muß den  jeweiligen Entstehungskontext begreifen und sich seiner subjektiven Sicht bewußt werden. Dabei muß er sich dessen bewußt sein, daß er nie zum originären Ursprung eines für ihn fremden Gedankens zurückfindet,  sondern  lediglich  in  einer  ›Bedeutungsrekonstruktion‹  ver‐suchen kann, sich diesem so gut wie möglich anzunähern. 

    Geographie des Denkens Innerhalb  der  Kommunikationsforschung  wird  das  Thema  ›Geographie des  Denkens‹30  kontrovers  diskutiert.  Diese  berührt  unter  anderem  die methodische  Grundlage  der  religionswissenschaftlichen  Tätigkeit.  Wäh‐rend die  eine Richtung  grundlegende menschliche Denkmechanismen  in der Regel als gleichförmig ansieht und davon ausgeht, daß diese nicht von kulturellen Prägungen herrühren, sondern auf genetisch verankerten Me‐chanismen beruhen, vertritt die Gegenseite die Auffassung, diese Mecha‐nismen seien durch äußere Faktoren wie Kultur, Tradition, Religion oder Weltanschauung beeinflußt. Ein Beispiel hierfür ist die Klassifizierung des westlichen Denkens als vorwiegend linear bzw. analytisch, wobei die Wur‐zeln dieser spezifischen Ausprägung des Denkens in der griechischen Tra‐dition und in der römischen Rechtsprechung gesehen werden. Demgegen‐über  wird  fernöstliches  Denken  als  eher  kreisförmig,  d.h.  als  holistisch bezeichnet, wobei  nicht  die  griechische,  sondern  andere  Traditionen  als prägend angesehen werden. Die Problematik der  ›Geographie des Denkens‹ beruht darauf, daß hier 

    Ergebnisse  statistischer  Untersuchungen  zu  Typen  verallgemeinert  wer‐den. Der Typus läßt aber keine Aussagen über das Denken eines beliebigen Individuums  in  einer der  beiden Kulturen  zu und  sagt  nichts über Teil‐kulturen aus. Auch besagt er nichts über die Wahrheit der auf seiner Basis getroffenen Aussagen. Eine generalisierende ›Geographie des Denkens‹ ist 

    29  Dilthey, Wilhelm: Die Entstehung der Hermeneutik,  in: Die geistige Welt. Einlei‐

    tung in die Philosophie des Lebens. Gesammelte Schriften, Bd. 5, 8. Aufl., Stutt‐gart 1990 S. 317. 

    30  Vgl. Nisbett, Richard E.: The Geography of Thought. How Asians and Westerners Think Differently … and Why, New York 2003. 

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    empirisch inadäquat. Beide Denkmodelle, sowohl das analytische wie auch das  holistische,  sind  fehlbar.  Die  interkulturelle  Religionswissenschaft vermeidet Dualisierungen, die völlig differenzorientiert sind. 

    Interkulturelle Kompetenz Als conditio sine qua non für eine interkulturelle und interreligiöse Verstän‐digung  und  Kommunikation  im  Rahmen  der  interkulturellen  Religions‐wissenschaft  ist die  interkulturelle und  interreligiöse Kompetenz  anzuse‐hen.  Jede  Religion  hat  eine  eigene,  nicht  immer  explizierte Werte‐  und Normenorientierung  und  begriffliche  und  theoretische  Bezugssysteme. Interkulturelle Kompetenz wird dort nötig, wo  sich Menschen mit unter‐schiedlichen  Denkmustern,  Wertvorstellungen,  Kommunikations‐  und Verhandlungsstilen begegnen. Sie stellt eine Fähigkeit und eine Fertigkeit dar. Als Fähigkeit muß sie entwickelt und kultiviert werden, auch wenn sie als  eine Disposition  angeboren  sein  sollte. Als Fertigkeit  zielt  sie  auf die Anwendung dieser Fähigkeit auf unterschiedlichen Gebieten des menschli‐chen Lebens. Interkulturelle bzw. interreligiöse Kompetenz setzt die Reali‐sation und Anwendung der spirituellen Tugend einer freiwilligen Selbstbe‐scheidung und  ‐begrenzung voraus, verbunden mit Rücksichtnahme.  Sie bedeutet  »die  dauerhafte  Fähigkeit,  mit  Angehörigen  anderer  Kulturen erfolgreich und kultursensibel interagieren zu können.«31 Diese Schlüsselqualifikation  ist  in gesellschaftlicher,  religiöser wie auch 

    in wirtschaftlicher  und  politischer Hinsicht  von  Bedeutung. Die  Schritte aus der dialogischen Kulturanthropologie  zum  Selbst‐  und  Fremdverste‐hen  und  zur  Kommunikation  führen  durch  ›Interkulturelles  Lernen‹  zu ›Interkultureller Kompetenz‹.  In einem komplexen Prozeß aus  individuel‐len,  selbstreflexiven  und  kommunikativen  Phasen werden  soziale  Erfah‐rungen  gemacht  und  gemeinsam  reflektiert.  Vorhandene,  biographisch überlieferte und bewährte Welterklärungen werden durch den kommuni‐kativen  Vergleich  und  die  Erfahrung  neuer  Deutungsmuster  zu  neuen Interpretationen entwickelt. Mit diesem Konzept wird die Nähe zum päd‐agogischen  Konstruktivismus  deutlich,  nach  dem  Lernen  nicht  die  Ver‐

    31  Grosch, Harald/Wolf  Rainer  Leenen:  Bausteine  zur  Grundlegung  interkulturellen Lernens, in: Interkulturelles Lernen. Arbeitshilfen für die politische Bildung, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998 (29‐46), S. 29. 

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    mittlung von Inhalten, sondern die Reflexion eigener Deutungen ist. Inter‐kulturelle Kommunikation kann zum Erfolg  führen, wenn das Urteil, das man über eine fremde Kultur erarbeitet hat, auch von einem Angehörigen dieser  fremden Kultur Zustimmung  erhält.  Ein  echter Dialog  setzt  nicht nur  interkulturelle, sondern zugleich soziale und  individuelle Kompetenz voraus. Zur  interkulturellen  bzw.  interreligiösen Kompetenz  gehört wesentlich 

    die Überzeugung, daß die eine  ›Wahrheit‹, auf welchem Gebiet auch  im‐mer,  in  niemandes  Besitz  ist  und  von  niemandem  in  Besitz  genommen werden kann. Eine absolute Wahrheit, die gelehrt werden könnte, gibt es nicht. Dieses Dilemma macht noch heute den Philosophen, Theologen und Politikern zu schaffen, sofern sie in der pluralistischen Diktion einen Verrat an der ›einen Wahrheit‹ sehen. Die Wahrheit in  meiner Tradition darf nicht gleichgesetzt  werden mit  der  Wahrheit meiner  Tradition.  Diese  Unter‐scheidung  führt zur These von der Überlappung von Gedankengehalten, die weder miteinander  identisch noch einander völlig  fremd  sind. Ein  so verstandenes  interkulturelles Ethos  ist eine notwendige und hinreichende Bedingung für interkulturelle Begegnungen auf jedwedem Gebiet. Neben  der  Gesellschaft  sind  zwei  Institutionen  für  die  Erziehung  zur 

    Toleranz wesentlich: das Elternhaus und die Schule. Während die Heran‐wachsenden zu Hause nach dem Wunsch der Eltern in religiöser Zugehö‐rigkeit erzogen werden, wird dies in der Schule in Form von konfessionel‐lem  Religionsunterricht  praktisch  fortgesetzt.  Es  geht  um  die  Frage,  ob durch  die Konfessionalisierung  des Religionsunterrichts  nicht  die  Intole‐ranz gefördert wird. Es  ist für Kinder oft unverständlich, warum es evan‐gelischen,  katholischen  oder  islamischen  Religionsunterricht  geben muß. Um die Gleichrangigkeit der Religionen  auch objektiv  zu demonstrieren, sollte vielmehr von ›Religionskunde‹ die Rede sein. Religionskunde hat die Absicht,  verschiedene  Religionen  wertneutral  darzustellen,  ohne  eine Überzeugung der  anderen unter‐ oder überzuordnen. Die Didaktik  eines derartigen  religionsbezogenen  Unterrichts,  die  einen  hermeneutischen Vorgang bedeutet, trägt dazu bei, den Unterricht möglichst beschreibend‐analytisch zu konzipieren und den unausweichlichen normativen Hinter‐grund des Unterrichts minimal zu halten. 

  • 39

    Angewandte Toleranz 

    Das Toleranzkonzept Gustav Menschings Nach Gustav Mensching (1901‐1978)  ist eine wichtige Aufgabe der Religi‐onswissenschaft  die  Friedenssicherung  auf  interreligiöser  Ebene  durch Toleranz  und Dialogbereitschaft.  Er  prägte  den  Begriff  der  ›inhaltlichen Toleranz‹.32 Menschings Anliegen war, die bloße Theorieverhaftetheit der traditionellen Religionswissenschaft zu überwinden. Mit  ihrer ausschließ‐lich vergleichenden oder nur philologisch ausgerichteten Perspektive, die sich  auf den  bloßen Vergleich der  einzelnen  abstrahierten Erscheinungs‐formen  von  Religionen  beschränkt,  schien  sie  methodisch  reduziert.  Er verfolgte das Ziel, die Religionswissenschaft  zu  einer  angewandten Wis‐senschaft weiterzuentwickeln. Signifikant  ist dies bei seiner Toleranzidee, die 1929 mit dem Beitrag ›Duldsamkeit‹ beginnt und 1978 im letzten Werk ›Buddha und Christus‹ abgeschlossen wird. Die Verwirklichung von Tole‐ranz hält Mensching für eine der Aufgaben, die in der Gegenwart mit be‐sonderer  Dringlichkeit  gestellt  ist.  Er  unterschied  formale  Toleranz  und Intoleranz von  inhaltlicher Toleranz und  Intoleranz und  äußere Toleranz und  Intoleranz  von  innerer Toleranz und  Intoleranz.33  Im  folgenden  soll der Fokus kurz auf der formalen und inhaltlichen Toleranz und Intoleranz liegen. Formale Toleranz  läßt andere Religionen, Kulturen und politische Auf‐

    fassungen unangetastet, d.h., sie duldet diese nur, und zwar aus Gründen der Staatsräson. Die formale Intoleranz zwingt die Vertreter anderer Kultu‐ren oder Überzeugungen zur Unterwerfung unter eine Institution. Inhaltliche  oder Angewandte  Toleranz  besteht  in  der  positiven Wahr‐

    nehmung  fremder Kulturen  oder Überzeugungen  als  echter und  berech‐

    32  Vgl. Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion (1955), Hamburg 21966. 33  Vgl. Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit  in der Religion,  21966 S. 18 ff. An 

    anderer  Stelle habe  ich Menschings Toleranzbegriff  eingehend untersucht und seine Konzeption  als Angewandte Toleranz weitergeführt. Vgl. Yousefi, H. R.: Der Toleranzbegriff  im Denken Gustav Menschings, 2004 und ders.: Zur Philosophie der angewandten Toleranz. Eine interkulturelle Perspektive, in: Tradition und Tra‐ditionsbruch  zwischen  Skepsis  und  Dogmatik.  Interkulturelle  philosophische Perspektive, hrsg. v. Claudia Bickmann u.a., (Studien zur Interkulturellen Philo‐sophie Bd. 16), Amsterdam 2006 (355‐371). 

  • 40

    tigter  alternativer  Lebensauffassungen.  Inhaltliche  Intoleranz  hingegen bekämpft  fremde Kulturen  oder Überzeugungen  um  der  vermeintlichen Wahrheit willen. In der dialogischen Theorie der Angewandten Toleranz werden Beson‐

    derheiten der Religionen und Kulturen berücksichtigt. Angewandte Tole‐ranz fördert die ›ästhetische Kultur‹ des Einzelnen, auf welche die ›politi‐sche Kultur‹ angewiesen  ist. Toleranz ohne Sensibilität artet oft  in  Intole‐ranz aus. Wem die Sensibilität fehlt, um zu bemerken, daß es sich bei den Anschauungen  eines  anderen Menschen  um  eine  prinzipielle  Differenz, einen  kulturellen Unterschied  und  nicht  bloß  um  eine  beliebige Abwei‐chung handelt, der macht von Toleranz keinen Gebrauch und provoziert Mißverständnisse. Mit  seinem Toleranzpostulat beabsichtigte Mensching, nicht nur ein  in‐

    teressantes akademisches Phänomen aus der Religionswissenschaft vorzu‐stellen,  sondern es ging  ihm um ein »die menschliche Existenz heute zu‐tiefst  betreffendes  Anliegen.«34  Toleranz  soll  den  Dialog  der  Religionen ermöglichen.  Seine  interreligiöse  Orientierung  bringt  die  Aufgaben  der Angewandten  Religionswissenschaft  auf  eine  Formel  für  die Gegenwart und die Zukunft: »Eine Begegnung der Religionen und ein Gespräch zwi‐schen  ihnen  hat weltweit  begonnen. Die  Religionswissenschaft  kann  für eine  solche Auseinandersetzung wertvolle Beiträge und Voraussetzungen liefern; denn sie  sollte, wenn  sie einen Wert haben  soll, ohne anerzogene Vorurteile geschehen. Gerade diese Vorurteile aber sind es in den Religio‐nen selbst, welche immer wieder auch im kulturellen Leben der Völker als retardierende  Kräfte  sich  bemerkbar  gemacht  haben  und  noch machen. Viele  solcher Vorurteile  vermag  die Religionswissenschaft  zu  beseitigen, und wenn  sie  sich  auch heute der Grenzen  rein  rationalistischer Aufklä‐rung,  aus der  sie  entsprang, bewußt  ist,  so  trägt  sie doch noch  zu Recht auch  positive Werte  der Aufklärung mit  sich.«35 Mit  dieser Überlegung werden die Grenzen der  traditionellen Religionswissenschaft  zu  anderen Disziplinen geöffnet.  Ihr  thematisches Spektrum  reicht vom Erkennen  in‐terreligiöser Pathologien bis zu dialogischer Kulturanthropologie. 

    34  Mensching, G.: Toleranz und Wahrheit in der Religion, 21966 S. 16. 35  Mensching, Gustav: Die Weltreligionen, Darmstadt 1972 S. 281 f. 

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    In seiner praktischen Hermeneutik expliziert Mensching die Analyse des Selbst‐ und Fremdverstehens als Voraussetzung  für das reziproke Verste‐hen der Kulturen  in  ihrem Anderssein.  In  ›Gut und Böse  im Glauben der Völker‹  (1941) gibt er auf die Frage  ›Was  ist der Mensch und was  ist die Wahrheit?‹ die Antwort, daß eine religionswissenschaftliche Anthropologie einen selbst‐ und fremdhermeneutischen Blick nicht aus den Augen verlie‐ren darf. In ›Der Irrtum in der Religion‹ (1969/2003) gelingt es ihm, durch diese doppelte Sicht Fehl‐ und Vorurteile, welche Religionen unter Beru‐fung  auf  verschiedene  Schriften  und Überlieferungen  gegeneinander  an‐führen, zu beschreiben und zu analysieren.36 Ebenso ist die Betrachtung der ›Lebensmitte‹  der  Religionen  von  hermeneutisch‐philosophischer  Trag‐weite. Die Toleranzideen Menschings können  für den Beginn  einer prag‐matisch‐hermeneutischen  Religionswissenschaft  fruchtbar  gemacht  wer‐den.37 Dessen  praktisch‐integratives Wissenskonzept war  nicht  »museale Bestandsaufnahme exotischer Kuriositäten, sondern lebendige Vermittlung der vielfältigen Erscheinungsformen menschlicher Religiosität.«38 Bereits Menschings frühe theologische Bemühungen aus den 1930er Jah‐

    ren sind von integrativen Erwägungen geleitet. Er versucht, im Denken der Menschen  einen  Gleiswechsel  zu  religiöser  und  kultureller Mündigkeit  36  Vgl. Mensching, Gustav: Gut und Böse  im Glauben der Völker, Leipzig 1941 und Der  Irrtum  in der Religion. Eine Einführung  in die Phänomenologie des  Irrtums (1969), 2. Aufl., eingeleitet und hrsg. v. H. R. Yousefi und Klaus Fischer, mit ei‐nem Nachwort von Udo Tworuschka, Nordhausen 2003. 

    37  Menschings frühere Versuche, Selbsthermeneutik zu betreiben, sind unvollstän‐dig.  Insbesondere die Toleranzidee enthält keine philosophisch‐hermeneutische Konzeption. In seinen reifen Jahren erkannte er Lücken und versuchte, Theorien nur aus der Praxis selbst zu gewinnen. Das Primat der Praxis vor der Theorie ist für ihn konstitutiv, wenn er beklagt: »Die in der Literatur vorliegenden Versuche [...]  sehen entweder die  fremden Religionen  schief und vergleichen Höhen der eigenen  Religionen mit  Tiefen  der  Fremdreligion,  oder  sie  stellen  die  eigene dogmatische Theorie neben die vielleicht vielfach  trübe  fremdreligiöse Praxis.« Mensching, G.: Toleranz und Wahrheit in der Religion, 1955 S. 147. 

    38  Klimkeit, Hans‐Joachim: Miscellanea, Prof. Dr. Dr. h.c. Gustav Mensching, in: Zeit‐schrift für Religions‐ und Geistesgeschichte, Leiden, 31. Jg., Köln 1979 (203‐205), S. 203; vgl. auch ders.: Vergleichen und Verstehen in der Religionswissenschaft, Vor‐träge der Jahrestagung der DVRG vom 04. bis 06. Oktober 1995 in Bonn, hrsg. v. Hans‐Joachim Klimkeit, Wiesbaden 1997. 

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    herbeizuführen. Mit der  späteren  Idee der geistigen Einheit aller Religio‐nen, die als Fazit aus seinem religionssoziologischen Schrifttum zu ziehen ist, fordert er Toleranz und Anerkennung zwischen den Religionen. Selbst‐autonomie und Fremdanerkennung sind ihm oberstes Prinzip. Die Konzipierung der  Idee einer Weltuniversität, die als Kernpunkt auf 

    das  ›Postulat Weltgewissen‹  verweist,  hat  ebenfalls  einen  praktisch‐inte‐grativen Bezug zur realen Begegnung der Religionen. Die Weltuniversität sollte das Konzept der Angewandten Religionswissenschaft realisieren. Für das zwischenkulturelle Verständnis nützt er eine positive latente Funktion der Religionen, das Weltgewissen: »Daß aber solches Weltgewissen mög‐lich wäre, beruht auf der Tatsache, daß die Religionen der Welt  in vielen zentralen Fragen des ethischen Handelns und der Gesinnung völlig einig sind.«39 Die Angewandte Religionswissenschaft sieht Mensching folgender‐maßen verwirklicht:  »Hier  [...] wäre  in  einmaliger Weise die Möglichkeit gegeben,  nicht  nur  aus  den  Textquellen  der  Religionen,  sondern  durch lebendige Anschauung im täglichen Umgang mit Anhängern der verschie‐denen Religionen und durch das  sachliche Gespräch  jenes Erkennen der letzten Einheit und ein Verstehen der verschiedenen Religionen, ihrer An‐hänger  und  damit  der  von  diesen  Religionen  vorzugsweise  bestimmten Völker  zu  führen. Wenn  also das  erklärte Ziel der Weltuniversität darin bestehen  soll, den Frieden der Welt durch  eine Mobilisierung der Seelen und Geister zu gründen und zu sichern, dann dürfte [...] ein Studium der vergleichenden Religionswissenschaft geeignet sein, die Vertreter der ver‐schiedenen Religionen auf der Basis erkannter letzter Einheit einerseits und des Rechtes der  religiösen Eigenart anderseits zu echter  inhaltlicher Tole‐ranz zu führen.«40 Das  christliche  Abendland  hat  sich  nach  Mensching  den  seelischen 

    Mächten weitgehend entfremdet. Es sei ein Versäumnis, daß sich die Wort‐führer  monotheistischer  Religionen  der  Philosophie  und  Weisheit  des Ostens nicht öffneten. Wahrheitsstreben sollte ohne traditionelle Vorurteile und egoistische Begrenzungen »die Völker vereinen und auf diesem Wege 

    39  Mensching, Gustav: Gut und Böse im Glauben der Völker, 21950 S. VIII. 40  Mensching, Gustav: Wesen  und  Bedeutung  der Religionswissenschaft  an  der Welt‐Universität,  Vortrag,  gehalten  am  07.12.1957  anläßlich  der  Arbeitstagung  in Stuttgart (1‐13), S. 13 f. 

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    zum Frieden führen. Echte Auseinandersetzung, in der jeder das beisteuert, was er als Bestes und Edelstes  in seiner Tradition besitzt,  ist nötig.«41 Die Kenntnis der Gedankenwelt anderer Religionen ist für das zwischenkultu‐relle  Verständnis  unerläßlich.  Dies  bezieht  sich  auf  die  Relationen  aller Religionsgemeinschaften untereinander, nicht nur auf das Zusammenleben von Christen und Nichtchristen in Europa. Johan Galtung schlägt die Ein‐richtung  einer Weltuniversität  vor.  Für  ihn  ist  die Weltuniversität  »der Versuch,  ein  transnationales  Institut  zu  schaffen,  an dem die Loyalitäten des Lehrkörpers und der Studenten einen allgemeinen, nicht einen natio‐nalen Charakter haben würden. Schon die Struktur einer solchen Univer‐sität sollte für die Friedensforschung von besonderem Interesse sein.«42 

    Gedanken zu den Grenzen der Toleranz Es  ist  eine  schwierige Frage, wo Toleranz  aufhört und wie  ihre Grenzen bestimmt werden können. Was bedeutet eine einseitige Grenzbestimmung praktisch? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diese Grenze auch demjeni‐gen gegenüber zu rechtfertigen, dessen Standpunkt  jenseits dieser Grenze liegt? Welche  Formen  der Konfliktaustragung  und der  Bekämpfung  von Intoleranz  sind  tragbar, welche nicht? Wie  sieht die moralische,  religiöse und politische Grenze der Toleranz  im Vergleich der Kulturen und Reli‐gionen aus? Wo  liegt der Referenzmaßstab,  sollte es überhaupt einen ge‐ben,  für die Spannbreite an  Ideen, Theorien, Handlungen und Praktiken, die wir  tolerieren wollen, und wo wird  er verletzt? Wer definiert diesen Maßstab, und wer manipuliert ihn? Welche Rolle spielt dabei legitime und nicht legitime Machtausübung? Wie lauten die Antworten der bestehenden Religionswissenschaft auf diese Fragen? Es  ist ein Faktum, daß eine apriorische Grenzbestimmung der Toleranz, 

    die für alle Zeiten und Zonen absolute Gültigkeit besitzen soll, die Einheit‐lichkeit und Ungeschichtlichkeit menschlicher Handlungen, ein universali‐stisches Menschenbild,  eine  universalistische  Ethik  sowie  die  Gleichheit 

    41  Mensching, Gustav: Weltreligion, Weltkultur und Weltzivilisation  (1967),  2. Aufl., 

    in: Aufsätze und Vorträge zur Toleranz‐ und Wahrheitskonzeption, Würzburg 2002 (325‐347), S. 290. 

    42  Galtung,  Johan: Probleme  der Friedenserziehung, hrsg. v. Christoph Wulf, Frank‐furt/Main 1973 (23‐44), S. 38. 

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    der natürlichen, sozial‐strukturellen, politischen und ökonomischen Bedin‐gungen voraussetzen würde. Die Bestimmung von Toleranzgrenzen  ist ein Prozeß mit vielen Dimen‐

    sionen. Es muß  immer mit beachtet werden, ob hinter aktuell werdenden Toleranzfragen Verteilungskonflikte stehen, die ethnisiert werden, um sie nicht mehr als  solche  erkennbar und kritisierbar zu machen. Die kanadi‐sche ›Multikulturalitätsdebatte‹, die seit 1971 geführt wird, wäre in diesem Zusammenhang der Betrachtung wert. Es gilt auch zu analysieren, unter welchen  empirischen  gesellschaftlichen Bedingungen die Toleranzproble‐matik einen Stellenwert bekommt, wie z.B. der rituelle Dolch der Sikhs bei einem  kanadischen  Polizisten  oder  das  Kopftuch  an  französischen  und deutschen Schulen. Die Grenzen der Toleranz müssen in einen interkulturellen und interreli‐

    giösen Zusammenhang gebracht und unter soziokulturellen und ethnolo‐gischen Gesichtpunkten  analysiert werden. Dies  bedeutet  praktisch,  daß wir das Welt‐ und Menschenbild, die historische Bedingtheit vieler Gepflo‐genheiten und die  religiösen Vorstellungen und Praktiken der Völker ge‐nau kennen müssen. Grundvorstellungen, Gebote und Verbote, auch Prin‐zipien der Rechtsstaatlichkeit sind nicht deckungsgleich. Allein diese Tatsache macht deutlich, daß die Grenzen der Toleranz von 

    einer begrenzten Verschiebbarkeit geleitet sind, da Völker unterschiedliche Wertvorstellungen  haben.  Durch  die  Berücksichtigung  handlungsprakti‐scher Grenzen und  systembedingter Kontingenzen wird  es möglich,  eine anwendungsfähige  interkulturelle Struktur  zu  entwickeln, die  sich  in die komplexe interkulturelle Praxis umsetzen läßt. Auf der politischen Ebene nähern sich die Arbeit der Vereinten Nationen 

    und  die  des Weltsicherheitsrats  einem  solchen Verfahren  an. Diese Gre‐mien  bestimmen, wann  ein  Staat  die  Interessen  der Weltgesellschaft  zu verletzen droht und dieses Verhalten nicht gebilligt werden kann. Der Um‐setzung eines solchen Diskurses steht allerdings entgegen, daß die ständi‐gen Mitglieder des Weltsicherheitsrats über Vetorechte verfügen und meist strategisch handeln. Häufig  ist  eine  Seite  entschlossen,  ihren  Standpunkt oder ihre Interessen unter allen Bedingungen durchzusetzen. Der anderen Seite bleibt nur die Wahl, Widerstand zu leisten oder sich zu unterwerfen. Macht  agiert  auf  der  Basis  einer  ›doppelten Anthropologie‹:  einer An‐

    thropologie erster Ordnung, nämlich der eigenen, und einer zweiten Ord‐

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    nung,  nämlich der des Anderen, des  Fremden. Die Anthropologie  erster Ordnung ist stets auf paternalistische Bevormundung aus, paradoxerweise auch auf die Gefahr hin, daß sie sich dabei selbst schadet. Hier handelt es sich um eine partikuläre Anthropologie, die sich selbst verabsolutiert und die schon immer ein Problem der praktischen Politik war.43 

    Interreligiöser Dialog Interreligiöser Dialog  gehört  neben  der  Toleranz  zu  den  zentralen Auf‐gaben einer  interkulturell orientierten Religionswissenschaft. Das  Idealer‐gebnis einer jeden interreligiösen bzw. interkulturellen Kommunikation ist nicht der Sieg des Einzelnen, sondern die Lösung der entstandenen Kon‐flikte auf der Grundlage reziproken Verstehens. Wenn aber eine Seite ent‐schlossen  ist,  ihren  Standpunkt  unter  allen  Bedingungen  durchzusetzen, dann bleibt der anderen zwangsläufig die Wahl, sich entweder zu unter‐werfen  oder Widerstand  zu  leisten.  Der  praktizierte  Paternalismus  der ›Koalition der Willigen‹ im Irak ist ein Beispiel und die Folgen kennen wir. Interreligiöser Dialog ist von einer dialogischen Komplementarität gelei‐

    tet, der alle Gesprächspartner als gleichberechtigt ansieht und ihnen einen gleichen Freiheitsspielraum zubilligt. Sie ermöglicht mehrere aufeinander abgestimmte und ineinander verflochtene Kommunikationsmöglichkeiten. Ein grundsätzliches Problem der Kommunikation ist der Absolutheitsan‐

    spruch. Hier geht  es darum, die  eigene  Idee, die  eigene Philosophie, die eigene politische Meinung, die eigenen kulturellen Werte oder die eigene Religion  für  die  ausschließliche Wahrheit  zu  halten.  Liegt  dieser  Tatbe‐stand vor,  so wird nicht mehr gesagt: das  ist meine  Idee, meine Philoso‐phie, meine politische Meinung, meine kulturellen Werte oder meine Reli‐gion, sondern: das ist die Idee, die Philosophie, die politische Meinung, die kulturellen  Werte  und  die  Religion.  Daß  derartige  Einstellungen  zur strukturellen Gewalt führen können, liegt in der Natur der Sache. Um einen Dialog zu ermöglichen, könnte die Praxis einer einschließen‐

    den Differenz hilfreich sein. Bei der ausschließenden Differenz nimmt sich eine  bestimmte  Gruppe  oder  ein  bestimmtes Mitglied  das  Recht,  durch totalitäre  oder  vorgefaßte  ideologische  Forderungen  den  Freiheitsspiel‐

    43  Vgl. Yousefi, H. R. und  Ina Braun:  Interkulturelles Denken  oder Achse  des Bösen, 

    2005 S. 263. 

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    raum einer Gruppe oder eines bestimmten Mitglieds  festzulegen oder zu begrenzen.  Macht  wird  hier  zum  Argument,  zu  einer  Instanz,  die  be‐stimmt, was  legitim bzw.  illegitim  ist. Sie diktiert  im Grunde genommen die Spielregeln und bestimmt die Rahmenbedingungen auf allen Ebenen. Die einschließende Differenz  ist das Pendant zu dieser Orientierung.  In 

    einer derartigen  Interaktionsform  ist nicht mehr zugelassen, daß  eine be‐stimmte Gruppe das Gleichheitsprinzip verletzt. Sie geht von der ›Einheit aus der Vielfalt‹ aus. Einheitlichkeit, welche die ausschließende Differenz anstrebt,  ist  hingegen  stets  gewaltgeladen.  Dieses  Spannungsfeld macht deutlich,  daß  es  eine  konfliktfreie  Interaktionsform  nicht  gibt  und  auch nicht geben kann, weil der Mensch oft bewußt oder unbewußt konfliktiv denkt und handelt. Die Beachtung der Semantik spielt in jeder Kommunikation eine wichtige 

    Rolle, weil  sie  häufig  ein Mißverständnispotential  nach  sich  zieht.  Dies hängt  damit  zusammen,  daß  die Kommunikationspartner  in  einer  inter‐kulturellen  Kommunikationssituation  die Wörter  so  verwenden, wie  sie diese  im  Laufe  ihrer  Sozialisation  in  spezifischen  kulturellen  Kontexten erlernt  haben.  Dabei  können  semantisch  bedingten  Störungen,  Mißver‐ständnissen  oder  Konflikten  entstehen.  Um  bestimmte  Handlungen  des Fremden zu verstehen, benötigen wir neben der intrakulturellen Sozialisa‐tion auch die interkulturelle Art derselben, welche die Interkulturalisierung der  Semantik  voraussetzt.  Interkulturelle  Semantik  beschreibt  diese  Stö‐rungen,  die  in  der  Regel  durch  einen  kulturspezifischen Wortgebrauch verursacht sind.44 

    Dimensionen der interkulturellen Religionswissenschaft lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Interkulturelle Religionswissenschaft ist keine wertneutrale Disziplin und geht als ein

    vielschichtiges Programm, von der Annahme aus, daß es eine reine eigene Religion ebensowenig gibt wie eine reine andere Religion;

    2. Interkulturelle Religionswissenschaft gibt eine konzeptuelle Antwort auf die Frage, wozu Religionswissenschaft zu betreiben ist;

    3. Interkulturelle Religionswissenschaft beschreibt den Einfluß religiöser und kultureller Gegebenheiten auf Gesellschaften;

    44  Vgl.  hierzu Kühn,  Peter:  Interkulturelle  Semantik  (Interkulturelle  Bibliothek  Bd. 

    38), Nordhausen 2006. 

  • 47

    4. Interkulturelle Religionswissenschaft ist anthropologisch-humanwissenschaftlich ausgerichtet;

    5. Interkulturelle Religionswissenschaft ist keine Weltanschauungslehre; 6. Interkulturelle Religionswissenschaft nimmt das Heilige als individuelle Wahrnehmung

    des Menschen ernst und betreibt eine Religionswissenschaft der Mitte. Sie negiert so-mit die Verschlossenheit der Transzendenz und plädiert für das Offensein derselben;

    7. Interkulturelle Religionswissenschaft stellt die Wesensfrage und nicht die Wahrheits-frage innerhalb der Religionen;

    8. Interkulturelle Religionswissenschaft distanziert sich von jeglichem exklusivistischen Absolutheitsanspruch der Religionen;

    9. Interkulturelle Religionswissenschaft erstrebt keine Indoktrination und keinen Kultur- und Religionsrelativismus;

    10. Interkulturelle Religionswissenschaft greift als mittlere Orientierung auch auf die Ge-schichte der Fremdwahrnehmungen und Vorurteilsbildungen zurück;

    11. Interkulturelle Religionswissenschaft ist eine angewandte, praxisorientierte Wissen-schaft, welche die Theorie aus der Praxis gewinnt;

    12. Interkulturelle Religionswissenschaft ist Schul- und Weltbegriff zugleich; 13. Interkulturelle Religionswissenschaft untersucht, aufbauend auf den Erkenntnissen der

    interkulturellen Philosophie, die Gründe zwischenkultureller Geringschätzungen, die zu Gehäusedialog und Gehäusetoleranz führen;

    14. Interkulturelle Religionswissenschaft erkennt Zentren an, lehnt aber den Zentrismus ab;

    15. Interkulturelle Religionswissenschaft erstrebt eine Kontinuität in Zusammenarbeit mit anderen angewandten Disziplinen;

    16. Interkulturelle Religionswissenschaft ist von analogischer Hermeneutik geleitet und bedient sich der Methode der kulturellen Selbst-Fremdreflexion;

    17. Interkulturelle Religionswissenschaft will ethnizistisches Denken und Handeln überwinden. Demzufolge weist sie eine kategorische Geographisierung des Denkens in einem holistischen und analytischem Kulturkreis zurück;

    18. Interkulturelle Religionswissenschaft betreibt eine komparatistische Ethik, fördert Toleranzkompetenz und Toleranzkultur, welche die Grundlage eines umfassenden Dialogs bilden;

    19. Interkulturelle Religionswissenschaft arbeitet auch phänomenologisch und ist multilateral dialog- und verständigungsorientiert;

    20. Interkulturelle Religionswissenschaft besitzt bei ihren Toleranz- bzw. Dialogforderun-gen auch normative Züge;

    21. Interkulturelle Religionswissenschaft distanziert sich von einer zweiwertigen Logik im Bereich der Kulturerscheinungen und ist keine indifferentistisch operierende Welt-theologie;

    22. Interkulturelle Religionswissenschaft fördert die theoretische und praktische Urteils-kraft sowie die moralische Kompetenz;

    23. Interkulturelle Religionswissenschaft sucht keinen Konsens, sondern stets den Kompromiß;

  • 48

    24. Interkulturelle Religionswissenschaft fördert die eigene religiöse oder kulturelle Überzeugung durch kontrastierende Interpretation;

    25. Interkulturelle Religionswissenschaft intendiert fremde Kulturen so zu verstehen, wie diese sich selbst verstehen;

    26. Interkulturelle Religionswissenschaft analysiert implizite und kulturell bedingte Denk-weisen und kritisiert Stereotype der Selbst- und Fremdwahrnehmung;

    27. Interkulturelle Religionswissenschaft hält die Interkulturelle bzw. Interreligiöse Kom-petenz für einen konstitutiven Bestandteil der Kommunikation;

    28. Interkulturelle Religionswissenschaft weist jede Form von religiösem, alleinseligma-chendem Totalitarismus, der mit physischer und psychischer Gewalt einhergeht, zu-rück;

    29. Interkulturelle Religionswissenschaft distanziert sich von jeglicher Form von religi-ösem Tendenzjournalismus, der Ängste schürt und strukturelle Gewalt mitverursacht.

    Literaturangabe: Yousefi,  Hamid  Reza:  Interkulturelle  Religionswissenschaft.  Struktur  – Gegenstand  –  Aufgabe,  in:  Wege  zur  Religionswissenschaft.  Eine interkulturelle  Orientierung:  Aspekte,  Grundprobleme,  Ergänzende Perspektiven,  hrsg.  v. Hamid Reza Yousefi, Klaus  Fischer,  Ina  Braun  und Wolfgang Gantke, Nordhausen 2007 (21‐48). 

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