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gesta Die Welt erzählt … Die schönsten Geschichten – ausgewählt von Hermann Hesse Das älteste Märchen- und Legendenbuch des Mittelalters R oma n orum

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  • gesta

    Die Welt erzählt … Die schönsten Geschichten – ausgewählt von Hermann Hesse

    Das älteste Märchen- und Legendenbuch des Mittelalters romanorum

  • »Die Gesta Romanorum sind eine Sammlung von Erzählungen, Le-genden und Anekdoten, von Geistlichen mit moralischen Nutzan-wendungen versehen, welche im späten Mittelalter in ganz Europaals unterhaltende und erbauliche Lektüre sehr verbreitet waren. . . .Gewählt wurde natürlich nicht nach moralischen Werten, sondernrein nach der Schönheit der Erzählungen, wobei weder auf die Lieb-haber von Pikanterien noch auf prüde Seelen besonders Rücksichtgenommen wurde.« Hermann Hesse

    Dieser Band versammelt eine von Hermann Hesse vorgenommeneAuswahl aus dem großen Märchen- und Legendenbuch, das als einesder bedeutendsten Volksbücher des europäischen Mittelalters gilt undbis heute eine wahre Fundgrube für all diejenigen ist, die sich für denReichtum europäischer Erzähltradition begeistern.

    Hermann Hesse, am 2. Juli 1877 in Calw/Württemberg als Sohn einesbaltendeutschen Missionars und der Tochter eines schwäbischen In-dologen geboren, 1946 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis für Litera-tur, ist am 9. August 1962 in Montagnola bei Lugano gestorben.

    Seine Bücher, Romane, Erzählungen, Betrachtungen, Gedichte, po-litischen, literatur- und kulturkritischen Schriften sind mittlerweilemit einer Gesamtauflage von 100 Millionen Exemplaren in aller Weltverbreitet und haben ihn zum meistgelesenen europäischen Autor des20. Jahrhunderts in den USA, Japan und Korea gemacht.

  • insel taschenbuch 4145Gesta Romanorum

  • gestaRomanorum

    Das älteste Märchen- und Legendenbuchdes christlichen Mittelalters

    AUSGEWÄHLT VON HERMANN HESSE

    Insel Verlag

  • Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt der1915 im Insel Verlag erschienenen Übersetzung von J. G. T. Graesse.

    Umschlagabbildungen: Pierre Justin Ouvrié,Das Schloss von Pierrefonds, 1863, Foto: akg-images; ullstein Bild

    Erste Auflage 2012insel taschenbuch 4145Insel Verlag Berlin 2012

    Für das Vorwort von Hermann Hesse: © Insel VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

    des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

    ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

    vervielfältigt oder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

    Umschlag: bürosüd, MünchenSatz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

    Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

    ISBN 978-3-458-35845-9

  • gesta Romanorum

  • ZUR EINFÜHRUNG

    Die Gesta Romanorum sind eine Sammlung von Erzählungen,Legenden und Anekdoten, von Geistlichen mit moralischenNutzanwendungen versehen, welche im späteren Mittelalterin ganz Europa als unterhaltende und erbauliche Lektüre sehrverbreitet waren. Ursprünglich waren wohl alle diese Geschich-ten,wie der Titel sagt, der römischen Geschichte und Sage ent-nommen, mit der Zeit kam eine Reihe von späteren Anekdo-ten und Heiligenlegenden hinzu.

    Der Verfasser oder Kompilator sowie die Heimat diesesseltsamen und einflußreichen Buches ist unbekannt.

    Es gibt nicht viele wichtige Werke der älteren Literatur,überwelche so viel geforscht und geschrieben wurde und über dieman doch so erstaunlich wenig weiß. Für Mutmaßungen isthier nicht der Ort; es sei darum in kürzesten Worten das We-nige mitgeteilt, was wir über die Gesta Romanorum wirklichwissen.

    Die älteste Handschrift der lateinischen Gesta Romanorumist englischer Herkunft und stammt aus dem Jahre 1342. Vonda bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts finden sich sehr zahlrei-che, meist lateinische Handschriften, die alle untereinandersehr stark abweichen, daneben einige englische und deutscheÜbersetzungen oder Nachbildungen, die zum Teil Neues ent-halten,währenddie Übersetzungen in andre Sprachen nurWie-dergaben der lateinischen Texte sind. Man nimmt nun an, dieGesta seien nach 1300 in England oder Deutschland entstan-den; über den Urheber ist nichts bekannt, die paar gelehrtenVermutungen hierüber sind ohne Überzeugungskraft. Gewißist nur, daß das moralische Anekdotenbuch sich überall, be-sonders aber in Deutschland, einer großen Beliebtheit erfreu-te, sehr viele Male abgeschrieben, bearbeitet, gedruckt wurde.

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  • Mit der Reformation verschwindet es allmählich,und ein Teilseiner beliebtesten Stoffe ging in die damaligen frühen Fas-sungen der sogenannten deutschen Volksbücher über. Von derMitte des 16. Jahrhunderts an, wenn nicht früher, scheinendie Gesta rasch in Vergessenheit gesunken zu sein.

    Die Übersetzung, die wir vorlegen, stammt von Johann Ge-org Theodor Graesse und ist zuerst im Jahre 1842 erschienen.Versuchsweise habe ich auch eine alte deutsche Übersetzung,aus dem 15. Jahrhundert, verglichen. Aber es schien mir füreinen Dichter unsrer Tagekeine wünschenswerteAufgabe, einearchaisierende Nachbildung jenes alten deutschen Textes her-zustellen; auch scheint mir die Übersetzung Graesses durchauslesbar, treu und gar nicht ohne Reiz zu sein, und so begnügteich mich mit einer Auswahl aus Graesses Text. Gewählt wurdenatürlich nicht nach moralischen Werten, sondern rein nachder Schönheit der Erzählungen, wobei weder auf die Liebha-ber von Pikanterien noch auf prüde Seelen besonders Rück-sicht genommen wurde. Die Auswahl der Erzählungen, dieSchaffung zahlreicher neuer Überschriften und die schonen-de Kürzung einiger weniger allzu umfangreicher Geschichtenstellen meine persönliche Arbeit dar; alles übrige ist wörtlichvon Graesse übernommen. Gelehrte der neueren Zeit, unterdenen Oesterley als bester Kenner genannt sei, haben gelegent-lich ein wenig mißachtend über Graesse gesprochen; ihr Urteilmag gerecht sein, soweit es den Graesseschen Mutmaßungenüber Herkunft und Autor der Gesta gilt – über seine Überset-zung wüßte ich nur Lobendes zu sagen.

    Die lateinische Literatur des deutschen und englischenMittelalters ist überaus wenig mehr bekannt. Die langen mo-ralischen Anhängsel einstiger mönchischer Herausgeber habeich zum Teil weggelassen. Hingegen sei es mir erlaubt, in die-ser neuen Auflage des Buches nun auch die Schlußsätze mei-

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  • nes Vorwortes wegzulassen, in welchen ich von »jenen dun-keln Jahrhunderten«, aus welchen die Gesta stammen, etwasoberflächlich gesprochen habe. Inzwischen hat sich nicht nurbei mir, sondern in der ganzen geistigen Welt eine Wandlungvollzogen,wir sehenWeltundGeschichte inneuenZusammen-hängen, und Werte sind uns sichtbar geworden, welche frü-her jenseits unsres Horizontes lagen. Als das schönste Zeichenund Zeugnis dieser Wendung sei hier das Buch eines Jüng-lings mit Anerkennung genannt, »Die Welt des Mittelaltersund wir« von P. L. Landsberg. Auch Spenglers Werk hat mirviele neue Betrachtungsmöglichkeiten gezeigt.

    Montagnola, im Juni 1923Hermann Hesse

  • DER KLARE BACH

    Es war ein König Otto, in dessen Reiche ein leichtsinnigerPriester lebte, der gar häufig seine Untergebenen beunruhigteund einen gar großen Anstoß bei vielen gab. Nun war abereiner unter seinen Pfarrkindern, der niemals bei der Messesein wollte, wenn jener sie feierte. Da geschah es an einem Fei-ertage, daß er gerade zur Zeit der Messe auf dem Felde spazie-ren ging und so dürstete, daß es ihm vorkam, als wenn er ster-ben müsse, könnte er nicht seinen Durst löschen. Nun begabes sich aber, daß er beim Gehen an einen gewissen Bach vomklarsten Wasser kam, aus dem er, sobald er ihn erblickt hatte,sogleich zu schöpfen und tüchtig zu trinken begann. Als eraber davon gekostet hatte, so bekam er immer größeren Durst,je mehr er trank; darüber wunderte er sich und sprach zu sichselbst: ›Ich will die Quelle dieses Bächleins aufsuchen, damitich aus ihr trinke.‹ Während er aber hin spazierte, da begeg-nete ihm ein sehr schöner Greis und sprach zu ihm: »Mein Lie-ber, wo gehst du hin?« Der aber sprach: »Ich empfinde einenunglaublichen Durst: ich fand ein Wasserbächlein, aus wel-chem ich trank, und je mehr ich trank, desto durstiger wardich. Darum suche ich die Quelle dieses Bächleins, auf daßich aus ihr trinke, ob ich vielleicht so meinen Durst löschenmag.« Da sagte der Greis: »Siehe, hier ist die Quelle, aus wel-cher das Bächlein herauskommt; aber sage mir doch, warumdu nicht mit den andern Christen die Messe hörst?« Der aberantwortete: »Herr, wahrhaftig,unser Pfarrer führt ein abscheu-liches Leben, und ich glaube, daß er nicht eine lautere undgottgefällige Messe feiert.« Hierauf sprach der Greis: »Mag esso sein, wie du sagst; aber hier ist die Quelle, aus welcher dassüße Wasserbächlein entspringt, aus dem du getrunken hast.«Da sah sich jener um und erblickte einen räudigen Hund mit

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  • offnem Maule, durch dessen Zähne und geöffneten Rachenauf wunderbare Weise der Springquell herausquoll. Als er dasdeutlich erkannt hatte, da erschrak er sehr und wurde bestürzt;er schauderte am ganzen Leibe und wagte aus Ekel nicht zutrinken und dürstete doch außerordentlich. Dies sah der Greisund sprach zu ihm: »Fürchte dich nicht, weil du aus diesemBache getrunken hast: das wird dir keine Beschwerden verur-sachen.« Als jener das hörte, so trank er, löschte seinen Durstund sprach: »O Herr, nie hat ein Mensch so süßes Wasser ge-trunken.« Da sagte der Greis: »Siehe, gleichwie dieses Wasserdurch das Maul dieses räudigen Hundes fließt und doch seineeigentümliche Farbe und Geschmack behält, nicht beschmutztoder verändert wird, so, mein Lieber, ist es mit der Messe, diedurch einen unwürdigen Priester gefeiert wird. Und darum,wie sehr dir auch der Lebenswandel solcher Priester mißfal-len mag, sollst du dennoch ihre Messe hören.« Als der Greisdas gesagt hatte, verschwand er, und jener offenbarte andern,was er gesehen hatte, und hörte nachher mit Frömmigkeitdie Messe und brachte dieses vergängliche und unbeständigeLeben zu einem seligen Ende: worauf er von diesem dem Un-tergange unterworfenen Leben zu einemunveränderlichen ge-führt wurde. Dieses aber möge uns allen gewähren Jesus Chri-stus, Mariä Sohn.

    VON EINER UNLAUTERN LIEBE

    Es gab einen Kaiser, der eine schöne Frau hatte, welche er garsehr liebte. Diese empfing aber im ersten Jahre ihrer Ehe undgebar einen Sohn, welchen sie als Mutter gar sehr liebte undsogar jede Nacht in einem Bette mit ihm schlief. Als er aberdrei Jahre alt war, da starb der König, und über den Tod des-

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  • selben erhob sich ein großes Wehklagen. Auch die Königin be-weinte seinen Tod viele Tage; als sie ihn aber dem Grabe über-geben hatte, da lebte sie in einem gewissen Schlosse und hatteihren Sohn bei sich. Sie liebte aber den Knaben so, daß sie seineGegenwart nicht entbehren konnte, und beide schliefen be-ständig beisammen, bis der Knabe das achtzehnte Jahr über-schritten hatte. Und als der Böse eine so große Liebe zwischeneiner Mutter und ihrem Sohne sah, da reizte er sie zu einerGottlosigkeit, so daß der Sohn seine Mutter erkannte. Die Kö-nigin aber empfing alsbald; aber als sie schwanger war, da ver-ließ ihr Sohn das Reich aus Betrübnis und begab sich in ferneWeltteile. Indessen gebar die Mutter, als ihre Stunde gekom-men war, einen sehr schönen Knaben; allein kaum sah sie ihngeboren, als sie ihn auch ermordete, indem sie ihm die Kehleabschnitt. Es fiel aber Blut aus der Kehle des Kleinen auf dielinke Hand der Königin,und es wurden vier runde Kreise vondieser Gestalt: o o o o. Die Königin aber konnte durch keineKunst diese Kreise von ihrer Hand wegbringen, und darumscheute sie sich so, daß sie beständig einen Handschuh trug,damit diese Kreise nicht zu sehen wären. Nun war diese Köni-gin gar sehr der heiligen Jungfrau ergeben, schämte sich aberso sehr, daß sie von ihrem eigenen Sohne ein Kind bekommenund dasselbe getötet hatte, daß sie deshalb durchaus nichtbeichten wollte, und beichtete allezeit nur fünfzehn ihrer üb-rigen Sünden. Nun verteilte aber diese Königin aus Liebe zurheiligen Maria reichliches Almosen und wurde von allen ge-liebt und war bei allen angenehm. Nun begab es sich aber ineiner Nacht, daß ihr Beichtvater vor seinem Bette auf denKnien lag und sein Ave Maria hersagte. Da erschien ihm dieheilige Jungfrau und sprach: »Ich bin die Jungfrau Maria undhabe dir etwas Geheimes zu verkündigen.« Darüber freute sichder Beichtiger sehr und sprach: »O teuerste Herrin, sage dei-

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  • nem Knechte, was dir gefällig ist.« Sie aber sprach: »Die Köni-gin dieses Reichs ist dein Beichtkind, und doch hat sie eineSünde begangen, welche sie dir aus allzu großer Scheu nichtzu entdecken wagt. Am morgenden Tage wird sie zu dir zurBeichte kommen, sage ihr von mir, daß ihre Almosen und Ge-bete vor das Angesicht meines Sohnes gekommen und von ihmangenommen worden sind. Ich befehle ihr aber, daß sie dirvon jener Sünde beichte,welche sie heimlich in ihrer Kammerbegangen hat, da sie ihren einzigen Sohn tötete. Ich habe fürsie gebeten, und ihre Sünde ist ihr verziehen, wenn sie beich-ten will. Wenn sie sich aber bei deinen Worten nicht beruhi-gen will, so bitte sie, daß sie den Handschuh von ihrer Linkenablege, und du wirst auf ihrer Hand die begangene und nichtgebeichtete Sünde sehen; und wenn sie auch das nicht will, soziehe ihr den Handschuh mit Gewalt ab.« Bei diesen Wortenverschwand die Jungfrau Maria. Am Morgen aber beichtete dieKönigin demütig alle Sünden mit Ausnahme dieser einzigen.Als sie ihm aber alles,was ihr gefiel, gesagt hatte, da sprach ihrBeichtiger: »Herrin und geliebteste Tochter, die Leute spre-chen vielerlei, warum du an deiner linken Hand einen Hand-schuh trügest: zeige mir kühnlich deine Hand, damit ich sehenkann, ob etwas an ihr verborgen ist, was Gott nicht gefällt.«Jene aber sprach: »Herr, meine Hand ist nicht gesund, unddarum will ich sie Euch nicht zeigen.« Als er jedoch das hörte,da nahm er sie beim Arme, zog trotz dem, daß sie nicht wollte,ihr den Handschuh ab und sagte: »Herrin, fürchte dich nicht,die heilige Jungfrau Maria, welche dich zärtlich liebt, hat mirbefohlen, also zu tun.« Als er aber die geöffnete Hand sah, er-blickte er vier blutrote und runde Kreise: im ersten Kreise standviermal c c c c, im zweiten viermal d d d d, im dritten viermalm m m m und im vierten viermal r r r r. Um die Kreise herumstand wie auf einem Petschaft eine rote Umschrift, die folgen-

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  • de Worte enthielt, und zwar zuerst um die vier c : »Casu Ceci-disti Carne Caecata« (durch Zufall bist du gefallen, von fleisch-licher Lust verblendet), bei den d : »Daemoni Dedisti DonaDonata« (du hast dich dem Bösen als Geschenk gegeben),bei den m: »Monstrat Manifeste Manus Maculata« (dies zeigtoffenbar deine Hand mit den Flecken) und bei den r : »ReceditRubigo Regina Rogata« (die roten Flecken gehen weg, wenndie Königin befragt worden ist). Als das die Königin gesehenhatte, fiel sie ihrem Beichtiger zu Füßen und beichtete demü-tig mit Tränen ihre begangene Sünde. Als sie nun Vergebungihrer Sünden erhalten und Buße getan hatte, da entschlief sienach wenigen Tagen in dem Herrn, und über ihren Tod erhobsich ein großes Wehklagen im Lande.

    VOM LEBEN DES HEILIGEN ALEXIUS,DES KAISERS EUFEMIANUS SOHN

    Es gab einen gewissen Kaiser, in dessen Reiche, d. h. dem rö-mischen Staate, ein gewisser Jüngling Alexius lebte, der Sohneines sehr edeln Römers namens Eufemianus und eines der Er-sten am kaiserlichen Hofe. Diesen umgaben dreitausend Skla-ven, die mit goldnen Gürteln umgürtet und seidnen Gewän-dern bekleidet waren. Es war aber der ebengenannte Eufemia-nus sehrbarmherzig,und jedenTagwaren in seinemHause dreiTafeln für Arme, Waisen, Fremde und Witwen gerüstet, wel-che er eifrig bediente; und um die neunte Stunde nahm erselbst mit frommen Männern sein Mahl in der Furcht desHerrn zu sich. Er hatte aber eine Frau namens Abael, welchegleiche Gottesfurcht und Gesinnung hegte. Da sie aber kei-nen Sohn hatten, so schenkte ihnen Gott auf ihr Bitten einensolchen, worauf sie sich fest vornahmen, von nun an in lauter

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  • Keuschheit zu leben. Der Knabe ward also den Lehrern derfreien Künste übergeben,um in ihnen unterwiesen zu werden.Als er nun in allen Künsten der Weltweisheit sich auszeichneteund schon zum männlichen Alter gekommen war, ward einMädchen aus der kaiserlichen Familie ausgewählt und mitihm als Gattin verbunden. Nun kam die Nacht: in dieser be-obachtete er mit seiner Vermählten erst ein geheimnisvollesStillschweigen, dann aber begann sie der heilige Jüngling inder Furcht des Herrn zu unterweisen und gab ihr seinen gol-denen Siegelring und die Spange seines Degengehenks,womiter umgürtet war, aufzuheben, indem er also sprach: »Nimmdies und bewahre es, solange es dem Herrn gefällt, und derHerr sei mit uns!« Hierauf aber begab er sich zum Meere, undals er heimlich ein Schiff bestiegen hatte, gelangte er bis Lao-dicäa und von da weiter nach Edessa, einer Stadt in Syrien,woein Bild unsres Herrn Jesus Christus,ohne menschliche Arbeitgemacht, auf einer Leinwand bewahrt wurde. Als er dahin ge-kommen war, verteilte er alles, was er mit sich gebracht hatte,an die Armen und fing an, in schlechten Kleidern mit andernBettlern sich an die Pforte der Kirche Mariä, der Mutter Got-tes, zu setzen. Von den Almosen aber behielt er nur so viel fürsich zurück, als für ihn hinreichen mochte, das übrige aberschenkte er andern Armen. Sein Vater aber, der die Entfernungseines Sohnes schwer beweinte, sandte durch alle Teile derWelt seine Diener aus, auf daß sie ihn fleißig aufsuchen soll-ten. Als nun aber von diesen etliche zur Stadt Edessa gekom-men waren, wurden sie zwar von ihm erkannt, allein, da sieihn nicht erkannten, so teilten sie an ihn ebenso wie an dieandern Armen Almosen aus,welches er annahmund Gott alsodankte: »Herr, ich danke dir, daß du mich vonmeinen SklavenAlmosen empfangen läßt.« Die Diener nun kehrten zurückund meldeten, daß er nirgends gefunden werden könne. Seine

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  • Mutter nun legte vom Tage seines Wegganges einen Sack aufden Boden ihres Schlafzimmers, wo sie wehklagend und wei-nend also sprach: »Hier will ich immer in Trauer verharren,bis ich meinen lieben Sohn wiederhaben werde.« Die Gemah-lin desselben aber sprach zu ihrer Schwiegermutter: »Bis ichvon meinem süßen Bräutigam hören werde, will ich wie eineTurteltaube bei dir bleiben.« Als nun aber Alexius in genann-ter Kirchenvorhalle siebzehn Jahre im Dienste Gottes verharrthatte, da sprach das Bild der heiligen Jungfrau, welches dortwar, zu dem Wächter des Tempels: »Laß den Mann Gottes her-einkommen,weil er würdig ist des Himmelreichs und der Geistdes Herrn auf ihm ruht.« Als aber der Wächter nicht wußte,von wem sie sprach, sagte sie abermals zu ihm: »Der ist es,wel-cher draußen in der Halle sitzt.« Da ging der Wächter eilendshinaus und führte ihn in die Kirche. Als aber dieser Vorgangallen bekannt worden war und er von jeglichem verehrt zuwerden begann, da entfernte er sich von dort,weil er irdischenRuhm meiden wollte. Er bestieg aber ein Schiff, und da ernach Tarsus im Cilicien segeln wollte, kam das Schiff durchdie Leitung Gottes, von Stürmen verschlagen, in den Hafenvon Rom. Als Alexius dieses wahrnahm, sprach er zu sichselbst: ›Ich will unerkannt in dem Hause meines Vaters blei-ben und niemandem lästig fallen.‹ Er begegnete aber seinemVater, der aus dem Palaste kam und von einer Menge Dienerumgeben war, und fing an, ihm laut nachzurufen: »KnechtGottes, befiehl, daß ich, der ich fremd bin, in deinem Hauseaufgenommen werde,und laß mich von den Brosamen deinerTafel speisen, auf daß der Herr sich auch deines Sohnes, wel-cher in der Fremde ist, erbarmen wolle.« Als das der Vater ge-hört hatte, befahl er, ihn um seines Sohnes willen zu sich auf-zunehmen, gab ihm in seinem Hause einen besonderen Platz,setzte ihm Speise von seiner Tafel vor und wies ihm einen eig-

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  • nen Diener an. Jener aber beharrte im Beten und kasteite sei-nen Leib mit Fasten, und die Diener des Hauses verspottetenihn und gossen ihm häufig schmutziges Aufwaschwasser aufden Kopf; er aber war bei alledem gar sehr geduldig. So bliebdenn Alexius siebzehn Jahre unerkannt im Hause seines Va-ters, und als er sah, daß das Ende seines Lebens in der Nähewar, verlangte er Papier und Tinte und setzte seinen ganzenLebenslauf auf. Am Sonntag aber nach der Feier der Messeertönte in dem Allerheiligsten eine Donnerstimme vom Him-mel herab: »Kommet zu mir alle, die ihr arbeitet und beladenseid!« Als das aber alle hörten, fielen sie auf ihr Antlitz nieder,und siehe da, die Stimme sprach zum zweiten Male: »Suchetden Mann Gottes, auf daß er für Rom bete!« Jene aber suchtenund fanden nicht, und wiederum hieß es: »Suchet im Hausedes Eufemianus!« Als der aber befragt wurde, sagte er, er wissevon nichts. Da kamen die Kaiser Arkadius und Honorius mitdem Papste Innozenz zu dem Hause des genannten Mannes,und siehe, die Stimme des Dieners von Alexius gelangte zuihrem Herrn und lautete also: »Siehe zu, o Herr, ob das nichtunser Fremder sein mag, der ein Mann von hohem Alter undGeduld ist.« Da lief Eufemianus hin zu ihm, fand ihn aberschon verblichen, und sein Gesicht sah er gerötet wie einesEngels Antlitz, und er wollte das Papier, welches jener in derHand hatte, nehmen, aber er konnte es nicht. Als er aber hin-ausging und dieses dem Kaiser und dem Papste hinterbrachthatte und jene zu ihm hineingetreten waren, sprachen sie: »Wirsind allzumal Sünder. Indessen führen wir das Steuerruderdes Reichs und haben die gemeine Sorge für das Hirtenamt.Gib uns also das Papier, damit wir wissen, was auf demselbengeschrieben steht.« Der Papst aber trat zu ihm, nahm das Pa-pier in seine Hand und gab es alsbald wieder weg und ließ esvor allem Volke und seiner Umgebung und dem Vater dessel-

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