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„Mehr als Marketing“: Vom einfachen Tauschhandel zur Manipulationsindustrie Ein Fachartikel von Christian Thunig, Managing Partner INNOFACT AG Teil 1: Wie entstand das Marketing? Angefangen hatte alles mit dem Tauschhandel. Dort traten zwei komplementäre Güterinhaber einander gegenüber, um ihren aktuellen und akuten Bedarf zu decken. Später, so ab dem sechsten Jahrhundert vor Christus kam das Geld als systematisches Zahlungsmittel in den Warenverkehr. Das löste viele Probleme, weil nun der Warenübergang viel ein- facher und zeitunkritischer wurde. Unabhängig davon ging es aber in jedem Falle um Bedürf- nisbefriedigung und eine echte Problemlösung: der eine brachte Ware, die der andere brauchte. Im vorletzten Jahr- hundert transformierten die meisten Märkte: von einem Verkäufermarkt in einen Käufermarkt. Die Macht lag also nicht mehr beim Wareninhaber, der mehr oder weniger die Warenverteilung organisierte, sondern beim Käufer, der mit wachsender Auswahl seinerseits Druck auf die Verkäufer ausüben konnte. Das war in den 1960er Jahren. Damit wurde Marktbearbeitung seitens der Unternehmen entscheidend. Marketing wurde zu einer wichtigen Disziplin und begann sich als Führungsfunktion zu etablieren. Gleich- zeitig kam in den USA, wo das Marketing bereits etwas wei- ter gediehen war, schon die ersten Zweifel auf. Das Buch „Die geheimen Verführer“ von Vance Packard 1957 be- schworen ein Bild der bewussten Täuschung mit allen psy- chologischen Tricks herauf. „Das Bild der geheimen Verführer und ihrer durch Mani- pulation gefundenen Opfer halte ich für eine Unter- schätzung menschlicher Rationalität.“ (Nida-Rümelin) Im Grunde hat sich die Disziplin davon nie wieder richtig erholt. In der Gesellschaft hat sich etwas verfestigt wie: Marketing manipuliert und macht, dass Menschen Dinge kaufen, die sie nicht brauchen. Abgesehen davon, dass sich diejenigen, die so etwas behaupten selbst als völlig willen- los darstellen, wäre Marketing dann einfach und Unterneh- mersein ein Traum, da man jedem alles verkaufen könnte. Allein, es funktioniert nicht. Der Philosoph, Staatsminister a.D. und Wirtschaftsethiker Julian Nida-Rümelin äußerte sich in der absatzwirtschaft 1-2/2017 folgendermaßen: „Das Bild der geheimen Verfüh- rer und ihrer durch Manipulation gefundenen Opfer halte ich für eine Unterschätzung menschlicher Rationalität.“ Davon abgesehen: Wer legt die Bedürfnisreferenzlinie fest, was Menschen brauchen und was nicht? War das Bedarfsni- veau vor 10.000 Jahren perfekt, als die Menschen im Über- gang zur Landwirtschaft waren oder um 1820 als das erste echte weltweite Wirtschaftswachstum überhaupt startete oder nach dem 2. Weltkrieg, als es allen wieder besser ging und sich bald jeder einen VW-Käfer leisten konnte? Hätte hier einer der vielen Autoren, die gerne das Wachstum gei- ßeln, aufstehen wollen, um zu sagen: OK, Schluss jetzt, wir haben alles. Sind Wohlstand und Wachstum per se unan- ständig? Wer legt die Bedürfnisreferenzlinie fest, was Menschen brauchen und was nicht Wer bestimmt, welche Produkte gut sind und welche schlecht? Leider ist das ja auch eine beliebige Fokussierung: große Autos sind schlecht, Entwicklung in der Medizin nicht. Die marktorientierte Forschung und Entwicklung, die dem Marketing vorausgeht und gleichzeitig inhärenter Teil dessen ist, führt zu immer höherer Lebenserwartung, weil die me- INNOFACT AG – das Marktvorsprungsinstitut INNOFACT ist ein Full Service-Marktforschungsinstitut Christian Thunig, Managing Partner

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„Mehr als Marketing“: Vom einfachen Tauschhandel zur Manipulationsindustrie

Ein Fachartikel von Christian Thunig, Managing Partner INNOFACT AG

Teil 1: Wie entstand das Marketing?

Angefangen hatte alles mit dem Tauschhandel. Dort traten zwei komplementäre Güterinhaber einander gegenüber, um ihren aktuellen und akuten Bedarf zu decken. Später, so ab dem sechsten Jahrhundert vor Christus kam das Geld als systematisches Zahlungsmittel in den Warenverkehr. Das löste viele Probleme, weil nun der Warenübergang viel ein-facher und zeitunkritischer wurde.

Unabhängig davon ging es aber in jedem Falle um Bedürf-nisbefriedigung und eine echte Problemlösung: der eine brachte Ware, die der andere brauchte. Im vorletzten Jahr-hundert transformierten die meisten Märkte: von einem Verkäufermarkt in einen Käufermarkt. Die Macht lag also nicht mehr beim Wareninhaber, der mehr oder weniger die Warenverteilung organisierte, sondern beim Käufer, der mit wachsender Auswahl seinerseits Druck auf die Verkäufer ausüben konnte. Das war in den 1960er Jahren.

Damit wurde Marktbearbeitung seitens der Unternehmen entscheidend. Marketing wurde zu einer wichtigen Disziplin und begann sich als Führungsfunktion zu etablieren. Gleich-zeitig kam in den USA, wo das Marketing bereits etwas wei-ter gediehen war, schon die ersten Zweifel auf. Das Buch „Die geheimen Verführer“ von Vance Packard 1957 be-schworen ein Bild der bewussten Täuschung mit allen psy-chologischen Tricks herauf.

„Das Bild der geheimen Verführer und ihrer durch Mani-pulation gefundenen Opfer halte ich für eine Unter-schätzung menschlicher Rationalität.“ (Nida-Rümelin)

Im Grunde hat sich die Disziplin davon nie wieder richtig erholt. In der Gesellschaft hat sich etwas verfestigt wie:

Marketing manipuliert und macht, dass Menschen Dinge kaufen, die sie nicht brauchen. Abgesehen davon, dass sich diejenigen, die so etwas behaupten selbst als völlig willen-los darstellen, wäre Marketing dann einfach und Unterneh-mersein ein Traum, da man jedem alles verkaufen könnte. Allein, es funktioniert nicht.

Der Philosoph, Staatsminister a.D. und Wirtschaftsethiker Julian Nida-Rümelin äußerte sich in der absatzwirtschaft 1-2/2017 folgendermaßen: „Das Bild der geheimen Verfüh-rer und ihrer durch Manipulation gefundenen Opfer halte ich für eine Unterschätzung menschlicher Rationalität.“

Davon abgesehen: Wer legt die Bedürfnisreferenzlinie fest, was Menschen brauchen und was nicht? War das Bedarfsni-veau vor 10.000 Jahren perfekt, als die Menschen im Über-gang zur Landwirtschaft waren oder um 1820 als das erste echte weltweite Wirtschaftswachstum überhaupt startete oder nach dem 2. Weltkrieg, als es allen wieder besser ging und sich bald jeder einen VW-Käfer leisten konnte? Hätte hier einer der vielen Autoren, die gerne das Wachstum gei-ßeln, aufstehen wollen, um zu sagen: OK, Schluss jetzt, wir haben alles. Sind Wohlstand und Wachstum per se unan-ständig?

Wer legt die Bedürfnisreferenzlinie fest, was Menschen brauchen und was nicht

Wer bestimmt, welche Produkte gut sind und welche schlecht? Leider ist das ja auch eine beliebige Fokussierung: große Autos sind schlecht, Entwicklung in der Medizin nicht. Die marktorientierte Forschung und Entwicklung, die dem Marketing vorausgeht und gleichzeitig inhärenter Teil dessen ist, führt zu immer höherer Lebenserwartung, weil die me-

INNOFACT AG – das Marktvorsprungsinstitut INNOFACT ist ein Full Service-Marktforschungsinstitut

Christian Thunig, Managing Partner

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dizinische Versorgung besser wird (auch weil auf diesem Markt natürlich Gewinne locken) und die Autos zwar immer größer, aber auch immer sicherer werden. Welche Errungen-schaften wollte man wirklich wieder rückgängig machen: das gilt im Übrigen auch für Windenergie und Wasserkraft-werke.

Man macht es sich zu leicht, in dem man wieder zurück in die Höhle möchte. Eine Bemerkung, die immer wieder ger-ne fällt, ist, dass Menschen von sich sagen, dass sie eigent-lich nicht viel zum Leben brauchen. Das ist aber, um mit dem Schweizer Schriftsteller Rolf Dobelli („Kunst des klaren Denkens“) zu sprechen, eine Fokussierungsillusion. Sie fo-kussieren auf ein oder zwei Produkte. Was meinen Men-schen und mithin Konsumenten, wenn sie das sagen? Stel-len sie den Kauf von Kleidung, Autos, Häuser oder Küchen ab? Wenn man sich seinen Alltag vor Augen führt, sieht man nämlich unmittelbar, wie viel man braucht. Und das ist im Zweifel nicht wenig und hat sich über die Menschheitsge-schichte entwickelt.

Wenn man also darangeht, das Marketing und die Nutz-losigkeit des Konsums zu geißeln, sollte man konse-quenterweise den gesamten Alltag betrachten.

Menschen haben immer den Drang gehabt, sich weiterzu-entwickeln, vom Jäger und Sammler, über den Bauern bis zum industriellen Zeitalter. Und hierin eingeschlossen sind auch Kunst und Kultur, Musik, Architektur oder Sprache. Ge-sprochene Sprache war ein immenser Gewinn. Hinzu kam die geschriebene, gedruckte und zuletzt der digitale Aus-tausch in Echtzeit. Wozu eigentlich? Braucht das einer? Wenn wir also darüber reden, dass die Menschheit sich gerne ge-genseitig nutzlose Dinge „verkauft“ hat, dann müssen wir auch über diese Themen reden. Kein Mensch braucht Ölge-mälde, Rockmusik oder schöne Häuser – oder in der Vergan-genheit prächtige Schlösser oder Kathedralen (wahrschein-lich eine „Marketingmasche“ der Kirche?). Doch sie machen Menschen glücklich. Insofern ist die Konsumwelt nicht nutz-loser oder nützlicher als Kunst und Kultur. Wenn man also darangeht, das Marketing und die Nutzlosigkeit des Kon-sums zu geißeln, sollte man konsequenterweise den gesam-ten Alltag betrachten.

Teil 2: Die Sündenfälle des Marketings

Aber wir müssen auch ehrlich feststellen: Viele haben an der „Nutzlosigkeit“ des Marketings mitgearbeitet. Dies läßt sich leider auch in einer Studie („The Loss of the Marketing De-partment’s Influence: Is It really Happening? And Why Worry?“) von den Marketing-Professoren Christian Homburg, Arnd Vomberg und Margit Enke feststellen, die 1996 und in einer Wiederholung 2013 die Bedeutung der Marketingab-teilung in Unternehmen untersuchten. Sie konstatierten: Der Bedeutungsverlust beim Marketing ist im Vergleich zu den anderen Unternehmensbereichen am höchsten. Und: Insbe-sondere in den für den Erfolg als hoch relevant erachteten Bereichen Pricing, Neuproduktentwicklung und strategische Entscheidungen verliert das Marketing erheblich. Was könn-ten Gründe sein? Das Marketing oder die Treiber der Diszi-plin haben einige entscheidende Fehler gemacht. Sie haben dem Marketing die Substanz und strategische Dimension geraubt, so dass das Marketing in den Ruf kam, eher die leichte Muse innerhalb der Unternehmensfunktionen zu sein. Zum anderen hat man zugelassen, dass das Marketing eine Abteilung wurde. Das führte dazu, dass die Marketer

nicht mehr den Zugriff auf die gesamte Wertschöpfungsket-te hatten, sondern nur noch den kommunikativen „Zucker-guss“ lieferten, nachdem das Produkt bereits fertig war. Mit beiden Entwicklungen will ich mich im Folgenden beschäfti-gen:

Die Banalisierung des Marketings Erstaunlich und völlig unerklärlich ist, dass Marketingent-scheider es zugelassen haben, dass ihre Disziplin so verkürzt wurde. Allein, wenn man das Marketing im Handel an-schaut, ein Bereich, der auch eher als unsexy gilt, dann wird schnell klar, welche Komplexität das Marketing zu bewälti-gen hat: von Sortimentssteuerung und Category Manage-ment über Vermeidung von Out-of-stock-Situation, Abstim-mung von Kommunikation mit Distribution, (dynamische) Preisstellung und in Zeiten von E-Commerce bis hin zur Syn-chronisierung mit dem Warenbestand in Zentrallagern, in Filialen und dem oder den Online-Shops.

Das sind Projekte, die im Zweifel Jahre dauern mit Beratern und Systemhäusern angegangen werden und sehr teuer sind. Ist das ein Job für den ITler, den Controller, den Perso-naler oder den CEO? Nein, genau das ist der Job eines Mar-keters. Er muss sich mit den Kommunikationskanälen, mit IT (zumindest wissen, was dort möglich ist), mit Beschaffungs-ketten und letztlich mit den Bedürfnissen am Markt ausken-nen.

In meiner Tätigkeit als Chefredakteur der absatzwirtschaft hat mich das eigentlich immer gewundert, dass es keinen Widerstand gegen die Banalisierung gegeben hat: Zum ei-nen, dass Marketing häufig in der unternehmerischen Praxis mit Werbung und Kommunikation gleichgesetzt wurde und wird und zum anderen, dass in der ganzen Branche definito-risch immer sehr lax mit Begrifflichkeiten umgegangen wurde. Das häufigste Phänomen war, neue Begriffe für alte Sachverhalte zu prägen. Allein die Verwirrung um die Kon-zepte im Zeitablauf wie Dialogmarketing, One-to-One und Customer Relationship Management (ist es IT-Lösung oder Philosophie?) konnte und kann man einem Außenste-henden aber durchaus im Management arbeitenden kaum vermitteln. Später kam der Begriff Customer Centricity auf, was wiederum dem CRM sehr nahe steht, aber definitiv eine Haltung und Philosophie gegenüber dem Kunden zum Ausdruck bringt. Wenn man dann noch bedenkt, dass Mar-keting eigentlich das Konzept und die Philosophie zum Markt hin denken und zum Markt hin handeln bedeutet, fragt man sich, warum das Marketing immer neue Ausdrü-cke braucht, für einen Grundkonsens, auf den sich die Bran-che dann doch letztlich – und das ist die gute Nachricht – immer wieder einigen konnte. Es geht schlicht und einfach um den Kunden.

Laxe Begriffsdefinitionen, Vermengung von operativen und strategischen Ebenen: Das Marketing ist der Banali-sierung anheimgefallen

Was das Marketing ebenfalls verwässert hat, ist die Ver-mengung von operativen Tätigkeiten mit der strategischen Ebene, die sich in begrifflichen Kreationen wie Newsletter-Marketing, E-Mail-Marketing, Affiliate Marketing und vielen mehr wiederfinden. Ein weiterer schwerwiegender Sünden-fall ist die Prägung des Begriffs „Marketing-Automation“, denn es impliziert zwei Bedeutungsebenen: Die erste, dass es möglich ist, wenn der Begriff das auch nicht ursächlich

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meint, Marketing in irgendeiner Form zu einem autonom agierenden System machen zu können. Die zweite, dass eine Funktion, die im Presales angesiedelt ist, nämlich re-gelbasiertes digitales Leadmanagement zu machen, mit Marketing assoziiert wird. Generell muss man übrigens kon-statieren, dass die Digitalisierung das Marketing tüchtig disruptiert hat und das ist nicht immer nur gut. Ein Tech-crunch-Artikel von Samuel Scott aus dem Jahre 2016 „How Google Analytics ruined Marketing“ bringt das sehr schön auf den Punkt: „Marketers in the high-tech world who use phrases such as „social media marketing“, „Facebook mar-keting“ and „content marketing“ do not understand the basic difference between marketing strategies, marketing channels and marketing content. And Google Analytics is to blame.“

Der Artikel beschreibt sehr schön, wie eine Entwertung der strategischen Anlage von Marketing stattgefunden hat. Auf der anderen Seite wurden, um der Vielfalt der Kanäle ge-recht zu werden und vielleicht auch Teile des Marketings aufzuwerten (oder das Negativ-Image abzustreifen?) immer neue Job-Bezeichnungen geprägt: auf der CMO-Ebene so etwas wie Growth Manager oder Revenue Officer und auf der operativen Ebene so etwas wie Content Marketing Ma-nager, Inbound Marketing Manager, Community Manager, SEO-Manager, usw.

Auch gibt es kaum eine Branche, die ihr eigenes Wissen so gerne selbst vergisst. Nur ein Beispiel: Die Erkenntnisse, die der Saarbrücker Professor Kroeber-Riel in den 1970er zum Thema Kundenpsychologie und -verhalten schöpfte, waren wegweisend. Aber erst der US-Professor Daniel Kahneman (Langsames Denken, schnelles Denken) musste kommen, um das Thema Psychologie unter dem Begriff „Behavioral Economics“ wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Dabei war diese Entwicklung so wichtig und hätte gerade auch in Deutschland größeren Raum bekommen müssen. Das Ver-halten von und bei Entscheidungen ist sozusagen der Schlüssel für das Marketing. Ein Mangel der Disziplin ist si-cherlich auch, dass es eine deskriptive Wissenschaft ist. Auch wenn immer wieder versucht wird, erfolgreiches un-ternehmerisches Handeln in eine Erfolgsformel zu gießen – es funktioniert leider nicht, da die Umweltfaktoren derart unterschiedlich sind – von Unternehmen zu Unternehmen und von Zeitpunkt zu Zeitpunkt und von Mensch zu Mensch – dass eine Reproduktion von Erfolgsabfolgen schlicht unmög-lich ist. Nassim Taleb, sozusagen der Philosoph des Unge-planten und Unplanbaren (Der schwarze Schwan), geht in seinem Buch „Narren des Zufalls“ (2001) auf über 300 Sei-ten darauf ein, wie wenig wir letztlich planen können. Das betrifft übrigens fast alles im Leben. Dennoch versuchen Wissenschaft und Praxis immer wieder, Marketing zu syste-matisieren und Erfolgsketten zu entwickeln.

Die Verdammung des Marketings in Silos

Ein grundsätzlicher Fehler war auch, dass es irgendwann eine Marketingabteilung gab. Das hätte nie passieren dür-fen. Ein Unternehmen darf nicht die Verantwortung für den Markt in einer Abteilung abladen. Das ist zudem widersin-nig. Ein Unternehmen lebt von der Bedarfsdeckung. Das heißt, Unternehmen müssen (wieder) mit jeder Faser auf den Markt hören.

Das führt zu zwei Dingen: Unternehmen, die so groß sind, so dass das Marketing in eine Abteilung wegsperrt wird, sind

eigentlich zu groß und nicht mehr auf den Markt ausgerich-tet. Und: Unternehmen, die Marketing in eine Abteilung sperren, haben aufgehört auf den Markt zu hören. Gründer und Chairman von Simon-Kucher & Partner, Hermann Simon, belegt dies mit Zahlen und spricht davon, dass nur acht Pro-zent der Mitarbeiter aus Großunternehmen Kundenkontakt haben, im Gegensatz zu den mittelständisch strukturierten Hidden Champions mit 38 Prozent.

Kleine Unternehmen haben daher von Natur aus immer so große Chancen, alte Märkte aufzurollen und neue Märkte zu definieren, weil sie eigentlich immer mit dem Marketing beginnen: sie kommen über Bedürfnisse, die sie erkannt haben – und das häufig mit echter Leidenschaft. Besonders plakativ sind hier sicherlich die Start-ups aus dem Silicon Valley, die regelrecht mit einer Mission für die Menschheit starten. Man mag das für übertrieben halten: Fakt ist, dass sie durchdrungen davon sind, Kunden wirklich eine Lösung zu bieten.

Die Marketingabteilungen müssen raus aus der babylo-nischen Gefangenschaft

Sie arbeiten eben marktorientiert. Und das ist vielleicht eine Lösung: Wir sollten uns als Marketingbranche dringend die auch sehr gebräuchliche Definition von de marktorientierten Unternehmensführung (wieder) zu Eigen machen. Denn auch alle erfolgreichen Unternehmen der aktuellen Genera-tion haben eines gemeinsam: die Ausrichtung auf den Markt. Sie nennen es „Customer Centricity“. Um nichts ande-res geht es. Der Ausgangspunkt ist der Kunde. Amazon hat wie kaum ein anderes Unternehmen zuvor, die Leistungen um den Kunden gebaut – in einer bemerkenswerten Ganz-heitlichkeit von der Beschaffung, über die Logistik bis zum Aftersales. Amazon würde sofort unterschreiben, dass es marktorientiert handelt und geführt wird. Wenn man aller-dings Amazonler mit der Vokabel „Marketing“ konfrontiert, verweisen sie in den funktionalen Bereich, der insbesondere Kommunikation über die verschiedenen Kanäle macht.

Teil3: Die Lösung – kleinere Einheiten und substan-zielleres Marketing

Ex-Lufthansa und Conti-Vorstand Thomas Sattelberger, Ri-chard Straub, Präsident des Drucker Forum und Marketing-papst Heribert Meffert haben dies sehr plakativ in einer von Runde benannt, die ich auf der NextAct 2016 moderieren durfte. Der ganze Roundtable ist in der absatzwirtschaft Juli/August 2016 dokumentiert wie auch in Bewegtbild auf You-tube. Hier der wesentliche Dialogauszug zu diesem Teilthe-ma in voller Länge:

Heribert Meffert: „Meine Erfahrung in Bezug auf große Kon-zerne ist folgende: Wenn wir an die Flexibilisierung und Selbstorganisation der Kräfte glauben, dann brauchen wir kleinere Einheiten. Und auch die hierarchische Steuerung muss neu durchdacht werden, insbesondere unter dem Mar-ketingaspekt, integriert auf den Markt hinzuarbeiten. Start-ups, die mit einem Team von 30 bis 50 Leuten an den Markt gehen, haben es in dieser Hinsicht leichter als eine Unter-nehmung, die 50 000 Mitarbeiter hat. Hier sehe ich das Problem der Notwendigkeit der Anpassung von Steue-rungsmechanismen und die Notwendigkeit der Flexibilisie-rung der Organisation.“

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Richard Straub: „Ich meine, dass in der ganz großen Einheit, der Corporate World, ein massives Problem besteht. Im Rahmen der Digitalisierung und des Prozessmanagements tritt es immer deutlicher zutage und hat in der Kombination mit dem Shareholder Value, also einem kurzfristigen Blick auf Quartalszahlen, katastrophale Auswirkungen. Es stellt sich durchaus die Frage, ob diese Art der Corporations wei-terbestehen können. Beim Management kann man keine Rezepte vorschreiben. Ich zitiere Drucker in dem Sinne, dass es um systematische Überlegungen geht, wie man Dinge umsetzen kann. Aktuell gibt es neue Experimente, wie man diese Ungetüme von Großkonzernen besser managen kann, Stichwort Holacracy. Und es gibt Großkonzerne, die aus 100 kleinen Firmen bei einem vergleichsweise kleinen Corporate Center bestehen und sehr erfolgreich sind, wie zum Beispiel die Vinci Group. Meine Hoffnung ist, dass die Lösung aus dem in menschlichem Maß gebauten Unternehmen kommt – aus dem kleinen oder mittelständischen Unternehmen.“

Thomas Sattelberger: „Insofern ist es auch sehr plausibel, eine planmäßige, vom Vorstand durchgeführte Zerschlagung von VW zu fordern: die Reduktion eines Hauptquartiers auf eine relativ minimalistische Plattform und das Schaffen von kleineren Einheiten, die mit hoher Eigenständigkeit, unter-nehmerischer Verantwortung und Transparenz über die Fol-gen des Handelns am Markt operieren. Im Sinne von Über-lebensfähigkeit, der Resilienz, ist das aus meiner Sicht das einzige Zukunftsmodell für große Organisationen.“

Heribert Meffert: „Bei Innovationen liegen die Probleme häufig in der Diffusion der neuen Gedanken in die Gesell-schaft und in der Durchsetzung der Innovationen am Markt. Ein Unternehmen muss die Marktlücke finden und dorthin steuern. Entweder werden die guten Ideen dann von Kon-zernen eingekauft oder die Unternehmen finden Ansätze in Netzwerken und schaffen es gemeinsam, eine Innovation erfolgreich in den Markt zu “

„Too big to fail“ kann man auch umkehren in „The fail is too big“, so dass er noch von einer oder sogar mehreren Volks-wirtschaften abgefedert werden könnte.

Die Vokabel Resilienz ist dabei sehr spannend. Nassim Taleb entwickelt das zum Konstrukt der Antifragilität, die sehr viel mehr bedeutet als Resilienz, aber die Grundidee ist diesel-be: Große Einheiten haben außerordentliche Schwierigkei-ten, sich an neue Bedingungen schnell anzupassen. Große Konzerne beobachtet man seit Jahren dabei, wie sie von Restrukturierungswelle zu Restrukturierungswelle wanken und praktisch immer wieder von Entwicklungen überholt werden. Man spricht hier gerne davon, dass sich Unterneh-men mit sich selbst beschäftigen, was die Situation recht genau beschreibt. Und noch etwas beschreibt Nassim Taleb sehr eindrücklich: große, die Wirtschaft dominierende Kon-zerne bringen das Wirtschaftssystem immer mehr in Schwie-rigkeiten, zumal wenn sie selbst Probleme bekommen, da sie aufgrund ihrer Größe das Gesamtsystem Wirtschaft in Gefahr bringen. „Too big to fail“ kann man auch umkehren in „The fail is too big“, so dass er noch von einer oder sogar mehreren Volkswirtschaften abgefedert werden könnte.

Er hält daher ein Plädoyer für kleinere Einheiten, die sich über alle Organisationen in krisenhaften Situationen in ihren Auswirkungen innerhalb eines Wirtschaftskreislaufes wieder neutralisieren. Im Grunde hat man das an der Bankenkrise gesehen: Eine einzelne Bank (Lehman Brothers) kann schon

weltweit für Ausschläge und eine dramatische Krise sorgen. Das muss die Wirtschaft der Zukunft in den Griff bekommen. Und noch etwas anderes muss die Wirtschaft in den Griff bekommen: die moralischen Ansprüche.

2. Lösung: Substanzielles Marketing

Es klingt zunächst etwas abwegig: Die Ethik sollte aktiv als bewusst zu gestaltender Prozess ins Marketing einziehen. Hier liegt die große Chance, das Ruder herumzureißen und Marketing aufzuwerten. Warum? Beim Konsum ist das Be-lohnungszentrum aktiv. Bei austauschbaren Produkten, Qua-litäten und Preisen wird es schwer, dies noch zu aktivieren. Konsum muss also mehr sein, als nur Bedürfnisbefriedigung durch Güter. Kurz vor seinem Tod 1970 hat Maslow sein Modell noch erweitert und als oberste Stufe der neuen Py-ramide die „Transzendenz“ ergänzt; also nach einer das individuelle Selbst überschreitenden Dimension.

Damit war er durchaus visionär, denn genau an diesem Punkt stehen wir heute. Konsumenten (und Arbeitnehmer) fordern zunehmend im Konsum Sinn ein – sozusagen als USP. Insofern avanciert ethisch vertretbares Verhalten zu einem Wettbewerbsvorteil. Das klingt zunächst etwas ein-fach und naiv, aber der härteste Nachweis dieser Aussage ist, dass Unternehmen längst angefangen haben, sich darauf einzustellen. Auch wenn die eine oder andere Aktivität noch wie Greenwashing daherkommt: Ein Anfang ist gemacht und die Unternehmen und auch die Konsumenten dürfen jetzt nicht nachlassen, ethische marktorientierte Unterneh-mensführung einzufordern – aber sachlich. Nida-Rümelin ordnet den Zusammenhang zwischen Produktion, Konsum und Ressourcenverbrauch in der absatzwirtschaft sehr nüch-tern ein:

Es gibt Wirtschaftsethiker, die recht kämpferisch unterwegs sind. Der Konsum sei ungerecht verteilt in der Welt und füh-re zu Schieflagen insbesondere im Ressourcenverbrauch: So gehe beispielsweise SUV-Fahren in der Gesamtbilanz des Verbrauchs der Erde am Ende zulasten der jeweils anderen. Ich lehne die Behauptung ab, man dürfe Waren nur wegen ihres unmittelbaren Gebrauchswertes haben wollen und das Marketing verbinde Waren mit Lifestyle und werte sie da-durch zu Unrecht auf. (…) Ernst zu nehmen ist dagegen der Punkt, dass wir häufig ökologisch rücksichtslos und unnöti-gerweise produzieren und konsumieren. Muss man einen Geländewagen in der Stadt fahren? Konsumenten haben eine gewisse Verantwortlichkeit. Es ist Teil des Ethos zu fra-gen, wie ich meinen Beitrag dazu leisten kann, dass wir effizienter mit Ressourcen umgehen. (Nida-Rümelin)

Wenn ich in Nachhaltigkeit investiere, ist das keine Wohltätigkeit, sondern eine Businessentscheidung. Nachhaltigkeit ist die Effizienz von morgen (Faber)

Und einige Unternehmen haben das bereits verstanden und bemühen sich zunehmend nachhaltig zu wirtschaften – und zwar eben nicht aus Gutmenschentum, sondern weil es Menschen einfordern, also ein konkreter Bedarf vorhanden ist. Man könnte sogar sagen: Es ist ein Markt vorhanden. Zuletzt hatte sich ein ganz großer zu Wort gemeldet: Dano-ne-Chef Emmanuel Faber will in gentechnikfreie Joghurt und pflanzliche Alternativen investieren. Viele Menschen be-schäftigten sich wieder mit der Herkunft und Wert ihrer Nahrung (…) die Branche aber drohe das Vertrauen der Kunden zu verlieren, so Faber. Wollte Danone sich diesem

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Wandel anschließen, „müssen wir den Leuten helfen, die Kontrolle darüber zurückzugeben, was sie essen und trinken “ Das bedeutet für Danone der Verzicht auf genmanipulier-tes Kuhfutter und die Kontrolle über eine Fläche von 65.000 Hektar Anbaufläche mit konventionellen Pflanzen. Dass der eigene Hedgefonds Corvex dagegen mehr Effizienz fordert, scheint den Danone-Chef erst einmal hinten an zu stellen. Es gibt wichtigeres oder wie er es ausdrückt: „Wenn ich in Nachhaltigkeit investiere, ist das keine Wohltätigkeit, son-dern eine Businessentscheidung. Nachhaltigkeit ist die Effi-zienz von morgen“ Egal ob Adidas, Ritter Sport, Boss, Rü-genwalder Mühle, Volvo und viele mehr: Sie haben ange-fangen, ihre Geschäftsmodell und ihre Produktion zu über-denken. Und es gibt viele Unternehmen wie der Outdoor-Bekleidungshersteller Vaude, der Schuhproduzent Geox oder die GLS Gemeinschaftsbank, die längst auf dem Weg sind. Dabei zeigt sich auch hier: gerade viele mittelständische Unternehmen machen hier die Pace, weil sie wesentlich schneller agieren können. Und wie geht es weiter?

Das Marketingprogramm für das Marketing Und das ist die Richtung für die kommenden Jahre. Wir müs-sen uns auf den Weg machen, um

๏ in den Organisationen Nähe zum Markt Wirklichkeit werden zu lassen

๏ der Banalisierung Einhalt zu gebieten und definitorisch sauber zu arbeiten und dem Marketing seine Substanz (zurückzu-)geben,

๏ und ethisch verantwortlich zu handeln. Wir befinden uns in einer Gesellschaft, die Sinn einfordert. Das ist der neue USP. Hier gibt es meiner Ansicht nach noch einen Verkäufermarkt. Aber wie gesagt: Viele Unternehmen haben schon verstanden, dass es marktorientiert ist, mit Verantwortung und Ethik zu handeln. Wir bewegen uns in eine Sinnökonomie hinein. Der Ausbruch aus der babyloni-schen Gefangenschaft aus der Banalisierung und den Silos kann beginnen.

Epilog: Es liegt aber auf der Hand, dass im Marketing ein gewisses Maß an Ethos erforderlich ist, damit die Dinge nicht aus dem Ruder laufen. (Julian-Nida-Rümelin)

Über die INNOFACT AG

Die 2001 gegründete INNOFACT AG ist ein Full Service-

Marktforschungsinstitut und einer der Markt- und Qualitäts-

führer für Online-Befragungen in Deutschland.

INNOFACT hat direkten Zugriff auf über eine halbe Million

deutsche Verbraucher in eigenen Panels. Das Kundenspek-

trum reicht von internationalen Konzernen bis zu regionalen

Mittelständlern.

Profil

๏ Über 100 Mitarbeiter(innen) in der INNOFACT-Gruppe

๏ Standorte in Düsseldorf, Berlin, Zürich, Lengerich

๏ Über 1.000 Projekte pro Jahr

๏ Eigenes IT-Team und innovative IT-Lösungen

๏ Eigenes CATI-Studio in Düsseldorf

๏ Selbständiges und inhabergeführtes Institut

๏ Mitglied bei ESOMAR, BVM und DGOF

INNOFACT AG Neuer Zollhof 3 40221 Düsseldorf

phone: +49 211 - 86 20 29 0 fax: +49 211 - 86 20 29 210

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