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Inhaltsverzeichnis Per Bergamin, Hanna Muralt Müller und Christian Filk Editorial 7 Christian Doelker Start Making Sense 13 Zur informationsphilosophischen Verortung von OER Per Bergamin und Christian Filk Open Educational Resource (OER) 25 Ein didaktischer Kulturwechsel? Hanna Muralt Müller Neue Kultur der Auswertung von Wissen 39 Open-Source-Software, Open Access und Open Educational Resources Andreas König Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien 73 Patricia Arnold Open Educational Resources und Communities of Practice 101 Herausforderungen und Erfolgsfaktoren bei der gemeinschaftlichen Entwicklung freier Bildungsressourcen Marco Bettoni, Willi Bernhard und Gabriele Schiller Community-orientierte Strategien zur Integration 125 von Forschung und Lehre Andrea Helbach Von der Bibliotheca Universalis zur elektronischen Universalbibliothek? 147 Zu den Autorinnen und Autoren 173

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Inhaltsverzeichnis

Per Bergamin, Hanna Muralt Müller und Christian Filk

Editorial 7

Christian Doelker

Start Making Sense 13

Zur informationsphilosophischen Verortung von OER

Per Bergamin und Christian Filk

Open Educational Resource (OER) – 25

Ein didaktischer Kulturwechsel?

Hanna Muralt Müller

Neue Kultur der Auswertung von Wissen 39

Open-Source-Software, Open Access und Open Educational Resources

Andreas König

Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien 73

Patricia Arnold

Open Educational Resources und Communities of Practice 101

Herausforderungen und Erfolgsfaktoren bei der gemeinschaftlichen

Entwicklung freier Bildungsressourcen

Marco Bettoni, Willi Bernhard und Gabriele Schiller

Community-orientierte Strategien zur Integration 125

von Forschung und Lehre

Andrea Helbach

Von der Bibliotheca Universalis zur elektronischen

Universalbibliothek? 147

Zu den Autorinnen und Autoren 173

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Per Bergamin und Christian Filk

Open Educational Resources (OER) – Ein didaktischer Kulturwechsel?

Verschafft man sich einen auch nur kursorischen Überblick über die jüngeren Ent-

wicklungen in den einschlägigen Diskursen des E-Learning und seiner diversen

Teilbereiche, so stößt man unweigerlich auf den Begriff der «Open Educational

Resources» (OER). Dabei wird man feststellen können, dass die aktuellen Diskus-

sionen um offene, frei zugängliche Bildungsinhalte (einschließlich freie Lehr-/

Lernmaterialien, freie Lehr-/Lernsoftware und freie Lizenzen) engagiert, mit-

unter auch kontrovers geführt werden. Mithin entwickelt sich ein Spektrum wi-

dersprüchlicher Positionen um das Pro und Kontra von OER: Auf der einen Seite

sehen Befürworter darin das Potenzial einer längst überfälligen niederschwelligen

Nutzung freier, webbasierter Ressourcen in der postindustriellen Gesellschaft, um

Wissen aktiv und kooperativ zu teilen. Eines der Hauptargumente zielt dabei auf

eine Verbesserung der Wertschöpfung ab, insofern in einer OER-Community der

Innovationsgrad höher sei, wenn Wissen frei geteilt wird: «The users are freely

revealing their knowledge and, thus, work cooperatively» (Larsen/Vincent-Lan-

crin 2005, S. 16).

Auf der anderen Seite sehen Kritiker in Open Educational Resources allenfalls

ein technologisch, institutionell, ökonomisch und nicht zuletzt instruktionspsy-

chologisch ineffektives und ineffizientes Angebot, das kaum zu der propagierten

qualitativen Hebung des Lern- und Wissensniveaus beitrage. Bei Baumgartner

und Zauchner (2007, S. 57) wird die Gegenpostion zu den Open Educational

Resources so zusammengefasst, dass Kritikerinnen und Kritiker nicht müde wür-

den, die schlechte Umsetzung und (kultur-)imperialistische Hintergedanken, wie

etwa eine möglichen Sozialisierung der Welt mit MIT-Inhalten, zu beanstanden.

Sie erwähnen aber auch, dass derzeit noch viele Lerninhalte aus einem Syllabus,

also einer Zusammenstellung von Überschriften zu Inhalten, bestünden und erst

noch weiterentwickelt werden müssten.

In jüngster Zeit entwickeln sich zunehmend auch vermittelnde Positionen

wie etwa die von Andy Lane, dem Leiter des bekannten «OpenLearn»-Projek-

tes der britischen Open University, der unterschiedliche, nebeneinander existie-

rende Märkte postuliert. Lane geht davon aus, dass es auch für Wissensressour-

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Offene Bildungsinhalte

cen einen ökonomischen Markt für Ideen, Produkte und Dienstleistungen gibt.

Während ein ökonomischer Markt nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung

funktioniert, werden die Ressourcen in einem sozialen Markt ohne Bezahlung

transferiert – und dies ungeachtet des folgenden Umstandes: «both [der ökono-

mische wie der soziale Markt; P.B./C.F.] beeing mediated by a public economy»

(Lane 2008, S. 2).

Der gegenwärtige Diskurs zu Copyrights und Lizenzierungsmodellen geht

noch einen Schritt weiter. Die Autoren der OLCOS-Studie1 (vgl. Geser 2007,

S. 59) weisen auf einen signifikanten Sachverhalt hin: Über eine Auswertung der

Backlinks2 bei der Suchmaschine von Yahoo lässt sich zeigen, dass unter den «Crea-

tive Commons»-Lizenzen3 zwei Drittel der lizenzierten Inhalte eine kommerzielle

Nutzung dezidiert ausschließen. Gerade hier ist zu vermuten, dass Urheberin-

nen und Urheber der Open-Educational-Resources-Bewegung bewusst und ge-

zielt Einfluss auf die Verbreitung von freien Bildungsinhalten nehmen wollen und

so eine Chance verbauen, die Nachhaltigkeit der entwickelten Lernmaterialien zu

sichern (Downes 2007, Tuomi 2006), da eine erhöhte Durchlässigkeit der oben

angesprochenen Märkte für OER in dieser Hinsicht prinzipiell von Vorteil wäre.

Die beiden Autoren dieses Aufsatzes (wie übrigens auch das Gros der Bei-

träger des vorliegenden Bandes) möchten dem zurzeit argumentativ geführten

Diskurs zu Open Educational Resources möglichst nüchtern begegnen, indem

konzeptuell, systematisch und empirisch der für manche Diskutanten provoka-

tiven Frage nachgegangen wird, ob – und gegebenenfalls inwieweit – OER eher

dem Teilen von Wissen dienen oder eher einer «neuen» Kultur zuzuordnen sind,

in der alles kostenlos konsumiert werden kann. Um die damit verbundenen Pro-

bleme, Positionen und Perspektiven eingehender erörtern zu können, müssen wir

1 OLCOS bedeutet Open e-Learning Content Observatory Services. Das Ziel der erwähnten Studie Roadmap 2012 besteht darin, Personen in entscheidenden Positionen einen Überblick über gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen im Bereich der Open Educa-tional Resources zu verschaffen und ihnen konkrete Empfehlungen an die Hand zu geben, wie Herausforderungen im OER-Kontext erfolgreich gemeistert werden können.

2 In dieser Untersuchung wurden, gestützt auf einen statistischen Generator, die registrier-ten Rückverweise (Stichdatum 26. November 2006) auf «Creative Commons»-Lizenzen respektive die entsprechenden URL gezählt. Mithilfe eines solchen Verfahrens kann der un-gefähre Nutzungsgrad bestimmter Lizenzformen prognostiziert werden. Allerdings kon-zedieren die Autoren der OLCOS-Studie, dass die Daten nicht ganz exakt sind, da mögli-cherweise durch die Applikation nicht alle Rückverweise erfasst wurden.

3 «Creative Commons» sind ein Lizenzierungsverfahren, das verschiedene graduelle Stufen der Offenheit von Ressourcen zulässt. Weitere Detailinformationen sind unter ‹www.creati-vecommons.org› zu finden.

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Per Bergamin und Christian Filk • Open Educational Resources

uns in einem ersten Schritt einen Überblick über die einschlägigen Grundlagen

von Open Educational Resources verschaffen.

Zunächst einmal bietet es sich an, den Begriff der «Open Educational Re-

sources» näher zu bestimmen und dann Fragestellungen, Problemstellungen und

Herausforderungen bei der Entwicklung, Produktion, Verbreitung und Nutzung

herauszuarbeiten. Mit der Diskussion der entsprechenden formalen, konzeptio-

nellen und organisatorischen Sachverhalte ist ein weiteres wesentliches Moment

untrennbar verbunden, nämlich die zentrale Frage: Gibt es oder entwickelt sich

eine spezifische Wissens- und Lernkultur um Open Educational Resources? Wel-

che Faktoren wirken sich förderlich oder hinderlich auf die Herausbildung eines

nachhaltig unterstützenden Umfeldes aus? In diesem Zusammenhang werden so-

wohl Erfahrungen von Personen und Organisationen zu berücksichtigen sein als

auch Szenarien möglicher Institutionalisierung und Implementierung von OER.

Begriffsbestimmung

Bedingt durch den Umstand, dass sich das interdisziplinäre Forschungsfeld der

Open Educational Resources als verhältnismäßig neu ausnimmt, hat sich hier bis-

lang unter Wissenschaftlern, Entwicklern und Anwendern noch kein allgemein

akzeptiertes Verständnis der freien Produktion und Distribution online-basierter

Lehr- und Lernmittel etablieren können. Die Prämissen, Terminologien, Konzepte

und Intentionen der an der Diskussion Beteiligten divergieren zurzeit noch sehr

stark. Als eine erste gleichermaßen plausible wie kohärente Annäherung an unseren

Gegenstand bietet sich die Definition des Centre for Educational Research and In-

novation (CERI 2007) an, das in seinem Bericht OER – Giving Knowledge for Free

für die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) Open Educatio-

nal Resources wie folgt charakterisiert: «Open educational resources are digitised

materials offered freely and openly for educators, students and self-learners to use

and reuse for teaching, learning and research» (S. 30). Jan Hylén hat zwei Jahre

zuvor in einer aufzählenden Form einen entsprechenden Definitionsversuch unter-

nommen: «By Open Educational Resources (OER) initiatives we understand:

1) open courseware and content;

2) open software tools (e. g. learning management systems);

3) open material for e-learning capacity building of faculty staff;

4) repositories of learning objects; and

5) free educational courses» (Hylén 2005, hier zitiert nach Downes 2007,

S. 30).

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Offene Bildungsinhalte

Diese additive Beschreibung enthält zwar eine notwendige, aber noch keine zu-

reichende Beschreibung der wichtigsten Komponenten von OER. Denn hier wer-

den die genannten Elemente noch nicht explanatorisch zueinander in Beziehung

gesetzt. In Rekurs auf Sally M. Johnstone (2005, S. 16) lässt sich eine funktionale

und kausale Präzisierung auf drei Ebenen vornehmen. Demnach sind Open Edu-

cational Resources:

Lernressourcen, die Lernende unterstützen,•

Ressourcen zur Unterstützung der Lehrenden sowie•

Ressourcen zur Qualitätssicherung der Materialien und Methoden.•

OER und andere digitale beziehungsweise internetbasierte Lern- und Lehrma-

terialien haben zwar die gemeinsame Eigenschaft, dass beide in Lern-/Lehrkon-

texten verwendet werden, aber gerade die Attribution von «Offenheit» bildet das

trennende Element. Nichtsdestotrotz können die beiden Charakteristika (Lehren

und Lernen und Offenheit bzw. proprietäre Einschränkungen) nicht isoliert be-

trachtet werden. In den folgenden Überlegungen wird der Kontext der Offen-

heit immer auch die Verwendung in Lern- und Lehrsituationen mit einschlie-

ßen. Ilkka Tuomi (2006) nimmt an, dass Open Educational Resources durch die

Sichtweisen der an OER beteiligten Akteure definiert werden können. Vor diesem

Hintergrund schlägt er fünf Perspektiven vor: die der Lerner, der Lehrer, der In-

stitution, der Technik4 und der Ökonomie.

Wie schon ausgeführt, legen wir Wert auf die Feststellung, dass die Diskussion

von und über Open Educational Resources nicht alleine durch eine formale Be-

griffsbestimmung geprägt bleibt, sondern der jeweilige Handlungszusammen-

hang der Akteure – sprich die Pragmatik des Agierens (vgl. Filk 2003, 2009) –

mit einbezogen wird. In diesem Sinne konzedieren wir zwar die vorgeschlagene

Einteilung der Perspektivierung von OER über die Akteure, ziehen es aber vor, in

unserer Darstellung eine Unterteilung in Form von Handlungszusammenhängen

zu verwenden. Dabei bilden für uns die Lehrenden und Lernenden im Lehr- und

Lernkontext eine gemeinsam interagierende Einheit. Insofern verwenden wir im

folgenden Diskurs eine Differenzierung in vier Perspektiven: Nutzung und Ver-

wertung, Technik, Ökonomie sowie Didaktik.

4 Dies ist gemeint im Sinne der Technikprovider und des technischen Supports.

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Per Bergamin und Christian Filk • Open Educational Resources

Nutzungs- und Verwertungsperspektive

Die konstitutive Offenheit von Zugang und Zugänglichkeit sollen von der ori-

ginären Hintergrundüberzeugung her Open Educational Resources maßgeblich

ausmachen. Dies ist deshalb von großer Bedeutung, weil E-Learning nicht sel-

ten durch Verwertungs- und Nutzungsrechte hochgradig reglementiert ist und

auch in der technischen Adaptivität beziehungsweise Applikation eine eher res-

triktive Handhabung vorherrscht. Anders ausgedrückt: Technische Vorgaben und

Zwänge beeinflussen oder beherrschen manchmal die pädagogischen und didakti-

schen Konzepte. Die spezifische Offenheit, wie sie im Kontext von OER verstan-

den wird, lässt sich auf drei Ebenen verorten. Mit Terry Foote (2005) und seiner

Definition «der vier Freiheiten» lassen sich die Spezifika des rechtlichen Aspektes

der oben erwähnten normativen Offenheit genauer explizieren. «Offenheit» be-

deutet in dieser Hinsicht für die Nutzung von Lehr- und Lernressourcen:

die Freiheit zu kopieren,•

die Freiheit zu modifizieren,•

die Freiheit weiterzugeben, und•

die Freiheit, modifizierte Versionen weiter zu verteilen.•

Ein entscheidendes Merkmal dabei ist, dass der Rechteinhaber bestimmt, wie die

Ressource genutzt werden kann, und in einem Lizenzierungsrahmen durch eine

entsprechende Kennzeichnung die Offenheit festlegt. Das wohl bekannteste und

meistgenutzte Modell ist gegenwärtig das schon erwähnte der Creative Com-

mons.5

Technische Perspektive

Ein weiterer Aspekt der Offenheit von Open Educational Resources ist im techni-

schen Sektor anzusiedeln. Primär geht es dabei um die Interoperabilität und Funk-

tionalität unterschiedlicher Ressourcen zwischen Systemen, seien dies persönliches

Computersystem, Server, Datenbanken oder externe Speichermedien. Kernpunkte

sind die Austauschbarkeit, aber auch Nutzungsmöglichkeiten in Sinne einer Be-

arbeitung oder Anpassung an spezifische Bedürfnisse oder Anforderungen.

5 Eine weitgehende Übersicht zu entsprechenden anderen Lizenzmodellen findet sich auf der Seite des Instituts für Rechtsfragen der freien und Open-Source-Software unter www.ifross.de/ifross_html/lizenzcenter.html› (Zugriff: 25.6.2008).

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Offene Bildungsinhalte

Als maßgebliche Einschränkung erweist sich bis heute die Verwendung von

proprietärer Software oder proprietärer Formate bei der Erstellung von OER,

die eine Bearbeitung oder Weiternutzung von Ressourcen verhindern oder auf

ein Minimum beschränken. Nicht selten werden User dabei mit dem misslichen

Umstand konfrontiert, dass die Austauschformate immer noch nicht kompatibel

sind. Grundsätzlich gilt es jedoch festzuhalten, dass die Verwendung offener For-

mate keine absolute Bedingung zur Produktion von OER darstellt, dass sie aber

– selbstredend – der Idee des offenen Teilens von Wissensbeständen und Lern-

inhalten Vorschub leistet. In Anbetracht dessen ist es nur plausibel, dass das Gros

der Open Educational Resources auf Open-Source-Software basiert.

Dessen ungeachtet ist auch zu konstatieren, dass in der Zwischenzeit auch

Datenbanken und Repositories entstanden oder im Entstehen begriffen sind,

die einige technologische Barrieren beseitigen werden. So lässt sich exemplarisch

für den angelsächsischen Raum auf die Konzepte Merlot 6 und Connexions 7 re-

spektive für die Schweiz auf Switch collections 8 verweisen. Im Weiteren erleich-

tern RSS 9 und ATOM das Auffinden neuer Ressourcen im Netz, wie Podcasting,

Screencasting und Videocasting eine relativ unkomplizierte Herstellung kleiner

Lerneinheiten im Audio- oder Videoformat erlauben.

Ökonomische Perspektive

Ein weiterer bedeutsamer Aspekt der Offenheit betrifft die ökonomische Dimen-

sion. Es geht darum, dass Open Educational Resources sowohl für Lehrende als

auch für Lernende kostenfrei zugänglich ist (Koohang/Harman 2007). Dabei

stellen sich rasch Fragen zur Nachhaltigkeit und zur Qualität der angebotenen

Ressourcen. Unter Nachhaltigkeit verstehen wir in diesem Zusammenhang, dass

Prozesse (z. B. der Weiterentwicklung und qualitativen Überprüfung) verstetigt

und in dauerhafte Tätigkeit überführt werden können. Dies nicht im Sinne der

Stabilität der Tätigkeit, sondern der Dauerhaftigkeit der Strukturen, die entspre-

6 ‹www.merlot.org›.7 ‹http://cnx.org›.8 ‹https://collection.switch.ch›.9 Rich Site Summary, RDF Site Summary und Really Simple Syndication (kurz RSS) bezeich-

nen eine Gruppe von Dateiformaten, die über die Auszeichnungssprache XML definiert werden. Immer mehr Webseiten bieten Interessentinnen und Interessenten aktuelle Infor-mationen über ein Abonnement sogenannter RSS-Feeds an. Diese können über einen am Arbeitsplatz installierten RSS-Reader geladen und gelesen werden.

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Per Bergamin und Christian Filk • Open Educational Resources

chende Handlungen ermöglichen (Bergamin/Brunner-Amacker 2007). Dabei

spielen drei Bereiche eine wichtige Rolle:

Entwicklungs-/Produktionskosten und Betrieb, •

Support und •

Skalierbarkeit.•

Entwicklungs-/Produktionskosten und Betrieb

Eine der größten Herausforderungen beim Aufbau von Open Educational Re-

sources ist sicherlich die Finanzierung, im Hinblick sowohl auf die Herstellung

und den Betrieb als auch auf die Nutzung und Verwendung. Hier sind verschie-

dene (Re-)Finanzierungsmodelle (vgl. Downes 2007) vorstellbar, angefangen

von Mitgliedschaftsbeiträgen über klassische Drittmittelprojekte bis hin zu staat-

lich geförderten Konzepten.

Ein weiteres Handikap für eine breite Akzeptanz der OER-Bewegung stellen

motivationale Aspekte (intrinsische und extrinsische Motivation) dar. In der Tat

sträuben sich zahlreiche Lehrende derzeit noch grundsätzlich gegen eine Veröf-

fentlichung ihrer Lehrmaterialien im Internet. Die Gründe für diese restriktive

Haltung sind vielschichtig. Häufig werden die mangelnde Bereitschaft zum Tei-

len, Angst vor kritischen Rückmeldungen, Missbrauch oder Kontrollverlust als

Argumente für negative Assoziationen von Open Educational Resources ins Feld

geführt. Auch fehlende Medienkompetenz und hoher Zeitaufwand für die Pflege

werden als Gründe angegeben.

Wie die E-Learning-Praxis immer wieder zeigt, schrecken Lehrende oft auf-

grund der notwendigen zeitintensiven Arbeit (z. B. Tagging, damit sich die Ma-

terialien besser auffinden lassen) und meistens nicht vergüteter Dienstleistungen

davor zurück, sich stärker zu engagieren. Um diesem Trend zu begegnen, muss

es vor allem darum gehen, die Einbindung von OER-Projekten in Personal- oder

Organisationsentwicklungsprozesse (wie z. B. mit der Einführung von entspre-

chenden Vergütungsmodellen, Zeitfreistellungen, Preise u. a.) offensiv und trans-

parent auf die Agenda zu setzen. Nicht zuletzt könnte, neben finanziellen Aspek-

ten, die Aussicht auf Reputation einen weiteren positiven Anreiz bilden.

Support

Überraschenderweise gehen sogar einige Initiatoren von Open Educational Re-

sources von falschen Prämissen aus, was den Umfang von fundamentalen Sup-

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Offene Bildungsinhalte

portleistungen anbelangt. Grundsätzlich reicht es nicht, Lehr- und Lernmateria-

lien einfach zur Verfügung zu stellen. Bis dato hat sich die Debatte zu möglichen

kostensparenden Effekten des Einsatzes von OER in der Regel auf die bloße Wie-

derverwertung von Lehrmaterialien konzentriert, ohne weitere Lehr- und Lern-

elemente einzubeziehen. Die Rolle von Lehrenden und Expert(inn)en im Kon-

text von OER besteht jedoch nicht alleine in der Wissensvermittlung, sondern

ebenso sehr in der Unterstützung und Führung der Lernenden in dem komple-

xen Geflecht und dem beachtlichen Potenzial, die OER unzweifelhaft zu bieten

haben: «Professionals have to become advisers, advocates, solutions assemblers,

brokers. The role of professionals in participative services is often not to provide

solutions directly, but to help clients find the best way to solve their problems

themselves» (Leadbeater 2004, S. 15).

Skalierbarkeit

In althergebrachten Lern- und Lehrkontexten wurde die oder der Lernende an

das Lehrsystem angepasst. Open Educational Resources sind allerdings durch die

Zielsetzung gekennzeichnet, diesen Sachverhalt umzukehren und den Lernenden

in den Mittelpunkt zu rücken. Dieser Perspektivenwechsel wiederum stellt hohe

Anforderungen sowohl an die Wiederverwertbarkeit als auch an die Adaptier-

barkeit von Lehrmaterialien. Mithin sollen sich Lernkontexte jeweils strukturell

an die geschlechts-, kultur- und interessenspezifischen Gegebenheiten sowie die

korrespondierenden Lernmethoden und -bedürfnisse des Lernenden anpassen

lassen. Die Adaptierbarkeit kann durch offene Quellcodes gewährleistet werden.

Hinsichtlich der Interoperabilität müssen die zur Verfügung gestellten Inhalte an

verschiedene technische Konfigurationen, bedingt durch unterschiedliche Hard-

warekonstellationen von Browser, Betriebssystemen, Bandbreiten usw., angepasst

werden. Darüber hinaus sollten solche informationstechnischen Formate gewählt

werden, die eine Wiederverarbeitung und -verwertung möglich machen und

einfach gestalten. Erst wenn man diese Indikatoren konsequent berücksichtigt,

dürfte die Aussicht signifikant steigen, dass Open Educational Resources in grö-

ßerem Umfang genutzt und dass letztlich höhere Skaleneffekte erzielt werden.

Die drei aufgeführten Gesichtspunkte bedingen einander in starkem Maße. Des-

wegen ist es so wichtig zu beachten, dass von Anfang an, also schon bei der

Produktion einer Ressource, die nachgelagerten Prozesse und Phasen konzep-

tuell, systematisch und von der Ressourcenökonomie seriös geplant werden. Es

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Per Bergamin und Christian Filk • Open Educational Resources

scheint uns daher angebracht, dem Prinzip der Sparsamkeit – ohne allzu starke

Funktionalitätsverluste – zu folgen. In diesem Zusammenhang ist es sicher emp-

fehlenswert (vgl. Chase et al. 2006), frühzeitig Methoden und Techniken zur

Untersuchung des Kundennutzens einzusetzen. Auch die Anpassungsfähigkeit an

spezifische Lern- und Unterrichtssituationen ist ein wichtiges Kriterium, wie sich

aus Per Bergamins und Barbara Brunner-Amackers Modell zur Umsetzung von

E-Learning ergibt (vgl. Bergamin/Brunner-Amacker 2007). Es sei hier nochmals

daran erinnert, dass die ausschlaggebenden Motive zur Entwicklung und zum

Support von OER nicht kommerzieller Natur sind. Im Rahmen der OLCOS-Stu-

die (vgl. Geser 2007) haben die Autoren sogenannte «Drivers» aufgelistet. Dem-

nach mangelt es auf internationaler Ebene kaum an monetären Instrumenten und

Ressourcen zur Unterstützung von OER.

Die internationale sowie nationale Praxis der Vergabe von finanziellen Mittel

zur Förderung von Open Educational Resources hängt im Wesentlichen von drei

Referenzfaktoren ab:

bildungspolitischen Forderungen,•

technologischem Wandel und•

erfolgreichen Projekten.•

In der Bildungspolitik wird auf der einen Seite ein erhöhter Bedarf an lebens-

langem Lernen festgestellt und auf der anderen Seite Innovation und organisa-

torische Veränderung aufgrund der Verschärfung des Wettbewerbs zwischen den

Bildungsinstitutionen im Kontext geringerer Studierenden- und Schülerzahlen

durch die demografischen Veränderungen gefordert. Schon jetzt zeichnet sich ab,

dass besonders innovative Bildungsorganisationen für viele Lernmaterialien einen

freien Zugang ermöglichen (werden), um Lernende anzuziehen.10 Der techno-

logische Wandel – vor allem durch die Nutzung des Internets – führt dazu, dass

soziale Lerntools stark aufkommen, gruppenbasiertes Lernen (Social Computing)

vermehrt genutzt wird und semantische Applikationen (Semantic Technologies)

einen neuen, erweiterten und präzisieren Zugang zu Informationen und Res-

sourcen erlauben. Im Weiteren lassen sich vermehrt erfolgreiche Open-Access-

Initiativen und OER-Repositories finden. Dabei erfreuen sich innovative Lizen-

zierungsmodelle wie das schon erwähnte der Creative Commons immer größeren

10 Als Beispiele mögen hier das MIT mit seiner OCW-Initiative (‹http://ocw.mit.edu›) oder die britische Open University mit dem «OpenLearn»-Projekt (‹http://openlearn.open.ac.uk›) dienen.

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Offene Bildungsinhalte

Zuspruchs. Derselbe Umstand traf übrigens schon früher auf offene Lizenzie-

rungsmodelle für Plug-ins von offenen oder auch proprietären Autorensoftware-

paketen zu.

Didaktische Perspektive

Abgesehen von der großen Bedeutung der strukturellen Offenheit von Open

Educational Resources erweist sich in der didaktischen Reflexion die Frage nach

der differentia specifica des Terminus technicus «Educational Resources» als ent-

scheidend. Zu Beginn stand hierbei der Einsatz von Objekten in traditionellen

Lehr- und Lernsettings im Vordergrund (Johnstone 2005). Jedoch zeigte sich

alsbald mit dem Aufkommen der schon erwähnten sozialen Lerntools (Social Soft-

ware), dass den OER im Rahmen informellen Lernens eine immer wichtiger wer-

dende Funktion zugewiesen wird (Downes 2007). Dazu gehören in erster Linie

die Nutzung von Communities, Blogs, Wikis oder anderen Web-2.0-Tools als

Komponenten offener Lernressourcen.

Eine der größten Herausforderungen im Zuge der Open-Educational-Re-

sources-Bewegung ist sicherlich die Qualitätssicherung, insbesondere dann, wenn

man sich für die freie Editierbarkeit von Lernmaterialien in einem OER-Projekt

entscheidet. Die prinzipielle Partizipationsmöglichkeit eines jeden führt auch

dazu, dass falsche oder fehlerhafte Materialien als Fakten ausgegeben werden und

diese wiederum aus mangelndem Wissen oder Engagement anderer User weder

für falsch befunden noch richtiggestellt werden. Die daraus resultierende «Zertifi-

zierungsunsicherheit» – das Unwissen über die Vertrauenswürdigkeit, Sachlichkeit

und Richtigkeit einer Quelle – lässt viele Menschen bei den tradierten Bildungs-

trägern und -medien (vgl. Sandbothe 2001, Filk 2003) (vor allem bei Büchern)

Zuflucht suchen, da diese vermeintlich genaue Rückschlüsse auf Vertrauenswür-

digkeit und wissenschaftlichen Sach- und Wahrheitsgehalt zulassen. Anders als im

Open-Access-Bereich, in dem Peer-Review an der Tagesordnung ist, gibt es bei

Open Educational Resources bisher keine standardisierten Qualitätssicherungs-

mechanismen: «Die Beurteilung der Relevanz der angebotenen Inhalte für einen

bestimmten Kontext sowie die Beurteilung der inhaltlich-fachlichen und didakti-

schen Qualität eines Angebotes […] sind dabei als die beiden besonders wesent-

lichen Aspekte zu nennen» (Baumgartner/Zauchner 2007, S. 8 f.). Deshalb ist es

von hoher Bedeutung, durch interne Qualitätssicherungsprozesse, Peer-Review-

Modelle oder Nutzerbewertungen objektive Metriken für Relevanz und Qualität

zur Verfügung zu stellen.

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Per Bergamin und Christian Filk • Open Educational Resources

Mit Blick auf die didaktische Dimension unterscheiden Peter Baumgartner

und Sabine Zauchner (2007) die Herausforderungen in sechs Kategorien:

1. Es geht zunächst um den Einbezug didaktischer Zieldefinitionen, indem

explizit Ziele in die Planung aufgenommen werden, die Überlegungen zur

moralisch-ethischen Verpflichtung des Teilens bis hin zur Verbesserung von

Lehrkompetenzen oder der Qualität der Ressourcen erlauben.

2. Dabei ist ein didaktisch motiviertes Geschäftsmodell zu berücksichtigen, und

zwar in dem Sinne, dass ein didactic sharing, mithin Überlegungen zum Aus-

tausch und zur Wiederverwendung von Content und Erfahrungen, ange-

strebt wird.

3. Eine didaktische Integration der Ressourcen ist wesentlich. Das heißt, dass

eine Variabilität vorhanden sein muss, damit die Ressourcen in unterschied-

lichen pädagogischen Situationen eingesetzt werden können.

4. In diesem Zusammenhang ist den technischen Voraussetzungen für eine di-

daktische Adaptierbarkeit im Hinblick auf sprachliche, kulturelle und metho-

dische Vielfalt Rechnung zu tragen.

5. Die Sensibilisierung der Nutzer auf Copyrights und

6. die Qualitätssicherung sowohl auf fachlich-inhaltlicher als auch auf lernkon-

textueller Ebene sind schließlich weitere wichtige Kategorien.

Die aufgelisteten Herausforderungen verdeutlichen, dass diese Art der Produk-

tion und Entwicklung von Inhalten einen Kulturwechsel nach sich zieht, der

praktisch und programmatisch weit über die Entwicklung einer Medienkultur an

einer Bildungsinstitution hinausweist. Geprägt und genährt wird diese gewan-

delte Lehr-/Lernkultur durch die Vision, dass das Teilen von Lehr- und Lernres-

sourcen (möglichst ohne Schranken) einen didaktischen Mehrwert bringt.

An dieser Stelle verweisen wir auf einige neuere Elemente des Diskurses von

Open Educational Resources, ohne hier im Detail auf sie eingehen zu können.

John Seely Brown und Richard P. Adler (2008) fassen die Entwicklung im Sinne

einer sozialen Lernperspektive wie folgt zusammen: «This perspective shifts the

focus of our attention from the content of a subject to the learning activities

and human interactions around which that content is situated» (S. 18). Ein sol-

cher Perspektivenwechsel betrifft insbesondere den Einbezug der Lernenden als

Mitproduzierende des Lehr- und Lernmaterials, den Einbezug von zugänglichen

Forschungsdaten, -dokumenten und -resultaten, die gemeinhin unter dem Titel

E-Science oder E-Humanities entstanden sind, sowie von Communities of Prac-

tice. Gerade Letztere werden als bekannteste Promotoren der OCW-Initiative

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Offene Bildungsinhalte

bezeichnet (vgl. Lerman/Miyagawa/Margulies 2008), um die Qualität des Lern-

materials nachhaltig zu erhöhen.

Kulturwechsel und Nutzen

In der vorliegenden Erörterung dürfte der Kulturwechsel vom traditionellen zu

einem offenen Lehren und Lernen auf der Basis von Open Educational Resources

deutlich geworden sein. Es bleibt jedoch die berechtigte Frage, wer Nutzen aus

dieser neuen Form der Wissens-, Lehr- und Lernmaterialverbreitung zieht. Als

instruktives Beispiel mag hier nochmals die OCW-Initiative dienen. Als deren

Quintessenz lässt sich Folgendes herausstreichen: «From OCW’s extensive, on-

going evaluation process, we have learned that about 16 percent of OCW visitors

are educators, 32 percent students, and 49 percent self learners. Some 96 per-

cent of educators say OCW has helped them (or will) improve their teaching or

their courses» (Lerman/Miyagawa/Margulies 2008, S. 216). Auch diese Zahlen

weisen darauf hin, dass es sich bei der Nutzung von OCW-Kursen und -objekten

nicht mehr um das klassische Verhältnis von Lehrer und Lernenden in einem for-

malen Bildungskontext handelt, sondern dass sich vielmehr neue Strukturen und

Verhaltensweisen herausbilden.

Zur Beantwortung der Frage nach der Chance der Umsetzbarkeit und

Durchsetzbarkeit des angesprochenen Kulturwechsels lässt sich ein Hinweis in

dem schon zitierten interessanten Beitrag von John Seely Brown und Richard P.

Adler (2008) finden. Sie stellen die Hypothese in den Raum, dass sich die Ent-

wicklungen von E-Learning/OER mit solchen von E-Commerce im Buchhandel

vergleichen lassen. Die Überlegungen basieren auf einem Artikel von Chris An-

derson (2006), der gezeigt hat, dass sich internetbasierter E-Commerce mit Bü-

chern vom traditionellen Verkauf eindeutig unterscheidet. Anderson stellte fest,

dass der physische Verkauf von Büchern, Musik und Filmen normalerweise durch

Bestseller dominiert wird. Typischerweise generieren etwa 20 Prozent der Titel

80 Prozent des Umsatzes. Die Entwicklung von Amazon, Netflix und Rhapsody

zeigt andere Muster. Diese Internetportale öffnen einen Zugang zu Beständen,

die um ein Vielfaches größer sind als die eines klassischen Buchladens. Die Folge

daraus ist, dass die Portale zwar immer noch über Bestseller verfügen, jedoch der

Großteil der Verkäufe auf die enormen Kataloge weniger gängiger Titel zurück-

zuführen ist.

Aus diesem Sachverhalt lässt sich für die Open Educational Resources Fol-

gendes extrapolieren: Wenn wir davon ausgehen können, dass die Autonomie

Page 14: Inhaltsverzeichnis - hep verlagTeilbereiche, so stößt man unweigerlich auf den Begriff der «Open Educational Resources» (OER). Dabei wird man feststellen können, dass die aktuellen

37

Per Bergamin und Christian Filk • Open Educational Resources

und Individualisierung des Lernens weiter voranschreitet, kann aufgrund der

von OCW präsentierten Nutzerzahlen eine ähnliche Entwicklung zumindest für

E-Learning-Portale mit offenen Ressourcen postuliert werden. Ein breiter Erfolg

entsprechender Projekte sowie deren Skalierung auf unterschiedliche Lernstufen

könnte schließlich in der Tat den Beginn eines didaktischen Kurswechsels in und

mit Open Educational Resources bedeuten.

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Hanna Muralt Müller

Neue Kultur der Auswertung von Wissen

Open-Source-Software, Open Access und Open Educational Resources*11

Im angelsächsischen Sprachraum entwickeln die neuen Informations- und Kom-

munikationstechnologien eine außergewöhnliche Dynamik. Im technischen Be-

reich hat sich in den letzten Jahren der Trend zu Open Source Software (OSS) ver-

stärkt. Ähnlicher Natur ist Open Access, eine Bewegung, die von den Universitäten

ausging und das wissenschaftliche Publikationswesen umgestaltet hat. Bei den

Open Educational Resources (OER) wirken ebenfalls Universitäten als treibende

Kräfte, zum Beispiel das Massachusetts Institute of Technology (MIT). Bei OER

geht es um online frei zugängliche Bildungsmedien.

Alle diese Bewegungen werden ihrer Herkunft entsprechend mit englischen

Termini bezeichnet, die sich in ihrer vollen Bedeutung kaum mit einem deutsch-

oder auch französischsprachigen Begriff übersetzen lassen, weshalb auch wir uns

hier der englischen Fachwörter bedienen.

Was steckt hinter diesen Entwicklungen, die zwar sehr unterschiedliche Bereiche

betreffen, aber stets auf freie Verfügbarkeit im Internet zielen? Werden bei der

OSS-Bewegung technische Entwicklungen zur Weiterverwendung freigegeben,

so ermöglicht das neue wissenschaftliche Publikationswesen einen raschen und

freien Zugang zu Forschungsergebnissen und den Austausch neuster Erkennt-

nisse im Wissensbereich, und die OER führen dazu, dass Wissbegierige weltweit

freien Zugang zu der ins Netz gestellten Lernsoftware erhalten. Zweifellos steht

hinter diesen freien Angeboten nicht einfach Idealismus, obwohl idealistische

Beweggründe zuweilen auch eine Rolle spielen. Es gibt durchaus noch andere

Triebkräfte, womit wir bereits bei einem wichtigen Punkt angelangt wären: Den

* Alle in diesem Beitrag genannten Webadressen wurden, wenn nicht anders vermerkt, letzt-mals am 27. 10. 2008 überprüft.

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Offene Bildungsinhalte

neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wohnt eine besondere

Logik inne; die Beteiligten ziehen aus dem zunehmenden Austausch von Wissen

großen Nutzen. Dabei wird immer deutlicher, dass Wissen die wohl wichtigste

Zukunftsressource ist – eine Ressource, die im Unterschied zu herkömmlichen

Rohstoffen die besondere Eigenschaft hat, durch Teilen oder gegenseitigen Aus-

tausch zu wachsen.

Vielfach wurde Wissen bisher bewusst nicht freigegeben, weil es als Kon-

kurrenzvorsprung genutzt werden konnte. Wissen selektiv zurückhalten bedeu-

tete, Macht ausüben zu können. In dieser Hinsicht scheint sich nun ein Paradig-

menwechsel abzuzeichnen. Mehrwert und Konkurrenzfähigkeit können durch

Freigabe von Wissen und dessen Vernetzung durch Kooperation gefördert wer-

den. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien machen es

zudem möglich, künftig weltweit alle, die über besonderes Wissen verfügen, an

der Weiterentwicklung von Wissen partizipieren zu lassen. Und es ist sehr viel

Wissen vorhanden, zum Teil auch außerhalb der traditionellen Bildungs- und

Forschungsstätten. Wikipedia ist nur ein Beispiel, wie viel Wissen akkumuliert

werden kann, wenn Expertinnen und Experten weltweit ihr Wissen zusammen-

tragen.

Die optimale Nutzung der Ressource Wissen setzt eine Veränderung alt-

hergebrachter Verhaltensmuster voraus. Vielfach ist nicht vorhersehbar, wie eine

neue Technologie durch innovative Nutzende eingesetzt wird. Es ist erstaunlich,

wie rasch sich neue Sicht- und Handlungsweisen insbesondere im universitären

Umfeld entwickeln. Es gibt aber auch bremsende Elemente. Diese finden sich

verständlicherweise zum Teil in den Kreisen der bisherigen Wissensproduktion

und des Vertriebs von Wissen, die ja vor der Herausforderung stehen, dass sie ihre

Geschäftsmodelle neuen Gegebenheiten anpassen müssen.

Paradigmatischer Denkanstoß

Wie durch Freigabe und Vernetzung von Wissen Konkurrenzvorteile erzielt wer-

den können, lässt sich am besten an einem Beispiel darlegen, das der amerikani-

sche Soziologe und Kulturphilosoph Richard Sennett in seinem Buch Handwerk

beschreibt.1 Das Mobiltelefon musste aus der Verbindung zweier bestehender

Technologien entwickelt werden. Das Telefon am Festnetz sicherte eine opti-

1 Richard Sennett, Handwerk (Berlin 2008). Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel The Craftsman.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

male Übertragungsqualität, aber es war nicht mobil. Die Funkgeräte waren zwar

mobil, aber begrenzte Reichweite und schlechte Tonqualität konnten nicht be-

friedigen. Verschiedene Konzerne schlugen nun unterschiedliche Strategien zur

Stimulierung der Innovationskraft ein. Die einen setzten auf eine klare, arbeitstei-

lige Organisation und Konkurrenz zwischen den beauftragten Abteilungen inner-

halb des Unternehmens. Dies führte sofort zu einer Informationssperre über die

Abteilungen hinweg, wollte doch keine der anderen bereits erarbeitete Erkennt-

nisfortschritte preisgeben.

Fachwissen hortende Experten können für ein Unternehmen gefährlich sein.2

Erfolgreicher waren die anderen, die auf Kooperation setzten. Der Auftrag war,

die unterschiedlichsten Aspekte einzubeziehen und quer über alle Abteilungen

hinweg zusammenzuarbeiten, um möglichst alle innovativen Ideen einzubrin-

gen.3

Als «Handwerk» bezeichnet Sennett eine technische Praxis, die stets mit einer

besonderen Einstellung einhergeht, nämlich mit dem Bestreben, eine Tätigkeit

um ihrer selbst willen gut zu machen und daraus Anerkennung und Befriedigung

zu schöpfen. Gut konstruierte Organisationen lassen zu ihrem eigenen Nutzen

diesem fundamentalen menschlichen Impuls genügend Raum. Sennett beschreibt

damit auch die Motivation jener, die ihr Wissen andern frei zu Verfügung stellen.

Sie bilden eine Gemeinschaft von «Handwerkern».4

Unsere Betriebskultur ist vielfach geprägt vom Konkurrenzdenken, von Spit-

zenleistungen und vom Leistungslohn. Zu fragen ist, wieweit diese dazu führen,

dass Information auch betriebsintern nicht freigegeben wird, obwohl dies für das

Gesamtergebnis und letztlich die Firma nachteilig ist. An den oben beschriebe-

nen drei Bewegungen – OSS, Open Access und OER – lässt sich zeigen, dass es

sich offenbar lohnt, Information – Wissen als Ressource – sogar betriebsextern

freizugeben, und dies in einem im Gefolge der Globalisierung noch kompetiti-

veren Umfeld. Die neue Logik scheint quer zum bisherigen Denken zu stehen.

Selbstverständlich gilt sie nur für Teilbereiche, sonst wäre die Wirtschaftsspionage

kein ernst zu nehmendes Thema mehr. Aber zusätzlich zum bekannten und do-

minanten Marktmodell konkurrierender Ideen und Produkte entwickeln sich mit

der Informationsgesellschaft neue wirtschaftliche Teilbereiche, die etwas anderen

Regeln folgen.

2 A. a. O., S. 327 ff.3 A. a. O., S. 48 ff.4 A. a. O., S. 38 ff.

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Offene Bildungsinhalte

Es braucht analytischen Tiefgang, um zu begreifen, was sich mit den neuen

Bewegungen entwickelt und inwiefern sie unser Verhalten, unsere Sichtweisen

und Wertvorstellungen tangieren könnten. Sie zu nutzen, setzt zudem die Bereit-

schaft und die Fähigkeit voraus, sich neuen Spielregeln anzupassen. Gefordert ist

eine Erweiterung unseres kulturellen Horizontes. Es geht also letztlich auch um

Lernprozesse und einen Kultur- und Mentalitätswandel, den die einen rascher als

andere vollziehen.

Bei Veränderungen gibt es immer Gewinner und Verlierer. Jene, Einzelne

oder ganze Gesellschaften, die rascher als andere die neue «Logik» der Informa-

tions- und Kommunikationstechnologien begreifen und sich neu ausrichten, ge-

hören zu den Gewinnern. Verlieren werden jene, die sich starken, die Zukunft

prägenden Trends entgegenstellen. Die Schwierigkeit liegt vielfach nur darin zu

erkennen, welches die Trends mit großem Transformationspotenzial sind.

Worum geht es in diesem Beitrag?

Im Folgenden werden die drei angesprochenen Bewegungen etwas näher be-

trachtet. Wir gehen hierbei der Frage nach, weshalb die Schweiz im Rückstand zu

sein scheint. Wir legen dar, dass unsere föderalistische Staatsstruktur durchaus ge-

eignet wäre, Innovationspotenzial zu entwickeln, und dass der Bundesrat für den

Teilbereich E-Government Vorgehensweisen für die Auslösung dynamischer Ent-

wicklungen festgelegt hat. Trotzdem hapert es bei der Umsetzung der Strategien

und programmatischen Erklärungen.

Am Beispiel der OSS-Bewegung werden wir die neuartigen Strukturen der

Zusammenarbeit näher betrachten und uns fragen, was denn so anders sei als bis-

her. Wir werden erkennen, dass OSS-Produkte nur dann nachhaltig dynamische

Entwicklungen auslösen können, wenn sie gewisse Voraussetzungen erfüllen. An-

schließend wird ein geeignetes OSS-Produkt vorgestellt – nicht um des Produk-

tes willen, wir hätten auch ein anderes wählen können, sondern weil mit einem

geeigneten Produkt vorerst eine Ausgangsposition für eine dynamische Entwick-

lung geschaffen werden muss. Es geht ferner darum, an einem konkreten Beispiel

– PloneGov – den Regelungsbedarf für ein gutes OSS-Produkt darzustellen.

Besonders im Bildungsbereich könnten die besonderen Eigenschaften von

OSS-Produkten verstärkt für Lernprozesse, aber auch für die Förderung von OER

genutzt werden. Am Beispiel der Basler Schulen wird dargelegt, wie ein geeigne-

tes OSS-Produkt innert kürzester Zeit recht große Dynamik entwickeln konnte.

Zusätzlich zu professionell erstellten OER-Produkten, die sich durch hohe Quali-

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

tät, aber auch hohe Kosten auszeichnen, sollte der «Kreativpool» der Akteure und

Entscheidungsverantwortlichen in Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, Ver-

waltung, Verbänden und Politik verstärkt genutzt werden. Dieser könnte nicht nur

regelmäßig strategische Fragen diskutieren, sondern mit geeigneten Maßnahmen

Anreize schaffen, damit OER auch aus der «Community», aus dem Kreis der Bil-

dungsverantwortlichen und aus dem Lehrkörper heraus, Impulse erhalten. Diese

Fachleute könnten bereits vorhandene, professionell erstellte digitale Inhalte, zum

Beispiel bei Radio und Fernsehen, mit pädagogisch-didaktischem Material anrei-

chern. Wir werden darstellen, welche Funktion die Schweizerische Stiftung für au-

diovisuelle Bildungsangebote (SSAB) wahrnehmen kann und mit welchen Aktivitä-

ten sie Synergien aus der Vernetzung von Wissen durch Kooperation schaffen will.

Trend zu Open Source Software (OSS) – weltweit und in der Schweiz

Der Trend zu OSS ist weltweit zu beobachten. Es scheint, als würde auf eine erste

Phase der proprietären Softwaresysteme mit Microsoft als marktbeherrschender

Firma nun eine zweite Phase folgen, in der OSS eine wachsende Bedeutung er-

langt. Diese Entwicklung vollzog sich fast unmerklich und ohne großes Aufsehen

in den Medien.

OSS zeichnet sich dadurch aus, dass der Quelltext offen ist, beliebig oft ver-

wendet, kopiert, ohne Lizenzgebühren weitergegeben und für neue Nutzungen

geändert, auch verkauft oder mit anderen kommerziellen Dienstleistungen an-

geboten werden darf. Eine OSS-Lizenz kann, aber muss nicht eine sogenannte

«Copyleft»-Bestimmung enthalten, wonach ein Produkt, das durch Anpassung

der ursprünglichen Software oder durch die Übernahme von Teilen davon ent-

steht, ebenfalls als OSS zur Verfügung gestellt werden muss. OSS kann sowohl

offene als auch proprietäre Standards unterstützen. Auch wenn die Lizenz kos-

tenlos ist, entstehen mit der Integration in bestehende Systeme, der Wartung und

Weiterentwicklung Kosten, weshalb OSS nicht einfach, wie es häufig geschieht,

mit «kostenlos» gekennzeichnet werden sollte.5

5 Diese Definition folgt derjenigen in der OSS-Strategie der Bundesverwaltung von 2005, Ka-pitel 1.4 (Definitionen): ‹www.isb.admin.ch/themen/architektur/00164/index.html›. Sie entspricht im Wesentlichen der Definition der OSS-Initiative (OSI), einer Nonprofit-Orga-nisation: ‹www.opensource.org/docs/osd›.

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Offene Bildungsinhalte

Dagegen ist bei proprietärer Software, der sogenannten Closed Source Soft-

ware (CSS), der Quellcode nur einem engen Kreis von Kunden bekannt. Die

Anpassung und Weitergabe ist in den Vertragsbedingungen untersagt oder sehr

restriktiv geregelt.6

Anfang 2008 legte die EU-Kommission eine neue OSS-Strategie vor, in der

erstmals OSS-Lösungen für bestimmte Bereiche in den Vordergrund gestellt wer-

den. Namentlich erwähnt wird der E-Government-Bereich. In der Zwischen-

zeit hat die EU für öffentliche Verwaltungen eigene spezifische Sites unter der

Abkürzung OSOR (Open Source Observatory and Repository for European public

administrations) aufgeschaltet.7 Offensichtlich rückt OSS auch im Bildungswe-

sen ins Zentrum des Interesses. Eine Tagung im Rahmen des EU-Projekts Self

(Science, Educaction and Learning in Freedom) vom Juli 2008 in Barcelona war

dem Thema «OSS und Bildung» gewidmet.8

In der Schweiz wird die OpenExpo, eine Tagung mit Referaten und einer

Messe zahlreicher Firmenaussteller, jedes Mal größer und internationaler. Die

OpenExpo wird von Exponenten eines Vereins getragen, der sich für OSS ein-

setzt. Wiederholt wirkten auch das Informatikstrategieorgan des Bundes (ISB)

und die Schweizerische Informatikkonferenz (SIK) mit und vermittelten In-

formationen zu OSS-Projekten und -Einsätzen bei Behörden im In- und Aus-

land.9

Seit 2005 verfügt die Bundesverwaltung über eine OSS-Strategie, die festhält,

dass beide Produktearten – OSS und proprietäre Softwaresysteme – gleichzustel-

len sind und bei einer Beschaffung nach denselben Kriterien der Wirtschaftlich-

keit, Sicherheit und Interoperabilität evaluiert werden sollen.10 Die Umsetzung

dieser Strategie ließ bisher zu wünschen übrig. Der Bundesrat stellte denn auch

in seiner Antwort vom Februar 2008 auf eine Interpellation von Nationalrat Wal-

ter Donzé zusätzliche Maßnahmen in Aussicht, hielt aber am bisherigen Grund-

satz der Gleichbehandlung beider Produktearten fest. Er verwies darauf, dass der

6 Definition gemäß OSS-Strategie der Bundesverwaltung, a. a. O.7 Für den Wortlaut der Erklärung der EU-Kommission, OSS Software within the European

Commission – a co-ordinated strategy, vgl. ‹www.osor.eu/mission-statement›, ‹www.osor.eu/welcome-to-the-open-source-observatory-and-repository-for-european-public- administrations› (Zugriff: 24.1.2009).

8 Homepage der Self-Bildungskonferenz, Free Knowledge, free Technology: Education for a free information society. ‹http://fkft.eu/en/announcement›.

9 Zu Trägerschaft, Ausstellerfirmen und Programmen: ‹www.openexpo.ch›. 10 OSS-Strategie der Bundesverwaltung von 2005, Kapitel 4.1. ‹www.isb.admin.ch/themen/

architektur/00164/index.html› (Zugriff: 24.1.2009).

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

Bund seit 2003 periodisch OSS-Veranstaltungen durchführe und dass die Umset-

zung des in der E-Government-Strategie Schweiz 11 postulierten Grundsatzes «Ein-

sparungen durch Mehrfachnutzung und offene Standards» künftig die Nutzung

von OSS fördern werde.12

Einzelne Länder, wie zum Beispiel die in der Interpellation erwähnten

Niederlande13 oder Neuseeland, zum Teil aber auch einzelne Kantone und Ge-

meinden gehen einen Schritt weiter und verlangen bei künftigen Beschaffun-

gen eine ausdrückliche Begründung, falls nicht OSS, sondern proprietäre Pro-

dukte beantragt werden. Sehr häufig werden OSS-Anwendungen zusätzlich

zu proprietären eingesetzt. Obwohl in der Bundesverwaltung proprietäre Sys-

teme dominieren, basieren zum Beispiel die Internetauftritte mehrheitlich auf

OSS.14

Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von OSS-Initiativen,15 und es wird immer

schwieriger, sich einen aktuellen Überblick über die zahlreichen OSS-Produkte

zu verschaffen. Auch die Anzahl der Anbieter von OSS-Lösungen ist beachtlich

und wächst ständig. Darunter befinden sich auch internationale Firmen wie IBM,

SUN, HP, um nur einige zu nennen.

Open Access – eine neue Publikationspraxis der Universitäten

Die Bewegung zu Open Access entstand im universitären Umfeld von Wissen-

schaft und Forschung. Bei Open Access geht es um den unbeschränkten und

kostenlosen Zugang zu wissenschaftlichen Informationen im Internet, wobei die

Rechte der Urheber und eventueller Verleger unterschiedlich ausgestaltet werden

11 E-Government-Strategie Schweiz vom Januar 2007. ‹www.isb.admin.ch/themen/egovern-ment/00067/index.html?lang=de› (Zugriff: 24.1.2009).

12 Für den Wortlaut der Interpellation und die bundesrätliche Antwort: ‹www.parlament.ch/D/Suche/Seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20073887›. Der erwähnte Grundsatz fin-det sich in der E-Government-Strategie Schweiz, Kapitel 3, Punkt 5.

13 A. a. O., Frage und Antwort in Ziffer 7.14 Siehe hierzu unten, Abschnitt zu «Lernprozessen mit einem OSS-Produkt in Basler Schu-

len», S. 61.15 Für die Schweiz von Bedeutung sind unter anderem die OSS Community der öffentlichen

Verwaltungen, ‹www.opengovernment.ch›, die Linux Solution Group, ‹http://lisog.org› oder die Swiss Open Systems User Group: ‹www.chopen.ch›. Ein im Oktober 2007 publi-zierter OSS-Katalog 2008 (Computerworld, Zürich) listet über 300 OSS-Projekte auf.

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Offene Bildungsinhalte

können.16 Open Access unterscheidet sich von Open Content. Unter diesem Be-

griff werden meist freie, urheberrechtlich nicht geschützte und deshalb beliebig

veränderbare Inhalte zusammengefasst.

Die neuen Technologien haben kürzere und kostengünstigere Publikationswege

ermöglicht und den Verbreitungsgrad wissenschaftlicher Abhandlungen in einer

sich globalisierenden Wissensgesellschaft erhöht. Es ging den Wissenschaftskrei-

sen auch darum, die meist mit öffentlichen Mitteln erarbeiteten Forschungsergeb-

nisse wiederum der ganzen Wissensgemeinschaft rasch und weltweit zugänglich zu

machen, ohne diese mit Zeitverzug von kommerziellen Verlagen zurückkaufen zu

müssen. Die Universitäten richteten sogenannte Repositories 17 ein, auf denen die

universitären Forschungsergebnisse online zur Verfügung gestellt werden.

Auch die Open-Access-Bewegung ist jüngeren Datums. Die im Oktober 2003

von deutschen und internationalen Forschungsorganisationen unterzeichnete Berli-

ner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen wurde zu einem

wichtigen Markstein, da diese gegenüber früheren Erklärungen erstmals auch das in

Archiven, Bibliotheken und Museen aufbewahrte Kulturgut einbezog.18

Bereits Anfang 2004 veröffentlichte die OECD eine Erklärung zu Open Ac-

cess anlässlich eines Treffens auf Ministerebene.19 Auch die EU förderte mit ver-

schiedenen Publikationen Open Access.20 Speziell zu erwähnen sind die Aktivitä-

ten der Unesco, insbesondere auch der Deutschen Unesco-Kommission.21

Es gibt allerdings auch hemmende Faktoren. Zur Diskussion steht, wieweit

gesetzlich verankerte Autoren- und Urheberrechte neuen Bedürfnissen angepasst

16 Zu diesen Fragen gibt es eine breite Diskussion. Meist wird zwischen dem sogenannt «grü-nen» und dem «goldenen Weg» zu Open Access unterschieden. Vgl. hierzu die Definitio-nen des Schweizerischen Nationalfonds: ‹www.snf.ch/SiteCollectionDocuments/Dossiers/dos_OA_allgemein_d.pdf›.

17 So hat z. B. die Universität Zürich ZORA (Zurich Open Repository and Archive) eingerich-tet: ‹www.zora.uzh.ch/›.

18 Wortlaut der Berliner Erklärung: Englisch: ‹www.zim.mpg.de/openaccess-berlin/berlin-declaration.html›. Deutsch: ‹http://oa.mpg.de/openaccess-berlin/Berliner_Erklaerung_dt_Version_07-2006.pdf›. Frühere Erklärungen: Budapest Open Access Initiative, Bethesda Statement on Open Access Publishing.

19 OECD, Declaration on Access to Research Data from Public Funding, publiziert als Annex anlässlich des Treffens des OECD Committee for Scientific and Technological Policy, Januar 2004. ‹www.oecd.org/document/0,2340,en_264_34487_25998799_1_1_1_1,00.html›.

20 Vgl. z. B. EU-Kommission, Study on the economic and technical evolution of the scientific pu-blication markets in Europe, Januar 2006. ‹http://ec.europa.eu/research/science-society/pdf/scientific-publication-study_en.pdf›.

21 Die Deutsche Unesco-Kommission publizierte 2007 ein Handbuch mit dem Titel Open Access. Chancen und Herausforderungen. ‹http://unesco.de/openaccess.html?&L=0›.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

werden müssten.22 Zusätzlich zu rechtlichen Hindernissen lassen sich im Uni-

versitätsalltag auch bremsende Elemente mehr sozialer oder psychologischer Art

feststellen. Viele Autorinnen und Autoren sind sich der urheberrechtlichen Fra-

gen zu wenig bewusst und verlieren ihre Autorenrechte bei der Publikation durch

einen Verlag. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit großem Ruf, die in

renommierten Zeitschriften und Verlagen publizieren könnten, sind nicht unbe-

dingt erfreut, wenn ihre Artikel, statt zum Beispiel im weltberühmten Nature, auf

dem universitären Dokumentenserver zugänglich gemacht werden.

Die Publikation in einem bestimmten Verlag ist für Insider immer auch schon

eine wichtige Information über den Artikel. Verlage, insbesondere wissenschaft-

liche Verlage, schaffen sich mit der Auswahl der von ihnen publizierten Artikel

ihr eigenes Renommee. Sie übernehmen die wichtige Funktion der Qualitätskon-

trolle und Qualitätssicherung. Ob und inwiefern bei Open Access über andere

Mechanismen die wegfallende Verlagstätigkeit kompensiert werden kann, ist zu-

mindest eine offene Frage. Schon heute erfolgt die Kontrolle zum Teil durch die

wissenschaftliche Community selbst, zum Beispiel durch Formen der Kommen-

tierung (Peer Review, offene Kritik usw).

In der schweizerischen Open-Access-Bewegung spielte die Universität Zü-

rich eine Pionierrolle, unterzeichnete sie doch die Berliner Erklärung bereits im

Dezember 2004 und richtete eine eigene Homepage zu Open Access ein.23 In der

Westschweiz war das CERN ein eigentlicher Vorreiter.24 Im Januar 2006 folgte

dann eine Reihe wichtiger schweizerischer Wissenschaftsinstitutionen, darunter

die Rektorenkonferenz der Universitäten, die Konferenz der Fachhochschulen

und der Schweizerische Nationalfonds.25 Trotz diesen verschiedenen Erklärungen

vollzieht sich die Umsetzung im Universitätsalltag relativ langsam.

22 Expertenteams haben die sogenannte Adelphi Charter verfasst, die eine Änderung be-stehender Urheber- und Autorenrechte fordert, da diese nicht mehr den modernen techni-schen, ökonomischen und sozialen Trends entsprächen und künftig Kreativität und Inno-vation bremsten. Zitiert und als Empfehlung aufgenommen von der OECD in: OECD/CERI, Giving Knowledge for Free. The Emergence of Open Educational Resources. ‹www.oecd.org/dataoecd/35/7/38654317.pdf›, S. 84.

23 Für die Homepage: ‹www.oai.uzh.ch›. Für die Forschenden steht der Dokumentenserver Zurich Open Repository and Archive (ZORA) zur Verfügung.

24 Hinweis hierzu in der Mitteilung der EU-Kommission vom 14.2.2007 über wissenschaft-liche Informationen im Digitalzeitalter. ‹http://ec.europa.eu/information_society/activi-ties/digital_libraries/doc/scientific_information/communication_de.pdf›, S. 4.

25 Der Schweizerische Nationalfonds sieht seit September 2007 Open Access für alle Publi-kationen der Beitragsempfänger vor: ‹www.snf.ch/SiteCollectionDocuments/OA_weisun-gen_d.pdf›.

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Offene Bildungsinhalte

Open Access wurde sehr rasch zu einer Bewegung mit tiefgreifenden Aus-

wirkungen auf Forschung und Wissenschaft, auf Lehren und Lernen, aber auch

auf wichtige Wirtschaftszweige, wie zum Beispiel das Verlagswesen. Die bisherige

Publikationspraxis wirkte sich zunehmend hemmend auf den beschleunigten Wis-

sensaustausch in einem globalisierten universitären System aus. Die den neuen

Technologien innewohnende Dynamik verlangte nach einem raschen und freien

Wissensaustausch über online zur Verfügung gestellte Forschungsergebnisse. Das

wissenschaftliche Verlagswesen stand plötzlich vor der großen Herausforderung,

sich in diesem veränderten Wissenschaftsbetrieb neu zu orientieren und neue Ge-

schäftsmodelle zu entwickeln.

Open Educational Resources (OER) – Freier Zugang zu Bildungsmedien im Internet

Bei den Open Educational Resources (OER) nahm die Unesco 2002 eine Vorrei-

terrolle wahr, und zwar mit dem «Forum on the Impact of Open Courseware for

Higher Education in Developing Countries». EU-Kommission und OECD folg-

ten mit wichtigen Publikationen. Inzwischen nahm die OER-Bewegung starken

Aufschwung und fand auch in der Schweiz einen guten Nährboden.26 Die Liste

der Initiativen und Publikationen ist lang. Wir beschränken uns auf zwei grund-

legende Werke.

Die EU-Kommission finanzierte das OLCOS-Programm – OLCOS steht

als Abkürzung für Open e-Learning Content Observatory Services – und publi-

zierte 2007 die OLCOS Roadmap 2012.27 Die OECD legte 2007 mit der Publi-

kation Giving Knowledge for Free. The Emergence of Open Educational Resources 28

ebenfalls ein Standardwerk vor. Beide Publikationen kommen bei der Analyse der

Akteure und Voraussetzungen für OER sowie der hemmenden und treibenden

Elemente zu vergleichbaren Ergebnissen und formulieren Empfehlungen für ver-

26 Auch bei den OER leistete die Universität Zürich (E-Learning Center) Pionierarbeit. Mit Bezug auf das Unesco-Forum von 2002 stellte sie 2007/2008 einen Podcast-Kompass zu OER ins Netz: ‹www.elc.unizh.ch/static/elearningpodcast/wp-content/uploads/oer-pod-cast_kompass.pdf›.

27 Der Bericht trägt den Titel Open Educational Practices and Resources. OLCOS Roadmap 2012. ‹www.olcos.org/cms/upload/docs/olcos_roadmap.pdf›.

28 OECD/CERI, Giving Knowledge for Free. The Emergence of Open Educational Resources. ‹www.oecd.org/dataoecd/35/7/38654317.pdf› (Zugriff: 24.1.2009).

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

schiedene Adressatengruppen auf internationaler, nationaler, regionaler und ins-

titutioneller Ebene.

Noch gebe es keine autorisierte Definition29 von OER, aber unter Expertin-

nen und Experten werde darunter Content verstanden, der zur Wiederverwen-

dung frei verfügbar sei, geändert und angereichert werden dürfe und solle. Bei

OER geht es um digitalisiert zur Verfügung gestellte Materialien für formales wie

informelles Lehren und Lernen – Materialien, die sowohl aus dem Bildungs- wie

dem Kulturbereich (Archive, Bibliotheken Museen usw.) stammen. OER umfas-

sen nicht nur Inhalte, sondern auch technische Tools und andere für die Umset-

zung nötige Voraussetzungen (zum Beispiel Regelung der Autorenrechte). Noch

etwas unklar sei, ob es sich zwingend auch um kostenfreien Content handeln

müsse. In beiden Publikationen wird darauf hingewiesen, dass private Anbieter

herausgefordert sind, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und unter anderem

mit begleitenden Serviceleistungen (zum Beispiel Tutoring) für freien Content

einen Markt zu schaffen.30

In jedem Fall sind OER und OSS eng verbunden, denn nur ein offener Quell-

code ermöglicht es Lernenden, Lehr- und Lernmaterial kreativ zu verarbeiten

und lernend weiterzuentwickeln. Wie wir bereits dargelegt haben, kann auch OSS

nicht einfach mit «kostenlos» gleichgesetzt werden.31

Die OER-Bewegung ging einerseits von renommierten Universitäten aus.

Diese sind in einer globalisierten, vom intensivierten internationalen Wettbewerb

geprägten Wissensgesellschaft herausgefordert, sich zu positionieren, auch mit

der Absicht, besonders qualifizierte Studierende und damit Studiengebühren und

Sponsoren anzuziehen. Die OER entspringen aber auch akademischen Traditio-

nen. Die mit Steuergeldern vielfach mitfinanzierte Wissensproduktion soll als All-

gemeingut wieder allen zugute kommen. So wie heute keine Organisation ohne

Homepage auskommt, könnte es sein, dass künftig keine höhere Schule auf das

mit OER zu erzielende Renommee verzichten kann und will.

Es sind aber nicht allein die Universitäten, die OER erstellen. In beiden oben

erwähnten Berichten wird darauf hingewiesen, dass es sich im Wesentlichen um

29 OLCOS Roadmap 2012, a. a. O., S. 20 f.; OECD/CERI, a. a. O., S. 10, S. 29 ff., insbeson-dere S. 38.

30 OLCOS Roadmap 2012, a. a. O., S. 54. Viele Autorinnen und Autoren stellen ihre Produkte frei zur Verfügung, schließen aber eine Kommerzialisierung aus, siehe S. 59; OECD/CERI, a. a. O., S. 93 ff.

31 Siehe oben, Abschnitt «Trend zu Open Source Software (OSS) – weltweit und in der Schweiz», S. 43.

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Offene Bildungsinhalte

eine Grassroots-Bewegung handelt und wichtige Impulse aus den Communities

kommen, den Netzwerken unterschiedlichster Art.32 Die Beweggründe für die

beteiligten Individuen sind äußerst vielschichtig. Aus den Antworten auf einen

Fragebogen der OECD geht hervor, dass als Motive Publizität und Anerkennung

in einer Community im Vordergrund stehen. Von großem Interesse sind auch

Rückmeldungen und eventuelle Verbesserungsvorschläge, nicht aber finanzielle

Entgelte.33

OER entstehen in mannigfacher Weise, gibt es doch bezüglich Zusammen-

arbeit und Finanzierung unterschiedlichste Typen und Mischmodelle. Eine erste

wichtige Gruppe von OER besteht aus Lernsoftware, die eher zentral organisiert

und in Institutionen mit Expertenwissen erarbeitet wird, hohe Qualität aufweist,

Maßnahmen zur Qualitätssicherung einschließt, aber auch eine breitere Finanzie-

rungsbasis voraussetzt. Eine zweite wichtige Gruppe von OER umfasst Produkte,

die dezentral und unter Beteiligung vieler einzelner Expertinnen und Experten

entstehen und modulartig mit vielfach freiwilligen Beiträgen Wissen ohne große

Kostenfolgen zusammentragen. Hier stellen sich jedoch Fragen der Qualität und

der Qualitätssicherung.34

Noch sind die tiefgreifenden Auswirkungen von OER nicht voll sichtbar. Es

ist zu erwarten, dass sich die Aufgabenteilung und die Rollen der verschiedens-

ten Akteure im Bereich der Wissensgesellschaft verändern werden. Schulen und

Lehrerschaft werden zu Begleitern von verstärkt selbstständig Lernenden.35 Der

bisherige Markt der Lehr- und Lernmittel wird auf die Herausforderung durch

diese freie Lernsoftware reagieren und neue Geschäfts- und Finanzierungsmo-

delle entwickeln müssen.

32 Insbesondere OECD/CERI, a. a. O., S. 26: «… that OER activities are still largely grass-roots activities among individual teachers and research groups…»; S. 47: «…that OER is still mostly a grass-roots phenomenon …»

33 A. a. O., S. 65 ff., insbesondere Figure 4.1., S. 68, das Ergebnis einer Umfrage darstellend, aus der hervorgeht, dass das Motiv eines finanziellen Entgelts ganz am Schluss der Rang-liste steht.

34 A. a. O., Schemata und Beispiele auf S. 46 und S. 89.35 OLCOS Roadmap 2012, a. a. O., z. B. S. 40: «… re-defining good teaching: ‹from the sage

on the stage› to the ‹guide on the side›», und S. 55 f.; OECD/CERI, a. a. O., z. B. S. 124: «… to become more and more assessment organisations and less and less teaching estab-lishments …»

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

Schweizerische Strategien – es hapert bei der Umsetzung

Der Schweizerische Bundesrat hat seine Strategie für eine Informationsgesell-

schaft in der Schweiz im Januar 2006 neu aufgelegt.36 Die neuen Informations-

und Kommunikationstechnologien sollen rasch, koordiniert und zum Nutzen

aller eingesetzt werden. Das in ihnen liegende Potenzial zur Produktivitätssteige-

rung und Innovation sei auszuschöpfen, um den Wohlstand der Bevölkerung zu

mehren und die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz sicherzustellen.

Bei der Umsetzung hapert es allerdings. Die in der Schweiz vielfach prakti-

zierte «Kirchturmpolitik», die sich dahingehend auswirkt, dass das Rad wieder-

holt erfunden wird, hat unser Land bei der Entwicklung einer modernen Infor-

mationsgesellschaft in Rückstand gebracht. Diese «Kirchturmpolitik» entspricht

keineswegs der ursprünglichen Idee des schweizerischen Föderalismus, wonach

Probleme dort gelöst werden, wo dies am besten möglich ist – privat oder öffent-

lich, entweder auf der Ebene der Gemeinden, der Kantone oder des Bundes. Die

kleinräumige föderalistische Struktur bietet initiativen Einzelnen viel Freiraum

für das Entwickeln und Austesten neuer Lösungen und kann, falls Innovatio-

nen frühzeitig wechselseitig ausgetauscht werden, besonders innovationsfördernd

wirken.

Um die Umsetzung zu verbessern, haben Bund und Kantone erstmals in

einer gemeinsamen Strategie für einen Teilbereich, für E-Government, ein Vorge-

hensprinzip dargelegt und aufgezeigt, wie die nötige Dynamik im föderalistischen

Staatsaufbau ausgelöst werden könnte. Im Zentrum der E-Government-Strategie

Schweiz vom Januar 200737 und in der dazugehörigen Rahmenvereinbarung über

die Zusammenarbeit von Bund und Kantonen38 steht das Prinzip «Einmal entwi-

ckeln – mehrfach anwenden».

Dank offenen Standards und gegenseitigem Austausch sollen Investitionen

optimal genutzt werden. Kreative und innovative Stellen bei Bund, Kantonen

und Gemeinden können ihre Handlungsspielräume voll nutzen und als Pioniere

36 Strategie des Bundesrates für eine Informationsgesellschaft in der Schweiz, Januar 2006. ‹www.bakom.admin.ch/themen/infosociety/00695/index.html?lang=de›.

37 E-Government-Strategie Schweiz, Januar 2007. ‹www.isb.admin.ch/themen/egovernment/ 00067/index.html?lang=de›.

38 Öffentlich-rechtliche Rahmenvereinbarung über die E-Government-Zusammenarbeit in der Schweiz (2007–2011), Art. 1–4. ‹www.news-service.admin.ch/NSBSubscriber/message/at-tachments/9384.pdf›.

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Offene Bildungsinhalte

wirken.39 Um Doppelspurigkeiten zu verhindern und eine organisationsübergrei-

fende Leistungserbringung sicherzustellen, wurde für E-Government ein gemein-

sames Steuerungsorgan eingesetzt. Dieses sorgt dafür, dass für die im Katalog

der priorisierten Vorhaben aufgelisteten Projekte je eine federführende Stelle im

schweizerischen Föderalismus bezeichnet wird.40 Implizit wird mit diesem Prinzip

auf OSS-Produkte gesetzt, da nur sie die Weitergabe entwickelter Software und

ihre ständige Entwicklung zugunsten aller Nutzenden ermöglichen.

Es geht vorwärts im Bildungswesen – aber nicht schnell genug

Die Schweiz ist nicht nur bei der OSS-Bewegung im Rückstand, sie ist es erst recht

bei den beiden andern Bewegungen, bei Open Access und vor allem bei OER.

Die erwähnte bundesrätliche Strategie für eine Informationsgesellschaft in

der Schweiz enthält ein spezielles Kapitel zur Bildung, der eine Schlüsselrolle

für die Wohlfahrt der Bevölkerung und die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz in

einer globalen Wissensgesellschaft zukommt.41 Der Bundesrat spricht zudem die

elektronischen Lehr- und Lernmittel explizit an. Im Bereich der digitalen Lehr-

und Lerninhalte und allgemein bei den pädagogischen Ressourcen soll die Ver-

netzung der Partner gefördert werden, und man will auch zu Produktion, Zu-

gang und Nutzung beitragen. Angesichts der Aufgabenteilung, die den Bund auf

die Berufsbildung und das Hochschulwesen beschränkt, ruft der Bundesrat die

Kantone zur koordinierten Erarbeitung einer Strategie in ihrem Kompetenzbe-

reich auf allen Stufen der Bildung auf.42

Die nötige verstärkte Koordination im Bildungswesen ist mittlerweile ein

Verfassungsauftrag. Die neuen, revidierten Bildungsartikel wurden mit hohem

Ja-Stimmen-Anteil in der Volksabstimmung vom 21. Mai 2006 angenommen.43

Die Umsetzung erfolgt mit der von den Kantonen inzwischen erarbeiteten inter-

kantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule,

39 E-Government-Strategie Schweiz, a. a. O., dargelegt in den Kapiteln 1.2 und 1.4.40 Öffentlich-rechtliche Rahmenvereinbarung, a.a.O, Art. 7–9 und Art. 15–17.41 Strategie des Bundesrates für eine Informationsgesellschaft in der Schweiz, Januar 2006, Kapi-

tel 5 (Bildung). ‹www.bakom.admin.ch/themen/infosociety/00695/index.html?lang=de›.42 A. a. O., Ausführungen zum Bereich Bildung, Kapitel 5. 43 Ja-Anteil von 85,6 Prozent, Ergebnisse der Volksabstimmung vom 21.5.2006. ‹www.

admin.ch/ch/d/pore/va/20060521/index.html›.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

dem HarmoS-Konkordat. Sobald zehn Kantone dieser Vereinbarung beigetreten

sind, wird sie in jenen Kantonen, die unterzeichnet haben, in Kraft treten.

Das HarmoS-Konkordat strebt sowohl eine Vereinheitlichung der äußeren

Strukturen als auch eine bessere Abstimmung von Lehrplänen, Lehrmitteln und

Evaluationsinstrumenten jeweils auf sprachregionaler Ebene an. Als Vorgaben

sollen nationale Bildungsstandards erarbeitet werden. Diese müssen konsensfä-

hig sein, unterliegen sie doch der Vernehmlassung bei den Kantonen, bevor sie

von der Plenarversammlung der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Er-

ziehungsdirektoren (EDK) mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder

verabschiedet werden können.44 Diese Bildungsstandards werden verbindliche

Leistungsstandards pro Fachbereich umschreiben; ein Bildungsmonitoring wird

überprüfen, ob die Standards erreicht werden.45 Die Harmonisierung der kanto-

nalen Lehrpläne und die Koordination der Lehrmittel erfolgen auf sprachregio-

naler Ebene. Neu sollen Portfolios die im Laufe der Zeit schulisch wie außerschu-

lisch erworbenen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler festhalten.46

Die EDK verfügt zudem über eine spezielle Strategie zu den neuen Infor-

mations- und Kommunikationstechnologien.47 Seit 1989 besteht die Schweizeri-

sche Fachstelle für Informations- und Kommunikationstechnologien im Unter-

richt (SFIB),48 und 2005 wurde mit der Schweizerischen Koordinationskonferenz

ICT und Bildung (SKIB)49 ein hochkarätiges Koordinations- und Umsetzungs-

gremium geschaffen. Mit dem Schweizerischen Bildungsserver, dem educa-Ser-

ver,50 steht auch eine gemeinsame Plattform zur Verfügung.

Wichtige Strategien und Strukturen sind im Bildungswesen also durchaus

vorhanden. Trotzdem wird zu wenig Dynamik spürbar, die allerdings nicht ein-

fach «von oben» verordnet werden kann. Sie müsste auch «von unten» kommen,

was nur möglich wäre, wenn das Potenzial von OSS besser ausgeschöpft würde.

44 Art. 7 Abs. 4 und Art. 16, HarmoS-Konkordat.45 Wichtige Dokumente zum HarmoS-Konkordat (unter anderem das Konkordat mit Kom-

mentar sowie die Liste zum Stand des Beitrittsverfahrens finden sich online über: ‹www.edk.ch/dyn/11659.php› (Zugriff 27.10.2008).

46 A. a. O., Art. 7–10 HarmoS-Konkordat.47 Strategie der EDK im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) und

Medien, März 2007. ‹http://edudoc.ch/record/30020/files/4_8_ICT_d.pdf› (Zugriff: 24.1.2009).

48 Zur SFIB: ‹www.educa.coop/dyn/80284.htm›.49 Zur SKIB: ‹www.educa.coop/dyn/9.asp?url=80287%2Ehtm›.50 Educa-Server: ‹http://educa.ch›. Auf der Homepage ist sehr viel Information. Nur mit

einem Login zugänglich ist educanet2, die interaktive Arbeits- und Lernumgebung für Schule und Ausbildung.

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Offene Bildungsinhalte

OSS-Produkte: Neue Zusammenarbeitsformen erweitern das Marktmodell

Die OSS-Bewegung hat bereits breitere Kreise erfasst, und die Auswirkun-

gen auf Markt und Geschäftsmodelle sind deutlich sichtbar. Die neuartigen

Formen der Zusammenarbeit, die sich mit OSS entwickeln, liegen näher bei

einem genossenschaftlichen als einem marktwirtschaftlichen Modell. Vielfach

entwickeln Nutzende für andere Nutzende Anwendungen, welche die kosten-

frei bezogene OSS in der von ihnen angereicherten oder verbesserten Version

anschließend wiederum frei zur Verfügung stellen. Die einzelnen Anwender

bezahlen für den von ihnen initiierten Entwicklungsaufwand, für Installatio-

nen und Pflegemaßnahmen zur Sicherstellung von Verfügbarkeit und Quali-

tät, zum Beispiel bezüglich Benutzbarkeit, Anpassungsfähigkeit und Entwick-

lungspotenzial.

Der Nutzen von OSS ergibt sich aus der verstärkten Zusammenarbeit in der

Anwender-Community. Die verschiedenen OSS-Produkte müssen einander nicht

Konkurrenz machen, denn die Neuerungen können gegenseitig kopiert werden,

so lassen sich immer bessere Produkte entwickeln. Anpassungsfähigkeit und Ent-

wicklungspotenzial der einzelnen bestehenden Anwendungen sind entscheidend

dafür, ob sich ein Produktname hält oder über unterschiedlichste Mutationen zu

einer neuen Marke wird.

Nicht nur finanzpolitische, auch wirtschaftspolitische und volkswirtschaft-

liche Überlegungen sprechen für OSS. OSS ist speziell für jene interessant, die

nur über kleine Budgets und beschränkte ICT-Kompetenzen verfügen. Es sind

dies viele Gemeinden, aber auch kleine und mittlere Unternehmen, die gemäß

den Berechnungen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) mit der verstärkten

Nutzung des Internets erhebliche Kosten einsparen könnten,51 sowie ganz be-

sonders auch Schulen.

Auf der Anbieterseite eröffnen OSS-Entwicklungen initiativen kleineren

und mittleren Unternehmen (KMU) einen interessanten Markt für Neuentwick-

lungen im Auftrag von Anwendern und Nutzern. Diese OSS-Produkte werden

nach marktwirtschaftlichen Regeln entwickelt und beleben den Software-Markt.

Gleichzeitig führen sie auch zu einer verschärften Konkurrenz der Anbieter von

besten Produkten, eine durchaus erwünschte Wirkung. Das volkswirtschaftliche

51 Mitteilung auf dem KMU-Portal: PloneGov – und KMU sind ohne große Kosten fit fürs Internet. ‹www.kmu.admin.ch/aktuell/00493/00731/00903/index.html?lang=de›.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

Potenzial ist nicht zu unterschätzen. Es werden qualifizierte Arbeitsplätze ge-

schaffen, und es fallen für die öffentliche Hand Steuereinnahmen an.

Ein belebter Software-Markt sorgt für ein gewisses Gegengewicht zu den

heute den Markt beherrschenden Anbietern proprietärer Systeme. Die Abhän-

gigkeiten von den großen, weltweit operierenden Lieferanten von CSS könnten

somit etwas reduziert werden, womit sich auch Probleme der Sicherheit entschär-

fen ließen. OSS ist für Hacker und kriminelle Computeraktivitäten wegen des ge-

ringeren Schadenpotenzials weit weniger attraktiv als CSS.

Große Firmen, Unternehmen und öffentliche Verwaltungen werden vermut-

lich weiterhin auf CSS-Produkte setzen. Sie verfügen meist bereits über zahlrei-

che Anwendungen, die auf eingekauften proprietären Systemen beruhen, und

müssen die Mehrkosten einer Umstellung auf OSS gegenüber möglichen Einspa-

rungen abwägen. Vielfach haben Großunternehmen auch ein Interesse, einzelne

oder alle Informatikbereiche – weniger Supportdienstleistungen, die sofort vor

Ort erbracht werden müssen – auszulagern und Dritten in Auftrag zu geben.

Der Markt wird voll zum Spielen kommen, wenn vor einer Beschaffung

die Vor- und Nachteile von OSS gegenüber CSS-Produkten für jeden Einzel-

fall gründlich analysiert werden. Die neuartigen Formen der Zusammenarbeit,

die sich eher nach genossenschaftlichen Regeln entwickeln, und die Impulse aus

Marktwirtschaft, Konkurrenz und Wettbewerb könnten sich ergänzen und wech-

selseitig stimulieren.

Unabdingbare Voraussetzungen für OSS als Auslöser dynamischer Entwicklungen

Damit ein OSS-Produkt nachhaltig dynamische Entwicklungen auslösen kann,

muss es ein paar Voraussetzungen erfüllen, die unabdingbar sind. OSS-Pro-

dukte werden zwar aus unterschiedlichen Motiven entwickelt und für die Wei-

terentwicklung frei abgegeben. Vielfach besteht jedoch die Erwartung, dass das

eigene Produkt von andern weiterentwickelt wird und den Erstnutzenden dann

in verbesserter Qualität wieder zur Verfügung steht. Das neue, bessere Produkt

entsteht durch die Integration bereits entwickelter Komponenten. Es braucht

somit vorerst ein gutes Ausgangsprodukt, um dynamische Entwicklungen aus-

zulösen.

OSS-Entwicklungen weisen einige Schwachpunkte auf. Solche Produkte ent-

stehen vielfach dezentral und bedarfsorientiert, was zu isolierten Einzellösungen

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Offene Bildungsinhalte

mit fragwürdiger Qualität und ohne Sicherheiten bezüglich Wartung und ständi-

ger Weiterentwicklung führen kann.

Zukunftstaugliche Produkte sollten in der heutigen vernetzten Welt stets im

Rahmen übergeordneter Ziele – in der Schweiz sind dies vorgegebene behördli-

che Strategien – und in Abstimmung mit internationalen Trends entwickelt wer-

den. Nötig wären somit Instanzen, welche die Produkte «urwüchsiger» OSS-

Kreativität evaluieren und mit Bezug auf Qualität sowie Sicherheit bei Wartung

und Weiterentwicklung beurteilen. Eine unkoordinierte Selbstkontrolle durch die

Anwender-Community genügt kaum. Größere Sicherheit lässt sich erzielen, wenn

die Anwender-Community sich selbst organisiert. In der Schweiz nimmt der Ver-

ein eCH die Funktion wahr, Standards festzulegen. Jedes zukunftstaugliche OSS-

Produkt bedarf jedoch zusätzlich einer Pflege- und Entwicklungsstrategie. Diese

Strategie muss darlegen, wie die Qualität durch ständige Kontrollen und die Eva-

luation allfälliger Neuentwicklungen sichergestellt wird und mit welchen Maß-

nahmen Wartung und Support organisiert werden.

Dynamik mit OSS – Regelungsbedarf am Beispiel PlonGov

Die auf dem Markt vorhandenen Geschäftsverwaltungsmodelle sind für viele An-

wender – kleine und mittlere Gemeinden, KMU, Schulen – zu ausgeklügelt und

damit in der Handhabung zu aufwendig und zudem zu teuer. Weil kein einfaches

System vorhanden war, das die wichtigsten Bedürfnisse kostengünstig abdecken

konnte, musste eines geschaffen werden. Es entstand die OSS PloneGov. Dieses

Produkt wurde vom Informatikstrategieorgan des Bundes (ISB), der Fachstelle

für Informatik und Organisation Basel-Stadt und der Firma 4teamwork in Bern

gemeinsam entwickelt und ausgetestet.52 PloneGov zeichnet sich dadurch aus,

dass es schrittweise, bedarfsgerecht und unter Einbezug aller Beteiligten ohne

große Kostenfolgen eingeführt werden kann. PloneGov verfügt über alle we-

sentlichen Funktionen einer Geschäftskontrolle und -ablage sowie einen eigenen

52 Siehe hierzu Machbarkeitsstudie/Projektbericht GEVER light mit OSS Software des ISB vom 16. Oktober 2006. ‹www.plonegov.ch/downloads/projektbericht-isb-30-okt-2006/file›. Die intensive Zusammenarbeit der erwähnten Stellen geht ebenfalls aus mehreren ihrer Präsentationen hervor: ‹www.plonegov.ch/funktionen› und ‹www.plonegov.ch/down loads›.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

Webauftritt mit Foren und Extranet. Seine besondere Stärke liegt im Kommuni-

kationsraum.53

Zur Pflege, Wartung und Weiterentwicklung dieser OSS wurde im Jahr 2007

der Verein PloneGov54 gegründet. Der Name signalisiert, dass bei seiner Grün-

dung die Einführung und Verbreitung einer OSS für E-Government respektive

für die elektronische Abwicklung von Behördengeschäften in Gemeinden sowie

kleineren und mittleren Unternehmen im Vordergrund stand. Von Anfang an

wurden jedoch auch Anwendungen im Bildungswesen anvisiert.

Was PloneGov kann, leisten auch zahlreiche andere OSS-Produkte. Der Ver-

ein PloneGov will auch nicht ein Produkt oder eine Marke verbreiten, sondern

Dynamik in die OSS-Bewegung hineinbringen. Sollten bessere Anwendungen

mit anderen OSS-Produkten entwickelt werden, so sind diese zu integrieren, oder

es wird zumindest eine enge Zusammenarbeit gesucht. Die auszulösende Dyna-

mik bedarf eines Ausgangsprodukts.

Der im April 2007 gegründete Verein PloneGov will über seine Organe beim

heute vorliegenden Ausgangsprodukt die Einhaltung schweizerischer Standards

(eCH) und die Gesetzeskonformität kontrollieren sowie das Release-Management

und eine ständig evaluierte Weiterentwicklung sicherstellen.55 Der Verein verfügt

über eine Pflege- und Weiterentwicklungsstrategie56 sowie über ein Konzept für

Fachgruppen, das die an einer bestimmten Entwicklung Interessierten zusam-

menführt. Die von den Fachgruppen vorgelegten Weiterentwicklungen unterlie-

gen einer Qualitätsprüfung durch den Expertenausschuss des Vereins, bevor sie

in den PloneGov.ch-Standard aufgenommen werden können.57 Dieser PloneGov.

ch-Standard ist das zentrale Arbeitsergebnis der Vereinsaktivitäten.58

Die Statuten halten fest, dass die von den Fachgruppen erarbeiteten Plo-

neGov-Funktionen unter Nennung der jeweiligen Urheber von PloneGov un-

entgeltlich und uneingeschränkt genutzt, weiterverbreitet und weiterentwickelt

53 Siehe hierzu die verschiedenen Anwendungsfälle: ‹www.plonegov.ch/downloads›.54 Homepage des Vereins: ‹www.plonegov.ch/ueber-plonegov/der-verein-plonegov.ch›. 55 Art. 2, Statuten des Vereins PloneGov. ‹www.plonegov.ch/ueber-plonegov/der-verein-plo-

negov.ch/statuten_plonegov-ch_2007_04_03_v0-5.pdf/file›. 56 PloneGov, Pflege- und Entwicklungsstrategie, März 2008. ‹www.plonegov.ch/ueber-plone-

gov/der-verein-plonegov.ch/Unterlagen-fuer-die-Hauptversammlung-vom-11.3.2008/PloneGov-Pflege-und-Weiterentwicklungsstrategie-V.pdf/file›.

57 Art. 26–31, Statuten des Vereins PloneGov. ‹www.plonegov.ch/ueber-plonegov/der-ver-ein-plonegov.ch/statuten_plonegov-ch_2007_04_03_v0-5.pdf/file›.

58 Dies wird festgehalten in der Pflege- und Entwicklungsstrategie (vgl. Anm. 56), Kapitel 8 (Standardisierungsprozess).

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Offene Bildungsinhalte

werden können. Die entwickelte PloneGov-Software steht allen Interessierten

unentgeltlich zur Verfügung. Zu bezahlen sind die Kosten für Entwicklung, In-

stallation, für Pflegemaßnahmen und zur Sicherstellung der Verfügbarkeit und

Qualität von Bestandteilen des PloneGov.ch-Standard-Funktionsumfangs.59 Wei-

terentwicklungen von PloneGov.ch finden nur statt, wenn dafür ein Bedarf be-

steht und sie durch die in den Fachgruppen mitwirkenden Organisationen finan-

ziert werden.60

Die Mitgliedschaft im Verein ist kostenlos, setzt aber eine aktive Anwendung

von PloneGov-Tools voraus sowie die Bereitschaft, selbst oder in eigenem Auf-

trag erstellte PloneGov-Funktionen allen Vereinsmitgliedern kostenlos zur Verfü-

gung zu stellen respektive projektspezifische Regelungen betreffend diese Weiter-

gabe einvernehmlich mit dem Vereinsvorstand zu regeln.61

PloneGov: international vernetzt und ausgezeichnet

Der PloneGov-Verein will zur Umsetzung der E-Government-Strategie Schweiz

beitragen und verpflichtet daher den Vorstand dazu, den ständigen Kontakt mit

der Geschäftsstelle des Steuerungsausschusses und mit andern Organisationen zu

pflegen, die ähnliche Ziele verfolgen.62 Das Produkt liegt voll auf der Linie des

Kernstückes dieser Strategie und trägt dazu bei, das Prinzip «Einmal entwickeln –

vielfach anwenden» zum Tragen zu bringen. Bereits wurde ein Antrag beim Bund

eingereicht, das Produkt mit dem Gütesiegel eines Bundesstandards auszuzeich-

nen und in den Katalog der priorisierten Vorhaben aufzunehmen.

Im Juni 2007 hat sich die internationale Organisation PloneGov.org gebil-

det.63 Diese vereinigt vergleichbare Initiativen auf Plone-Basis aus rund siebzig

Ländern in Europa, Nord- und Südamerika sowie Afrika. Der Verein PloneGov

arbeitet vor allem mit Entwicklerinnen und Entwicklern aus Belgien, Frankreich

und Spanien zusammen. Im Rahmen von PloneGov.org wird für eine sinnvolle

59 Dies wird in der Pflege- und Entwicklungsstrategie (Anm. 56) präzisiert, Kapitel 3 (Grund-sätze).

60 Der angestrebte Funktionsumfang ist im Management Whitepaper, S. 5 umschrieben. ‹www.plonegov.ch/dokumentation/plonegov_management_whitepaper.pdf/file›.

61 Für die kostenlose Mitgliedschaft siehe Art. 9, Statuten, a. a. O. Die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft sind in Art. 16, Geschäftsreglement vom März 2008 festgehalten. ‹www.plonegov.ch/ueber-plonegov/der-verein-plonegov.ch/Unterlagen-fuer-die-Hauptver-sammlung-vom-11.3.2008›.

62 Art. 11, Geschäftsreglement, a. a. O. 63 Die Homepage enthält sehr viel Material: ‹www.plonegov.org›.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

Arbeitsteilung unter den verschiedenen PloneGov-Projekten gesorgt und zu die-

sem Zweck ein gemeinsames Projektportfolio gepflegt. Der Verein ist gehalten,

die Kooperation auf internationaler Ebene zu pflegen, insbesondere mit Plone-

Gov.org.64 Die Zusammenarbeit auf nationaler wie internationaler Ebene findet

regelmäßig in sogenannten Sprints oder Konferenzen statt.65

Bereits mehrmals erhielt das Produkt renommierte internationale Auszeich-

nungen. Bei den prestigeträchtigen Gold Lutèce awards of Paris, die alle Jahre

unter dem Patronat des Pariser Bürgermeisters vergeben werden, ging der beson-

ders begehrte Grand Prix du Jury an das PloneGov-Produkt.66 PloneGov wurde

zudem in einer CMS-Studie von CMS Watch unter zahlreichen Produkten als

bestes System ausgezeichnet.67 Inzwischen hat auch die EU-Kommission Plone-

Gov mit dem Good Practice Label 2007 ausgezeichnet.68

Dynamischer Bildungsbereich mit OSS?

Auch im Bildungswesen sollten Innovationen, oftmals das Werk von einzelnen

Personen, Schulen, Gemeinden oder Kantonen, zum Nutzen aller fruchtbar ge-

macht werden. Vielfach gehen Synergien verloren, weil gute Produkte, die von

andern problemlos übernommen werden könnten, nicht genügend bekannt sind.

Trotz eines gewissen Rückstands wurden in der Schweiz ein paar wichtige Etap-

pen erreicht.

Dank der Initiative Public Private Partnership – Schule im Netz (PPP-SiN),

getragen von Bund, Kantonen und Privatwirtschaft, wurden die schweizerischen

Schulen mit den neuen Technologien ausgestattet und ans Internet angeschlos-

sen.69 Das entsprechende Programm PPP-SiN, das im Jahr 2002 gestartet wurde,

konnte bei seinem Abschluss im Juli 2007 auf eine stolze Leistungsbilanz hinwei-

64 Präzisiert in der Pflege- und Weiterentwicklungsstrategie, Kapitel 3 (Grundsätze) und Kapi-tel 4 (Ziele), ferner in Art. 9, Geschäftsreglement, a. a. O.

65 Ende Mai/Anfang Juni 2007 fand in Seneffe, Belgien, mit Unterstützung des dortigen Bürgermeisters und vormaligen EU-Kommissars Philippe Busquin ein internationales Tref-fen statt, im Oktober 2007 eine große Konferenz in Neapel mit über 350 Teilnehmenden aus aller Welt. Vgl. hierzu die Berichterstattung: ‹www.plonegov.ch/news›.

66 Zur Preisverleihung: ‹www.logiciellibre.net/2007/shortnews20070613.php›.67 Vgl. hierzu: ‹www.plonegov.ch/news/plonegov-gewinnt-open-source-preis-in-frankreich-

plone-als-weltbestes-cms/bernarticleblock_direct_view›, mit weiterführenden Links zu ‹www.cmswatch.com›.

68 ‹www.zeapartners.org/articles/eu-label007›. 69 PPP-SiN verfügt über eine eigene Homepage: ‹www.ppp-sin.ch/›.

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Offene Bildungsinhalte

sen.70 Das Bildungswesen erhielt einen entscheidenden Impuls. Es konnte eine

eigentliche «Win-win»-Situation realisiert werden. Die öffentliche Hand profi-

tierte von vergünstigten oder gar kostenfreien Angeboten und auch vom Fach-

wissen der Privaten. Die Wirtschaft konnte ihr Kundennetz um wichtige Verant-

wortungsträger im Bildungswesen erweitern und mit den Lernenden potenzielle

Kunden von morgen gewinnen.71

Als Bilanz des fünfjährigen Programms konnte 2007 festgehalten werden,

dass fast hundert Prozent aller Schulen nun über Computer verfügen, über fünf-

undneunzig Prozent Zugang zum Internet haben und über neunzig Prozent aller

Schulen educanet2, die Lernplattform des schweizerischen Bildungsservers, be-

nutzen. Auch in der Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen konnten größere

Fortschritte erzielt werden.72

Ein verstärkter Einsatz von OSS-Produkten kann zur Kostensenkung ange-

zeigt sein. Dass wegen der mit PPP-SiN in den Schulen eingeführten proprietären

Softwaresysteme jährlich Lizenzgebühren anfallen, wurde auch schon kritisiert.73

Es stellt sich allerdings die Frage, ob im Schul- und Bildungswesen nicht zusätzlich

zu proprietärer Software, allenfalls prioritär, lizenzfreie OSS-Produkte eingesetzt

werden sollten – vor allem auch im Hinblick auf mögliche Lernprozesse. Um diese

geht es ja, nicht in erster Linie um Ergebnisse in Form qualitativ guter Produkte,

wenn Lehrende und Lernende mit OSS-Produkten selbst programmieren sollten.

Zumindest an den weiterführenden Schulen genügt reines Anwenderwissen

nicht. Es braucht Grundlagenkenntnisse in der Informatik, sollen künftige Gene-

rationen die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien kreativ nut-

zen und weiterentwickeln können. Eines der wichtigen Ziele des Informatikjahres

200874 war es, das Interesse der Jugendlichen für die Informatik als kreative und

spannende Wissenschaft und als attraktives Berufsfeld zu wecken.75

70 Die Evaluation des Programms PPP-SiN liegt in Form einer Buchpublikation vor: Beat Hotz-Hart/Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) (Hrsg.), ICT und Bil-dung: Hype oder Umbruch? TIC et formation: Effet de mode ou changement en profondeur? (Bern 2007).

71 A. a. O. Die verschiedenen Autoren ziehen durchwegs eine positive Bilanz mit Formulie-rungen (z. B. S. 75 und 170), an die sich der vorliegende Text bewusst hält.

72 A. a. O., S. 130 f.73 Als Beispiel eines sehr kritischen Artikels sei hier erwähnt: Bernard Raos/Andrea Caprez,

Eine schöne Bescherung, in: Der Schweizerische Beobachter vom 16. 5. 2008.74 Zum Informatikjahr 2008: ‹www.informatica08.ch›. 75 Die einfache Programmiersprache Scratch und das Online-Lehrmittel iLearnIT.ch sind für

Kinder und Jugendliche konzipiert. Vgl.: ‹www.informatica08.ch/scratch›, ‹http://scratch.mit.edu›, ‹www.ilearnit.ch›.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

Lernprozesse mit einem OSS-Produkt in Basler Schulen

Im Folgenden soll an einem kantonalen Beispiel dargestellt werden, wie die Ein-

führung eines OSS-Produktes nachhaltige Entwicklungen auslösen konnte. Es

geht hierbei nicht bloß um ein überzeugendes Produkt – eine einfach zu hand-

habende Homepage für Schulhäuser –, sondern um Lernprozesse. Es ist wichtig,

dass Schulhäuser eine benutzergerechte Homepage mit großem Informationsge-

halt betreiben. Noch bedeutsamer ist jedoch, dass die Nutzenden selber zu Pro-

duzierenden werden und lernen, eine Homepage inhaltlich zu gestalten.

Wie in vielen Kantonen stellte sich in Basel-Stadt76 das Problem, dass der Sup-

port für die vielen von den Schulhäusern erstellten und auf dem Basler Bildungs-

server betriebenen Homepages zu aufwendig wurde. Die Homepages waren in

ihrer Konzeption, ihrem Aussehen wie auch im Informationsgehalt sehr unter-

schiedlich und nicht durchwegs zufriedenstellend. Bei der zuständigen Fachstelle

im Kanton entstand daher die Idee, den Schulhäusern eine Art leere Webseite zur

Verfügung zu stellen, die einfach zu bedienen wäre, großen individuellen Gestal-

tungsspielraum zuließe und trotzdem auf den ersten Blick die Schule als Basler

Schule ausweisen würde.

Auf der Grundlage von Plone wurde ein Produkt mit dem Namen eduBS-

Plone entwickelt und den Schulen zur Verfügung gestellt. Nur ein Jahr später

wurde eduBS-Plone in über 35 Schulen und Institutionen des Erziehungsdepar-

tementes Basel-Stadt genutzt. Dass das OSS-Produkt sowohl von Primarschu-

len, Gewerbeschulen und Gymnasien als auch vom Amt für Berufsberatung über-

nommen wurde, zeigt, dass es unterschiedlichste Bedürfnisse abdecken kann

und äußerst flexibel einsetzbar ist. Dank seiner leichten Handhabung wurden

die verschiedenen Gruppen – Schulleitungen und Lehrerschaft, Schülerinnen und

Schüler sowie Eltern – zu Nutzenden und gleichzeitig Produzierenden.

Die eingeleitete dynamische Entwicklung läuft weiter. Inzwischen wurde der

Internetauftritt des Bildungsraums Nordwestschweiz mit eduBS-Plone umge-

setzt. Die zuständige Fachstelle beim Kanton passt das Produkt laufend neuen

Bedürfnissen an und entwickelt es weiter. Auch hier kann nach dem Prinzip «Ein-

mal entwickeln – mehrfach anwenden» das Produkt von anderen – Kantonen, Ge-

meinden oder Schulhäusern – übernommen und weiterentwickelt werden.

76 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf eine Darstellung von Markus Bäumler, Co-Fachstellenleiter der ICT Basler Schulen, der Fachstelle des Erziehungsdepartementes Ba-sel-Stadt.

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Offene Bildungsinhalte

Es sind diese möglichen Lernprozesse, die nach dem Einsatz von OSS-Pro-

dukten in Schulen und Bildungsstätten rufen. So setzt sich die Einsicht, dass OSS-

Produkte gerade in Lehr- und Lernzusammenhängen unerlässlich sind, langsam,

aber stetig durch.77 Allerdings wird auch in Basel-Stadt auf eine zweigleisige Nut-

zung gesetzt, kommen doch im Schulbereich neben eduBS-Plone und anderen

OSS-Produkten auch proprietäre Systeme zum Einsatz.

Vielversprechende Ansätze für OER in der Schweiz

Mit dem Bundesprogramm «Swiss Virtual Campus»78 wurde das Lernen via

Internet an den schweizerischen Universitäten, den Eidgenössischen Technischen

Hochschulen und den Fachhochschulen einen großen Schritt vorangebracht. Auf

das Impulsprogramm 00–03 folgte das Konsolidierungsprogramm 04–07. Finan-

ziert wurden diese Programme sowohl aus Bundesmitteln wie mit Eigenleistun-

gen der betreffenden Hochschulen. Nach Auslaufen der Bundesbeiträge Ende

2007 stehen die Hochschulen nun vor der Herausforderung, das Aufgebaute zu

pflegen und weiterzuentwickeln. Als Ergebnis dieser Programme stehen heute

über das Internet rund achtzig Online-Kurse zur Verfügung. Weitere dreißig sind

noch in Vorbereitung.

Das Ziel bestand darin, Unterrichtseinheiten zu entwickeln, die via Inter-

net in mehreren regulären Studienprogrammen der schweizerischen Hochschu-

len genutzt werden konnten. Die Online-Kurse wurden wenn immer möglich

in mehreren Sprachen erstellt, um einen eventuellen kommerziellen Export ins

Ausland zu erleichtern. Die Nutzung sollte weltweit möglich sein. Durch das

Programm wurde die Zusammenarbeit unter den Hochschulen auch über die

Sprachgrenzen hinweg intensiviert.79

Das Online-Kursangebot richtet sich nicht nur an Studierende und Jugend-

liche, sondern soll auch die ständige Weiterbildung und die Erwachsenenbildung

fördern. Die Homepage enthält denn auch sogenannte Testmodule,80 die geeig-

77 Vor Kurzem hat der Kanton Genf beschlossen, in seinen Schulen Microsoft Office durch das OSS-Paket Openoffice.org zu ersetzen. Allerdings bleibt das Windows-Betriebssystem, sodass die Rechner weiterhin mit Windows oder Mac OS zusammen mit Ubuntu Linux be-trieben werden. Berichterstattung in einer News von Infoweek: ‹www.infoweek.ch/news/NW_single.cfm?news_ID=17953&sid=0›.

78 Die Homepage zum Swiss Virtual Campus (SVC), ‹www.swissvirtualcampus.ch› enthält viel Information zu diesem Bundesprogramm.

79 A. a. O., siehe unter «Der SVC in Kürze».80 Für diese Testmodule: ‹www.swissvirtualcampus.ch/display.php?lang=2&pid=138›.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

net sind, Interessierten den Einstieg zu erleichtern und zum Absolvieren ganzer

Kurslehrgänge81 anzuregen. Selbstverständlich ist die Nutzung dieser Produkte

weltweit möglich, soweit nicht Sprachgrenzen ein Hindernis darstellen. Sie sind

ein schweizerischer Beitrag zur wachsenden weltweiten Produktion von OER-

Produkten, wobei ausdrücklich von einem «kommerziellen Export ins Ausland»

die Rede ist.82

Wie oben dargelegt, gibt es noch keine autorisierte Definition von OER,83

und es besteht größte Unsicherheit in Bezug auf die Frage, ob offen zur Verfü-

gung gestellte OER auch in jedem Fall kostenfrei sei.84

Es ist sehr schwierig, sich heute einen Überblick auch nur schon über die in

der Schweiz erstellten OER-Produkte zu verschaffen. Vielfach sind auch größere

Unternehmen Auftraggeber, die mit qualitativ hochstehender Lernsoftware wich-

tige Zusammenhänge aus ihren Tätigkeitsfeldern darstellen.85

Vor neuen Herausforderungen stehen insbesondere die kantonalen Lehrmit-

telverlage. Die Herstellung von Lernsoftware ist kostenintensiver als die Produk-

tion von Schulbüchern und Übungsblättern. Es wäre sinnvoll, wenn die Kantone

in Zukunft ihre Kräfte zusammenlegen und gemeinsam Lernsoftware produzieren

würden. Elektronische Lehrmittel haben gegenüber Büchern den großen Vorteil,

dass sie modular aufgebaut werden können. Kantonsspezifischen Bedürfnissen

könnte somit flexibel mit zusätzlichen Modulen entsprochen werden.

81 Die Online-Kurse sind nach Fachbereichen gegliedert. Es wird darauf hingewiesen, dass sie Bestandteil der Curricula der verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen sind und eine Immatrikulation an der entsprechenden Hochschule erforderlich ist: ‹www.swissvirtu-alcampus.ch/display.php?lang=2&zid=65›.

82 A. a. O. Vom «kommerziellen Export ins Ausland» ist unter dem Stichwort «Mehrsprachig-keit» die Rede.

83 Siehe oben, Abschnitt zu «Open Educational Resources (OER) – Freier Zugang zu Bil-dungsmedien im Internet», S. 48.

84 Dies ist eines der Ergebnisse des Workshops zum Swiss Virtual Campus am Swiss Forum for Educational Media 2007. Vgl. den Schlussbericht, S. 6 ff.: ‹www.educationalmedia.ch/archiv/2007/pdf/Ergebnisbericht_SFEM_2007.pdf›.

85 Als Beispiel: ‹www.eigene-meinung.ch› ist ein Produkt, das die NZZ zusammen mit der LerNetz AG, Bern, entwickelt hat.

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Offene Bildungsinhalte

Zahlreiche zu wenig genutzte Möglichkeiten für kostengünstige OER

In der oben erwähnten OECD-Publikation wird empfohlen, möglichst alle be-

stehenden digitalen Materialien, egal, ob sie aus dem kommerziellen Bereich oder

aus dem Kulturerbe eines Landes stammen, für Lernzwecke zu nutzen, falls sie

sich dazu eignen.86 Angesprochen werden die Bibliotheken, Archive und Mu-

seen,87 interessanterweise nicht Radio und Fernsehen. Diese haben in der Schweiz

einen verfassungsmäßigen Auftrag, zur Bildung und kulturellen Entfaltung, zur

freien Meinungsbildung und zur Unterhaltung beizutragen.88

Mit den jüngsten Dienstleistungen der verschiedenen sprachregionalen Radio-

und Fernsehstationen wird heute sichtbar, wie immens das in Archiven und ak-

tueller Tagesproduktion verfügbare Wissen ist. So stellt das Schweizer Fernsehen

(SF) auf «SF Wissen»89 eine ständig wachsende Anzahl von Beiträgen benutzer-

freundlich nach Themen gegliedert zur Verfügung. Auch das Deutschschweizer

Radio (SR DRS) macht seit Januar 2008 seine reichhaltige aktuelle Hintergrund-

berichterstattung und die damit verbundenen Archivinhalte auf «DRS Wissen»90

zugänglich. Das Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz (RSI)91

ist daran, mit einem multimedialen Katalog einem breiten Publikum verschiedene

Inhalte aus aktueller Produktion und den Archiven zu erschließen. Ebenso bauen

86 OECD/CERI, Giving Knowledge for Free. The Emergence of Open Educational Resources, S. 122. ‹www.oecd.org/dataoecd/35/7/38654317.pdf› (Zugriff: 24.1.2009).

87 A. a. O., S. 122; Gemäß OLCOS Roadmap 2012, a. a. O., S. 34 ff. ist die Europeana (‹http://europeana.eu›) das Flaggschiff der europäischen Initiative zur Digitalisierung des Kulturerbes und zudem eine Reaktion auf das amerikanische Google-Projekt zur Digitali-sierung der Bibliotheken.

88 Bundesverfassung, Art. 93. ‹www.admin.ch/ch/d/sr/101/a93.html›. Ausgeführt in Art. 24 Bundesgesetz über Radio und Fernsehen. ‹www.admin.ch/ch/d/sr/784_40/a24.html› und in Art. 2 Konzession für die SRG SSR idée suisse: ‹www.bakom.admin.ch›.

89 Vgl. ‹www.sf.tv./sfwissen›. 90 Vgl. ‹www.drs2.ch/www/de/drs2/themen/wissen.html›. Dabei handelt es sich um einen

eigentlichen Wissens-Channel. Er enthält nicht nur Sendungen, benutzerfreundlich ge-gliedert wie bei «SF Wissen», sondern auch Spiele, Blogs, darunter einen Wissensblog, ein Quiz, um das eigene Wissen zu testen, sowie ein Gefäß «Meine Meinung», wo Meinungen zu aktuellen Themen abgegeben werden können.

91 Vgl. ‹www.rsi.ch›.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

das Westschweizer Radio (RSR)92 und das Westschweizer Fernsehen (TSR)93 ihre

diesbezüglichen Angebote laufend aus.

Die Schweizerische Stiftung für audiovisuelle Bildungsangebote (SSAB), der

alle öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehstationen der deutsch-, französisch-

und italienischsprachigen Schweiz als Mitglieder angehören, darf in Anspruch

nehmen, Impulse für diese Erschließung gegeben zu haben. Radio und Fernsehen

nehmen erfreulicherweise ihren Bildungsauftrag über das Internet sehr ernst.94

Mit ihren Online-Angeboten liegt ein umfangreiches und ständig wachsendes

Angebot für ein breites Publikum vor. Dabei handelt es sich schwergewichtig um

ein an die Aktualität angebundenes Orientierungswissen.

Dieses Material kann für die unterschiedlichsten Lehr- und Lernbedürfnisse

genutzt werden, auch für Schulen aller Alters- und Bildungsstufen. Es kann aber

nicht den Radio- und Fernsehstationen obliegen, das für die professionelle Nut-

zung der Online-Inhalte nötige zusätzliche pädagogisch-didaktische Begleitma-

terial bereitzustellen. Ein effizienter Mitteleinsatz ergibt sich, wenn Lehrmittel-

produzenten zuerst prüfen, ob die von Radio und Fernsehen bereitgestellten

Materialien genutzt werden können, bevor sie eigenes Filmmaterial herstellen.

Aber auch die Bildungsinstitutionen können diese Materialien nutzen und für

ihre Zwecke weiter anreichern. Die SSAB will diese Prozesse anstoßen und unter-

stützen.95

Sie hat sich zum Ziel gesetzt, vorerst die Erschließung und Wiederverwer-

tung der bei Radio und Fernsehen vorhandenen digitalen Inhalte voranzubrin-

gen. Es ist ihr bewusst, dass dies nur ein Anfang ist. Es liegt auch bei andern

Kulturträgern – Archiven, Museen und Bibliotheken aller Art – noch sehr viel

Material vor, das digitalisiert, erschlossen und für Bildungszwecke nutzbar ge-

macht werden könnte.

92 Vgl. ‹www.rsr.ch›. 93 Vgl. ‹www.tsrdecouverte.ch/home›.94 SF hat denn auch das Logo der SSAB auf ihrer SF-Wissen-Homepage platziert, mit dem

Vermerk «Partnerin von SF Wissen»: ‹www.sf.tv./sfwissen›.95 Noch in der Projektphase steckt die Idee von RSI, in Zusammenarbeit mit dem Eidgenös-

sischen Hochschulinstitut für Berufsbildung (EHB) geeignete Inhalte, vorerst beschränkt auf die Akteure der Berufsbildung, zu nutzen und in einer Experimentierphase auszutesten. Eine spätere Erweiterung auf nationaler Ebene wird im Rahmen der SSAB angestrebt.

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Offene Bildungsinhalte

Beitrag zur Erstellung von OER als neue Aufgabe des educa-Bildungsservers?

Eine arbeitsteilige Organisation ist auch und gerade für die Erstellung elektroni-

scher Lehrmittel nötig. Effizienz stellt sich ein, wenn die für die Produktion nö-

tigen unterschiedlichen Kompetenzen aus den jeweiligen Berufsfeldern kommen.

Radio- und Fernsehjournalistinnen und -journalisten oder auf Multimedia spezia-

lisierte Firmen bringen ein anderes Know-how ein als Bildungsfachleute.96 Aber

auch Rückmeldungen von Pädagoginnen und Pädagogen, Studierenden, Schüle-

rinnen und Schülern und Eltern können sehr wertvoll sein.

Es wäre denkbar, dass der educa-Bildungsserver eine wichtige Funktion in

der Anreicherung professionell erstellter Inhalte mit pädagogisch-didaktischem

Begleitmaterial für die Sekundarstufen I und II wahrnehmen könnte.

Den Vordenkern im Bildungswesen schwebt vor, dass der künftige educa-Bil-

dungsserver, von den nationalen Bildungsstandards97 ausgehend, direkt zu Lehr-

planzielen und Lehrmitteln führen sollte. Bildungsverantwortliche und Lehr-

personen hätten ein Instrument zur Verfügung, das sie bei der Umsetzung von

Bildungsstandards über die sprachregional harmonisierten Lehrplanziele schließ-

lich zu den Lehrmitteln für konkrete Unterrichtsstunden führen würde. Über

denselben Server könnte der Erfahrungsaustausch der Lehrpersonen intensiviert

werden. Rückmeldungen über Stärken und Schwächen bestimmter Lehrmittel

und ein intensivierter Austausch von neuen Arbeitsblättern würden nicht nur die

Qualität des Unterrichts heben, sondern auch das Selbstverständnis der Lehrper-

sonen als lernende, sich selbst gegenseitig stützende Community fördern.98

Der künftige educa-Bildungsserver könnte so zu einer wichtigen Drehscheibe

für ein fruchtbares Zusammenspiel von koordinativen Funktionen werden. Was

von «oben nach unten» über den in der EDK gebündelten Willen zur Zusam-

menarbeit einfließt, wird verbunden mit Initiativen «von unten nach oben», die

aus einer Community kommen. Allerdings müsste dieser Erfahrungsaustausch

96 Die Lehrerschaft verfügt im Allgemeinen nicht über das nötige Expertenwissen, auch nicht über die erforderliche Zeit, bei der OER-Produktion mitzuwirken. Vgl. OLCOS Roadmap 2012, a. a. O., S. 25. Hingegen wären Erfahrungsberichte aus der Lehrerschaft sehr wert-voll.

97 Siehe hierzu oben, Abschnitt «Es geht vorwärts im Bildungswesen – aber nicht schnell genug», S. 52.

98 Ergebnis eines Gesprächs, geführt am 5.3.2008 mit dem Direktor der educa, Robert Kol-ler.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

überwacht und von Expertinnen und Experten beim educa-Bildungsserver ge-

steuert werden. Auch Wikipedia verfügt heute zur Qualitätssicherung über ein

kleines Redaktionsteam, und jeder Blog mit einem gewissen Anspruch muss von

einer zuständigen Person gepflegt werden.

Was ist als Nächstes zu tun? – Aktivitäten der SSAB

Selbst Fachleute können heute die neuesten technischen Entwicklungen und ihre

oftmals nicht vorhersehbare Nutzung in unterschiedlichsten Zusammenhängen

kaum überblicken. Dies kann an einem Beispiel veranschaulicht werden.

Eine Technologie aus dem Open-Source-Bereich lieferte die Basis für digitale

Online-Tagebücher, die Blogs. Die unterschiedliche Nutzung dieser Blogs war

jedoch kaum vorhersehbar, noch weniger steuerbar. Blogs haben heute Einfluss

auf Wahlkämpfe, auf die Zusammenarbeit in Communities, auf Lernkulturen an

Universitäten, auf das Zeitungs- und Verlagswesen, auf die öffentliche und be-

triebsinterne Kommunikation, auf Werbung und Marketing.

Vielfach hinken die offiziellen Stellen, Bildungsinstitutionen, Schulbehörden

und die Lehrerschaft neuen Trends hinterher. Noch bevor mögliche neue An-

wendungen technischer Entwicklungen überhaupt erkannt und auf Nutzen- und

Schadenpotenzial im Bildungsbereich analysiert sind, werden diese Gadgets von

Schülerinnen und Schülern eifrig genutzt.

Angesichts dieser raschen Entwicklungen sollten die mit Bildungsfragen be-

fassten Akteure und Entscheidungsverantwortlichen regelmäßig Gelegenheit

haben, sich über neueste Trends zu informieren, um sich das Wissen anzueignen,

das sie sich aus Zeitmangel kaum selbst erarbeiten können. Sie sollten ihre Er-

fahrungen im direkten Gespräch mit Expertinnen und Experten aus den unter-

schiedlichsten Bereichen, aus Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, Verwal-

tung, Verbänden und Politik, austauschen können. In diesem Sinn könnten sie

als eigentlicher «Kreativpool» nicht nur strategische Fragen diskutieren, sondern

auch Impulse für geeignete Maßnahmen geben.

Den nötigen Rahmen für solche Gespräche bietet das Swiss Forum for Edu-

cational Media (SFEM). Das SFEM wurde von verschiedenen Organisationen

unter dem Lead der Schweizerischen Stiftung für audiovisuelle Bildungsangebote

(SSAB) geschaffen und bildet eines ihrer wichtigsten Tätigkeitsfelder. Das SFEM

2007 war dem Thema «Open Access – Gratiskultur im Wissens- und Bildungs-

bereich?» gewidmet. Am SFEM 2008 wurde über «Open Educational Resources

(OER): Freier Zugang zu Bildungsmedien und Qualität» diskutiert.

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Offene Bildungsinhalte

Bereits am SFEM 2007 stand zur Diskussion, ob und wie die verstreut bei

verschiedenen Akteuren und Entscheidungsverantwortlichen im In- und Ausland

vorhandenen unterschiedlichen Informationen gebündelt und ausgewertet wer-

den könnten. Es geht hierbei um technische Trends und deren Nutzungspoten-

zial, um soziale Phänomene, die diese Nutzung steuern, und es geht auch um

pädagogisch-didaktische Rückmeldungen und konkrete Erfahrungen mit diesen

neuen Anwendungen in Lehr- und Lernzusammenhängen.

Auf der Grundlage der von einer Arbeitsgruppe vertieften Materialien zum

Thema erhielt die SSAB von der Hasler-Stiftung in Bern Finanzmittel zur Er-

arbeitung einer Machbarkeitsstudie. Mit dieser wurde die Zürcher Hochschule

für Angewandte Wissenschaften in Winterthur beauftragt. Abzuklären ist, ob ein

Bedarf nach derartigen Informationen besteht und welche Organisations- und Fi-

nanzierungsmodelle möglich wären. Zweckdienlich wären regelmäßige Auswer-

tungsberichte aus diesen Informationen, die an künftigen SFEM-Anlässen ana-

lysiert, diskutiert und auf einen eventuellen Handlungsbedarf hin ausgewertet

werden könnten.

Ausblick

Der Bundesrat hat in seiner Strategie für eine Informationsgesellschaft in der

Schweiz gewisse Eckpfeiler für den Bereich der Bildung gesetzt. Auch die Schwei-

zerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) verfügt über

eine Strategie zu den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien.

Noch bevor diese Strategien umgesetzt sind, wird mit den neuen Entwicklungen,

insbesondere der OER-Bewegung, zusätzlicher Handlungsbedarf sichtbar. Für

den Bereich OSS ist erkannt, dass eine neue schweizerische Strategie erarbeitet

werden muss. In diesem Bereich sind auch Ziele und Regelungsbedarf recht gut

sichtbar.99

Für die Konzeption einer eigentlichen OER-Strategie Schweiz ist es wohl noch

zu früh. Weil verschiedene Fragen im Zusammenhang mit der Umsetzung von Open

Access und insbesondere bei den OER-Produkten nach wie vor offen sind, erscheint

es ratsam, vorerst die Diskussion unter Expertinnen und Experten anzuregen. Es

sind unterschiedliche und kontroverse Fragen zu diskutieren. Dabei geht es

99 Siehe hierzu oben, Abschnitt «Trend zu Open Source Software (OSS) – weltweit und in der Schweiz», S. 43; zum Regelungsbedarf siehe oben, Abschnitt «Dynamik mit OSS – Re-gelungsbedarf am Beispiel PloneGov», S. 56.

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Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

um ein Umdenken, um einen eigentlichen Kultur- und Mentalitätswandel, •

der uns alle befähigt, das Potenzial der neuen Technologien optimal zu nut-

zen,

um das optimale Neben- und Miteinander von öffentlichen und privaten Ak-•

teuren,

um die Entwicklung eines Marktes von OER-Produkten, angetrieben von •

neuen Geschäftsmodellen, die es Marktteilnehmern als lohnend erscheinen

lassen, in OER zu investieren,

um Anstöße und Anreizsysteme, damit sich OER auch «von unten» – in •

Communities – entwickeln und sich eine Kultur des Wissens und des Austau-

sches von Wissen verbreitet, nicht nur im engeren Bildungswesen, sondern

generell als Ausdruck lebenslangen Lernens,

um einen Interessenausgleich zwischen kostenlosen OER und Marktproduk-•

ten,

um Anreize, damit die immensen Schätze an Wissen in Archiven und aus der •

Tagesproduktion aller sprachregionalen Radio- und Fernsehstationen geho-

ben und zusätzlich für Bildungszwecke mit pädagogisch-didaktischem Be-

gleitmaterial angereichert werden,

um Anreize, damit das generell in Archiven, Bibliotheken und Museen auf-•

bewahrte Kulturgut digital aufbereitet und für Lehren und Lernen genutzt

werden kann,

um Fragen im Zusammenhang mit einer nötigen Revision des Urheber-•

rechts,

um die praktische Umsetzung von Open Access mit differenzierten Model-•

len zur Abtretung von Nutzungs-, nicht aber von Urheberrechten (Creative

Commons),

um Fragen, wie in der Vielzahl von OER-Produkten die qualitativ guten An-•

gebote für bestimmte Zwecke herausgefiltert werden könnten,

um Fragen der Qualität und der Qualitätssicherung, insbesondere bei Pro-•

dukten, die frei zur Verfügung stehen,

um Fragen, wie die bei verschiedenen Akteuren und Entscheidungsverant-•

wortlichen verstreut vorhandenen Informationen zu neuen technischen Ent-

wicklungen und ihrer Nutzung in Lehr- und Lernzusammenhängen besser

gebündelt, regelmäßig ausgewertet und diskutiert werden könnten,

um Fragen der verstärkten internationalen Zusammenarbeit,•

um eine bessere Positionierung der Schweiz in den sich rasch vollziehenden •

Bewegungen OSS, Open Access und OER.

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Offene Bildungsinhalte

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(Zugriff: 24.1.2009).

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Page 48: Inhaltsverzeichnis - hep verlagTeilbereiche, so stößt man unweigerlich auf den Begriff der «Open Educational Resources» (OER). Dabei wird man feststellen können, dass die aktuellen

71

Hanna Muralt Müller • Neue Kultur der Auswertung von Wissen

OECD/CERI: Giving Knowledge for Free. The Emergence of Open Educational Resources.

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OLCOS Roadmap 2012: Geser, Guntram/EduMedia Group: Open Educational Practices and

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‹www.olcos.org/cms/upload/docs/olcos_roadmap.pdf›.

Weitere Online-PublikationenPloneGov: Statuten. ‹www.plonegov.ch/ueber-plonegov/der-verein-plonegov.ch/statuten_

plonegov-ch_2007_04_03_v0-5.pdf/file›.

PloneGov: Geschäftsreglement vom 11. März 2008. ‹www.plonegov.ch/ueber-plonegov/

der-verein-plonegov.ch/Unterlagen-fuer-die-Hauptversammlung-vom-11.3.2008/

Geschaeftsreglement-V-0-2.pdf/file›.

PloneGov: Pflege- und Entwicklungsstrategie, vom 11. März 2008. ‹www.plonegov.ch/

ueber-plonegov/der-verein-plonegov.ch/Unterlagen-fuer-die-Hauptversammlung-

vom-11.3.2008/PloneGov-Pflege-und-Weiterentwicklungsstrategie-V.pdf/file›.

PloneGov: Management Whitepaper. ‹www.plonegov.ch/dokumentation/plonegov_manage-

ment_whitepaper.pdf/file›.

BuchpublikationenHotz-Hart, Beat/Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) (Hrsg.) (2007):

ICT und Bildung: Hype oder Umbruch? TIC et formation: Effet de mode ou changement

en profondeur? Bern: hep (Evaluation des Programms PPP-SiN).

Sennett, Richard (2008): Handwerk. Berlin: Berlin Verlag.

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Andreas König

Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

Der Aufsatz* reflektiert den unvorhergesehenen Gebrauch neuer Medien in der

Bildung unter systemischen Gesichtspunkten und regt neue Denk- und Sicht-

weisen im Umgang mit diesen Lehr- und Lernmedien an. Ziel ist es, emergente

Phänomene im Umgang mit Bildungsmedien aufzuspüren und zu reflektieren,

welche Bedeutung diese Phänomene als Anzeiger künftiger Entwicklungen haben

und welche Schlüsse daraus für das Lernen, den Bildungsbereich, aber auch die

Organisationen selbst zu ziehen sind. Dabei werden neben offenen Bildungsin-

halten (OER) noch weitere Technologien betrachtet, die auch in der betriebli-

chen Bildung bedeutsam sind.

Kernthese der Arbeit ist, dass (Bildungs-)Organisationen nur dann erfolg-

reiche Zukunftsstrategien entwickeln können, wenn sie die unvorhergesehenen

Situationen aufmerksam wahrnehmen und in einem breiten systemischen Umfeld

interpretieren.

Einleitung

Im Internet erscheinen in immer engeren Zeitabständen neue Technologien, die

die Lehr-Lern-Situation mitbestimmen. Zahlreiche Player des öffentlichen wie

des kommerziellen oder betrieblichen Bildungsbereiches sind von diesen Ent-

wicklungen betroffen. Für sie ist die Frage ökonomisch, didaktisch und techno-

logisch relevant, mit welchen Technologien und Methoden sie in Zukunft lernen,

aus- und weiterbilden, Potenziale erkennen und entwickeln, Informationen nut-

zen und kreieren werden?1

1 Ein Film von Ray Fleming (‹www.ict-21.ch/com-ict/IMG/wmv/ShiftHappens-UK.wmv›, Zugriff: 13.1.2009) sensibilisiert bei diesem Thema für die Fragestellung an sich wie auch für die Dimension des angesprochenen Problems.

* Bei Geschlechterbezeichnungen wird hier aus Gründen der Lesbarkeit die männliche Form als grammatisches Hyperonym verwendet. Der Autor verbürgt sich für eine gleichberech-tigte Sicht und vor allem für eine solche Praxis, was Geschlechter- oder andere Kriterien der Differenz betrifft.

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Offene Bildungsinhalte

Die Bildungstechnologie ist weit vorangeschritten, aber wir können schwer

absehen, wie sich das Lernverhalten der Menschen in Wechselwirkung mit ihnen

gestaltet. Mit welchen Entwicklungen müssen zum Beispiel Hochschulen und

Unternehmen angesichts immer rascherer technologischer und methodischer In-

novationen rechnen? Wie können wir uns auf kommende Entwicklungen vorberei-

ten? Es geht nicht allein darum, herauszufinden, welche Technologien kommen,

sondern wie diese unsere Verhaltensweisen, Strukturen und Prozesse in Schulen,

Unternehmen usw. verändern werden. Wenn wir hierauf antworten können, sind

wir in der Lage, unsere Organisationen effektiver zu gestalten, zukunftsgerich-

tete Kompetenzen auszubilden und allen beteiligten Lernpartnern eine sinnvollere

Arbeit und Mitwirkung in den Bildungsorganisationen zu bieten.

Diese Frage ist alles andere als trivial. «Counterintuitive behavior of social

systems»,2 die Unabsehbarkeit von sozialem Verhalten aus seiner eigenen Sys-

temdynamik heraus, führt zu Entwicklungen, die aufgrund von technologischen

Innovationen und auch durch Technikfolgenabschätzung allein nicht mehr pro-

gnostizierbar sind. Vor fünf Jahren sprach noch niemand von Blogs. Eine techni-

sche Entwicklung aus dem Open-Source-Bereich fand Einsatz als «digitales On-

line-Tagebuch» zunächst vor allem jugendlicher Nutzer.3 Wenig später sprechen

wir von einer Blogosphäre, deren Einflüsse Wahlkämpfe,4 Lernkulturen an Hoch-

schulen und Unternehmenskommunikation, Online-Marketing und das Verhal-

ten virtueller Communities verändern.

Die unvorhergesehene Nutzung neuer Bildungsmedien ist indes methodisch

schwer in den Griff zu bekommen. Mit einer Analyse unserer Webstatistiken wird

sie nicht erhellt werden können. Ich gehe von der These aus, dass wir ein Bezie-

hungsgeflecht von Gesellschaft und Wirtschaft, Kultur und Technologie sowie

der Konzepte von Persönlichkeit zu betrachten haben. Eine solch umfassende

Schau hat den Vorteil, an die wichtigen Treiber der unvorhergesehenen Prozesse

zu gelangen, zugegebenermaßen um den Preis der Genauigkeit.

2 J. W. Forrester, Counterintuitive behavior of social systems, in: Technology Review, Vol. 73 (1971), Nr. 3, S. 52–68.

3 Junge Websurfer und digital natives werden auch in diesem Aufsatz als Akteure der Inno-vation vermutet. Statistisch und demografisch gesehen, sind jedoch die silver surfers viel relevanter. Über deren Nutzungsverhalten und v. a. über deren Beiträge zu Innovationen oder zumindest emergente Situationen des Gebrauchs wissen wir noch weniger.

4 Die Sendung Weltjournal im ORF-TV vom Mittwoch, 15. Oktober 2008 schildert die Rolle von Blogs im US-Präsidentschaftswahlkampf. Die Gouverneurin von Alaska wird Vizepräsidentschaftskandidatin, nachdem ein Blogger sie entdeckt hat (‹http://tv.orf.at/program/orf2/20081015/430473601/254788›, Zugriff: 13.1.200 9)

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

Methodenkritische Überlegungen und Leitfragen

Wie kann man nun den «Gebrauch» neuer Lehr-Lern-Medien5 vorab definieren

und eingrenzen? Und wie kann man dann «unvorhergesehenen» Gebrauch defi-

nieren?6 Technologien haben zwar meist einen definierbaren Anwendungszweck

(«Gerät spielt DVDs ab»), sie werden aber in aller Regel nicht mit einem Katalog

von vorhergesehenen Nutzungsstrukturen «ausgeliefert», womit die sozialen Si-

tuationen des Gebrauchs der Technologie gemeint sind. Erst kreative, oft junge

Nutzer in besonderen sozialen Situationen zeigen, wie Möglichkeiten genutzt

werden.

Um «unvorhergesehenen Gebrauch» in unserem Sinne zu definieren, müssen

zwei Parameter zusammenkommen. Erstens wird eine bestimmte Technologie in

großem Maßstab und massenhaft verwendet oder auch zweckentfremdet. Es liegt

also nicht nur eine singuläre oder zufällige Zweckentfremdung vor. Zweitens be-

einflusst der neue Gebrauch der Medien die Gesellschaft um die Nutzer herum

und bringt neue soziale Beziehungen oder auch neue kulturelle Bedeutungen zu-

stande, die so vorher noch nicht bestanden haben.7

Aus der These der gesellschaftlichen Bedingtheit des Mediengebrauchs folgt,

dass Technologie nur die Basis liefert. Unvorhersehbare Entwicklungen setzen

ein, sobald diese Technologie zum Beispiel auf gesellschaftlicher Ebene mit neuen

Werten wie der «Bekenntniskultur» zusammentrifft oder wenn sich bürgerliche

Vorstellungen von Idealen der Privatsphäre verändern hin zu Vorstellungen einer

5 Lehr-Lern-Medien fasse ich hier im breiten Sinne. Damit sind die eigentlichen Lernele-mente und dokumentierten Lerninhalte gemeint, die konfigurierten Lernszenarien (z. B. systematische Fallbearbeitungsmethoden), in denen diese Inhalte zum Einsatz kommen, sowie die technischen Medien, über welche die Inhalte verteilt werden und über welche die Arbeit an den Inhalten stattfindet (Lernmanagementsysteme und ihre Bestandteile).

6 Methodisch problematisch ist v. a. die Definition von «unvorhergesehen» bei Technologien, die a priori für den multiple use gedacht sind. Dies gilt beispielsweise für alle Kommunika-tionstools. Auch «Gebrauch» lässt sich nicht immer ohne Weiteres definieren: Wie wird der «ursprüngliche» Einsatzzweck der E-Mail definiert? Liegt ein abweichender Nutzen dann vor, wenn die E-Mail für von Robots verursachten Massenversand von Spam verwendet wird?

7 Mit Beat Schmid (2005, S. 4) teile ich die Auffassung, dass «… unter Medium nie ein blo-ßes Transportsystem für Nachrichten verstanden, sondern immer der es begleitende logi-sche und soziale Raum als integraler Bestandteil mitgedacht» werden muss. Ergänzend zu Schmid, der hier systemtheoretisch argumentiert, würde ich für den vorliegenden Zweck hinzufügen, dass aus der Interaktion der Akteure eine Umdeutung und Umnutzung des Mediums erfolgen kann, innerhalb dessen die gemeinsame Interaktion und Bedeutungszu-schreibung stattfindet.

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Offene Bildungsinhalte

virtuellen, öffentlichen und multiplen Identität. Was hier entsteht, ist oft unab-

sehbar, aber gleichwohl wirkmächtig und entscheidend.

Um dieser Komplexität einen methodischen Rahmen zu geben, basieren die

folgenden Überlegungen auf der Theorie lebender Systeme. Wo sind dann typi-

sche Eigenschaften lebender Systeme im Lehren und Lernen mit neuen Medien

zu finden? Mit dem systemtheoretischen Begriff der Emergenz lässt sich das, was

oben unter «unvorhergesehenem Gebrauch» definiert wurde, am besten fassen.

Die Betrachtung dieses Gebrauchs und seiner möglichen Entwicklungslinien

in der Zukunft führt uns zur Struktur der Innovation im Bereich neuer Medien.

Konkrete Ausprägungen dieses Nutzungsverhalten zu beschreiben und mit Blick

auf die unvorhergesehene und innovative Nutzung zu bewerten, ist dann eine

künftige Begleitaufgabe für diejenigen, die mit der Entwicklung von Bildungsor-

ganisationen beauftragt sind. In aller Regel verfügen wir aber trotz der umfang-

reichen Controllingmöglichkeiten im Bereich der Bildungsinformatik kaum über

aussagekräftige empirische Daten zu der Frage, wer unsere Inhalte eigentlich wie

verwendet. Wohl aber verfügen praktisch alle Bildungsangehörigen über subjek-

tive und erfahrungsbasierte Daten; auf solchen Daten beruht denn auch dieser

Aufsatz.

Auf der beschriebenen Datenbasis will ich also folgende Fragen beantworten:

1. Wo können wir einen unvorhergesehenen Gebrauch von Bildungsmedien be-

obachten?

2. In welchen Wechselwirkungen kommen diese neuen Gebrauchssituationen

zustande? Welche Art von Emergenz kommt hier aufgrund welcher Um-

stände zustande?

3. Welche Schlüsse und Empfehlungen sind aus diesen Beobachtungen zu zie-

hen?

Beobachtungen zum unvorhergesehenen Gebrauch neuer Lehr-Lern-Medien

Neue Medien in den Hochschulen

Das Netz ist eine unglaubliche Brutstätte für Innovationen und Kreativität und

der Inbegriff eines lebenden Systems. Als technikaffine Vertreter der Lehrergat-

tung leben wir im und vom Netz. Es inspiriert zu ständig neuen Produktionen,

Ideen, Ansätzen in der Lehre. Es inspiriert aber auch die Lerner zu neuen Metho-

den, effektiver zu lernen, Prüfungen zu bestehen (auf welchem Weg auch immer)

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

und sich das Leben im Lernbetrieb von Schule und Hochschule erträglicher und

angenehmer zu gestalten. In den Bildungsorganisationen, die sie einsetzen, sind

neue Medien nicht unbedingt immer strategisch verankert; aus dem Hochschul-

alltag sind sie allerdings nicht mehr wegzudenken. Sie unterstützen Lehr- und

Lernprozesse,8 ergänzen Verwaltungsarbeiten, sind Grundlage der Forschungs-

aktivitäten und selbstverständlich auch des Hochschulmarketings.

Hochschulen bieten hauptsächlich eine berufliche Erstausbildung und bilden

Kompetenzen aus, die ihre Absolventen befähigen sollen, den Eintritt in das Be-

rufsleben zu meistern und in der Organisation effektiv und erfolgreich für deren

Ziele zu wirken. Dazu haben die Hochschulen einen umfangreichen Kanon an

Inhalten und Curricula entwickelt, deren erfolgreiche Aufnahme in das studen-

tische Kurzzeitgedächtnis sie in aller Regel mit Prüfungen sicherstellen. Mit der

Bologna-Reform erst recht sind Prüfungen als Trittstein für die akademischen

Weihen der Absolventen stärker denn je in den Vordergrund gerückt.

Beim unvorhergesehenen Gebrauch von Lehr-Lern-Medien geht es an Hoch-

schulen vor allem um zwei Dinge: um die Lernobjekte selbst und um die Prüfun-

gen. Über den Gebrauch der Lernobjekte, also darüber, wie genau unsere Stu-

denten mit unseren Inhalten lernen, wissen wir, wie es Michel Wesch in seinem

Film über heutige Studenten treffend problematisiert, wenig.9 Das betrifft auch

und gerade den Gebrauch der OER im engeren Sinn.

Die Nutzung von Videoaufzeichnungen von Vorlesungen können wir an-

hand der Webstatistiken in wenigen Grundfragen nachvollziehen. Eigentlich wer-

den die Videostreams erstellt, um das geleitete Selbststudium mithilfe von exak-

tem, authentischem und hochwertigem Lernmaterial zu strukturieren. Dies soll

einerseits die fehlerbehafteten individuellen Skripten der Studenten überflüssig

machen, andererseits für mehr Transparenz und aktives content-marketing der

Hochschulen nach außen sorgen. Soweit die Unterrichtsbeobachtungen und

Analysen unserer Webstatistiken zeigen, werden die Videoaufzeichnungen von

Vorlesungen von den Studenten vor allem für zwei Zwecke genutzt: für eine fle-

8 Die Studie von Kleimann, Özkilic und Göcks (2008) zum Thema «Studieren im Web 2.0» ergab: «Die Mehrheit der deutschen Studierenden (73 %) bewegt sich täglich zwischen einer und drei Stunden aktiv im Internet, ein knappes Viertel surft sogar vier bis sechs Stunden pro Tag» (zitiert nach: ‹www.checkpoint-elearning.de/article/6161.html›, Zu-griff: 14.1.2009).

9 Ein Youtube-Film des Kulturanthropologen Michel Wesch (Kansas State University), A Vi-sion of Students Today, setzt sich mit der Lernsituation der heutigen Studentengeneration in den USA auseinander (‹www.youtube.com/watch?v=dGCJ46vyR9o›, Zugriff: 14.1.2009).

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Offene Bildungsinhalte

xiblere Zeitgestaltung einerseits (eine aufgenommene Vorlesung muss man nicht

mehr in situ besuchen, sondern kann in der gleichen Zeit besser mit der Freundin

shoppen gehen) und für eine effektivere Prüfungsvorbereitung andererseits.

Sprechen wir von Videos, dann sind sicher auch die weniger erfreulichen

schulischen Produktionen zu erwähnen. So ist es durchaus lohnenswert, den

eigenen Dozentennamen oder passende Stichwörter einmal bei Youtube einzu-

geben, um herauszufinden, ob dort das eigene Konterfei nicht etwa mit einer un-

willkürlichen Entgleisung oder gar, wie auch schon vorgekommen, mit einer mut-

willigen Entstellung und Verunglimpfung verewigt ist mit dem Zweck, auf Dauer

die Heiterkeit der eigenen Studenten (oder künftiger Generationen) zu erregen.10

Erleichtert vom negativen Suchergebnis, sollte man indes nicht ruhen, sondern

hernach sogleich die Suche auf Seiten wie ‹www.myprof.com› oder ‹www.mein-

prof.ch› fortsetzen, um sich dort über die mehr oder weniger fundierten Bewer-

tungen des eigenen Unterrichtsstils zu informieren.11

Diese Art von Quellen leisten letztlich mit gängigen Mitteln des Web 2.0

nichts anderes auf informellem Niveau, als es die offiziellen Hochschulrankings

auf offiziellem Niveau tun. Hier bemühen sich die Bildungsorganisationen nach

Kräften, eine gute Position und Sichtbarkeit zu erreichen. Da ist es nur logisch,

dass unsere Lernenden eine Gegenöffentlichkeit begründen, um unsere Schulen

aus direkter Kundensicht zu qualifizieren. Und mal ehrlich: Wenn Sie als Kunde

oder Kundin die Wahl hätten zwischen einer Produktbewertung aus der Sicht ir-

gendeiner dritten Institution oder aus der Sicht anderer Kunden – welche würden

Sie bevorzugen?

Von studentischen Skripten kursieren – teils erwünscht, teils unerwünscht

– Generationen von Fassungen im Wissensuntergrund der Hochschulen, womit

die Hochschulen wiederum unterschiedlich umgehen. Die Juristen an den Uni-

versitäten beispielsweise pflegen diese Skripten, betrachten sie als willkommene

Ergänzung des Lehrstoffs und nutzen sie als Repetitorien. In anderen Fächern

wird lebhaft Jagd auf die Kopien und Kopisten gemacht. Es zählt zu den High-

lights im Alltag einer Prüfungsaufsicht, endlich einmal eines solchen Exemplars

habhaft zu werden.

10 Das Mobbing von Lehrern durch Schüler per Handyfilm und Youtube beschrieb beispielsweise die Sendung Weltjournal von ORF-TV vom Mittwoch, 15. Oktober 2008 (vgl. Anm. 4).

11 Das Aufkommen und Zirkulieren von selbst gedrehten Gewaltvideos auf Handys in der Schule ist ein anderer Aspekt, der neue Medien, Bildung und soziale Beziehungen zusam-menbringt und der hochproblematisch ist.

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

Die Vorhersage der professoralen Äußerungen durch die von Studentengene-

rationen überlieferten Skripten ermöglicht es den Studenten, mit kreativen Spie-

len wie dem buzz-word-bingo dem Unterrichtsgeschehen eine gewisse Kurzwei-

ligkeit abzuringen. Gottlob ist das Spiel, das ich hier aus naheliegenden Gründen

nicht weiter ausführen will, bisher eher in den USA verbreitet. Für den betroffenen

Hochschullehrer ist es ein Alptraum, weil es die Konzentration der Studenten ab-

sorbiert und ihn selbst und die Unterrichtssituation der Lächerlichkeit preisgibt.

Der zweite Typ von Lernelementen, die Prüfungen, ist noch stärker zum

Problem geworden, als er es immer schon war.12 Früher musste der Student

schreibenderweise darlegen, dass er individuelle Schaffenskraft, Kreativität und

Sachkenntnis besitzt. Die aufsatzartige Prüfung in Schulen und Hochschulen ist

inzwischen durch ausgefeilte Copy-and-paste-Fähigkeiten der Lernenden längst

ad absurdum geführt. Zahlreiche Webseiten stellen Haus- und Diplomarbeiten,

Präsentationen und vieles mehr sauber sortiert zum Download bereit und helfen

findigen Schülern und Studenten, effektiver zu guten Noten zu kommen. Diese

Fähigkeit hat wiederum zur Genese eines neuen Softwaretyps geführt, der hilft,

Plagiate aufzuspüren.13 Mit diesen mehr oder weniger teuren Softwares bewaff-

nen sich nun die Hochschulverwaltungen.

In den letzten Semestern mussten Prüfungsszenarien überhaupt immer bes-

ser abgeschottet werden gegen allerhand Betrugsversuche. Der alte Spickzettel

auf der Toilette hat definitiv ausgedient. Unsere Studenten haben schneller als die

Dozenten herausgefunden, dass bestimmte Generationen von Taschenrechnern

nicht nur mit allen mathematischen Raffinessen, sondern auch mit Kommunika-

tionsfähigkeiten ausgestattet sind. So musste das Prüfungsreglement dahingehend

angepasst werden, dass nur noch bestimmte und namentlich benannte Rechner-

modelle zugelassen waren oder gar passende Modelle von der Hochschule für die

Prüfungen eigens ausgeliehen werden mussten.

Wir haben es mit einem Rüstungswettlauf zu tun, der – wie in der politischen

Sphäre – beide Kontrahenten zu immer höheren Investitionen führt. Das Ergeb-

nis ist bekanntermaßen ein Nullsummenspiel. Interessanterweise bringt er aber

auch durchaus relevante Fähigkeiten der Prüflinge an den Tag: Diese verwen-

den mitunter viel Energie darauf, das Prüfungssystem auszuhebeln und etwa den

12 Vom gleichen Problem berichten Palfrey und Gasser (2008, S. 297).13 Einen Leistungsvergleich entsprechender Softwares hat die Kollegin Debora Weber-Wulff

von der FHTW Berlin erarbeitet (‹http://plagiat.fhtw-berlin.de/software/2008›, Zugriff: 14.1.2009).

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Offene Bildungsinhalte

Mailserver, über den die Dozenten Prüfungsentwürfe austauschen, oder gleich

die Notendatenbank zu hacken, um dort das Endergebnis zu frisieren. Die dafür

nötige Intelligenz und Energie übersteigt oft den Einsatz, den das einfache Ler-

nen gefordert hätte.

Entlässt die Hochschule nun einen Absolventen, dem sie mit dem Diplom

oder Bachelor bescheinigt, weitgehend kopiefreie Leistungen vorgezeigt zu

haben, so betritt dieser binnen Kurzem die Berufswelt, in der er – heute stärker

als je zuvor – für jede Zeitverschwendung abgestraft wird. Stellen Sie sich den

HR-Assistenten vor, der dem Geschäftsleitungsmitglied zum Abgabetermin sei-

nes Berichts kundtut, er habe in dieser kurzen Zeit keinen neuen Strategieentwurf

selbst schreiben können. Er wird im freundlichsten Fall wohl von seinem Vor-

gesetzten über Nutzen und Frommen des Zusammenkopierens aus ergoogelten

Strategien anderer Firmen belehrt werden. Als überzeugter Vertreter humanisti-

scher Bildung bin ich davon nicht erfreut. Als Berufsmann jedoch muss ich nach

den gleichen Gesetzen arbeiten, wenn ich erfolgreich sein will. Als Dozent bin ich

von den gängigen Hochschulreglementen jedoch verpflichtet, Verhaltensweisen

und (methodische) Kompetenzen trainieren zu lassen, deren Wert im Berufsleben

gelegentlich wenigstens zweifelhaft ist.

Unsere Frage hat aber Bedeutung nicht nur für die Beziehung zwischen den

Lernpartnern innerhalb der Bildungsorganisation, sondern auch für die Bezie-

hungen der Bildungsorganisationen mit ihrer ökonomischen Umwelt. Setzen Bil-

dungsträger vermehrt auf OER, dann ist die Antwort, was aus ihren Inhalten

wird und wie sie verwendet werden, womöglich von strategischer Bedeutung für

deren Geschäftsbetrieb. Das MIT in Boston beispielsweise verfolgt, wer seine In-

halte herunterlädt und wohin diese Inhalte gehen. Neben der Marketingwirkung

für das MIT auf der Ebene Studieninhalte und Studiengänge sind daraus bereits

produktive neue Beziehungen v. a. zu Bildungsträgern in Afrika und Asien ent-

standen, die ganz offiziell mit MIT-Materialien arbeiten. Das bedeutet, dass neue

Geschäftsformen, sicher aber neue Geschäftsbeziehungen durch OER entstehen.

Nachdem es bisher um unvorhergesehene Situationen des Gebrauchs ging,

soll nun ein Beispiel für eine Umnutzung neuer Medien im Forschungsbereich

folgen, das aus meiner eigenen Abteilung stammt.14 Gemeinsam mit einer Partne-

rin aus der Wirtschaft15 hat das Zentrum Neues Lernen Open-Source-Programme

umgeschrieben, die ursprünglich für Zwecke des Dokumentenmanagements (Do-

14 Vgl. die Demo-Bereiche zur Software «fp7-assistant» unter ‹www.znl.zhaw.ch›.15 Vgl. Accelopment AG unter ‹www.accelopment.com›.

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

cument Management System) und der Website-Erstellung (Content Management

System) vorgesehen waren. In der «umgewidmeten» Form dienen diese Open-

Source-Programme nun Forschungseinrichtungen aus Hochschule und Wirt-

schaft dazu, Anträge an das 7. Forschungsrahmenprogramm der EU effektiver

und erfolgversprechender zu schreiben. Dabei verbindet der fp7-assistant Pro-

zesse des kollaborativen Schreibens und des Wissens- und Dokumentenmanage-

ments so, dass die in ganz Europa verteilten Organisationen in einem geregelten

Workflow Zugriff sowohl auf Lerninhalte zum Antragswesen wie auch auf die ge-

meinsam erstellten Texte haben.

Neue Medien in der Wirtschaft

Neue Bildungsmedien haben die betriebliche Bildung wenigstens ebenso schnell

erobert wie die Hochschulen, und oft haben sie die Unternehmen beziehungs-

weise deren Aus- und Weiterbildung noch tiefgreifender und nachhaltiger be-

einflusst als die Hochschulbildung. Von den zahlreichen Studien zum Thema sei

hier lediglich die des britischen Marktforschungsunternehmens Vanson Bourne

zitiert:

Bisher lag das Hauptaugenmerk bei Web-Konferenzen auf der internen Zusam-

menarbeit. Nun rückt mehr und mehr die externe Kommunikation in den Fokus.

In Deutschland ist eine rasante Entwicklung hin zu Webcasts festzustellen. Nutzen

heute 16 Prozent der befragten Unternehmen dieses Medium für die Kommunika-

tion mit Mitarbeitern und Investoren, wollen dies künftig 43 Prozent tun. Auch der

webbasierte Kundensupport ist stark im Kommen: Hier ist eine Verdoppelung von 25

auf 49 Prozent zu erwarten.16

Nach eigenen Umfragen (Fritschi 2008, S. 27) benutzen etwa drei Viertel der

befragten Unternehmen neue Medien für die Mitarbeiterentwicklung, wobei

die eigentlichen Web-2.0-Technologien noch deutlich weniger verbreitet sind.17

Summarisch bewerten die 23 befragten Schweizer Unternehmen die Chancen

neuer Bildungsmedien für ihre betriebliche Bildung wie folgt:

16 Zitiert aus dem Newsletter der Teleakademie Furtwangen 03/2008, S. 3. Die Studie wurde im Auftrag der Netviewer AG durchgeführt. Befragt wurden 332 IT-Verantwortliche in Deutschland, Frankreich und Großbritannien.

17 Das Ergebnis wird von weiteren Trendstudien gestützt, wie z. B. von der Zweijahresstudie des SCIL (Euler/Diesner/Seufert 2008) oder der Zukunftsstudie von Bruns und König (2008).

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Offene Bildungsinhalte

Die Mehrheit der Befragten jedoch sieht den Nutzen von Web 2.0 vor allem im Be-

reich des Wissenstransfers, Informationsaustausches und in der Datenverwaltung.

Sie sind der Meinung, dass sich durch das Web 2.0 neue Kommunikationswege er-

geben und das Wissen schneller verbreitet werden könne. Die Informationen könn-

ten selbstständig aufgenommen und verarbeitet werden. Dies fördere vor allem die

Autonomie und könne die Kreativität und die Eigeninitiative der Mitarbeiter sti-

mulieren. (Fritschi 2008, S. 29)

Den unvorhergesehenen Gebrauch neuer Medien erleben wir auch in der Wirt-

schaft, ebenso auf der Ebene von unvorhergesehenen technischen (Weiter-)Ent-

wicklungen bestehender Lösungen, die dann planvoll für neue Zwecke genutzt

werden können, als auch auf der Ebene unvorhergesehener sozialer Situationen

des Gebrauchs, auf die auch die zitierten Expertenmeinungen deuten. Weiter

unten werden wir die im Zitat angesprochenen Trends daraufhin befragen, was

sie langfristig für die Gestaltung betrieblicher Mitarbeiterentwicklung bedeuten

können.

Ein Beispiel für die unvorhergesehene technische (Weiter-)Entwicklung einer

bestehenden Lösung veranschaulicht, wie bestehende Open-Source-Software in

der Wirtschaft ergänzt und erweitert werden kann, um neuen, unvorhergesehe-

nen Zwecken zu dienen.18

Das HR-Consulting und Headhunting-Unternehmen Goldwyn Partners

Group AG kommuniziert mit seinen Partnern u. a. über einen Newsletter. Dieses

Organ wird von der bisherigen E-Mail-Basierung nun umgestellt auf ein echtes

Webportal, das zitierfähige Artikel zu publizieren erlaubt.

Die Lösung von Goldwyn ist ein eigener Umbau der Open-Source-Blog-

Software Wordpress. Umfangreiche Plugins beziehungsweise Erweiterungen des

quelloffenen Programms wurden geschrieben und ermöglichen neue Funktiona-

litäten. Ursprünglich als digitales Web-Tagebuch eines Autors mit Kommentaren

weiterer Autoren geplant, dient die Software nun dazu, dass mehrere Autoren ge-

meinsam einen Online-Artikel publizieren können.

Die Blog-Software kennt keine Mehrfach-Autorennennung, da dies in einem

«Tagebuch» keine vorgesehene Nutzung ist. Für ein Online-Publishing-Portal ist

dies aber sinnvoll und nötig, denn im Wissenschaftsbereich werden Publikationen

zunehmend kollaborativ erstellt. Im speziellen Fall wird zudem der Open-Access-

Gedanke umgesetzt: Goldwyn setzt auf eine Creative-Commons-Lizenzierung

18 Für diese Art Umnutzung gerade von Open-Source-Software lassen sich leicht ungezählte weitere Beispiele nennen.

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

seiner Artikel, öffnet diese damit für weitere Verwertung in der (wissenschaftli-

chen) Community und fördert so die Entstehung von OER.

Ein Beispiel für den unvorhergesehenen Gebrauch einer bestehenden Lösung

finden wir in der Blogging-Software bei Dow Chemical. Hier werden Blogs tat-

sächlich als Software für das Führen digitaler Tagebücher verwendet, also für den

technisch vorgesehenen Zweck. Die Gebrauchssituation steht jedoch in Zusam-

menhang mit betrieblichen Führungsstrukturen einerseits und der Mitarbeiter-

ausbildung andererseits. Der CEO und andere Führungskräfte nutzen den Blog

für wichtige Meldungen rund um das Unternehmen. Die Mitarbeiter akzeptieren

und frequentieren den Kommunikationskanal und erwidern die Postings zum

Teil mit Dutzenden und Hunderten von Replies, deren Inhalt auch durchaus kri-

tisch sein kann. Der direkte Austausch mit dem CEO wirkt motivationsfördernd;

gleichzeitig kann die Führungsspitze, quasi als Nebeneffekt, anhand der Rück-

meldungen erkennen, ob etwa geplante Aktivitäten mitgetragen werden und auf

welche Bedarfssituation sie bei den Mitarbeitern treffen würden. Daraufhin sind

Prozessrevisionen und Anpassungen möglich, um die Programme zu optimie-

ren.

Weitere Beispiele für beide Typen unvorhergesehenen Gebrauchs (Weiterent-

wicklung bestehender Lösung und Umnutzung einer gleichen Lösung für einen

anderen Zweck) finden wir bei näherem Hinsehen alltäglich und in großer Zahl.

Wir können das Thema hier nicht erschöpfend behandeln, sondern verweisen

stellvertretend auf gut bekannte Phänomene wie den Einsatz von Suchmaschi-

nen für Wissensrecherche, Produktion und Lernzwecke im informellen betrieb-

lichen Lernen. Auf Youtube finden sich zahllose, zum Teil ausgezeichnet gelun-

gene Filme für allerlei Lernzwecke, die vom Krawattenbinden bis zur Funktion

des Teilchenbeschleunigers beinahe alles veranschaulichen und damit eine breite

Basis für individuelles Selbstlernen legen.

Neue Lehr-Lern-Medien und ihr systemisches Umfeld

Im Grunde genommen ist das ganze Internet eine Anhäufung von Interaktionen,

Funktionen und Gebrauchssituationen, die so nie vorhergesehen waren. Anfäng-

lich sollte das Arpanet des DOD die Datenkommunikation der beteiligten Insti-

tutionen absichern und später die Computernetze der Hochschulen verbinden.

Eine kommunikative Aneignung auf interpersonaler Ebene war zunächst ebenfalls

noch nicht vorgesehen. Tim Berners-Lee hat 1992 mit seinem Entwurf grafischer

Oberflächen einer technischen Infrastruktur zum Durchbruch verholfen, die den

Page 60: Inhaltsverzeichnis - hep verlagTeilbereiche, so stößt man unweigerlich auf den Begriff der «Open Educational Resources» (OER). Dabei wird man feststellen können, dass die aktuellen

Ökonomie

Gesellschaft

LernenWeb-Technologien Persönlichkeit

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Offene Bildungsinhalte

ganzen Globus in einer Form verändert hat, die wohl kaum jemand vorausgese-

hen hat.

Mit diesen Entwicklungen ist das Internet an sich das Paradebeispiel und

gleichzeitig in sich ein Tummelplatz für das Phänomen, das die Systemtheorie

Emergenz nennt: Dinge entstehen aus sich selbst heraus. In einem lebenden Sys-

tem bringt die (chaotische) Beziehung der Elemente untereinander neue produk-

tive Formen der Beziehungen der Elemente untereinander hervor, die auf das

System zurückwirken.

Den unvorhergesehenen Gebrauch hatten wir oben mit zwei Merkmalen de-

finiert:

Erstens wird eine bestimmte Technologie in großem Maßstab und massenhaft ver-

wendet oder auch zweckentfremdet. Zweitens beeinflusst der neue Gebrauch der Me-

dien die Gesellschaft um die Nutzer herum und bringt neue soziale Beziehungen

oder auch neue kulturelle Bedeutungen zustande, die so vorher noch nicht bestanden

haben.

Nun ist es an der Zeit, zu betrachten, wo Wechselwirkungen zwischen Medienge-

brauch einerseits und den einzelnen Dimensionen gesellschaftlichen Lebens an-

dererseits bestehen. Einige Bezüge verdeutlicht die folgende, notwendigerweise

grobe Grafik.

Abbildung 1: Elemente und Wechselwirkungen im lebenden System Bildungsmedien

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

In der Grafik stellt die Stärke der jeweiligen Beziehungspfeile die Intensität der

Wechselwirkungen dar. Die Webtechnologien, zu denen die hier fokussierten Bil-

dungsmedien gehören, sind sowohl Produkt wie Faktor in der Gleichung sozia-

ler Beziehungen. Sie ermöglichen neue Geschäftsformen in der ökonomischen

Sphäre (z. B. E-Commerce; Kunden-Selfservices in der Dienstleistung) und sind

natürlich auch deren Ergebnis, da Unternehmen großes Interesse haben, Infor-

matikinstrumente etwa zu Kostensenkungszwecken zu optimieren.

In der letzten Dekade hat sich hier – eher am Rande der öffentlichen Wahr-

nehmung – eine enorm bedeutsame Verschiebung gesellschaftlicher Grund-

begriffe ergeben: Ich spreche von den Rechtskategorien Besitz und Eigentum.

Für den digitalen und informatisierten Besitz haben die großen Konzerne bereits

Rechtsbegriffe eingeführt, die den klassischen Grundlagen des Kapitalismus dia-

metral entgegengesetzt sind. Während die Konzerne sich mit allen Mitteln gegen

die Öffnung digitaler Ressourcen auflehnen, haben die Hochschulen mit dem

OER-Ansatz paradoxerweise das Problem, nicht die gewünschte Verbreitung und

Nutzung zu finden.

Das Element «Persönlichkeit» in der Grafik mag auf den ersten Blick überra-

schen. Die Beziehungen in der Grafik geben die bereits angesprochenen Wechsel-

wirkungen zwischen Medienentwicklungen einerseits und der gesellschaftlichen

Konzeption von Persönlichkeit andererseits wieder. Wir wissen bereits aus der

Mediensoziologie, dass die Virtualisierung (sicher als ein Faktor unter vielen) die

Konstruktionen von Identitäten, Selbstverständnis, Biografien, die Grundlagen

von sozialen Beziehungen, von Leistungen und kulturellen Werte umzugestalten

begonnen hat.

Persönlich vertrete ich die These, dass besonders die digital natives,19 aber

durchaus auch ihre Lehrer künftig stärker als früher mit Ungleichzeitigkeit20 und

19 Zu Begriff und Kategorisierung siehe Palfrey und Gasser (2008). In verschiedenen Wissen-schaftsblogs hat sich um eine parallele Publikation von Rolf Schulmeister eine Diskussion entspannt, ob der Begriff überhaupt trennscharf ist. Ich teile grundsätzlich die kritische Auffassung, dass es die Gruppe als solche wohl nicht gibt. Das Profil wird in der Konturie-rung überzeichnet und überschätzt. In diesem perspektivbildenden Aufsatz erfüllt der Be-griff jedoch eine wichtige Funktion. Er erlaubt nämlich sehr gut die Projektion einer Verän-derung, die auf uns zukommt. Es hilft uns quasi, den Wandel vorauszudenken.

20 Der Begriff ist soziologisch geprägt, macht m.˙E. aber auch medientheoretisch Sinn: Ver-schiedene Medienkanäle (Mail, Twitter, Icq, Blogs …) haben verschiedene zeitliche Nut-zungseigenschaften. Sie sind unterschiedlich asynchron bzw. synchron und haben verschie-dene «typische Geschwindigkeiten», mit denen die Angesprochenen reagieren. Die digital natives nutzen die Kanäle spezifisch je nach ihrer Eignung und zum Teil nebeneinander.

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Offene Bildungsinhalte

Ungewissheiten, mit Zielkonflikten und inneren Widersprüchen umzugehen –

oder sie auch einfach nur auszuhalten – lernen müssen. Diese Widersprüche sind

unauflöslich, werden häufiger und selbstverständlicher Teil unseres Alltags und

unserer Kultur. Deutlich zeigt sich das auf dem Schlachtfeld um die Begriffe pri-

vacy und security, die im virtuellen Zeitalter neue Dimensionen erlangt haben.

Einerseits führen die Datenschützer Rückzugsgefechte angesichts immer neuer

Methoden und Technologien, persönliche Daten auszuspähen und zu missbrau-

chen. Andererseits präsentieren – wiederum vor allem junge – Internetnutzer frei-

giebig alle erdenklichen privaten und sogar intimen Daten.21 Um «neue Freunde»

zu finden, mag das dienlich sein; ob künftige Arbeitgeber sich darob gleicherart

bindungsfreudig zeigen werden, steht auf einem anderen Blatt.22

Der information overflow prägt weiter unsere Wahrnehmungsstruktur. Marke-

ting und Werbung sind zentrale Antreiber dabei.23 Die neue Währung im Tausch

der Botschaften ist nicht mehr Bedeutung, es geht vielmehr nur noch um Wahr-

nehmung und um Zeit – also um Aufmerksamkeit. Dies sind die beiden Parame-

ter, mit denen Beziehungen und Kommunikation im Web gemessen werden. Es

geht um soziale Wahrnehmung. An den digital natives und ihrem Umgang mit

neuen Medien kann man beobachten, wie sich kulturelle Konzepte verschieben.

Am deutlichsten erkenne ich dies derzeit an den Konzepten von Privatheit und

Öffentlichkeit (Stichwort Bekenntniskultur).

Einige Wechselwirkungen zwischen Lernen, Neuen Lehr-Lern-Medien und

Bildungsorganisationen (hier verstanden als Element von «Gesellschaft») wurden

oben schon ausgeführt. Den Wechselwirkungen zwischen neuen Medien, sozia-

21 Das frappierendste Beispiel hierfür ist der boomartige Erfolg von Web-2.0-Porno-Seiten, sozusagen echte open resources, wenn auch nicht unbedingt educational resources. Deren Be-treiber verzeichnen einen solchen Zulauf, dass die kommerzielle Pornobranche der USA ob ihres Niedergangs stöhnt. Nachdem sie wie ihre großen Schwestern aus der Medienbranche über Jahre hinweg Trends verschlafen hat, beantragt sie nun Milliardengeschenke – aus-gerechnet von der Regierung der sonst so prüden US-Amerikaner (vgl. Financial Times Deutschland vom 9. Januar 2009, S. 1).

22 Aggression ist ein anderer Aspekt der Persönlichkeit, der durch die systemischen Verände-rungen betroffen sein könnte. Palfrey und Gasser (2008, S. 259) berichten, dass selbst dif-ferenzierte digital natives keinen Unterschied machten, wenn sie berichteten, wie sie eine banale SMS versandt oder ein Killerspiel auf dem Computer gespielt hatten.

23 Der information overflow ist systemtheoretisch ein autopoietischer Prozess: Er wird einer-seits von den neuen Medien selbst mit geschaffen, aber zugleich auch bewältigt und ver-waltet: Immer intelligentere und schnellere Such- und Filtertechnologien, smart tags oder hash tags lassen Mensch und Maschine schnell erkennen, wo das Gesuchte ist. Das wiede-rum erhöht die Ansprüche an das verarbeitbare Datenvolumen.

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

len Beziehungen und Lernformen geht der folgende Abschnitt nach – mit Blick

darauf, welche Kompetenzen angesichts dieser Verflechtungen künftige Ziele der

Lernprozesse sein müssen.

Von neuen Medien und neuen Kompetenzen

Die in der Grafik skizzierten Wechselwirkungen beeinflussen, so behaupte ich,

zukünftige generische Kompetenzprofile. Diese Gleichung hat drei Bestandteile:

die Organisationen und ihre Aufgaben, die Emergenzphänomene und die Kom-

petenzen für den Umgang mit beiden. Dieser Abschnitt verfolgt die Beziehung

von Emergenz und Kompetenz, der nächste Abschnitt die Beziehung von Kom-

petenz und Organisationsform.

Im tagungsreichen Herbst 2008 nahm ich unter anderem an der Scope-Kon-

ferenz in Heidelberg teil und traf dort mit einer Reihe von E-Learning- und

Internet-Spezialisten zusammen, aber auch mit Erwachsenenbildnern, HR-Profis

und digital natives. Die fruchtbaren Diskussionen drehten sich um Fragen wie

die künftigen Anforderungen der digital natives an Bildung, Arbeitsplätze und

Organisationen.24

Auch wenn die Gesprächspartner gemeinsam eine Kluft zwischen den Poten-

zialen und Chancen und der wirklichen Nutzung neuer Medien wahrnahmen, so

waren sie doch auch einig darin, dass die Technologien der Kommunikation, der

Kollaboration, des Lernens und der Kultur (im Sinne von praktiziertem Verhal-

ten wie auch von Einstellungen) sich gegenseitig beeinflussen. Speziell die Fragen

nach Bildung und Pflege von Netzwerken als sozialer Dimension des Wissensma-

nagements waren hier beispielgebend.

Digital natives sind Meister im Vernetzen und darin schneller und effektiver

als ihre Vorgänger. Die «Konnektivität» der nachfolgenden Mitarbeitergeneration

ist hoch. Mit beträchtlicher Geschwindigkeit und Effektivität bauen sie Kontakte

zu Menschen auf, die sie vorher noch nicht kannten, die aber potenziell bedeut-

sam werden können für die eigene Person oder Arbeit. Es sind zwar eher ober-

flächliche Kontakte, die dabei zustande kommen; im Laufe der Zeit können diese

Kontakte jedoch durch neue Begegnungen oder auch einfach zufällig intensi-

viert werden, und erst dann entscheidet sich, ob der Kontakt bestehen bleibt und

24 Viele der Anregungen und Ideen in diesem Abschnitt verdanke ich Gesprächspartnern und -prozessen auf der Scope08. Nicht jede Idee lässt sich namentlich zuordnen, und ich möchte mich daher hier bei allen Partnern für den fruchtbaren Dialog bedanken.

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Offene Bildungsinhalte

«Wert» bringt. Stephen Downes bezeichnet den connectivism als eine wesentliche

Eigenschaft der Organisationsangehörigen von morgen.25

So praktiziert, kann Netzwerken mit Instrumenten wie Facebook, Xing, Ning

und anderen plötzlich auch ökonomisch sinnvoll werden. Die Organisationen

haben dies aber oft noch nicht erkannt. Es gibt durchaus noch zahlreiche Bei-

spiele, in denen Weisungen und Reglemente den «Privatgebrauch» des Internets

am Arbeitsplatz mit Sanktionen bedrohen und gar spezielle tracing software für

die entsprechende Kontrolle einsetzen.

Unerwartete Hilfe bei der Suche nach dem künftigen Kompetenzprofil er-

halten wir von der systemischen Organisationstheorie und Führungsausbildung.

Hier werden Querschnittsanforderungen an Absolventen bezüglich ihrer Anpas-

sung an neue organisationale Gegebenheiten und an die Führungsaufgaben von

morgen definiert. Neue Führungsaufgaben sind aus Sicht der Theorie lebender

Systeme (Brafman/Beckström 2007) nicht mehr mit der klassischen Boss-Rolle

vereinbar. Vielmehr müssen die neuen Manager mehr als Katalysatoren von In-

novationen und als Coachs ihrer Mitarbeiter wirken. Die Organisationen der Zu-

kunft werden selbst vermehrt offene und lebendige Systeme sein müssen, wenn

sie schnell genug anpassungsfähig bleiben wollen. Solche Systeme können jedoch

per definitionem weder vollständig kontrolliert noch mit reiner Befehlsgewalt ge-

führt werden.26 Vorgesetzte27 müssen mit Vertrauen ihre Aufbauarbeit leisten.

Sie führen wertezentriert, vermitteln glaubwürdig und authentisch ihre Ideologie

und leben diese vor. Dafür benötigen sie einige konkrete Kompetenzen:28

1. Sie schaffen, bevorzugen und verknüpfen viele lose und oberflächliche Be-

ziehungen in «Beziehungslandkarten» und sind in der Lage, auch uneigen-

nützig die Vorteile von Verbindungen zwischen Dritten zu sehen und anzu-

bahnen.

2. Sie haben und leben eine Leidenschaft für die Sache, um die es ihnen geht.

Sie begründen das Wertesystem der Organisation.

25 Ein anderer Aspekt der gleichen Fähigkeit, das Multitasking (Palfrey/Gasser 2008, S. 296), ist allerdings auch ein Problem im Bildungsbereich, denn das Zusammentreffen von Netz-zugängen und das Sinken der Aufmerksamkeitsspanne der Lerner von heute bedeutet für die Lehrer viel höhere Anforderungen, wenn sie die Aufmerksamkeit der Studenten erlan-gen und erhalten wollen.

26 Untersuchungen aus dem Human Resource Management belegen diesen Trend zu einer neuen Erwartungskultur der Mitarbeiternden, die stärker selbstverantwortlich, sinn- und zielorientiert arbeiten wollen (vgl. etwa Hilb 2004).

27 Hilb (2004) nennt diese Rolle bereits «Vorgenetzte» [sic].28 Der vollständige Katalog bei Brafman und Beckström (2007, S. 105–112).

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

3. Sie holen Menschen da ab, wo sie stehen. Sie praktizieren Empathie und Lö-

sungsansätze, statt Ratschläge zu geben (nicht zuletzt für ihre Coach-Rolle),

und zeigen emotionale Intelligenz.

4. Sie schenken Vertrauen und führen auf dieser Basis.

5. Sie sind Quelle für Inspiration Dritter in ihrer Umgebung/im offenen Sys-

tem.

6. Sie halten Zwei- und Mehrdeutigkeit aus. In offenen Systemen gibt es viel-

fach keine Klarheiten und Kontrollmöglichkeiten. Damit muss man leben

können, doch ermöglicht das auch Innovation und Kreativität.

Dieser erwartete neue Führungstyp unterscheidet sich dichotomisch vom klas-

sischen Boss entlang vielen Kriterien und deckt sich erstaunlich weitgehend mit

unseren vorausgegangenen Desideraten aus der Interpretation der Einflüsse neuer

Medien auf die Organisationen.

Stimmen die Einschätzungen der Auguren, dann sind Konnektivität, Netz-

werkfähigkeit und Kreativität Stärken der nächsten Lernergeneration. Vorhan-

dene Stärken der neuen Generation müssen wir aber nicht unbedingt ausbilden,

wir müssen vielmehr ihre Schwächen angehen. Stephen Downes, Experte in Sa-

chen Lernen mit neuen Medien und Mitbegründer der Lerntheorie des Connec-

tivism als eines neuen Phänomens und neuen Begriffs der Mediensoziologie, fasst

die Frage nach den Kernkompetenzen der Zukunft wie folgt zusammen: Die Mit-

arbeiter werden in der Lage sein müssen, kritisch zu denken, zukünftige Entwick-

lungen wahrzunehmen, die eigene Identität und den eigenen Platz in der Welt zu

definieren, Verantwortung zu übernehmen, Auswahlen zu treffen, prozessorien-

tiert zu sein und zu handeln sowie schließlich die Konsequenzen für das eigene

Handeln und Entscheiden zu tragen.29

An Downes’ letztem Punkt schließe ich besonders gern an. Kritisches und

systemisches Denken, Selbstständigkeit und das Übernehmen von Verantwor-

tung und Eigenverantwortung sind die wichtigsten Kompetenzdefizite, die ich

heute beobachte. Wenn das richtig ist, dann muss Bildung in der Zukunft wieder

stärker auf der persönlichen Ebene wirken und Beiträge zu Identität und Persön-

lichkeit leisten.

29 Vgl. Stephen Downes: What you need to learn. ‹www.downes.ca/cgi-bin/page.cgi?post=38502› (Zugriff: 24.1.2009).

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Offene Bildungsinhalte

Von neuen Kompetenzen und neuen Organisationsformen

Im vorangehenden Abschnitt hatten wir beleuchtet, welche Wechselwirkungen

zwischen neuen Medien, Organisationen und ihren Mitarbeitern bestehen. Nun

ist zu fragen, welche Anforderungen für neue Kompetenzen daraus resultieren,

welche die (tertiäre) Bildung abzubilden hätte, und wie dies die Organisationen

beeinflussen könnte.

Für die Unternehmen bedeuten die Web-2.0-Technologien, dass sie sich zu-

nehmend als Netzwerke werden organisieren und sich von konventionellen Mo-

dellen der Organisationen ablösen müssen. Das betrifft auch das corporate learn-

ing. Für Downes ist dieser Terminus ohnehin eine contradictio in adjecto und

ein unauflösbarer Widerspruch. Einerseits geht es beim Lernen um individuellen

Gewinn, andererseits um den Unternehmensgewinn in harter Währung. Beide

Kriterien sind für ihn nicht vereinbar, weil intrinsisch motiviertes Verhalten nicht

von außen angeregt werden kann. Lernen ist grundsätzlich auf den Lernenden

zentriert, während beim corporate learning die persönliche Auswahl, Zielsetzung

und Kontrolle des Lernens minimal sind.

Über diese pointierte Sichtweise lässt sich trefflich streiten. Sie ist aber jeden-

falls eine wertvolle Anregung, wenn es um die erneute Reflexion des zukünftigen

Konzeptes von Bildung, Bildungsorganisation, Lehren und Lernen geht. Wir wis-

sen heute schon, dass die medial aufgerüsteten Lehrer und Dozenten eine neue

Rolle haben, nämlich als Lerncoachs zu agieren, Orientierung im information

overflow zu geben und Qualität zu sichern. Dabei müssen wir jedoch neu definie-

ren, was wir als Qualität ansehen wollen. Sie wird verstärkt danach definiert wer-

den müssen, welches Lernobjekt zum Beispiel dem top peer rating am nächsten

ist und wie gut seine Gebrauchsbedingungen etwa in Metatags und Ko-Texten

definiert sind. Qualität wird vor allem bedeuten, dass ein Lernobjekt ideal Situa-

tion, Gebrauch und Objekt miteinander in Einklang bringt.

Neue Medien wirken auch auf die sozialen (betrieblichen) Beziehungen.

Bei Konflikten wirken sie aus Downes’ Sicht eher eskalierend, es sei denn, sie

werden von Experten verwendet. Interessant ist aber Downes’ Vergleich sozia-

ler mit technischen Netzen. Wir erwarten alle, dass technische Netze jedwede

Applikation unterstützen und auf alle Seiten offen sind. Gleichzeitig sollen sie

sicher und fehlertolerant sein. Das führt zur Entwicklung und Einführung von

Standards. Wir können das auf soziale Netze transferieren: Dann sind Fehler-

toleranz, Akzeptanz, Höflichkeit und gegenseitige Anerkennung gefragt. Über-

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

tretungen sollen verziehen und auf ein wahrscheinliches Missverstehen zurück-

geführt werden.30

Organisationen brauchen als Erfolgsfaktor aus systemischer Sicht vor allem

die Fähigkeit zur Anpassung an Umweltentwicklungen. Die Kreativen – und

unter ihnen auch die digital natives – brauchen als Mitarbeiter wie auch als Stu-

denten mehr Freiraum als frühere Generationen.31 Wie müssen (Bildungs-)Orga-

nisationen sich nun vorbereiten auf diese neue Generation von Mitgliedern?

Nach meiner Meinung sind fast alle wichtigen Bereiche der Hochschulen

potenziell betroffen: von den Strukturen der Organisation und des Umfelds bis

zu den Curricula, Lehrmethoden, Praxisbezügen usw. Wichtig wird sein, dass die

Bildungsträger den Fokus auf den Prozess statt auf die Inhalte des Lernens oder

die formalen Qualifikationen lenken. Bildungsträger sind – und das ist oft auch gut

so – schwerfällige Organisationen. Für die neuen Zielgruppen bräuchte Bildung

viel mehr Barcamp-Charakter des Lernens. In der heutigen Situation ist das schon

formal und rechtlich undenkbar. Und selbst wenn die Organisationen die Rah-

menbedingungen grundlegend verändern wollten, würden sie dabei auch auf ge-

sellschaftliche Grenzen stoßen, wie Rechtslage, Gewerkschaften, traditionelle Er-

wartungshaltungen vieler Stakeholder usw. Der Veränderungsfreiraum ist beengt.

Dennoch oder gerade deswegen müssen wir uns fragen, wie die Bildungsorgani-

sation selbst lernt. Welche Mittel hat sie, um mit dem Lern- und Veränderungstempo

der kommenden Lernergeneration Schritt zu halten? Wenn wir die Struktur der Inno-

vationen betrachten, dann erkennen wir rasch, dass der Bildungsbereich in der «Ver-

wertungskette» neuer Technologien ziemlich am Ende steht und diese Technologien

erst einsetzt, nachdem sie in anderen Bereichen ihre Funktionalität längst erwiesen

haben, wie dies etwa beim Blogging der Fall ist.32 So gesehen, wäre der Bildungsein-

satz der neuen Technologien in vielen Fällen das eigentlich emergente Phänomen.

30 Mündliche Äußerung von Stephen Downes im Dialog mit dem Autor am 1. Oktober 2008.

31 Es ist eben genau einer der bereits angesprochenen inhärenten Widersprüche, dass diesel-ben Studenten und Mitarbeiter oft an der Hand genommen und Schritt für Schritt geführt werden wollen.

32 Natürlich wissen wir auch, dass aufmerksame, vorausschauende und fleißige technische Pio-niere auch in den Bildungsorganisationen arbeiten und für die Einführung technischer In-novationen oftmals hauptverantwortlich sind. Nach der Erfahrung des Autors entscheiden sich in aller Regel die Bildungsorganisationen zumeist nicht aufgrund von strategischen Entscheiden oder Führungsentscheiden für den Einsatz innovativer Technologien, selbst wenn diese der Qualität und sicher heute zumindest der Transparenz im Lernprozess zu-gute kommen.

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Offene Bildungsinhalte

Die Pädagogik ist einmal mehr getrieben von technologischer Entwicklung,

statt dass sie diese treibt – wofür dem Autor deutlich weniger Anwendungsfälle

bekannt sind und was aber eigentlich der Fall sein sollte. So müssen wir Lehrprofis

uns fragen, welche nützlichen methodischen und technologischen Neuerungen

des Lernprozesses, die zugleich kompetenzbildend und berufsrelevant sind, wir

vorausgesehen oder zumindest zeitnah beobachtet und wie wir darauf reagiert ha-

ben.33 Kritisch wird dieser Ansatz in der Regel mit der Gegenposition gekontert,

die neuen Methoden und Technologien trügen in der Regel nichts zur Lehrqua-

lität und noch weniger zum eigentlichen Lerninhalt bei (mit Ausnahme einiger

Randbereiche, wo Computertechnologien selbst Lehrgegenstand sind).34

Wir haben neue Bildungsmedien und das Internet als lebendes System und ei-

nige Wechselwirkungen darin betrachtet. Lernen mit neuen Technologien bereitet

Lerner und Studenten auf neue Kompetenzen vor, aber genauso gilt der Umkehr-

schluss, dass neue Technologien Gesellschaft, zwischenmenschliche Beziehungen,

Werte, Wirtschaft, Führung von Mitarbeitern und vieles mehr verändern und ent-

sprechend neue Kompetenzen erfordern. Neue Technologien sind ebenso Ursa-

che wie Wirkung, Impulsgeber wie Rezipienten von Veränderungen.

Strategien für Bildungsorganisationen in der Netzwelt

Neue Lehr-Lern-Medien und die Trägermedien der eigentlichen Lerninhalte, also

die Plattformen der Kurse (LMS) und deren Teiltechnologien, bieten heute zu-

nehmend Einsatzzwecke im Sinne von Web-2.0- oder «Mitmach»-Technologien.

Der unvorhergesehene studentische Gebrauch dieser neuen Lehr-Lern-Medien

ist ein typisches Phänomen für dezentrale Netze.35 In gewisser Weise reagieren

33 Studenten greifen bereits heute in ihrem Webgebrauch besonders häufig auf die Online-Enzyklopädie Wikipedia und auf Social Communities wie StudiVZ, FaceBook, MySpace oder Xing zu (vgl. Kleimann/Özkilic/Göcks 2008; zitiert auf: ‹www.checkpoint-elearning.de/article/6161.html›, Zugriff: 14.1.2009).

34 Die letztere Beobachtung ließe vermuten, dass Innovation bei Lehr-Lern-Technologien zu-erst in den Informatikfächern geschieht. Aus der Erfahrung des Autors lässt sich dies nicht bestätigen. Es gibt keine Faustregel, welches Fach innovationsnäher ist; vielmehr richtet sich die Antwort nach Kompetenzen und Visionen der Dozenten und Lehrer selbst.

35 Brafman und Beckström (2007, S. 26) definieren dezentrale Netze als solche, die weder Führungsinstanz noch (ausgeprägte) Hierarchie und Befehlsorganisation aufweisen. Oft ist nicht einmal die Außengrenze scharf definierbar, weil die Mitgliedschaft auf eigener Ent-scheidung beruht und daher die Anzahl der Mitarbeiter auch nicht genau definiert werden kann. Gleichwohl gibt es aber durchaus – wenn auch verteilte – Machtbeziehungen, Re-geln, Werte und Ziele.

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

die klassischen Bildungsorganisationen darauf wie die großen Medienkonzerne

auf die Kopieraktivitäten, wenn sie sich in den skizzierten Rüstungswettlauf ver-

stricken, der zwar viele Ressourcen bindet, aber keinen neuen didaktischen Mehr-

wert freisetzt.

Wenn wir nach der vorangegangenen Betrachtung die emergenten Verhal-

tensstrukturen nicht mehr als individuelle Varianten, sondern als notwendige und

durchaus sinnvolle gesellschaftliche Ausprägungen verstehen, dann müssen Bil-

dungsorganisationen neu über sich selbst, ihren grundlegenden Auftrag36 und

stellenweise sogar über ihre organisationale Verfasstheit nachdenken. Mit dem

OER-Ansatz bewegen sie sich bereits in diese Richtung, öffnet dieser doch zu-

mindest einmal die Rezipientenschaft, teilweise sogar die Autorenschaft.

Dezentralen Organisationen kann man nicht mit einem frontalen Angriff

einer Zentralorganisation begegnen; vielmehr wird danach die Dezentralisierung

immer größer, werden – in unserem Fall – die studentischen Umgehungstaktiken

zahl- und ideenreicher. Wenn Organisationen mit dezentralen Phänomenen kon-

frontiert werden, so bieten sich grundsätzlich drei aussichtsreiche Strategien an

(Brafman/Beckström 2007, S. 125–135).

1. Verändere die Ideologie und die Werte, welche die Mitglieder teilen. Ohne

diese Grundlage zerbricht das lose Netzwerk.

2. Schaffe künstlich Machtstrukturen, indem zum Beispiel Ressourcen ange-

häuft werden, die dann verteilt werden. Das bedingt sicher Verteilkämpfe

und Uneinigkeit unter den Mitgliedern des dezentralen Netzwerkes.

3. Wenn beides nicht geht, schaffe parallele dezentrale und offene Gegenorga-

nisationen beziehungsweise schließe dich ihnen an.

Auf Bildungsorganisationen könnten diese Strategien etwa folgendermaßen über-

tragen werden:

1. In US-amerikanischen Hochschulen gilt ein ungeschriebener Ehrenkodex:

Wer bei Betrugsversuchen erwischt wird, verlässt unweigerlich die Hoch-

schule. Angesichts der oft horrenden Studienkosten und der großen Be-

deutung des Namens der Hochschule für die eigene Karriere bedeutet das

36 Mit dem Begriff des «Auftrags» schließe ich mich an die Auffassung an, die Mourkogiannis, Vogelsang und Unger (2008) vorstellen. Sie verstehen den Leitbegriff «Auftrag» im über-tragenen Sinn von «Berufung» und bezeichnen damit das, was der Einzelne und die Or-ganisation zum Großen und Ganzen beitragen kann, will und soll und was eben nicht nur ökonomisch sein kann und darf. Als Synonym von «Auftrag» geben sie auch «moralische DNA» an, womit auch die Weitergabe des Sinngehalts angesprochen wird.

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Offene Bildungsinhalte

zumindest einen sicheren Karriereknick. Umgekehrt bauen die Prüfungssze-

narien dafür auf Vertrauen, wenn die Studenten in Heim- oder auch Grup-

penarbeit Texte schreiben, für die sie jedwede Mittel verwenden können.

Auf unsere Bildungsorganisationen käme im Lichte dieser Option eine an-

spruchsvolle, aber auch aufregende Aufgabe zu: Wir müssten die Werte

des Umgangs miteinander in den Organisationen und im Lernbetrieb zum

Thema machen und gemeinsam bearbeiten. Eine sicher herkulische Aufgabe,

deren Wirkung aber kaum hoch genug eingeschätzt werden kann.

2. Es ist durchaus vorstellbar, mit diesem Ansatz etwa dem Problem geheimer

studentischer Skripten von Prüfungen oder anderen oben beschriebenen Phä-

nomenen zu begegnen. Die Strategie halte ich aber für moralisch fragwürdig

und nicht auf persönliches Wachstum der Studenten und Vertrauensbildung

in den Lernbeziehungen ausgerichtet. Für mich kommt sie daher nicht in-

frage. Vorstellbar wäre hingegen, den besten studentischen Lerninhalt oder

auch sonstige Lernhilfen zu prämieren und hernach als Creative-Commons-

lizenzierten Inhalt der interessierten Öffentlichkeit zurückzugeben.

3. Im Lichte unserer Herangehensweise ist es ein interessantes Gedankenexperi-

ment, die klassischen Bildungsorganisationen komplett aufzulösen und durch

kleine Gruppen von OER-Autoren zu ersetzen. Deren Arbeiten liegen in na-

tional zugänglichen öffentlichen Repositories. Selbst tertiäre Curricula ließen

sich dann in Zukunft im reinen Selbststudium von öffentlich zugänglichen

Open Educational Resources bearbeiten. Hernach würde etwa in einer Zen-

tralprüfung die Diplomwürdigkeit von Wissen und Kompetenzen abgeprüft

und bescheinigt.37 Dieses Gedankenexperiment dient, wohlgemerkt, der Stra-

tegiereflexion; Hochschulen können, wollen und sollen sich (auch aus meiner

persönlichen Sicht) durchaus nicht ohne Weiteres auflösen.

Aus meiner Sicht ist die beste und auch im Sinne des Hochschulauftrags am ehesten

zum Ziel führende Strategie die einer hybriden Organisation, die sowohl zentrale als

auch dezentrale Aspekte vereinigt. Die Vision einer hybriden Bildungsorganisation

lässt sich zum Beispiel fantasieren als offene learning community mit großer Durch-

37 Wenn man in Betracht zieht, dass viele große Unternehmen zunehmend darauf setzen, ihre Trainees zunächst einmal in die unternehmenseigene Business Academy zu schicken, damit sie dort das nötige Rüstzeug für Organisation und Berufsalltag erhalten, erscheint diese Idee gar nicht so unrealistisch. Als Hochschullehrer hoffe ich jedoch, dass sich unter mei-nen Lesern keine sparbegeisterten und innovativen Bildungspolitiker befinden, zumal ich von Wert und Chancen einer klassischen Präsenzausbildung durchaus überzeugt bin.

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

lässigkeit für die Lehrpersonen. Dozenten arbeiten für gewisse Zeit in Partnerunter-

nehmen, während deren Führungskräfte Projekte in den Hochschulen betreuen.38

Lerninhalte sind grundsätzlich interdisziplinäre, problem- und erfahrungsbasierte

Projekte, die in direktem Zusammenhang mit dem beruflichen Alltag aller Lernpart-

ner stehen. Dort werden sie ohnehin kollaborativ erarbeitet und ergo auch als OER

erstellt und publiziert.39 Skripten des Lernstoffs sind studentische OER-Produktio-

nen und dokumentieren als Text, Film oder Blog die Erfolge, Fehler und Rück-

schläge, die Emotionen und Wirkungen der gemeinsam umgesetzten Projekte.40

Das klassische Problem der Prüfung stellt sich nicht mehr. In lebenden Systemen

kann ein sinnvolles Controlling nur noch stattfinden, wenn keine genauen Zahlen

mehr als Ergebnis geliefert werden müssen und stattdessen die relevanten Fragen an

das System selbst gestellt werden: Wie anpassungsfähig ist die geschaffene dezentrale

Struktur; wie viele Innovationen bringt sie hervor; welche Wirkung hat sie bei ihren

Mitgliedern und so weiter. Das hat tiefgreifende Auswirkungen auf den Kompetenz-

nachweis. Prüfungen finden dann in der Form statt, dass die jeweilige Lerngruppe

ihr deliverable des Projekts beim Endkunden vorstellt. Ob sie dorthin gekommen

sind mithilfe von Google, copy and paste oder durch eigene Kreativität und Innova-

tion, steht dann in der Produktionslogik des Projektes. Am Ende zählt das, was auch

im Berufsalltag zählt: schnelle, fristgerechte, kundenerwartungsgemäße und quali-

tativ hochwertige Lieferung. In einem solchen Szenario können nicht nur, wie an

meiner Hochschule bereits Usus, alte Prüfungen herausgegeben werden, es können

auch kommende Prüfungen vorab veröffentlicht werden. Je länger sich unsere Stu-

denten mit unseren Aufgaben beschäftigen, desto lieber kann uns das nur sein.

38 Unternehmen und formale Bildung treffen sich nicht erst in Business Academies und in Privatschulen. Großbritannien als bekannter Fan der Privatisierung öffentlicher Institutio-nen zählt bereits 130 sogenannte Academies. Das sind öffentliche Bildungsträger, die von Unternehmen gesponsert werden und mit denen auch auf der Personalebene Partnerschaf-ten bestehen können. Das Land plant 400 dieser Akademien. Eine learning community ist hier noch nicht wirklich ausgeprägt, aber die Organisationen wachsen bereits zusammen (vgl. Financial Times Deutschland vom 9. Januar 2009, S. 13).

39 Palfrey und Gasser (2008, S. 300) teilen die Einschätzung, dass die Bildungsorganisationen der Zukunft auf virtuell kooperierende Arbeitsgruppen setzen werden.

40 Dass die Vision einer viel stärkeren Lernerzentrierung und eines starken Web-2.0-Ge-dankens auch in der Erstellung von OER nicht absurd ist, belegen aus meiner Sicht entsprechende Bildungstrends. Wikipedia ist bereits das Referenzwerk im Netz. Face-book hat inzwischen einen eigenen E-Learning-Bereich eröffnet, in dem Mitglieder selbst Content erstellen und «lehren» können (‹www.facebook.com/apps/application.php?id=3416245603›, Zugriff: 14.1.2009). Im Weiteren sind die schon erwähnten Dienste wie Youtube, flickr und viele andere ebenfalls hier zu nennen.

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Offene Bildungsinhalte

Das Bild lässt sich für mich stimmig ergänzen mit einer eingangs vorgeschal-

teten Stufe eines Studium generale, das die kulturell und gesellschaftlich notwen-

digen Grundvoraussetzungen legt. Während in diesem die Zentralorganisation

Hochschule wesentlich gefragt ist, übernehmen im zweiten Studienteil Studenten

und alle anderen Lernpartner Teile der klassischen Bildungsaufgaben und dezen-

tralisieren damit die Bildungsorganisation.

Wenn in den letzten Jahren sich die Rolle der Lehrer von Wissensinhabern

(Wissensmonopolisten) und -vermittlern zu Wissensbrokern und Lerncoachs ge-

ändert hat, dann steht in der nächsten Phase ein weiterer Rollenwandel bevor.

«Mein Physiklehrer kann den Teilchenbeschleuniger des CERN nicht erklären;

ein Youtube-Film konnte es aber», so der Kommentar eines digital native auf die

Diskussion um die neue Lehrerrolle. Die «Googlisierung» der Lehre kann heute

nicht mehr gelingen. Kompetenz ist auch wieder auf Fachebene gefragt. Ein Do-

zent kann heute nicht mehr antworten: «Ich weiß es nicht, schaue es aber bis

morgen nach», weil die Studenten das in wenigen Augenblicken im Unterricht

online bereits selbst getan haben. Die Funktion des Lehrers als Wissensbroker

ist damit auch schon wieder obsolet. Nach meiner Einschätzung wird sie sich im

Sinne der dezentralen Netze und der oben als Vision skizzierten organisationalen

Veränderungen zu der eines primus inter pares der Lernpartner entwickeln. Als

solcher begleiten die Lehrer in organisatorischer Sicht die interdisziplinären Pro-

jekte, nehmen an Dialogen für den Erfahrungstransfer teil, werden aber in den

Lernprozessen der Zukunft selbst so viel lernen wir ihre Schüler und Studenten.

Aufgabe wird wohl auch weiterhin bleiben, Qualität und Orientierung im Lern-

prozess herzustellen, zum Beispiel in der Gestaltung möglicher Lernpfade. Auch

die Struktur ihrer wissenschaftlichen Arbeit und Kommunikation ändert sich ra-

sant: Sie wird schneller, fragmentierter, vernetzter. Produktion von Texten ist

mehr kollaborative als individuelle Aufgabe (was auch die Rating-Mechanismen

neu fordern wird).

Aus meiner Sicht sind in der Reflexion der Zukunft der Bildungsträger die

grundlegenden Verschiebungen für die Rolle der Lehrpersonen dreierlei. Zum

einen ändert sich dramatisch die Geschwindigkeit der Prozesse auf allen Ebenen.

Damit umgehen zu können, erfordert vor allem, unter hohem Druck produktiv

und kreativ bleiben zu können. Zum Zweiten sehe ich – auch aus der eigenen

Reflexion meiner Lehre heraus – die Bedeutung des Lehrers, der Lehrerin künf-

tig viel mehr darin, wieder eine gestaltende, wertschätzende und moralisch ba-

sierte Begleitung des persönlichen und charakterlichen Wachstums der Lerner zu

leisten. In den letzten Jahren habe ich eine viel größere Bedürftigkeit nach per-

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Andreas König • Unvorhergesehene Nutzung von neuen Lehr-Lern-Medien

sönlicher Rückmeldung und wertschätzender, ehrlicher Kritik wie auch nach Rat

und gelegentlich auch normativer Orientierung wahrgenommen als etwa in den

Achtziger- und Neunzigerjahren. Diesen Eindruck kann ich nicht mit gemesse-

nen Zahlen belegen, aber immerhin findet er spontane Bestätigung in Dialogen

mit Kollegen und Kolleginnen aus der Bildung und aus Nachbarberufen, so von

Coachs und Therapeuten. Mir scheint das durchaus schlüssig, wenn ich auf so-

ziale, strukturelle und wertemäßige Entwicklungen in den Organisationen der

Gegenwart schaue.

Drittens und letztens werden Lehrer (und Bildungsorganisationen insgesamt)

ihre Rolle als gatekeeper zumindest teilweise abgeben müssen. Bisher waren sie

die Torhüter für formale Qualifikation und damit für den Zugang zum Arbeits-

markt, für Saläreinstufung, Biografieentwicklung usw. In der Webgeneration wer-

den diese gatekeeper – wie wir es in der Wirtschaft bereits zahlreich beobachten

können – durch peer-tools und peer-networks abgelöst.

Diesen dritten Aspekt muss man nicht begrüßen, auch wenn wir ihn heute

bereits erkennen können: Die Ökonomisierung der Bildung senkt unter anderem

das Image des Lehrberufes und seinen gesellschaftlichen Status zusehends; Ver-

mittlungsberufe sind schlechter bezahlt und marginaler denn je in der öffentli-

chen Wahrnehmung.

Der teilweise Verlust der Autorität, formale Qualifizierung auszusprechen,

lässt aber hoffentlich neue Freiheiten dafür entstehen, dass Lehrer wieder stärker

gatekeeper für das Lernen im Sinne von persönlicher und menschlicher Entwick-

lung und Wachstum werden, wie sie es in anderen Gesellschaften zum Teil heute

auch noch sind.

Schlusswort

Manche Ideen dieses Beitrags mögen Ihnen fantastisch vorgekommen sein. Tat-

sächlich greifen manche Einschätzungen zeitlich sehr weit voraus. Der unvorher-

gesehene Gebrauch neuer Medien ist meiner Einschätzung nach jedoch genauso

bedeutend für das Bildungswesen wie für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt.

Er wird das Bildungswesen mittelfristig so stark verändern, wie das Internet den

Handel zum E-Commerce, das Marketing zu virtual communities und zu ande-

ren neuen Werbe- und Kommunikationsformen geführt hat und die Telekom-

branche zu VOIP und online-basierten Mehrwertdiensten, die «nebenbei» die

Massenmedien neu positionieren, indem der Mobilfunk die Ausgabe auf mobilen

Endgeräten wie PDAs usw. erlaubt.

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Offene Bildungsinhalte

Wenn auch empirische Daten noch fehlen und die Ungewissheit über das

Eintreffen mancher Einschätzungen hoch ist, so scheint mir die Vorausschau mit-

hilfe der Metaphorik lebender Systeme doch eine nützliche Methode im Um-

gang mit Problemen von heute. Bildungsorganisationen ändern sich langsam und

brauchen gerade deswegen einen langen Blick voraus und Offenheit für graduelle

Lösungen. Es geht ihnen dabei nicht nur um Investitionsschutz, sondern um die

Sicherstellung der eigenen Anpassungsfähigkeit als Überlebensgarant (Schwanin-

ger 2006, S. 7).

Es braucht Sensibilität gegenüber feststellbaren und kommenden Trends, die

sich – ganz im Sinne dezentraler Strukturen – zwar langsam aufbauen, dann aber

unerwartet und plötzlich auf die bestehenden Organisationen einwirken.41 Inso-

fern ist der OER-Ansatz vieler Hochschulen Zeichen einer Anpassungsstrategie,

mit der sie anderen Organisationen ein Beispiel geben können.

Ein geeignetes Sensorium für kommende Entwicklungen ist darüber hinaus

Teil einer Versicherungsstrategie oder eines Risikomanagements für die angespro-

chenen Organisationen. Die Schweizerische Stiftung für audiovisuelle Bildungs-

medien (SSAB) hat, mit Förderung durch die Hasler-Stiftung und umgesetzt

durch die Abteilung des Autors an der ZHAW, ein Pilotprojekt gestartet, das sich

der Wahrnehmung und Analyse von Langzeittrends speziell für das Bildungswe-

sen widmet. Die Arbeit der darin vertretenen Organisationen gibt bereits jetzt

eine solide Basis, um Gegenwartstrends zu erkennen. Mit größerem Netzwerk

– und vielleicht auch mit Ihren Kompetenzen darin – wird auch die prospektive

Arbeit an Zuverlässigkeit gewinnen und den beteiligten Organisationen erlauben,

sich schneller an die Umgebung anzupassen. Eine der anstehenden Aufgaben

wird sicher darin bestehen, hot spots der Entwicklung auszumachen und ein spe-

zifisches Instrumentarium zurechtzulegen. Dabei könnte auch die Beobachtung

innovativer Räume bedeutsam sein, wie sie insbesondere bei Künstlern42 oder in

der Umgebung junger Kreativer vorkommen.

41 Die Medienmultis wissen seit Jahrzehnten von der Problematik des Kopierens und Tau-schens und ziehen gegen die neuen Technologien, Erfinder und Nutzer mit allen Waffen und fast unbegrenzten Ressourcen zu Felde. Trotzdem werden sie von immer neuen Phä-nomenen wie Peer-to-Peer-Netzen, Kazaa, Kazaa light, e-mule, e-donkey usw. überrascht, auf die sie die immergleiche Antwort geben, indem sie Heere von Anwälten aussenden. Vgl. hierzu Brafman und Beckström (2007) oder die kenntnis- und detailreichen Analysen bei Lessig (2004).

42 Vgl. die Projekte der Ars Electronica in Linz (‹www.aec.at/index_de.php›, Metatext bei Wikipedia dazu: ‹http://de.wikipedia.org/wiki/Ars_Electronica›, Zugriff: 13.1.2009)

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