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53 Psychologie und Mythos III Analyse und Deutung 1 Form Doppelte Optik Der Tod in Venedig gilt als die dichteste Erzählung Thomas Manns Das Gefälle zum Ende hin ist von Beginn an, seit Aschenbachs Anblick des Wanderers im ersten Kapitel, unum- kehrbar Bevor der Held selber sein Verhängnis begreift, ent- hüllt es sich dem Leser Stufe um Stufe, weil die reale Hand- lung von Symbolen und Bildern begleitet und durchsetzt ist, die auf Zukünftiges verweisen und einen dahinter liegenden zweiten, in sich vielschichtigen und fluktuierenden Bedeu- tungsraum eröffnen Thomas Mann erzählt realistisch und psychologisch subtil die individuelle Geschichte eines hoch- differenzierten Menschen und stellt dessen Schicksal zugleich in den Bezugsrahmen des Mythischen Aschenbach folgt (in- dividuell begründet) einem »Zug seines Innern« und (my- thisch gedeutet) seiner »Bestimmung« (S 187) Das Mythen- material – vor allem Namen und Erscheinungen griechischer Gottheiten – ist hier nicht Bildungsprunk, sondern Ausdruck der Entscheidung für eine doppelschichtige Konzeption und doppelte Optik (bifocal view) , sodass sich im Individuellen und anscheinend Zufälligen ein menschliches Grundmuster, etwas Überindividuelles und Typisches aufschließt Aschenbach weiß sich Urbildern (Archetypen) verbunden, von denen der Mythos erzählt, Helden, die vor ihm der Macht des Eros er- lagen; und der Konflikt zwischen Vernunftherrschaft und Lustprinzip ist in der Polarität des Apollinischen und des Dionysischen gespiegelt Thomas Mann bietet also ein begriffliches und ein vorbe- grifflich-bildhaftes Deutungsmuster an, das aus unbewusstem Wissen aufsteigt wie Träume, die der Psychoanalytiker Sig-

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Psychologie und Mythos

III Analyse und Deutung

1 Form

Doppelte OptikDer Tod in Venedig gilt als die dichteste Erzählung Thomas Manns Das Gefälle zum Ende hin ist von Beginn an, seit Aschenbachs Anblick des Wanderers im ersten Kapitel, unum­kehrbar Bevor der Held selber sein Verhängnis begreift, ent­hüllt es sich dem Leser Stufe um Stufe, weil die reale Hand­lung von Symbolen und Bildern begleitet und durchsetzt ist, die auf Zukünftiges verweisen und einen dahinter liegenden zweiten, in sich vielschichtigen und fluktuierenden Bedeu­tungsraum eröffnen Thomas Mann erzählt realistisch und psychologisch subtil die individuelle Geschichte eines hoch­differenzierten Menschen und stellt dessen Schicksal zugleich in den Bezugsrahmen des Mythischen Aschenbach folgt (in­dividuell begründet) einem »Zug seines Innern« und (my­thisch gedeutet) seiner »Bestimmung« (S  187) Das Mythen­material – vor allem Namen und Erscheinungen griechischer Gottheiten – ist hier nicht Bildungsprunk, sondern Ausdruck der Entscheidung für eine doppelschichtige Konzeption und doppelte Optik (bifocal view), sodass sich im Individuellen und anscheinend Zufälligen ein menschliches Grundmuster, etwas Überindividuelles und Typisches aufschließt Aschenbach weiß sich Urbildern (Archetypen) verbunden, von denen der Mythos erzählt, Helden, die vor ihm der Macht des Eros er­lagen; und der Konflikt zwischen Vernunftherrschaft und Lustprinzip ist in der Polarität des Apollinischen und des Dionysischen gespiegelt

Thomas Mann bietet also ein begriffliches und ein vorbe­grifflich­bildhaftes Deutungsmuster an, das aus unbewusstem Wissen aufsteigt wie Träume, die der Psychoanalytiker Sig­

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Was ist eine Novelle?

mund Freud um 1900 methodisch zu entschlüsseln begann Je tiefer sich Aschenbach in seiner Entwicklung ins Träume­rische und Zeitlose verliert, desto dominanter wird der Anteil des Mythischen in dieser Novelle Ohne mythische Dimen sion wäre Aschenbachs Ende vielleicht nichts als schmählich, so aber ist es von einer Fülle von Bedeutungen umspielt, und sein Leben zerbricht nicht einfach nur, sondern es erhält Züge des Tragischen, sodass es den Leser berührt und ergreift

Die »novellistische Tragödie«Der Tod in Venedig ist eine Novelle Eine Novelle nennt man eine Erzählung, in deren Zentrum eine unerhörte Neuig keit (vgl das lateinische »novus«, »neu«) oder Begebenheit steht, die wie ein Blitz ein Menschenleben trifft und es von Grund auf verändert Statt »Blitz« sagt man mit Bezug auf die modell­hafte Falkennovelle im Decamerone von Giovanni Boccaccio (1313 – 1375) auch, es sei der »Falke«, der in ein Leben fahre Der »Falke« im Tod in Venedig heißt Tadzio

Zur Novelle gehört, dass sie sich nicht in Nebenhandlungen verästelt, sondern nur einen Konflikt zum Thema hat und ihn gerafft, gradlinig und zielgerichtet entwickelt In ihrer Kon­zentriertheit und Spannung aufs Ende hin ähnelt sie dem Drama Theodor Storm hat sie deshalb die »Schwes ter des Dramas« genannt Thomas Mann, dem sich seine Stoffe leicht ins episch Breite ausweiteten, schulte sich für die eigene No­vellistik an den vorbildlich knappen und drama tischen No­vellen Heinrich von Kleists (vgl den Brief an Heinrich Mann vom 17 Februar 1910)

Wenn Thomas Mann den Tod in Venedig außerdem eine »novellistische[ ] Tragödie der Entwürdigung« nannte (Le­bensabriß, GW XI, S  125), so stand ihm dabei die klassische griechische Tragödie, etwa König Ödipus von Sophokles, vor Augen Die klassische Tragödie setzt Größe, Unbedingtheit,

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Was gehört zu einer Tragödie?

Verblendung und Schuld des Helden voraus, der in seinen Entscheidungen frei zu sein glaubt, während er tatsächlich mit tragischer Notwendigkeit sein Schicksal erfüllt Würde, Größe und Hochmut (Hybris) machen ihn in besonderem Maße schuldfähig und geben ihm Fallhöhe In seinem Auf­stieg ebenso wie in seinem Absturz in die Katastrophe ist Menschengeschick überhaupt ausgeleuchtet und das ›Unge­heure‹ seiner Existenz Dieses ambivalente Wort umfasst das Grandiose und das Unheimliche und Entsetzliche, den Glanz und das Abgründige – Thomas Mann macht es im Tod in Venedig zum Attribut des Meeres (vgl S 204 und 254)

Der aristokratische Held der klassischen Tragödie stand an der Spitze eines hierarchischen Gemeinwesens Wir sind aber gewohnt, dass die Hauptfiguren heutiger Literatur bürgerlich­alltägliche Menschen sind, die sich irgendwie durchs Leben schlagen Indem Thomas Mann eine überragende (geadelte) Persönlichkeit, einen nationalen Repräsentanten zum Helden

»Tadzio ging hinter den Seinen […] und einzeln schlendernd wand-te er zuweilen das Haupt […]« (S. 249). Szene aus der Verfilmung.

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Die Exposition

macht, bekennt er sich dazu, immerhin so konservativ zu sein, dass er die Tradition noch einmal, wenn auch ironisch gebro­chen, aufschei nen lassen möchte, denn Aschenbachs Helden­tum resultiert aus seiner Schwäche, es ist »Heroismus […] der Schwäche« (S 182) Dieses Paradox zeigt den Abstand des modernen von der Erhabenheit des antiken Helden: Hinter einem Helden von Aschenbachs Zuschnitt lauert das Lächer­liche Als Heros der Schwäche, so glaubt Aschenbach in Über­einstimmung mit dem Erzähler und dem Autor, treffe er aber sehr wohl den Nerv der Zeit, das zeitgenössische Lese­publikum knapp vor dem Ersten Weltkrieg finde sich in ihm wieder (vgl S 183)

Der Aufbau der NovelleDas Strukturschema der klassischen Tragödie ist der steile Verlauf aufwärts zur Peripetie (dem Höhe­ und Wendepunkt) und dann abwärts in die Katastrophe Was auf dem Weg aufwärts noch wie Vermeidung, auf dem Weg abwärts wie Ausweg und Rettung aussieht, sind lediglich verzögernde (retardierende) Momente, die die Spannung erhöhen, die Tra­gödie vertiefen

Zum Drama gehört die Exposition, die Einführung in Vorge­schichte und Bedingungen, die zum dramatischen Konflikt führen werden Innerhalb der Exposition gibt es in der Regel das Moment, das die Handlung anstößt und in Gang setzt wie ein Uhrwerk Im Tod in Venedig findet es sich in Kapitel 1 Weil die Arbeit stockt, bricht Aschenbach zu einem Spazier­gang auf Der Anblick eines fremdländisch aussehenden Wan­derers bewirkt in ihm die Vision einer tropischen Wildnis und wühlt ihn innerlich auf (vgl S  177) Es ist also der Frem­de, der Aschenbachs Einbildungskraft weckt; er löst in ihm den Entschluss zur Handlung, zur Reise, aus

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Der Konflikt

Am Ende des ersten Kapitels sind Arbeitsweise und Ethos Aschenbachs bereits umrissen Das kurze zweite Kapitel aber schiebt – die gerade ansetzende Handlung unterbrechend – eine die ganze Vita umfassende große Exposition nach, indem es Herkunft und geistige Entwicklung, Werk und Bedeutung des Schriftstellers charakterisiert Im ersten Satz des Kapitels türmt sich das Werk gleichsam auf als etwas gewaltig Respekt­einflößendes Dahinter, ganz am Ende des Kapitels, erscheint erst der Mensch in seiner Gestalt und Physiognomie Thomas Mann braucht das zweite Kapitel, um Aschenbachs Ringen um Meisterschaft und sein ganzes Leben als Schwer­ und Gegengewicht dem Prozess des Niedergangs in der zweiten Hälfte der Novelle einerseits entgegenzusetzen, diesen Pro­zess aber gleichzeitig aus seinem Leben heraus psychologisch motivieren zu können Der gravi tätische Stil und hohe Ton, der in diesem Kapitel angeschlagen ist, parodiert Aschenbachs Anspruch auf Klassizität

Im Mittelpunkt der Novelle steht das lange dritte Kapitel, und in dessen Mittelpunkt wiederum fällt Aschenbachs Blick im Hotel am Lido auf einen anderen Feriengast, einen Knaben, dessen Erscheinung ihn sofort beschäftigt (vgl S  198 – 201) Nach diesem Vorkommnis ist Aschenbach anscheinend noch Herr seiner selbst, tatsächlich aber ist er bereits im Bann Sein Entschluss, am dritten Tag den Aufenthalt am Lido abzubre­chen und abzureisen (erstes retardierendes Moment), mündet in die eilige Umkehr des »Flüchtling[s]« (S  214) Seine »Bestim­mung« (S  187) ist es offenbar, hier am Lido und in Venedig sich zu öffnen, sich zu erkennen und zu sterben

Kapitel 4 erzählt von der Steigerung der Leidenschaft in Aschenbach und von seinem inneren Kampf um Selbstach­tung bis zum Punkt der Peripetie Auch der Stil dieses Kapi­tels, seine mythische Auskleidung und feierliche Rhythmik (Aschenbach preist die Welt in Hexametern, dem Versmaß

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Strukturübersicht zur Novellenhandlung

Die »novellistische Tragödie«: Handlungsschema

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