Historishe Landeskunde

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Germanistisches Institut der Eötvös-Loränd-Universität Budapest Historische Landeskunde Eine Einführung in die deutsche Geschichte und Kulturgeschichte 6. Auflage Zusammengestellt von Jänos Szabö und Imre Szalai Budapest, 2002

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Historische Landeskunde - Eine Einführung in die deutsche Geschichte und Kulturgeschichte

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Germanistisches Institut der Eötvös-Loränd-Universität Budapest

Historische Landeskunde

Eine Einführung in die deutsche Geschichte und

Kulturgeschichte

6. Auflage

Zusammengestellt von

Jänos Szabö und Imre Szalai

Budapest, 2002

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Lektoren:

Ferenc Szäsz und Thomas Herok

Feielos kiadö: Dr. Manherz Käroly igazgatö, . . „ELTE Germanisztikai Intdzet, 1146 Budapest, Ajtösi Dürer sor 19-21.

Copyright: Szabö Jänos — Szalai Imre

Nyomtatta 6s kötötte a Dabas-Jegyzet Kft.Felelös vezetö: Marosi György ügyvezetö igazgatö Munkaszäm: 02-0442

Page 3: Historishe Landeskunde

Inhalt

Text Dokumente

1. Die Anfänge 5 107

2. Das Reich der Franken 9 108

3. Ottonen, Salier, Staufer 15 109

4. Leben und Kultur im Mittelalter 20 115

5. Österreichische Anfänge 27 121

6. Spätmittelalter 30 124

7. Reformation 35 125

8. Gegenreformation und Dreißigjähriger Krieg 41 129

9. Absolutismus 46 132

10. Nach der französischen Revolution 56 141

11. Der Weg zum Nationalstaat 64 144

12. Die untergehende Monarchie 71 153

13. Deutsches Reich 73 156

14. Wilhelminische Ära 81 163

15. Weimarer Republik 87 167

16. Nationalsozialistische Diktatur 93 170

17. Nach 1945 99 179

18. Die Schweiz 101 185

Bilddokumente

Chronologie der Herrscher

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Vorwort

zur drittten Auflage

Wer Germanistik studieren und - auf welcher Stufe auch immer - Deutsch als

Fremdsprache unterrichten will, kann gewisse historisch-kulturhistorische Grund­

lagenkenntnisse nicht entbehren. Das vorliegende Skriptum soll, wohl wissend um die

Kompliziertheit der Aufgabe, zur Festigung dieser Kenntnisse beitragen. Es besteht aus

einem Textteil, der einen Überblick über das Material zu vermitteln sucht, und einem

Dokumententeil, der sich auf die Weiterführung und Präzisierung des im ersten Teü

Allgesprochenen bezieht, wobei die einzelnen Dokumente oft an mehreren Stellen ein­

gesetzt werden können.

Bei der Gestaltung von Umfang, Proportionen und Präferenzen der Arbeit stand

uns obengenannte Zielsetzung vor Augen; mit Zitaten gingen wir dem Usus ähnlicher

Lehrwerke entsprechend um, auf Quellenangaben wurde verzichtet. Der Text ist im

wesentlichen ein Produkt von Jänos Szabö, der Dokumententeil und die Chronologie

eines von Imre Szalai - wir betrachten das Skriptum jedoch als Gemeinschaftsarbeit, für

deren Mängel wir die Verantwortung gemeinsam tragen.

Die Tatsache, daß anderthalb Jahre nach der ersten und ein halbes Jahr nach der

zweiten Auflage bereits die dritte notwendig geworden ist, fassen wir als einen Beweis

für die Wichtigkeit des Anliegens auf. Dies verpflichtet uns zugleich, am Material

weiterzuarbeiten und es in absehbarer Zeit in erweiterter Buchform vorzulegen. Für

Hinweise und kritische Bemerkungen sind wir daher nach wie vor allen Benutzern

dankbar.

Budapest, den 21. Dezember 1992

Imre Szalai Jänos Szabö

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Historische Landeskunde

1. Die AnfängeSIE D L U N G SG E B IE T Um 50© v. u. Z. ging der Prozeß sprachlicher Ab­

grenzung zwischen verschiedenen indogermanischen (indoeuropäischen) Stam­

mesgruppen' zu Ende, als dessen Ergebnis auch jene Einzelstämme entstanden, die von

den Römern später zusammenfassend als Germanen bezeichnet wurden. Das bekannte­

ste Beispiel für diese erste oder germanische Lautverschiebung; ist, daß dort, wo man in

anderen indogermanischen Sprachen den Laut »p«; findet (»pater«), in den germani­

schen ein »f« steht: »Vater«, »father«. Die Germanen lebten anfangs nördlich der

Main-Mittelgebirge-Linie, auf dem Gebiet des heutigen Norddeutschland, Dänemark

und Schweden. Sie ließen sich vorwiegend im Wassernetz großer Flüsse oder an den

Küsten nieder.

LEB E N SFO R M E N Man besitzt mehrere Berichte über die Lebensweise der

Germanen, unter anderem die von Julius Caesar (»Kommentare über den gallischen

Krieg«, um 50 v. u. Z.), und Tacitus (»Über Abstammung und Situation der Germanen«,

um 100 u. Z.). Die Unterschiede in den beiden Darstellungen spiegeln die Auflösung

der Urgesellschaft wider. Ursprünglich führten die Germanen ein Nomadenleben ohne

festen Wohnsitz, nutzten Wald, Weide und Wasser gemeinsam! Als primäre Einheit galt

für sie die aus mehreren Familien bestehende Sippe, mehrere Sippen bildeten einen

Gau, mfchrere Gaue eine Völkerschaft. Wichtige gemeinsame Angelegenheiten wurden

in der öffentlichen Versammlung aller freien und waffenfähigen Germanen, dem Thing,

besprochen. Hier wurden Kriegszüge beraten; Beute äüfgeteilt, Gericht gehalten; Durch

das Seßhaftwerden und die daraus folgende ungleiche Verteilung des Besitzes ver­

stärkten sich soziale Unterschiede in der Gesellschaft immer mehr, die Stammes- und

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Sippenältesten erhielten mehr und besseres Land, versorgten die anderen mit Speise,

Trunk, Kleidung und Waffen, verlangten von ihnen aber bedingungslose Unterordnung

(Gefolgschaft).

G Ö T T E R Die Germanen verehrten, wie vor allem aus der im skandinavischen

Raum entstandenen Liedersammlung »Edda« bekannt, die Naturgewalten als Götter

und gaben ihnen Namen. Der mächtigste unter den Hauptgöttern ist Göttervater Wö-

tan) der in vielen Gestalten erscheint, meistens als alter Mann mit grauem Bart, mit

einem Speer bewaffnet. Als Kriegsgott entscheidet er die Schlachten der Menschen. Der

ihm heilige Tag ist der Mittwoch (Wednesday). Neben ihm erscheinen die - Venus

vergleichbare - Frühlings- und Liebesgöttin Freya (Freitag), der Donnergott Thor oder

Donar, der Sonnengott Balduf, sowie Loki, der Gott des Feuers und der Unterwelt, be­

sonders häufig. Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts hat die germanische Mytholo­

gie wiedererweckt, vgl. die Musikdramen Richard Wagners, vor allem den Zyklus »Der

Ring des Nibelungen«.

GERM ANISCHE NAMEN Aus Quellen vom Anfang der Karolingerzeit

kennen wir etwa 2000 germanische Rufnamen, von denen heute noch etwa 300 im Ge­

brauch sind. Die Namen fallen durch poetischen Charakter auf und widerspiegeln die

Ideale der damaligen Zeit: Konrad = kühn im Rat; Siegfried = durch Sieg Frieden

bringend; Dietmar = im Volk berühmt; Bernhard = stark wie ein Bär; Eberhard =

stark wie ein Eber; Adolf = edler Wolf (der Wolf galt als Lieblingstier von Wotan und

symbolisierte Kraft und Klugheit). Die Frauennamen sind auch ziemlich kriegerisch:

Sieglinde = Siegesschild; Gudrun = Kampf - Zauber; Kunigunde = Geschlecht -

Kampf. Tacitus erzählt über die germanischen Frauen, daß sie den Männern Speise in

den Kampf tragen* Wunden der Kämpfenden verbinden, mitunter bringen sie gar selbst

fremde Heerscharen zum Stehen.

H E R M A N N SSC H LA C H T Seit dem Ende des 3. Jahrhundert v. u. Z. gab es

Berührungen zwischen den Germanen und den Römern, die ihren Staat stets auszu­

dehnen versuchten. Da sie über bessere Ausrüstung und Methoden verfügten, schlugen

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und unterjochten sie die weniger erfahrenen und uneinigen Germanen meist schnell. Im

Jahre 9 u. Z. wurde der römischen Expansion in der Schlacht im Teutoburger Wald

(Hermannsschlacht/Varusschlacht) jedoch ein Ende gesetzt. Der Anführer der Germa­

nen, der Cheruskerfürst Arminius (Hermann), lockte die römischen Truppen in ein

sumpfiges, unwegsames Waldgebiet, wo sie ihre gewohnte, in der offenen Feldschlacht

bewährte Kampftaktik nicht anwende» konnten. Die Römer erlitten eine vernichtende

Niederlage, und Arminius galt noch lange nach der Schlacht als Nationailheld; Tacitus

berichtet, daß er noch ein Jahrhundert später in langen Kriegsliedem gepriesen wurde.

Im 19. Jahrhundert gedachte man seiner Taten erneut, Heinrich von Kleist schrieb - in

Anspielung auf die Napoleonische Besetzung - das Theaterstück »Die Hermanns­

schlacht« (1808; veröffentlicht wurde es erst 1921), und bei Detmold errichtete man

Arminius ein monumentales, verklärendes Denkmal aus Bronze.

RÖ M ER UND GERM ANEN Die Römer verzichteten nun darauf, die

Grenzen ihres Reiches bis an die Elbe vorzuverlegen. Dafür errichteten sie eine etwa

500 km lange Grenzbefestigung, den Limes zwischen Rhein und Donau (von

Köln/Bonn bis Regensburg). Sie bauten Siedlungen aus, Köln, Mainz, Regensburg und

vor allem Trier, das zeitweilig Hauptstadt des Weströmischen Reiches war. (Das

berühmte, im 3. Jahrhundert errichtete Stadttor Porta Nigra befindet sich im Zentrum

der Stadt, dem Geburtshaus von Karl Marx gegenüber.) Die Römer übten einen wichti­

gen kulturellen Einfluß auf die germanischen Stämme aus. Das zeigt sich nicht zuletzt

an den zahlreichen lateinischen Lehnwörtern in Handel und Verkehr (Münze -

moneta; Straße - via strata; Meile - milia), Bauwesen (Mauer - murus; Ziegel -

tegula; Mörtel - mortarium; fenster - fenestra; Keller und Zelle - cella) und Weinbau

(Wein - vinum; Most - mustum).

V Ö L K E R W A N D E R U N G An der ganz Europa erfassenden Völkerwan­

derung im 2.-4 . Jahrhundert beteiligten sich germanische Stämme beziehungsweise

Stammesverbände in großem Maße. Die Vandalen gründeten einen Staat in Nordafrika,

die Langobarden eroberten Gebiete im heutigen Norditalien, die Westgoten drangen

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über die Pyrenäen ins heutige Kastilien ein. Die Ostgoteif zogen zunächst nach Südruß­

land, dann ins heutige Italien Dort bezwangen sie Odoaker, der 476 den letzten

weströmischen Kaiser absetzte. Der König der Ostgoten, Theoderich (493 - 526), gebo­

ren in Pannonien, begraben in Ravenna, wird als Dietrich von Bern in mehreren li­

terarischen Werken des Frühmittelalters (»Hildebrandslied«, »Nibelungenlied«) sowie

als Detre in »Buda haläla« von Arany erwähnt. All die obengenannten Völker­

schaften verschwanden von der Bühne der Weltgeschichte; andere, für die Heraus­

bildung des späteren deutschen Volkes wichtige, verstärkten sich: die Schwab^}1 (im

Südwesten), die Thüringer (in der Mitte), die Sachsen (im Nordwesten), die Friesen

(östlich der Rheinmündung), die Bayern (im Südosten) und die Franken (nördlich der

Schwaben und Bayern). Die bedeutendste Rolle kam den Franken zu.

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2. Das Reich der FrankenC H L O D W IG In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts- als Theoderich der

Große in Ravennaf herrschte, führten die Franken erfolgreiche Kriegeigegen die Gallier

(in Gebieten des heutigen Frankreich), gegen die Alemanneff (heute: Südwesten der

Bundesrepublik, Schweiz, Ostfrankreich) und gegen die Westgoten (die von Süd­

frankreich auf die iberische Halbinsel verdrängt wurden), um ihr Siedlungsgebiet zu er­

weitern und einen eigenen Staat zu errichten. Im Jahre 482 gelangte unter ihnen der da­

mals erst sechzehnjährige Adlige Chlodwig (482-511) aus dem Geschlecht der Me­

rowinger an die Macht Seine Entscheidung, zum Christentum überzutretea (das er­

folgte im Jahre 498, ein römischer Bischof taufte Chlodwig und weitere dreitausend

Franken), erwies sich als gelungenes Zweckbündnis, genoß er doch von da an die tat­

kräftige Unterstützung der Kirche, obwohl niemand sich von der Illusion leiten lassen

konnte, Chlodwig unterwerfe sich fortan auch in der Politik der christlichen Moral und

Sitte: Seine Konkurrenz, die Stammesfürsten, schaltete er durch hinterhältigen und of­

fenen Mord aus. Die Errichtung eines eigenen Staates ist ihm immerhin gelungen.

CHRISTIANISIERUNG D E R DEUTSCHEN Das Christentum, seit

Ende des 4. Jahrhunderts Staatsreligion im Römischen Reich, verbreitete sich nicht nur

auf diese Weise in Europa. Große Kirchenlehrer (wie etwa Augustinus) und bedeutende

Päpste setzten sich für die Verbreitung der christlichen Lehren ein, der von Benedikt

von Nursia Anfang des 6. Jahrhunderts gegründete Benediktinerorden mit der Parole

»ora et labora« (»bete und arbeite«) diente als Vorbild für zahlreiche Ordens­

gründungen in späteren Zeiten: Zisterzienser, Prämonstratenser, Franziskaner, Do­

minikaner, Karmeliter, Serviten, Piaristen (Unterricht), barmherzige Brüder und Schwe­

stern (Krankenpflege). Mönche aus Irland und Britannien kamen zu den germanischen

Stämmen, um sie zu bekehren. Der bedeutendste Missionar war Bonifatius in der ersten

Hälfte des 8. Jahrhunderts, der später heiliggesprochen und als »Bekehrer der Deut­

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sehen« bezeichnet wurde. Seine Gruft unter dem barocken Dom in Fulda gilt als das

Herz des katholischen Deutschland.

KLÖSTER Das von Bonifatius gegründete Kloster Fulda wurde - ähnlich wie

Klöster in Reichenau, Sankt Gallen und Freising in Bayern — Mittelpunkt des geistigen,

kulturellen und sogar des wirtschaftlichen Lebens; Das berühmte Kloster Sankt Gallen

(im alemannischen Gebiet, nicht weit vom Bodensee) hatte beispielsweise ein Schul-

ein Krankenhaus, ein Badehaus, ein Unterkunftshaus für Pilger und daneben ein

Hospiz für vornehme Gäste, eine Bäckerei, eine Brauerei, eine Molkerei, ein Gestüt,

verschiedene Werkstätten (Sattler, Schuster, Goldschmied) und eine Gärtneret. Viele

Ortsnamen verraten heute noch kirchliche Güter und Besitzungen» München — mo-

nakhos; Münster - monasterium; Zell am See - cella (Kammer, Klause eines Mön­

ches).

KA RO LIN GER Chlodwig hinterließ nach seinem Tod 511 ein einiges, sta­

biles Königreich der Franken, das jedoch bald mehrfach geteilt werden sollte. Eine Zeit­

lang bestanden drei Teilreich© nebeneinander: Neustrien, Austrasien und Burgund. In

der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts kam es zu Machtkämpfen zwischen den ver­

schiedenen merowingischen Teilkönigen. Der Adel nützte diese Streitigkeiten, um seine

Macht zu vergrößern. Als besonders stark erwiesen sich seit Mitte des 7. Jahrhunderts

die Hausmeier (Maior domus, Vorstand des königlichen Hofes), die die Regierungsge­

schäfte führten, während die Könige der Merowingerdynastie keine wirkliche Macht

mehr besaßen und zuletzt nur mehr repräsentative Funktioii hatten. Das Amt des

Hausmeiers erbte sich seit vielen Jahren in der Familie der Karolinger, die auch sonst

besonders geschickt mit Lehen umging, fort. Der Hausmeier Pippin (Pippin der Jün­

gere) ließ sich, nachdem er den Merowingerkönig in ein Kloster gesperrt hatte, mit

Hilfe des Papstes 751 zum König>der Franken erheben. (Die Krönung wurde von Boni-

fatius vollzogen.) Als Gegenleistung’schenkte er »dem Heiligen Petrus und der Kirche«

ein großes Gebiet' (Pippinsche Schenkung) und gebärdete sich als Schutzherr der Stadt

Rom und somit des Kirchenstaates.

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KARL D E R GROSSE Am mächtigsten* war das Karolingerreich unter Pip­

pins Sohn, Karl dem Großem (768 - 814). Sein Reich umfaßte das heutige Frankreich;

Norditalien und große Teile Deutschlands. An der Grenze des Reiches wurden

Markgrafschaften angelegt; die wichtigste Verwaltungseinheit im Inner» des Landes

hieß Gau. Karl unterwarf sich in langwierigen Kriegen viele Völker, darunter sämtliche

germanische Stämme Mitteleuropas. Besonders hart ging er (den Ehrentitel »der

Große« haben ihm schon Zeitgenossen gegeben) gegen die Sachsen vor. Da Karl all die

Eroberungen unter dem Deckmantel der Christianisierung durchfiihrte, wurden seine

Feldzüge von der Kirche unterstützt; der Krieg gegen die Heideagalt ja als ein göttli­

cher Auftrag für den christlichen Herrscher. Im Jahre 800 krönte Papst Leo HL den

»König der Franken und Langobarden und Patrizius der Römer« K arl in der Weih­

nachtsmesse in Rom zum Kaiser. Dadurch wurde dieser auf die gleiche Stufe mit dem

oströmischen Kaiser in Konstantinopel gestellt, das Frankenreich wurde als Erbe des

antiken Imperium Romanorum anerkannt. Das christliche Abendland hatte von nun an

ein geistliches Oberhaupt, den Papst, und ein weltliches, den Kaiser. Dadurch bildete

sich zugleich die Grundlage für spätere Spannungen und Kämpfe zwischen diesen bei­

den Mächten heraus.

KAROLINGISCHE KULTUR Die Bedeutung Karls des Großen bestand

nicht zuletzt in der bewußten Förderung von Kunst und Wissenschaft. In Aachen, dem

Zentrum seiner Herrschaft, errichtete er neben wichtigen Bauten die PfalzkapeHe und

die Musterschule »accademia palatina«, in der die »artes liberales« (die sieben freien

Künste) gepflegt wurden. Hervorragende Gelehrte sollten an seinem Hof klassisch?

Texte sammeln und kommentieren: Er förderte, vom Gedanken eines christlichen und

geeinten Abendlandes geleitet, die Ausbreitung einer allgemeinen, klassisch orientier­

ten Bildung, wobei Schreiben und Lesen noch Privileg der Geistlichen blieben; nicht

einmal der Kaiser selbst beherrschte es. Eine entscheidende Rolle kam in der kulturel­

len Entwicklung den neu geschaffenen Klöstern zu.

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A L T H O C H D E U T SC H In der Sprache gab es wieder Veränderungen. Es

vollzog sich die zweite (oder hochdeutsche) Lautverschiebung. Das heißt zum Beispiel:

Während im Niederdeutschem (also im nördlichen Teil des germanischen Sprachraums)

weiterhin »Appel«, »Plaume« und »Pünd« gesagt wurde, bürgerten sich im Hochdeut­

schen: (also in den südlicheren, höher gelegenen Gebieten) vom 8. Jahrhundert an die

Formen »Apfel«, »Pflaume« und »Pfund« ein. Es entstand das Hochdeutsch, dessen drei

große Entwicklungsphaseni Althochdeutsch (von 750 bis 1050), Mittelhochdeutsch (von

1050 bis 1500) und Neuhochdeutsdi (seit dem 16. Jahrhundert, wesentlich beeinflußt

durch Luthers Bibelübersetzung) sind. Die überwiegende Mehrzahl der erhalten geblie­

benen religiösen Texte,' aus der Zeit wurde selbstverständlich in lateinischer Sprache

verfaßt, man begegnet jedoch gelegentlich auch Stellen, die Aufschluß über den Stand

der deutschen Sprache geben. Es sind in erster Linie Glossare, das heißt primitive

Wörterbücher, die neben das lateinische Wort das entsprechende deutsche setzen, sowie

Interlinearübersetzungen, die zwischen den Zeilen des lateinischen Originals stehen.

Selten nur findet man mehr oder minder selbständige Werke christlichen Inhalts

(»Heliandfc, der in mehr als 6000 Versen das Leben Jesu schildert), sowie heidnische

Texte, wie die »Merseburger Zaubersprüche« und das »Hildebrandsliedfc.

FEUDALISM US Das Leben im Reich der Franken war vom Lehnswesen

(Feudalismus) bestimmt. An der Spitze der Lehnspyramide stand der König. Er, der

oberste Lehnsherr, schenkte verdienten Männem seines Gefolges aus seinem Besitz Le­

hen zur Nutzung. Dafür verlangte er vom Lehnsmann (Vasall*) Unterordnung im gege­

benen Fall Dienst m itder Waffe. Der König konnte seinen Vasallen das Lehen wieder

abnehmen. Manche Lehnsleute hatten so große Besitztümer; daß sie sie aufteilten und

weiterverliehens Die Spielregeln des Feudalismus sind sehr logisch: Der Lehnsherr ver­

gibt mit großer Gestik und bedeutungsvoll Lehen, der Vasall1 muß dankbar dafür sein

und darf seineiAbhängigkeit, sein Ausgeliefertsein nie vergessen;' Je stärker die Vasallen

sind, desto mächtiger ist der Lehnsherr, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, denn zu

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starke Vasallen können gefährlich werden. Die beste Taktik ist also, daß sie (im Geiste

der Devise »Divide et impera!«) gegeneinander ausgespielt werden,

H Ö R IG E UND LEIBEIGENE Der BesiÖ eines Feudalherrn lag meist

über ein größeres Gebiet verstreut, daher mußten als Zentren der BewirtschaftuR? die

Fronhöfe (ahd. frö = der Herr) geschaffen werden, denen ein Meier (Vogt) als Beauf­

tragter des Feudalherrn Vorstand. (Der königliche Fronhof hieß die Pfalz.- Der Herr­

scher zog mit großem Gefolge von Pfalz zu Pfalz;) Ganz unter» in der Lehnspyramide

standen die in unterschiedlichem Made von dem Feudalherrn abhängigen Bauern, die

Abgaben (Getreide, Gemüse, Eier, Häute, Wolle und Vieh) sowie Frondienste zu lei­

sten hatten. Es gab unter ihnen Hörige und Leibeigene. Die Hörige# (sie waren in der

Mehrzahl) hatten einen eigenen Hof und verfügten-über Produktionsmittel, mußten

aber den »Zehnten« (das heißt den zehnten Teil des Ertrages) und darüber hinaus Ab­

gaben an die Kirche entrichten. (Ein aktueller Titel aus dem Angebot des Beck Verlags

München: »Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer«.) Die

Leibeigenen besaßen keine eigene Wirtschaft, lebten in der Nähe des Fronhofs, wo sie

meist auch arbeiteten^ und waren persönlich vom Grundherrn abhängig, der sie gar ver­

kaufen und mißhandeln durfte - nur nicht töten.» Durch den Übergang zur

Dreifelderwirtschaft, den Anbau von Obst, Gemüse, Wein und anderen Spezialkulturen

sowie die Vergrößerung der Nutzfläche durch Rodung und die Trennung des Hand­

werks von der Landwirtschaft? verstärkten sich die Produktivkräfte. Der Handel mit

Geld, der in der Römerzeit so wichtig war, wurde kaum weiter betrieben, es überwog

vielmehr der Naturalienhandel.

VERTRAG VON V ERDU N Die starke Zentralgewalt und die strenge

Verwaltung von Karls Reich zerfielen bald nach dessen Tod im Jahre 814. Seine Enkel

Karl der Kahle, Lothar und Ludwig der Deutsche kämpften erbittert um Machtanteile.

Im Vertrag von Verdun im Jahre 843 teilten sie das Reich in drei Teile. Infolge weiterer

Verträge (Mersen 870, Ribemont 880) wurde daraus bald eine Zweiteilung in Westfran­

ken und Ostfranken. Diese Spaltung, die sich als unumkehrbar erweisen sollte, ent­

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sprach auch ethnisch-sprachlichen Faktoren, denn die Bevölkerung des Westefis war

überwiegend romanischen Ursprungs, aus ihrer Variante des Lateins entwickelte sich

das Französische, die Bevölkerung des Ostens» war demgegenüber vorwiegend germani­

schen Ursprungs und deutschsprachig. Erst zu dieser Zeit verbreitete sich die Bezeich­

nung »deutsch« für die Sprache und wurde allmählich auf die Sprecher und schließlich

auf ihr Wohngebiet übertragen.

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3. Ottonen, Salier, StauferO T T O N E N Den Übergang vom ostfränkischen zum deutschen Reich setzt

m an gewöhnlich mit dem Jahr 911 an, in dem nach dem Aussterben der Karolinger der

Frankenherzog Konrad L zum König gewählt wurdet Ihm folgte im Jahre 919 der Sach­

senherzog Heinrich R; sein Geschlecht (sächsische Herrscher, Ottonen) behielt bis 1024

die Macht. Das starke Herzogtum von Heinrich I. (919 - 936, Heinrich der Vogeler) si­

cherte eine hinreichende Basis für eine erneute Festigung der königlichen Zentralgewalt

im deutschen Königreichs Heinrich hatte auch gegen Süßere Feinde zu kämpfeji. Die

Normannen' bedrängten sein Reich aus dem Norden, die Ungarn (mit ihrem

»abscheulichen und teuflischen Ruf hui-hui«) vom Osten/

STREIFZÜG E D E R UN GARN Im Jahre 924 mußte sich Heinrich in

einem Waffenstillstand mit den Ungarn noch zu jährlichen Zahlungen verpflichten,

doch baute er rasch Burgen aus, wo die Bevölkerung Zuflucht fand und von wo aus die

Verteidigung viel effektiver organisiert werden konnte. Ferner stellte er eine Pan­

zerreiterei auf,; der die berüchtigten Pfeile der Ungarn nicht viel schaden konnten. 933

sah sich Heinrich I. also schon in der Lage, die fälligen Zahlungen zu verweigern. Es

kam zu einer Schlacht an der Unstrut (zwischen Merseburg; und Naumburg), in der die

Ungarn besiegt wurden. Ein erneuter ungarischer Angriff wurde von Heinrichs Sohn

Otto I. 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg - trotz der ungünstigen Verhältnisse: die

Herzöge bekämpften einander, vor allem aber Otto heftig - zerschlagen. (Unsere Sage

von Lehel, der mit seinem Horn den Kaiser totschlug, beruht wohl auf einem Mißver­

ständnis - Otto lebte noch fast zwei Jahrzehnte.) Mit der Schlacht auf dem Lechfeld

wurde den Streifzügen ein Ende gesetzt^ die Ungarn wurden im Karpatenbeckeö seßhaft

und nahmen das Christentum an,

OTTO I. Heinrichs Sohn, Kaiser Otto B (Otto der Große, 936-973), konnte

die Macht der Familie nicht zuletzt durch ausgedehnte Feldzüge weiter ausbauen. Er

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unterstützte den Papst gegen römische Adlige und erhielt von diesem 962 die Krone des

Kaisers des »Heiligen Römischen Reich®«. Vom ausgehenden 15. Jahrhundert an hieß

der Staat »Heiliges Römisches Reich deutscher Nation«, es löste sich 1806 auf. (Die

Kaiserkrone ist heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg zu besichtigen.) Otto

verstand sich als Schutzherr der Kirche und erhob den Anspruch, von allen Herrschern

als Haupt des Christentums betrachtet zu werden, der auf die Wahl des Papstes einen

entscheidenden Einfluß* ausübt und ihn einsetzt. Die Verlagerung des Gewichts dter

Politik nach Italien sollte die Bemühungen der Ottonen und der Salier (1024-1125,

auch fränkische Kaiser genannt) bestimmen.

IN V E ST IT U R ST R E IT Heinrich H k (1039 -1056) ging schon soweit, Päpste

abzusetzen und an ihrer Stelle deutsche Bischöfe zum Papst zu erheben. Das war umso

leichter möglich, als die Kirche nicht einig* war. Die Mönche des Benediktinerklosters

Cluny in Burgund fanden mit ihrer Forderung zur Aufhebung weltlicher Eingriffe in das

Kirchenleben und zur Verbesserung der Disziplin, gegen die nachlässige Ausbildung,

den Verkauf von geistlichen Stellen und die Ehe der Priester weiten Widerhall. Die Ge*

gensätze zwischen Kaiser und Papsf brachen in dem Investiturstrfcit (Streit um die Ein­

setzung hoher geistlicher Würdenträger) offen und scharf aus! Paps# Gregor VH.

(1073-1085), ein Verfechter der Ideen von Cluny, forderte, daß die geistlichen Wür­

denträger nicht mehr von Nichtgeistlichem, also auch nicht vom König, eingesetat wür­

den, Kaiser Heinrich IW(1056-1106) akzeptierte die Forderung nicht, Heinrieh wurde

von Gregor exkommuniziert, was dazu führte, daß die deutschen Fürstin, die ja einen

schwächeren Herrscher haben wolltest ihrem Köni|; nicht mehr Folge leisteten. Sie for­

derten von ihm die Befreiung vom Bann binnen Jahresfrist, sonst würde man einen

neuen König Wähler» Heinrich IV. mußte also 1077 demütig zur Burg Canossa (in Nord;

italien) pilgern» um dort beim Papst Abbitte zu leisten und dadurch politisch wieder

freie Hand zu haben (Canossagang).

W ORM SER KONKORDAT Einen vorläufigen Abschlu# fand der Streit

zwischen Staat und Kirche in dem 1122 von König Heinrich V. und Papst Calixt ü . abge-

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schlossenen Wormser Konkordat; dem gemäß die Bischöfe von der Kirche eingesetzt

werden, vom Kaiser aber weltliche Güter als Lehen erhalten. (Symbolisch: Zepter vom*

König, Ring und Stab vom Papst;) Trotz dieses Kompromisses bedeutete der lange

Streit eine schwer wiedergutzumachende politische Einbuße für das Königtum, während

Kirche und Partikularmächte gestärkt aus der Auseinandersetzung hervorgingen. Die

Reichsfürsten (Reichsbischöfe und hoher Adel) konnten ihre Selbständigkeit nämlich

erweitern und einen erhöhten Einfluß auf die Wahl des deutschen Königs erlangen.

K R E U Z Z U G E Nach dem großen Schisma (105^ und der Eroberung Jeru­

salems durch die Türken forderte Papst Urban ü . 1095 das christliche Europa zur Be­

freiung des Heiligen Landes auf; Angesprochen fühlte sich vor allem die Ritterschaft;

eine neue Schicht,^die aus Ministerialen; erblosen nachgeborenen Söbtien des niedereö

Adels und wohlhabenden Bauern entstand. Sie versprachen sich von dem Abenteuer

neue Besitztümer Die Feudalherren erhofften von den Kreuzzügen die Verlagerung in­

nerer Spannungen nach außeii, das Papsttum mehr politische Macht Und große Ein-"

künfte, die Kaufleute die Eröffnung neuer Märkte’ Als tatsächlich befruchtend erwies

sich aber letztlich nur die Berührung der Europäer mit der Kultur des Orients. Der erste

Kreuzzug (1096-1099) endete mit der Eroberung Jerusalems, doch die Siege und Er­

folge waren nur von kurzer Dauer, immer neue Kreuzzüge mit neuen Zielsetzungen

(beispielsweise zur Wiedervereinigung der lateinischen und byzantinischen Kirche)

wurden unternommen, man schickte sogar Kinder ins Heilige Land (Kinderkreuzzug,

Anfang des 13. Jahrhunderts). Erst 129f nahmen die Kreuzzüge ein Ende.

O STK O LO N ISA TIO N Es gab auch eine starke Ostkolonisation, in der der

militante Deutsche Orden eine definitive Rolle spielt®. Nach der Ausweisung durch Un-

gamkönig Andreas II. aus dem siebenbürgischen Burzenland, wo ursprünglich die heid­

nischen Kumanen bekämpft werden sollten, wurde der Deutsche Ord®n vom polnischen

Herzog Konrad von Masowien um Hilfe gegen die Pruzzen (Preußen) ersucht. Die

Pruzzen, ein Volk indogermanischen Ursprungs, waren im 13. Jahrhundert noch heid­

nisch. Sie wurden gewaltsam christianisiert und germanisiert, trotzdem verschwand ihre

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Sprache erst nach Jahrhunderten. Auf ihrem Gebiet errichtete Hochmeister Hermann

von Salza einen dem Papst unterstellten Ordensstaat, der kein Bestandteil des Heiligen

Römischen Reiches war. Erst nach der Niederlage bei Tannenberg gegen den pol­

nischen Körrig 1410 war die große Zeit des Ritterordens vorbei. Der Frieden von Thom

(1466)* besiegelte seine Machtverluste. - Die Ostkolonisation hatte auch eine friedliche

A rt Es zogen im 13. und 14. Jahrhundert* zahlreiche deutsche Bauern, Bergleute und

Handwerker nach Schlesien^ Siebenbürgensund in die Zips (letztere sind die Vorfahren

der Siebenbürger und Zipser Sachsen), um Ödland zu kultivieren, Gewerbe und Handel

zu beleben, Städte zu griHKjgajl

B A R B A R O SSA Während der Herrschaft der Staufer (oder Hohenstaufen,

1138-1268) errang das Königtum .vorübergehend wieder eine festere Stellung: Kaiser /

Friedrich I. (1152-1190, Friedrich Barbarossä) erreichte das nicht zuletzt durch seine

geschickten Italienfeldzüge (zeitweilige Unterwerfung reicher Städte Norditaliera; dann

jedoch Niederlage gegen den Lombardischen Städtebund bei Legnano 1176)? Barbaros­

sas Herrschaft war auch in Deutschland* durch langwierige Machtkämpfe gekenn­

zeichnet, als sein Hauptrivale .'galt Heinrich der Löwe aus dem Geschlecht der Welfen

(Sitz in Braunschweig). Während des dritten Kreuzzuges ertrank Barbarossasbeim Ba­

den im Fluß Saleph (heute Göksu, Türkei). Schon die Zeitgenossen hielten ihn für die

Verkörperung ritterlicher Ideale und den Erneuerer des Reiches. Der Legende nach

schläft er im Berg Kyffliäuser, und er kommt wieder, wenn ihn die Deutschen brauchen.

(Die Nazis nannten den Plan zum Angriff auf die Sowjetunion Barbarossa-Plan.)

RITTER Die Epoche der Stauferkönige war die Glanzzeit der ritterlichen Kul­

tur, die das hohe Mittelalter entscheidend bestimmtem Davor war die Kultur fast aus­

schließlich von Klerikern getragen worden; an den Höfen von bedeutenderen Hejr-

schera entstand nun, zum Teil nach französischem Vorbild, eine weltliche Kultur. Ihr

Träger ist die Schicht der Rittgr, die ihr Selbstverständnis und Selbstbewußtsek vor al­

lem den Kreuzzügem verdankt. Diese hatten einerseits den Blick in fremde Länder und

Kulturen geöffnet und andererseits ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den

Page 19: Historishe Landeskunde

Rittern der verschiedenen christlichen Nationen geschaffen; dies wiederum führte zu

einem verstärkten kulturellen Austausch;

RITTERLICHE TU GEN DEN Der Ritterstand hatte festen Normen zu

entsprechen. Als zentrale Tugend galt die »mäze«, das richtige Maß, das Maßhalten.

Diese »mäze« wird erreicht durch die »zuht« (»Zucht«), das heißt durch Erziehung und

Selbstdisziplin. Der Ritter mußte immer kampfbereit sein; heitere Lebenshaltung; Ehre

und Treue gehörten zu seinen bevorzugten Eigenschaften - und nicht zuletzt »minne«,

das heißt die Bezeugung der höfisch-ritterlichen Liebe gegenüber der geliebten Fraa

(meist der Gattin des Lehnsherrn). Dies mußte auch in Lieder gefaßt werden, die man

zusammenfassend Minnesang nennt. Der bedeutendste Vertreter des Minnesangs und

zugleich sein Überwinder war Walther von der Vogelweide (»Unter der Linde«). Man

verfaßte in der damaligen mittelhochdeutschen (mhd.) Sprache auch erzählende Dich­

tungen mit erzieherischer Absicht: dem Publikum sollte das echt ritterliche Verhalten

gezeigt werden. Wichtige Vertreter der höfischen Epik sind Hartmann von Aue (»Der

arme Heinrich*), Wolfram von Eschenbaeh (»Parzival«) und Gottfried von Straßburg

(»Tristan und Isoldes*). Es sind viele Redensarten aus der Lexik der Ritter in den all­

gemeinen Sprachgebrauch übergegangen: »mit offenem Visier kämpfen«, »mit je­

mandem eine Lanze brechen«, »jemandem den Fehdehandschuh hinwerfen«, »den

Handschuh aufnehmen«, »auf hohem Roß sitzen«, »sattelfest sein«, »aus dem Stegreif«

(Steigbügel; also: im Begriffe davonzureiten).

Page 20: Historishe Landeskunde

4. Leben und Kultur im MittelalterFR IED RICH II. Bald nach Friedrich Barbarossas Töd verlagerte sich die

Aktivität der deutschen Könige immer mehr nach Italien; Das deutlichste Beispiel dafür

ist die Herrschaft des staufisch-normannischen Kaisers Friedrich I I5 (1212-1250), eines

Dichters und Gelehrten, der ein Buch über die Falkenjagd schrieb, acht Sprache# be­

herrschte, mit arabischen Gelehrten korrespondierte und eine den späteren absolute^,

Monarchien ähnliche Staatsforai schuf, die sich auf Steuern, Gesetze, christliche und

arabische Söldner sowie ein in Neapel ausgebildetes Berufsbeamtentum stützte. Um die

Umklammerung der norditalienischen Städte und des Kirchenstaates, sowie die Herr®

schaffe über dem ganzen Mittelmeerraum von Palermo aus verwirklichen zu können,

mied er K onflikte in Deutschland» jenem Teil seines Imperiums, wo er sich ohnehin un­

gern aufhielt. (In diesem »Nebenland« des Reiches regierte sein Sohn als Statthalter.)

Dieser Zustand konnte freilich nur durch die Überlassung wichtiger Hoheitsrechte an

die weltlichen und geistlichen Reichsfürsten'in Deutschland aufrechterhalten werden.

ZERFALL D E R ZENTRALGEW ALT Nach wechselvollen Kämpfen der

Welfen» und Staufet kam es von 1254« bis 1273«zu einer kaiserlosen Zeit, dem Intej-

regnum. Das Interregnum wurde mit der Wahl Rudolfs von Habsburg zum deutschen

König beendet Man einigte sich auf einen alten (bereits 55jährigen), unbedeutenden,

nicht e i n m a l Latein beherrschenden Grafen, dessen Besitzungen verstreut im Elsaß und

in der Schweiz lagen. Doch Rudolf entsprach den negativen Erwartungen nicht. Er be­

trieb bis zu seinem Tode im Jahre 1291 eine wirksame Hausmachtpolitik, beherrschte

die Taktik des Lavierens, Hinhaltens, Beschönigens, Vertuschens, halben Versprechens,

hatte keine Vorurteile, kein Gewissen und keine Phantasie, war vollkommen amusisch,

grau und farblos, aber eben aufs Wesentliche konzentriert — Eigenschaften, die in der

Jahrhunderte währenden Geschichte der Familie immer wiederkehren.

Page 21: Historishe Landeskunde

KURFÜRSTEN Die meisten Feudalherrerf zeigten ein geringes Interesse an

der Stärkung der Zentralgewalt, sie strebten' vielmehr nach Selbständigkeit. Die sieben"

mächtigste» von ihnen, die Kurfürsten, wählten seit dem 13. Jahrhundert den Könfg. Es

waren die Erzbischöfe von Mainz; Trier und Köln,; sowie der Pfalzgraf bei Rheiä* der

Herzog von Sachsen^ der Markgraf von Brandenburg und der König von Böhme*. Sie

suchten durch häufigen Wechsel der Königsfamilien die Zentralgewalt erfolgreich weir

ter zu schwächen. Die ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedachte Politik späterer

Königshäuser (der Luxemburger und der Habsburger) richtete sich auf Ausbreitung

nach außen und nicht gegen die Partikularbestrebungen des Adels und besonders der

Kurfürsteö, deren Macht 1356? von Kaiser Karl IW in der Goldenen Bull£, dem

»Grundgesetz der deutschen Vielstaaterefc, anerkannt wurdet Die Zentralgewalt verfiel

völlig, und während auch die kleinen Herren, Ritter und Grafen allm ählich an Bedeu­

tung verloren, verfügten die Kurfürsten über fast unbeschränkte Rechte wie Gerichte

barkeit in ihren Territorien, Unteilbarkeit der Kurländer, Zoll- und Münzrecht, Erb*

folge (bei den weltlichen Kurfürsten).

PROBLEM E D E R KIRCHE Obwohl das Papsttum vom zersplitterten

Deutschland aus wenig gefährdet wurde, hatte es sich mit neuen Problemen

auseinanderzusetzen. Nach dem Pontifikat von Innozenz Hl., das den mittelalterlichen

Höhepunkt in der Geschichte des Papsttums darstellt (Innozenz war übrigens der Vor­

mund von Friedrich ü.), befand sich die Kirche in einer schweren Abhängigkeit von den

französischen Königen1. Die Päpste wurden gezwunge’n, fast im gesamten 14. Jahrhun­

dert in Avignon zu residieren (Avignonische Gefangenschaft). Dort hielten sie üppig

hof; Verweltlichung, Geldgeschäfte der Kurie minderten das Ansehen der Kirche. Ge­

gen Ende des Jahrhunderts kam es zur Kirchenspaltuag (Schisma), es gab gleichzeitig

zwei, später sogar drei Päpste. In vielen Teilen Europas verlangte man Reformerü Das

von Kaiser (und ungarischem König) Sigismund einberufene Konstanzer Konzil

(1414-1418)‘versuchte, die Mißstände zu beseitigen. Die Einheit wurde zwar im we­

sentlichen wiederhergestellt, doch es kam zu keiner wirklichen Kirchenreform, die

Page 22: Historishe Landeskunde

Lehre von Jan Hus wurde als Ketzerei' verdammt, der tschechische Prediger auf dem

Scheiterhaufen verbrannt.

UNTERGANG DES RITTERTUMS Dadurch, daß die mächtigste»

Feudalfürsten in den Teilstaaten ihre Herrschaft festigte», wurde das Rittertum poli-

tisch«:und militärisch überflüssig. In den neuen Staaten beschäftigte man anstelle der

M inisteria len Fachbeamte^und die Feudalherren stellten feste Söldnerheere auf, die be-,

weglicl» waren und mit den neuen Feuerwaffe« auch Burgen relativ leicht einnehmen

konnten. Es kam eine neue Mentalität auf, die anachronistischen Ritter mit ihrem 25

Kilogramm oder noch mehr wiegenden Harnisch konnten sich zu Fuß kaum bewegen,

und ihre Pferde waren nicht vollständig zu schützen. Burgen, die weite Landstriche (zum

Beispiel in Thüringen und am Rhein) netzartig bedeckten, wurden bald Verstecke der

immer mehr verarmenden Ritter, der Raubritter-, die Kaufleute überfielen und ausplüik-

derten* von ihnen hohe Wegegebühren erpreßten. (Das letzte große Unterfangen zur

Rettung dieser Schicht war der Reichsritteraufstand 1522-1523:)

»STADTLUFT MACHT FREI« Stark an Bedeutung zugenommen haben

währenddessen die Städte. In den kriegerischen Zeiten des 10. Jahrhunderts bildeten

sich um befestigte Plätze, Burgen und in den ehemaligen Römerstädten, die häufig

Bischofssitze geworden waren, neue Siedlungen. Allmählich entstanden dort Märkte;

Kaufleute ließen sich nieder. Das Städtebürgertum kämpfte im 11.-13. Jahrhundert

immer erfolgreicher gegen feudale Abgaben, um Gerichtsautonomie, Unabhängigkeit

und Selbstverwaltung. Heinrich der Löwe erkannte in einer Urkunde für Braunschweig

an wer ein Jahr und einen Tag in der Stadt wohne, sei frei. Daher der Spruch: »Stadtluft

macht frei«. Es entstanden zahlreiche Stadtrechte -(zum Beispiel Magdeburger Stadt­

recht) sowie (nach dem Muster des Anfang des 13. Jahrhunderts von Eike von Repgau

verfaßten »Sachsenspiegel«) Rechtsbücher. Als Sinnbild des städtischen Rechts stand

vor dem Rathaus vieler Städte die überlebensgroße Steinfigur des »Roland« mit Schild

und Schwert (heute noch zu sehen zum Beispiel in Bremen und Naumburg).

Page 23: Historishe Landeskunde

STÄDTEBÜNDE Die Feudalherren mußten sich mit den neuen

Machtverhältnissen ;abfindeix vor allem weil sie auf den Handel mit den Städten ange?

wiesen. waren. Da dieser Handel immer mehr mittels Geldes erfolgte, forderten sie die

Abgaben von den Bauern schon vielfach in Form von Geld. Um die Verkehrswege und

die Kaufleute* vor den Überfällen der Raubritter zu schützen, um sich gegen den Feu­

daladel zu verteidigen und um die Handelsinteressen im Ausland zu sichert, schlossen

sich Städte zu Städtebünden» zusammen. Die bekanntesten waren der Rheinische Städ-

tebund {ab Mitte des 13. Jahrhunderts), der Schwäbische Städtebuad und die Hanse.

H A N SE Zu ihrer Blütezeit im 14. Jahrhundert hatte die Hanse, dieser Bund

der Handelsbürger in Norddeutschland mit Zentrum in Lübeck das alleinige Vorrecht,

mit den Erzeugnissen der Ostseeländer zu handeln Es gehörten ihr fast alle norddeut­

schen Städte bis weit ins Baltikum an, sie hatte Niederlassungen (Kontore) in Nowgo­

rod, London, Brügge und beherrschte die Seewege. Zur Festigung ihrer Macht und zur

Kriegsführung gegen die Konkurrenz stellte sie sogar Seeräuber ein. Mit entlassenen Pi­

raten wandte sich Ende des 14. Jahrhunderts der sagenumwobene Klaus Störtebeker ge­

gen die Hanse und griff ihre Schiffe an. Sein Prinzip hieß »Likedeel« (gleiche Vertei­

lung, auf Plattdeutsch). Im 15. Jahrhundert zerfiel die Hanse allmählich, denn die

Handelsgewinne wurden vielfach nicht zur Erweiterung der Produktion benutzt, man

hielt an überlebten Handelsformen fest, die einzelnen Hansestädte begannen zu rivali­

sieren, und die niederländische und englische Konkurrenz erwies sich als immer stärker.

SOZIALE SCHICHTUNG Die Städte waren sozial natürlich nicht einheit­

lich. Die Oberschicht bildete das Patriziat, bestehend aus den reichsten Kauf­

mannsfamilien, den Angehörigen der stadtherrischen Ministerialität und einigen in die

Stadt gezogenen Landadeligen. Diese zahlenmäßig kleine Schicht besetzte die Ämter.

Es gab in der Stadt sehr viele Handwerker und Kaufleute, sie bildeten die mittlere

Schicht. Unten in der Stadthierarchie standen die Plebejer: verarmte Handwerker, Ta­

gelöhner, Gesellen, Knechte und Mägde. Stark vertreten waren in jeder Stadt die Bett­

ler, sie hatten sogar eigene Bettlerzünfte.

Page 24: Historishe Landeskunde

Z U N F T Bestimmend für das Leben in den Städten waren vom frühen 12. Jahr­

hundert an die Vereine der einzelnen Handwerke, die Zünfte. (Die Organisationen; der

Kaufleute hießen Gilden.) Die Zünfte regelten mit peinlicher Genauigkeit Ausbildung,

Lohn und Arbeitszeit der Handwerker sowie Qualität und Preis der Waran, ja sogar die

Zahl der Lehrlinge; die Größe des Ladens und die Anredeform. Es herrschte in der

Stadt Zunftzwang, das heißt, die Ausübung eines Berufes war nur Mitgliedern gestattet.

An der Spitze» der Rangfolge in einer Zunft stand der Meister, er hatte einige Gesellen

und Lehrlinge. Da die Zahl der Meister in einer Stadt festgelegt war, konnte der

Geselle meist erst nach dem Tod seines Meisters vorriicken. Nicht selten heiratete er

gleich die Witwe seines ehemaligen Vorgesetzten, um sich Werkstatt und Werkzeug zu

sichern. Die Zünfte konnten sich durch die Normierung des gesamten

Produktionsablaufs vor der Konkurrenz schützen und ihre Interessen nach außen

einheitlich vertreten; die Stadtherren sahen dadurch die Überwachung des Marktes und

die Gewährleistung der Qualität gesichert. Die endgültige Abschaffung der Zünfte

erfolgte erst im 19. Jahrhundert, als sie schon längst ein Hemmschuh der Entwicklung

geworden waren.

LEBEN IN D E R STADT Das äußere Bild der mittelalterlichen Stadt war

durch die Befestigungsanlage geprägt. Eine Steinmauer mit Wehrgängen und ein Was­

sergraben umgaben die Stadt, in die man nur durch die streng bewachten Tore kommen

konnte. Das Zentrum des Stadtlebens war der Marktplatz mit einem Rathaus, wo die

städtischen Behörden Unterkunft fanden. Das Rathaus war ein Mehrzweckbau, es

diente auch als Kaufhaus für den Tuchhandel, bot geselligen Zusammenkünften Platz

(beispielsweise als Tanzhaus), beherbergte das städtische Gefängnis und das Stadtar­

chiv, und im Ratskeller wurden Wein und Bier ausgeschenkt. Die Straßen, die tagsüber

immer voll waren, verliefen krumm und gewunden, die Häuser waren eng aneinander-

gebaut, man warf Unrat, Abfälle, tote Tiere auf die Straße, die Seuchen verbreiteten

sich ungestört. Vor allem die schwarze Pest wütete schrecklich. Es gab in den Wohnun­

gen noch keine sanitären Anlagen. Da der Sinn für Reinlichkeit jedoch vorhanden war,

Page 25: Historishe Landeskunde

baute man Badehäuser, wo sich auch ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens ab­

spielte, man aß, trank, würfelte, sang dort und so weiter.

U N B E F A N G E N H E IT Es herrschte in jeder Hinsicht größte Unbefangen­

heit. Der allgemeine Umgangston war überaus roh; wer die Abenteuer des Till Eulen­

spiegel liest, kann sich einen Eindruck davon machen. Die Kleidung war farbenprächtig

und exhibitionistisch. Man trug Glocken am Gürtel und lebte »auf großem Fuß«, das

heißt man trug Schnabelschuhe, deren Länge je nach sozialer Zugehörigkeit streng

vorgeschrieben war, einfachen Leuten stand das Anderthalbfache der Fußlänge zu, Für­

sten durften ihren Fuß wesentlich mehr verlängern.

R O M A N ISC H E K U N ST Die bildende Kunst von etwa 950 bis 1250 wird

unter dem Begriff des romanischen Stils zusammengefaßt. Sie dient fast ausschließlich

kirchlichen Zwecken. Wichtigste Merkmale romanischer Bauten sind schwere, wuchtige

Architekturformen, schmuckloses Äußeres, mächtige, ungegliederte Mauerflächen,

Rundbögen an Fenstern und Portalen, massive Säulen und Pfeiler, zahlreiche Türme.

Die romanische Kirche hatte einen wehrhaften Charakter, sie hatte ja auch als Festung

zu dienen. Die starken Mauern strömten Kraft, Sicherheit aus, der Mensch fühlte sich in

der Kirche klein, aber geborgen. Hervorragende Beispiele der Romanik findet man im

Rheinland, so etwa den Dom zu Worms, Speyer und Mainz, ferner die Benediktinerab-

tei Maria Laach in der Eifel sowie den Dom zu Gemrode im Harz. Der schönste weltli­

che Bau romanischen Stils ist die Kaiserpfalz in Goslar. Auch in der Buch- und

Wandmalerei sowie in der Plastik wurden nennenswerte Leistungen hervorgebracht.

Das Schwergewicht liegt dabei nie auf der naturgetreuen Wiedergabe, sondern auf dem

intensiven Ausdruck des Wesentlichen, der Bedeutung der jeweils dargestellten Szene.

G O TISC H E K U N ST Der romanische Stil wurde von Mitte des 12. Jahr­

hunderts an (zunächst in Frankreich) durch den gotischen abgelöst, der die europäische

Kunst bis zum Ende des 15. Jahrhunderts beherrschte. Seine bedeutendsten Leistungen

entstanden ebenfalls im Kirchenbau. Die gotische Kathedrale strahlt nicht, wie die

romanische Kirche, Schlichtheit und Geborgenheit aus, sondern beeindruckt durch

Page 26: Historishe Landeskunde

hochstrebenden Vertikalismus, der dem neuen Selbstverständnis der Kirche entspricht.

Statt Massebau wird das Konstruktionsprinzip Skelettbau verwendet: die Last der Mau­

ern wird von Strebepfeilern beziehungsweise Strebebögen außerhalb des Gebäudes ge­

tragen, das Verhältnis von Breite zu Höhe beträgt (im Gegensatz zur Romanik, wo es

1:1 bis 1:1,5 war) 1:2 bis 1:3,8. Die entlasteten Außenwände lassen sich in farbige, bild­

künstlerisch gestaltete Glasflächen auflösen, durch die Licht in den Kircheninnenraum

strömt. Auch Pfeiler und Spitzbögen ziehen den Blick nach oben. Der Kirchturm ragt

aus dem Stadtbild heraus und wird zum Orientierungspunkt. Zu den bedeutendsten

gotischen Bauwerken gehören der Kölner Dom, das Ulmer Münster (mit einem Turm

von 161 Meter Höhe), sowie die Wiener Stephanskirche. Der bekannteste gotische

Profanbau ist das Rathaus in Wernigerode. Es entstehen wichtige Schreibschulen

(Fulda, Sankt Gallen, Reichenau). Goldschmiedekunst und Plastik, Miniaturen- und Ta­

felmalerei erhalten eine zum Teil schon selbständige Bedeutung, neben dem christli­

chen Inhalt werden min schon andere Motive verwendet: Porträts von Stiftern (etwa im

Naumburger Dom) und naturgetreu wiedergegebene kleine Landschaftsausschnitte.

Page 27: Historishe Landeskunde

5. Österreichische AnfängeN O R IK U M Das Gebiet des heutigen Österreich wurde seit urgeschichtlicber

Zeit besiedelt. Hier befand sich beispielsweise im 8.-5. Jahrhundert v. u. Z. eins der

Zentren der sogenannten Hallstattkultur. In den letzten Jahrhunderten v. u. Z. wurde

das Gebiet von Norikern und Kelten bewohnt. Das Königreich Norikum baute rege

wirtschaftliche und politische Beziehungen zum Römischen Reich aus, von dem es aber

schließlich unterworferewurde. Als die bedeutendsten römischen Siedlungen der Regioa

galten Vindobona?j(Wien), Brigantium (Bregenz) und Suvavun» (Salzbu*g). Wie überall

im Imperium baute* die Römer bald das Straßennetz aus? heute noch folgen die Fein­

straßen oft den Römerwegen. Das norische Gebiet galt auch wegen des Gold-, Silber-,

Eisen-, Blei-, Kupfer- und Salzschatzes als besonders begehst. Eine wichtige Rolle kam

dem Bernsteinhandel zu.

B A Y ER ISC H E H E R R SC H A FT Nach den Jahrhunderten der Völkerwan­

derung, als das Gebiet abwechselnd von diversen Völkerschaften beherrscht wurde,

breitete sich im Donau- und Alpenraum seit Beginn des 6. Jahrhundert eine dauernde

Herrschaft der Bayern aus, zu deren Stammesgebiet bereits das westliche Nieder

Österreich, Oberösterreich, Salzburg und Tirol gehörten. Im 8. Jahrhundert geriet auch

Kärnten in die Abhängigkeit der bayerischen Herzoge Zeitweilig kamen die öster­

reichischen Länder - mit dem Stammesgebiet der Bayern - unter die Herrschaft Karls

des Großea Durch die Zerstörung des Awarenreicks durch Karl in den Jahren 791-796

eröffnete sich eine günstige Möglichkeit zur Ausdehnung des bayerischen Einflußberei­

ches: nach Osten und Südost®. Eine Reihe von Marken schützt^ das neuerworbene

Landein dem die Bevölkerung eifrig germanisiert und christianisiert wurde. Die wichtig­

sten Zentren der Missionierung waren die Bistümer Salzburg und Passau.

B A B E N B E R G E R Die nach Osten offenen Randgebiete wurden 907" zu ei­

nem großen Teil von den Ungarn erobert. Erst nach dem Sieg von Otto dem Großes auf

Page 28: Historishe Landeskunde

dem Lechfeld 955 konnten die Ungarn vertrieben und die Marken neu« errichtet werden.

Zu erwähnen ist vor allem »Ostarrichi« zwischen Enns und Traisefi, das im Jahre 976'an

den Grafen Luitpold (Leopold)^ verliehen wurde. Das ist der Beginn der baben-

bergischen Ära in Österreich. (Der latinisierte Name »Austria« ist erst seit dem 12.

Jahrhunderte gebräuchlich.) Es gelang den Babenbergern, die Grenzen durch geschickte

Politik immer weiter nach Osten zu verschieben. Sie erwarben auch das Hezogtum

Steiermark. Im Investiturstreit wechselte® sie mehrmals die Seite; im Konflikt zwischen

Staufern und Welfen nahmen sie für den Kaiser Partöi, dafür erhob Friedrich Barba­

rossa 1156 im »Privilegium minue« Österreich zum Herzogtum. Dies bedeutete eine we­

sentliche Rangerhöhung. Der belehnte Babenberger, Heinrich »Jasomirgoft« (der

Beiname soll auf »Ja, so mir Gott helfe« zurückgehen), verlegte die Resident endgültig

in die größte Stadt des Herzogtums; nach Wien.

OTTOKAR Nachdem Friedrich der Streitbare 124& in der Schlacht an der

Leitha gegen Ungarnkönig B61a IV. gefallen war, erlosch das Herrscherhau» der Baben­

berger. Es folgte eine Teilung des Erbes zwischen B61a IV. (er erhielt etwa die Steier­

mark) und dem böhmischen König Ottokar ü . Premjjsl (ihm fielen das heutige Nieder-

und Oberösterreich zu*). Seit dieser Zeit spricht man übrigens von Österreich »unter der

Enns« und »ob der Enns*< (vgl. das ungarische Wort »öperencia«). Später vertrieb der

Böhmenkönig die Ungarin und vereinigte Tauch deren Besitzungen mit seinen Gebieten.

Der erste Habsburgerkaiser Rudolf erhob jedoch auch Anspruch auf die Länderei«n.

Der Streit entschied sich endgültig in der Schlacht bei Dürnkrut 1278 wo Ottokar dem

von Ungarnkönig Ladislaus IV. unterstützen Kaiser unterlag.

HAUSM ACHT D E R HABSBURGER Während die beginnende Ver-

selb-ständigung der Schweizerischen Eidgenossenschaften! 14. und 15* Jahrhundert den

südwestlichen Besitz von Habsbu*g erheblich minderte, war die Territorialpolitik des

Geschlechts im Südosten durchaus erfolgreich, wozu auch die weitgehende Zustimmung

der deutschen Reichsgrafen gesichert werden konnte. Der Rang, den das habsburgische

Haus in Österreich beanspruchte, drückte sich am deutlichsten in den Bemühungeil von

Page 29: Historishe Landeskunde

Rudolf IV:, dem Begründer der Wiener Universität, aus. Rudolf^ den Petrarca, als

»einen Erzschelm und einen schreienden Esel« bezeichnete, versuchte, sich durch ver­

fälschte Unterlagen (»Privilegium maius*«) Vorrechte zu sichern, die weit über das

»Privilegium minus« und die Goldene Bulle hinausgingen und eine den Kurfürsten

entsprechende Stellung bedeutetem' Die späteren deutschen Kaises (aus dem Hause

Habsburg) bestätigten diese Privilegien. Die Hausmacht des Geschlechts vergrößerte

sich auch durch Ankäufe und Erbverträgfc, zum Beispiel mit den Luxemburgern:

Albrecht V. wurde 1437 (als Albrecht I.) zum König von Ungarn und 1438 (als Albrecht

ü.) zum römisch-deutschen König gewählt. Damit verknüpft sich die österreichische Ge­

schichte engstens mit der des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.

Page 30: Historishe Landeskunde

6. SpätmittelalterM A X IM ILIA N I. Während sich in Westeuropa Monarchien allmählich zu

Nationalstaaten entwickelten, blieb Deutschland zersplittert. Es erhoben sich immerhin

zunehmend Forderungen nach einer Reichsreform. Kaiser Maximilian I. (1493-1519,

der »letzte Ritter«, als Ausnahme unter den Habsburgern ein musischer Mensch;

Grabmal in Innsbruck), der als erster den Kaisertitel ohne Krönung durch den Papst

annahm; suchte ein vorsichtiges Reformwerk zu verwirklichen. Es gelang ihm tatsäch­

lich, eine gewisse Ordnung ins Land zu bringen. Der auf dem Reichstag zu Worms 1495

erlassene »Ewige Landfriede« hatte die Beendigung der üblich gewordenen Fehden zu

erwirken, das Reichskammergericbt sollte als oberste Instanz der Gerechtigkeit, der

Gemeine Pfennig als allgemeine Reichssteuer anerkannt werden. Den kleinen und

mittleren Territorien bot das Reich Schutz vor Übergriffen mächtiger Nachbarn, die

Reichsidee verlor nicht an Reiz, und die von Maximilian geschaffenen oder neu

geordneten Einrichtungen (Reichstag, Reichskammergericht) lebten weiter, doch die

Zersplitterung konnte letztlich nicht aufgehalten werden.

»DU, GLÜCKLICHES ÖSTERREICH...« Recht erfolgreich setzte

Maximilian die Tradition der Vergrößerung der Habsburgischen Hausmacht fort. Trotz

innerer Kämpfe mit Adel und Städten und der vorübergehenden Besetzung großer Teile

Österreichs und sogar Wiens durch den ungarischen König Matthias Corvinus konnten

die österreichischen Erbländer wieder in einer Hand vereinigt werde*. Als ein beson­

ders geeignetes Mittel bei der Vergrößerung der Macht diente Maximilian - nach dem

Muster seiner eigenen Ehe mit Maria von Burgund, der Erbin der niederländischen Ge­

biete - die Verheiratung von Töchtern, Söhnen und Enkelkindern (»Mögen andere

Kriege führen; du, glückliches Österreich, heirate« - »Bella gerant alii! tu, felix Austria,

nube!«). Die Heirat Philipps des Schönen, des Sohnes von Maximilian, mit Johanna der

Wahnsinnigen sicherte den Habsburgem Spanien mit seinem italienischen Besitz und

sogar das amerikanische Kolonialreich; durch die Doppelehe zwischen Jagiello und

Page 31: Historishe Landeskunde

Habsburg fielen nach Mohäcs die Länder der ungarischen und böhmischen Krone

(darunter Schlesien) sowie die Kurfürstenwürde an letztere.

F U G G E R Fast alle wichtigsten Handelsstraßen des ausgehenden Mittelalters

liefen durch Deutschland, so entwickelte sich in den deutschen Städten ein lebhafter

Handel. Es entstanden große Bank- und Handelshäuser, zum Beispiel die der Welser

und der Fugger; Die Fugger mit Sitz in Augsburg hatten weitreichende geschäftliche

Kontakte, so etwa ein Kontor in Ofen (Buda), und waren beteiligt an den oberungari­

schen (heute: slowakischen) Bergwerken. Das ungarische Wort »fukar« erinnert heute

noch an ihre damalige Präsenz. In den Fugger-Kontoren wurde die doppelte Buchfüh­

rung (mit Soli- und Haben-Seite) erfunden. Anfang des 16. Jahrhunderts ließ Jakob

Fugger die erste einheitliche Wohnsiedlung für Arbeiter seiner Manufakturen und ge­

ring bemittelte (katholische) Mitbürger in Augsburg errichten. Die »Herrscher ohne

Krone« übten einen großen Einfluß auf die politische Entwicklung der Folgezeit aus.

Maximilian I. borgte bei ihnen Geld, und die Wahl von Karl Y. zum Kaiser wäre ohne

finanzielle Unterstützung der Fugger (Bestechungsgelder in Höhe von einer halben

Million Gulden an die Kurfürsten) kaum möglich gewesen. Als Gegenleistung erhielten

sie das Recht, Bergwerke zu nutzen. Die Niederlage von Ungamkönig Ludwig ü . gegen

die Türken bei Mohäcs 1526 soll auf mangelnde Unterstützung der Fugger zurückzu­

führen sein. Infolge der großen geographischen Entdeckungen verringerte sich allmäh­

lich ihre Macht; denn die wichtigsten Handelswege führten nicht mehr durch Deutsch­

land, sondern über die Meere.

D R EI SCHW ARZKÜNSTE Der Kulturhistoriker Egon Friedeil schreibt,

daß nebst der Entdeckung Amerikas drei Schwarzkünste die Neuzeit einleiteten. Er

meint erstens das leidenschaftliche Interesse für die Geheimnisse der Alchimie, zwei­

tens die Erfindung des Schießpulvers Mitte des 14. Jahrhunderts durch den Mönch

Berthold Schwarz, das die Kriegsführung radikal veränderte, und drittens Johannes

Gutenberg', der die Menschheit um 1440 mit dem Buchdruck mit beweglichen Lettern

aus Metall bereicherte. 1455 erschien seine 42zeilige Bibel. (Andreas Heß errichtete

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schon 1473 eine Druckerei in Ofen. Damals hielten wir noch Schritt mit der technischen

Entwicklung.) Die Zeit nach Gutenbergs Erfindung, die die massenhafte Herstellung

von Büchern ermöglichte, bezeichnet man als Gutenberg-Galaxis, die heute durch den

zunehmenden Einfluß der elektronischen Medien in ernster Gefahr zu sein scheint.

HUM ANISM US Von Italien her eroberten im 15. Jahrhundert das neue

Weltgefühl der Renaissance und die Ideen des Humanismus die europäische Welt. An­

schauungen von der Schönheit der Natur, der alten Sprachen und der Größe des Men­

schen setzten sich durch, die Herrlichkeit des Lebens im Diesseits wurde her­

vorgehoben. Es war, sagt der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, die »Entdeckung der

Welt und des Menschen«. Als Leitbild galt die große,‘ umfassend gebildete, welt-

zugewandtey sich frei entfaltendfe, an antiken Vorbildern gemessene Persönlichkeit, der

»uomo universale«. Die Humanisten verwarfen die Auffassung der Scholastiker, die

Wissenschaft sei die Magd der Theologie, wollten alles mit eigenen Augen sehen, ihre

Parole hieß »ad fontes« (zurück zu den Quellen), sie forderten eine im täglichen Leben

verwendbare Wissenschaft.

DEUTSCHE HUM ANISTEN Zu den bedeutendsten deutschen Humani­

sten zählen Regiomontanus (mit dem bürgerlichen Namen Johannes Müller, aber die

Humanisten zogen lateinische Namen vor), ohne dessen astronomische Tabellen die

großen geographischen Entdeckungen viel schwerer gewesen wären, der Arzt und Al­

chimist Paracelsus (der trotz seiner Scharlatanerien als Wegbereiter der modernen Me­

dizin Verehrung verdient), der Dichter Ulrich von Hutten, der Theologe Philipp Me-

lanchthon und der Denker* Erasmus von Rotterdam. Das bekannteste Werk von Eras­

mus, der von Basel aus mit der halben Welt (so auch mit Humanisten in Ungarn) korre­

spondierte, ist die Weisheit und Ironie verbindende, in lateinischer Sprache verfaßte

Kampfschrift gegen die Dummheit »Lob der Torheit«1. Hutten schrieb in einem Brief:

»O Jahrhundert, o Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben, wenn auch noch nicht in

der Stille. Die Studien blühen, die Geister regen sich. Barbarei, nimm dir einen Strick

und mache dich auf Verbannung gefaßt." Ein optimistisches Zeitalter...

Page 33: Historishe Landeskunde

UNIVERSITÄTEN Wichtige Stätten des humanistischen Denkens waren die

Universitäten. In Paris, Bologna und Padua bestanden sie schon seit dem 13. Jahrhun­

dert, die erste Universität im Heiligen Römischen Reich wurde durch Kaiser Karl IV.

1348 in Prag gegründet, sie trägt heute noch den Namen Karlsuniversität. Karl war ein

hochgebildeter Mann; er lud Petrarca ein, beschäftigte Bildhauer und Maler, ließ eine

Geschichte seiner Herrschaft verfassen und beschrieb die eigene Jugend; Bauten aus

seiner Zeit prägen das Stadtbild vom »goldenen« Prag. Der Prager Universität folgten

Wien (1365), Heidelberg (1386) und Kölif (1388). Auch später gegründete Universitäten

erlangten großes Ansehen, so etwa Leipzig,(1409), Tübingen (1477), Wittenberg (1502),

Jena (1558) und Göttingen, (1734). Obwohl die neue Bildungsform mit der Zeit ganz

Europa eroberte (der Vorgänger der ELTE entstand 1635), zogen »Studiosi« aus allen

Teilen Europas, auch aus Ungarn, gern zum Studium an deutsche Universitäten.

REN A ISSA N C E In der Renaissancearchitektur standen weltliche Bauten im

Vordergrund? so zum Beispiel das Heidelberger Schloß und das Alte Rathaus in Leipzig;

Das Stadtbild von Nürnberg und Augsburg prägte sich in dieser Zeit heraus. In der Mu­

sik begann in der Renaissance ein Aufschwung; die Namen der damaligen Instrumente

(Blockflöte und so weiter) werden in der internationalen Praxis heute noch deutsch

angegeben. Neben den gelehrten Schriften der Humanisten und den Werken religiösen

Inhalts entwickelte sich eine neue, weit verbreitete Form der Schriftkultur, das Volks­

buch, in dem Freude am Erzählen^ Phantasie und Humor zum Ausdruck kommen. Die

populärsten Erzählungen »Till Eulenspiegel«, »Die Schildbürger« und »Die Historie

von Dr. Johann Fausten« erschienen in Hunderten von Auflagen. (Gewinne damit

erzielten freilich nicht die oft unbekannt gebliebenen Autoren, sondern die Verleger.)

Der Versuch, die Lyrik der Ritterzeit in städtischem Milieu neu zu erwecken, war der

Meistergesang; vgl. seine fein ironische Darstellung in Richard Wagners Oper »Die

Meistersinger von Nürnberg«.

M A L E R Die Renaissancekunst brachte hauptsächlich in der Malerei groß­

artige Leistungen hervor. Drei Neuerungen sind besonders wichtig: die Entdeckung des

Page 34: Historishe Landeskunde

menschlichen Körpers als Teil der Natur und damit verbunden die Festigung anato­

mischer Kenntnisse, die Entdeckung und bewußte Erforschung der Perspektive sowie

die Wiedereinführung klassischer Formen. Die Persönlichkeit versteckt sich nicht mehr

wie im Mittelalter, die Maler signieren ihre Werke, Dürer zum Beispiel mit einem

großen »A« und darunter einem »D«. Wichtige deutsche Künstler der Renaissance wa­

ren Matthias Grünewald (Isenheimer Altar), Hans Holbein d. J. (der größte Porträtist,

»Kaufmann Giesze«), Lucas Cranach d. Ä. (Luthers Anhänger und Freund) und der

Bildhauer und Holzschnitzer Tilman Riemenschneider. Albrecht Dürer/ dessen Ahnen

aus Gyula in Ungarn nach Nürnberg kamen (daher Ajtösi Dürer sor), übt mit seinen

Aquarellen, Holzschnitten (»Die vier apokalyptischen Reiter«, gemeint sind Seuche,

Krieg, Not und Tod), Kupferstichen (»Adam und Eva«), Porträts und Selbstbildnissen

eine nachhaltige Wirkung auf die Nachwelt aus. Sein genaues Studium der

menschlichen Gestalt und der Regeln des sie umgebenden Raums (des »Goldenen

Schnitts«) bildet die Grundlage der bewußten Beschäftigung späterer Künstler mit ihrer

Materie.

Page 35: Historishe Landeskunde

7. ReformationU N R U H E Die gesellschaftlichen Widersprüche, die sich im Laufe der ur­

sprünglichen Akkumulation des Kapital» immer mehr zuspitzten, führten im aus­

gehenden 15. Jahrhundert; zu mehreren spontanen Erhebungen. Hans Böheim, der

»Pfeifer von Niklashausen«, rief in seinen Predigten zu einem Leben ohne Kaiser, König

und Abgaben und zu einem bewaffneten Aufstand auf, die Anhänger des »Bundschuh«

(der gebundene Schuh war ein typisches Kleidungsstück der Bauern) versuchten 1493 im

ElsaS zmn Teil zusammen mit Städtern, die Wucherer zu vertreiben, die Gerichte abzu­

schaffen, die Klöster zu beseitigen und Steuern, Zölle, Abgaben einzuschränken, und im

Jahre 1514 fand in Württemberg der Aufstand des »Armen Konrad« statt. Die Unruhe

im Land wuchs, ohne allerdings eine einheitliche Plattformzu haben.

ABLASSHANDEL Besonders empörend fanden viele die Zustände in der

Kirche. Die Zahl der Geistlichen’war sehr angewachseft (sie machten beispielsweise ein

Achtel der Bevölkerung von Köln aus), ebenso ihr Wohlstand und ihr Bedarf nach Geld,

den sie durch den Kirchenzehnt, andere Steuern, Bußgelder und Reliquienhandel be­

friedigten. Trotz erneuter Reformbestrebungen innerhalb der Kirche änderte sich an

dieser Situation nichts. Die Merkantilisierung der Religion gipfelte im Usus des Ablaß­

handels. Sünden wurden vergeben, wenn man dafür bezahlte. Der Dominikanermönch

Johann Tetzel hatte sogar einen regehechten Sündenkatalog, demzufolge Kirchenraub

mit neun, Hexerei mit sechs, Eltemmord mit drei Dukaten abbezahlt werden konnte, ja

man durfte für gewisse Sünden sogar vorausbezahlen.

THESENANSCHLAG Aus dem Zusammenwirken all dieser zeitbedingten

Faktoren wuchs die Reformation Martin Luthers [1483-1546] empor. Am 31. Oktober

1517 schlug der Mönch und Theologieprofessor der Universität Wittenberg 95 Thesen

an das Tor der Schloßkirche, um, einem damaligen Brauch folgend, zu einem Streitge­

spräch aufzurufen. Was ihn trieb, war das tiefe Bedürfnis1, die Kirche zur ursprünglichen

Page 36: Historishe Landeskunde

evangelischen Lehre zurückzuführen und sie von den überflüssigen, falschen Strukturen

und Interpretationen zu befreien.-Unmittelbar griff er den Mißbrauch des Ablaßhandels

und persönlich Tetzel-an, der in der Nähe predigte, verurteilte aber nolens volens

gleichzeitig die weltlichen Ansprüche der Kirche ais Institution, den Primat des Papstes,

und stellte letztlich die ganze Struktur der katholischen Religion in Frage;

LUTHERS LEH REN Dem Thesenanschlag folgten zahlreiche Streit­

gespräche (Disputationen) sowie religiöse und politische Streitschriften, in denen Lu­

ther seinen Standpunkt immer bewußter vertrat. Er erklärte nur das als wahr, was durch

die Bibel bewiesen werden könne; im Mittelpunkt des Christentums solle der indi­

viduelle Glaube?stehen, und der Mensch brauche keine Vermittlung zu Gott. Auch von

dem moralischen Niedergang seiner Zeit konnte er nicht schweigen. Er setzte sich oft

und ausführlich mit Fragen der Freiheit auseinander (vgl. vor allem »Von der Freiheit

eines Christenmenschen«). In der Kirche und vor Gott sei jeder Christ frei, denn er

habe allein Gott und seinem Gewissen Rechnung zu tragen. Im öffentlichen Leben sei

er dagegen ein Untertan der Obrigkeit, die für sein Bestes auf Erden zu sorgen habe,

weil sie in Vertretung Gottes regiere. Der gute Christ gehorche* laut Luther zuerst dem

Vater (Familie)', dann dem Lehrer (Schule) und dem Pastor (Kirche) und schließlich

dem Fürsten. Dieses Prinzip des absoluten Gehorsams der Obrigkeit gegenüber sollte

für die deutsche Geschichte und Kulturgeschichte noch schwerwiegende Folgen haben.

W ORM SER EDIKT Der neue Kaiser Karl V. (1519-1556) lud Luther vor

den Reichstag in Worms und forderte ihn auf, seine Lehren zu widerrufen. Luther ver­

weigerte es, und der Kaiser sprach im Wormser Edikt (1521) die Reichsaeht über ihn

aus. Er wurde vogelfrei, das heißt, jeder hätte ihn mißhandeln oder umbringen dürfen.

Als er Worms verließ, wurde er von Leuten des Kurfürsten Friedrichs des Weisen von

Sachsen heimlich auf die Wartburg entführt. Unter dem Namen Junker Jörg lebte er

fast ein Jahr dort und übersetzte das Neue Testament ins Deutsche, das 1522>im Druck

erschien.

Page 37: Historishe Landeskunde

BIBELÜBERSETZUNG Die ganze Bibel« wurde 1534 auf deutsch veröf­

fentlicht. Bei der Übersetzung benutzte Luther die ostsächsische (Meißner)

Kanzleisprache, die auf einem Ausgleich nieder-, mittel- und oberdeutscher Dialekte

beruhte, prägte selbst neue Wörter, Redewendungen und Sprichwörter und verwendete

volkstümliche Sprachelemedte. Man solle, schrieb er im »Brief vom Dolmetschen«, den

Leuten stets »auf das Maul sehen, wie sie reden«. Durch die schnelle Verbreitung dieser

Übersetzung und weiterer Schriften und Kirchenlieder (beispielsweise des Psalms 46

mit der Anfangszeile »Ein feste Burg ist unser Gott«) wirkte Luther nicht nur im

religiösen und politischen Sinne, sondern trug auch zur Herausbildung der

neuhochdeutschen Schriftsprache wesentlich bei. Eine Breitenwirkung der Lehren

Luthers war freilich nur infolge des Buchdrucks und des immer größere Schichten

erreichenden Schulwesens möglich.

BAUERNKRIEG Luthers Ideen gegen die Autorität der katholischen Kirche

wurden von vielen Zeitgenossen aufgegriffen und - obwohl er selbst damit nicht mehr

einverstanden war - weitergeführt. Das ganze soziale Gefüge geriet in Bewegung. Die

Wiedertäufer lehnten jede Kirchenordnung ab und wollten im Geiste urkom-

munistischer Vorstellungen das »Reich Gottes auf Erdern« schaffen. Es erhoben sich

1522-1523 iinter Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen die Reichsritter, um ihren

verlorenen sozialen Rang wiederherzustellen. Sie forderten die Enteignung der geistli­

chen Herren und der Klöster. Um den Thüringer Prediger Thomas Müntzer bildete sich

eine Sozialrevolutionäre Bewegung,» die sich gegen die Obrigkejt überhaupt richtete.

Eine Erhebung der Bauen» erschütterte viele Teile Deutschlands. Zentren» des Deut­

schen Bauernkriegs (1525) waren Südwestdeutschland und Thüringen (Mühlhausen,

Führung Müntzers). Müntzer versuchte, zwischen den einzelnen Gebieten eine Verbiß

dung herzustellen und die Handlungen aufeinander abzustimmem. Doch es kam zu kei­

ner Einigkeit, erstens weil die Forderungen der Bauern nicht einheitlich waren

(gemäßigte »Zwölf Artikel« gegen zunehmende Ausbeutung; für Einigung mit den

Feudalherren; radikaler »Artikelbrief« gegen feudale Ordnung und Obrigkeit, alle Men-

Page 38: Historishe Landeskunde

sehen seien gleich in »christlicher Vereinigung«), zweitens weil die Fürsten die Zersplit­

terung der Aufständischen sowie deren militärische Unterlegenheit infolge primitiver

Kampfformen geschickt nutzten. Luther unterstützte in Flugschriften die gewaltsame

Unterdrückung der Unruhen durch die Landesfürsten, die Bauern sollten sich, schrieb

er, »hüten vor Aufruhr und Empörung«.

ZWINGLI, CALVIN Luthers Lehren verbreiteten sich besonders in

Deutschland und in Nordeuropa schnell. Andere Akzente erhielt die Reformati»n durch

Zwingji und Calvin?. Die Auffassung des Zürcher Pfarrers Ulrich Zwingli unterschied

sich vor allem in der Beurteilung des Abendmahls von der Luthers. Während Luther

und sein Verbündeter Melanchthon die Ansicht vertraten, Christus sei im Abendmahl

real gegenwärtig, behauptete Zwingli, diese Präsenz sei nur symbolisch- Der Genfer,

Jean Calvin betonte, im Gegensatz zu Luther, der in den Fürsten (aus seiner Sicht wohl

nicht zu Unrecht) die wichtigste Stütze der neuen Kirche sah, das Widerstandsrecht ge­

gen die Autorität der weltlichen Obrigkeit. In den kalvinistischen Gemeinden herrsch­

ten aber strenge Sitten, die Kirche kontrollierte das Leben der einzelnen bis in die Pri­

vatsphäre. Calvins Prädestinationslehje besagte, daß Gott im voraus bestimmt, was aus

dem Menschen wird. Böses gibt es in der Welt nur, damit die Menschheit daraus lernt.

Da erfolgreiche Arbeit in der Prädestinationslehre als Zeichen der Erwählung galt, för­

derte der Kalvinismus (die reformierte Kirche) die Entfaltung des modernen Kapita­

lismus.

FOLGEN D E R REFORM ATION Die Reformation hatte vielschichtige

Folge® Die hierarchische Vorstellungswelt des Mittelalters wurde vernichtet, es ent­

stand eine moderne Freiheitsidee. Das Bildungswesen Wurde revolutioniert, Lesen und

Schreiben waren kein Privileg der Kirche mehr. Die gemeinsame Sprache bewirkte das

Erwachen des Nationalbewußtseins. Die religiöse Einheit des Mittelalters zerfiel ein für

allemal. Durch die Säkularisierung der Kirchengüter wurden die Besitzverhältnisse

grundlegend verändert. Anstelle der hierarchisch aufgebauten Kirche trat das Neben­

einander von Landeskirche»

Page 39: Historishe Landeskunde

PROTESTANTEN Die nach der Reformation eingetretene konfessionelle

Spaltung in Deutschland bestärkte erneut die Selbständigkeitsbestrebungen der Terri-

torialherrerr: Kaiser Karl V., durch Erbschaft Herr des größten Weltreichs seit der Zeit

Karls des Großen (»in seinem Reich ging die Sonne nie unter«), konnte wegen der

Kämpfe mit äußeren Gegnern (Frankreich, Türkei) lange Zeit nicht energisch gegen die

Reformation auftrete». Als er 1529 auf dem Reichstag von Speyer die Durchführung des

Wormser Edikts gegen Luther und die fürstlichen Anhänger der Reformation forderte,

verließe^ die betroffenen Fürsten aus Protest den Reichstag und erhielten den Namen*

Protestanten» Da die gewaltsame Wiedereinführung des Katholizismus weiterhin drohte,

schlossen sich protestantische Fürsten und Städte 1531 im Schmalkaldischen Bund

(Schmalkalden bei Eisenach) zusam m en. Als aber die Türken immer mehr vorrückten

und ein gemeinsames Auftreten sich nicht mehr aufschieben ließ, schlossen beide Seiten*

1532 den Religionsfrieden von Nürnberg,

A U GSBURGER RELIGIONSFRIEDEN Der Frieden wurde 1546 wie­

der gebrochen, als Karl V. sich stark genug fühlte, mit spanischen und italienischen

Söldnern gegen den Schmalkaldischen Bund vorzugehep. Er siegte zwar, machte sich

aber nicht nur die protestantischen, sondern auch die katholischen Fürsten dadurch zu

Feinde^ daß er ihre Selbständigkeit erheblich einschränken wollte. Eine Fürsten2

Verschwörung unter Führung von Moritz von Sachserf im Bunde mit Frankreich und

dem Papsttum,*die an einer möglichst schwachen kaiserlichen Zentralgewalt in Deutsch­

land interessiert waren, zwang Kaiser Karl zum Passauer Vertrag (1552). Dieser ebnete

den Weg zum Augsburger Religionsfrieden (1555), der den Landesherren und freien

Städten das Recht einräumte, die Religion in ihrem Territorium zu bestimmen (»Cuius

regio, eius religio« = »Wes das Land, des die Religion«). Die protestantische Konfes­

sion wurde also als gleichberechtigt mit der katholischem anerkannt, die Spaltung war

besiegelt. Der religiöse Fanatismus begann in beiden Lagern seine zersetzende Kraft zu

entfalten; ganz Europa wurde ein riesiges Schlachtfeld einander bekämpfender Kif-

chenparteien, wobei die Protestanten nicht nur gegen die Katholiken auftraten, sondern

Page 40: Historishe Landeskunde

auch gegeneinander. Alles wurde zu Frage des Glaubeas. Als Papst Gregor XIÄ. bei­

spielsweise den julianischen Kalendfer mit Einführung der Schaltjahre verbesserte, nah­

men es die Protestanten nicht an, so daß die Datierungen bis zum 18. Jahrhundert aus­

einandergingen.

LEBEN IN D E R LU TH ERZEIT Humanisten, Poeten und Kleriker gingen

zu Luthers Zeiten meist bartlos, die übrige Männerwelt bevorzugte den kurzgeschnitte­

nen Vollbart und liebte das Kopfhaar schlicht und ziemlich kurz. Als Kopfbedednigg

trug man am liebsten das Barett; man sieht es beispielsweise auf Holbeins Gemälden.

Mädchen hatten lange Zöpfe, reifere Frauen umgaben das Haar gern mit einem Gold­

netz. In der weiblichen Kleidung kam die protestantische Prüderie zum Ausdruck, in­

dem nackte Schultern und Brüste - im Gegensatz zum Mittelalter - verpönt waren.

Das frühe 16. Jahrhundert galt als die klassische Zeit der großen Eß- und Trinkgelagen.

Viele Adelige waren fast täglich betrunken, von Luther wird berichtet, daß er den Alko­

hol auch nicht verachtete (»Wer nicht liebt Wein, Weiber und Gesang, / Der bleibt ein

Narr sein Lebelang«), Der Rektor der Universität Leipzig betrieb im Keller seines

Hauses eine Wirtschaft (»Auerbachs Keller«), zu deren Kundschaft angeblich auch Dr.

Faustus gehörte. Einer der auffallendsten Züge der Zeit ist der Grobianismus. Man ent­

deckt das Wort als Waffe (auch eine direkte Folge der Erfindung Gutenbergs) und

nim m t sich kein Blatt vor den Mund. »Narr« ist vielleicht das häufigste Wort, Gelehrte

nennen sich Schweine, reißende Wölfe, bissige Hunde und Maulesel, Luther vergleicht

Erasmus mit einer Wanze, die tot noch mehr stinke als lebendig, schreibt den Namen

seines Gegners Dr. Eck zusammen und läßt sich auf einem Flugblatt von Lucas Cranach

d. Ä. mit heruntergelassener Hose darstellen (die Geste gilt dem Papst).

Page 41: Historishe Landeskunde

8. Gegenreformation und Dreißigjähriger Krieg

JESUITEN Zur Zeit des Augsburger Religionsfriedens war Deutschland zu

vier Fünfteln protestantisch. Die katholische Kirche gab sich jedoch nicht geschlagen.

Der 1534 durch Ignatius von Loyola gegründete Orden der »Gesellschaft Jesu« setzte

sich zum Ziel, die Stellung der Kirche zu festigen und den Katholizismiß mit systemati­

scher und disziplinierter Kleinarbeit zu verbreiten. Im Orden herrschte eine streng mili­

tärische Organisation mit unbedingter Subordination^ die umso wichtiger war, als die Je­

suiten nicht in klösterlicher Gemeinschaft lebten, sondern in die Welt geschickt wurden;

um als Beichtväter und Erzieher an Fürstenhöfen, als Lehrer in Schulen und Universitä­

ten, als Bekehrei' von Ketzern und Heiden, als Missionare in Amerika und Asien ihre

Lehren zu propagiere®. Auf dem Konzil von Trient (1545-1563) gelang der katholi­

schen Kirche die große Erneuerung! Es wurde eine umfassende Kirchenreform durchge­

führt: Die Glaubenssätze wurden neu formuliert, Mißstände in der Kirchenverwaltung,

Ablaßhandel und Pfründenschacher beseitigt, und eine Zensur eingeführt, indem uner­

wünschte Bücher auf den »Index librorum prohibitorum« (Liste der verbotenen Bücher)

gesetzt wurden.

D E U T SC H L A N D W IR D Ü B E R H O L T Deutschland, das um 1500 füh­

rend) in der wirtschaftlich-politischen Entwicklung war, wurde um 1600 von mehreren

Ländern Westeuropas überholt. Die Handelswege verlagerten sich, die süddeutschem

Handelsgesellschaften wurden völlig ausgeschaltet?, der Ostseehandel blieb zwar noch

bedeutend, die Hanse mußte aber auf ihre Vormachtstellung zugunsten von englischen

und holländischen Kaufleuten verzichten, die auch die Wege im Atlantik beherrschten.

Die Landesfürsten behinderten mit ihren ständigen Kämpfen die Entwicklung des Wirt­

schaftslebens erheblich, der Bergbau verzeichnete wegen der Konkurrenz der Silber­

und Kupfereinfuhren aus Amerika erhebliche Einbußen.

Page 42: Historishe Landeskunde

UN IO N - LIGA Zu Beginn des 17. Jahrhunderts bestanden in Europa zwei

große Mächtegruppierungen: einerseits das spanisch-habsburgisch-katholisehe Lager

mit den Zentren Spanien, süddeutsche Staaten, Rom und Österreich, andererseits das

seiner Gegner, angeführt von den Generalstaaten (Niederlande — Holland). Zu diesem

Lager gehörte auch Frankreich, obwohl in ihm der Katholizismus herrschte, dies zeigt,

daß es sich in erster Linife um Machtinteressen und nur zweitrangig um religiöse Fragen

handelte. Der Riß ging mitten durch Deutschland, wo die Anhänger der beiden Lager

zwei militärische Organisationen gründeten: die 1608* entstandene protestantische

»Union«, der unter anderem die Kurpfalz, Baden, Württembfcrg, später auch

Brandenburg, Hessen und einige Reichsstädte angehörten, sowie die katholische »Liga«

unter Führung Bayerns (Gründung 1609). Der offene Ausbruch der Gegensätze war nur

noch eine Frage der Zeit.

PR A G ER FENSTERSTURZ Der Friede zwischen Katholiken und Prote­

stanten war nirgends mehr gefährdet als in Böhmen, wo letztere die überwiegende

Mehrzahl der Bevölkerung ausmachten. Obwohl ihnen in einem kaiserlichen Brief Frei­

heiten gewährt wurden, kam es immer wieder zu Konflikten; Als die Eingabe böhmi­

scher Stände wegen der Zerstörung protestantischer Kirchen vom Höf zurückgewiesen

wurde, gerieten 1618?ihre Vertreter in der Prager Burg in einen aufgeregten Wortwech­

sel mit zwei kaiserlichen Räten, die den Beschwerden nicht nachgeben wollten und am

Ende zum Fenster hinausgeworfen wurden. Das war der Prager Fensterstura (auf la­

teinisch »defenestratip«), der Funke, der den angehäuften Zündstoff zum Entflammen

brachte. (Die Räte fielen übrigens nur ein Stockwerk tief, verletzten sich, da Mist unter

dem Fenster lag, nur geringfügig und konnten sich später auf Seiten Habsburgs noch

verdient machen.)

BÖHM ISCH-PFÄLZISCHER KRIEG Kaiser Matthias starb ohne Sohn.

Sein Cousin Ferdinand Hs (1619-1637) sollte böhmischer König werde», die Stände-

wählten jedoch einen anderen, das Oberhaupt der Union, Friedrich V. von der Pfalz. Er

unternahm einen Angriff bis vor Wien (und wenn Gäbor Bethlen am Feldzug teilge­

Page 43: Historishe Landeskunde

nommen hätte, wäre er möglicherweise noch weiter gekommen); die von Spaniern unter­

stützte Gegenoffensive der Ligar unter Führung des Grafen Tilly! brachte aber einen Sieg

(1620, Schlacht am Weißen Berg, unweit von Prag) und zog eine gewaltsame Reka-

tholisierung und grausame Rach® nach sich. Diese Kämpfe, die in einzelnen Gebieten

noch bis 1623 andauerten, bildeten den böhmisch-pfälzischen Krieg, die erste Phase des

Dreißigjährigen Krieges.

D Ä N ISC H -N IED E R SÄ C H SISC H E R K R IE G Me zweite Phase, der dä-

nisch-niedersächsische Krieg 1625 -1629, begann mit dem Eintritt Dänemarks in die

Kämpfe. Dieses Land erhielt bei den Bemühungen, seine Macht in Nordwest­

deutschland auszubauen, englische, französische und niederländische Unterstützung.

Dieser Mächtekonzentration war Ferdinand ü.' nicht gewachsen. Er nahm daher das

Angebot des reichen Adligen Albrecht von Wallenstein an, mit einem großen eigenen

Heer auf seiner Seite zu kämpfen. Wallenstein und die kaiserlichen Truppen unter Til-

lys Führung drängten die Protestanten immer mehr zurück und verjagten die Dänen.

Das 1629 erlassene Restitutionsedikt mit der Forderung, die protestantischen Fürsten

sollten alle seit 1552 erhaltenen Gebiete der katholischen Kirche zurückgebe», bewies,

daß der Kaiser erneut sehr mächtig geworden war. Selbst katholische Fürsten stellten

sich gegen ihn; auch Wallenstein mißfiel die Maßnahme. Er wurde 1630 auf dem Re­

gensburger Fürstentag entlassen, zog sich in den Musterstaat Friedland in Böhmen zu­

rück, förderte die Industrie und den Bergbau und wartete ab.

SCHWEDISCHER KRIEG Mit der Landung des schwedischen Heeres un­

ter König Gustav Adolf 1630 auf der Insel Usedom trat der dreißigjährige Krieg in seine

dritte Phase ein (schwedischer Krieg 1630-163S). Die Auseinandersetzungen weiteten

sich nun zu einem europäischen Machtkampf auf deutschem Boden aus. Schweden

wollte mit Unterstützung Frankreichs (Kardinal Richelieu) seine Vormachtstellung im

Ostseeraum .sichern. Tilly konnte den Vormarsch bei Magdeburg eine Weile noch auf­

halten, aber nicht lange. Als schwedische Truppen, unterstützt von den protestantischen

deutschen Fürsten, bis Bayern vordrangen und schon Wien bedrohten, rief der Kaiser

Page 44: Historishe Landeskunde

Wallenstein zurück und stattete ihn mit Sondervollmachten aus. Er gewährte ihm

beispielsweise völlige Freiheit in der Knegsführung: In der Schlacht bei Lützen! (in der

Nähe von Leipzig) siegte»Ende 1632 die Schwede», ihr Heerführer König Gustav Adolf

aber fiel. Wallenstein begann, mit den Schweden geheime Friedensverhandlungen zu

führen Wie er sich die Lösung der Fragen im einzelnen dachte, blieb Freund und Feind

gleicherweise unbekannt, sicher ist, daß er sich selbst eine Schlüsselrolle zudachte und

selbst vor einer Absetzung der Habsburger nicht zurückgeschreckt wäre. Der Kaiser

klagte ihn des Hochverrats! an und erließ den Geheimbefehl an einige seiner Offiziere,

Wallenstein nach Wien zu bringen. Daraus wurde jedoch nichts, die bemerkenswertesteV

Gestalt des Krieges (vgl. Schillers Drama) wurde 1634 in Eger (heute: Cheb, CSFR)

ermordet, offenbar auf kaiserliche Weisung.

FR A N ZÖ SISC H -SC H W E D ISC H E R K R IE G Die Gegensätze im prote­

stantischen Lager nahmen mittlerweile zu (die Plünderungen der Schweden, die plan­

lose Lehensverteilung mißfiel vielen), die Habsburger konnten die Schweden 1635 aus

Süddeutschland vertreiben; Der Prager Frieden 1635 veranlaßte Frankreich, das bisher

(wie auch England) aus dem Hintergrund den Dreißigjährigen Krieg so beeinflußte, daß

die kaiserliche Zentralgewalt nicht zu stark werden konnte, selbst in den Krieg ein-

zutretea Damit begann die vierte Phase, der französisch-schwedische Krieg

(1635-1648). Noch mehr als ein Jahrzehnt schleppte sich der Krieg hin, keine der Sei­

ten? konnte eine bedeutende militärische Überlegenheit erzielen, es überwogen Raub

und Plünderung (zumal die Versorgung der Heere nicht mehr gesichert war), es ging

den Söldnern nur noch um Geld und Beute. (Vgl. Grimmelshausens »Simplizissimus«

und Brechts «Mutter Courage«.) Deutschland wurde vollkommen verwüstet, die Ein­

wohnerzahl sank auf die Hälfte. Der Krieg endete »in allgemeiner Erschöpfung«.

W ESTFÄLISCHER FR IED E Der Westfälische Friede im Jahre 1648

bestätigte im wesentlichen den Augsburger Religionsfrieden. (Die Katholiken un­

terschrieben in Münster, die Protestanten in Osnabrück.) Es wurde mit diesem Frieden

vollzogen, was sich schon lange angebahnt hatte: das Reich verschwand als machtpoliti-

Page 45: Historishe Landeskunde

sehe Größe innerhalb des europäischen Staatensystems. Die Schweiz und die Nie­

derlande erhielten die volle Souveränität und schieden auch rechtlich aus dem Reich

aus; Frankreich und Schweden bekamen große Gebiete (im Osten bis zum Rhein; We­

ser-, Elbe- und Odermündung) und auch Sitz und Stimme im deutschen Reichstag, da­

mit konnten sie sich immer wieder legal in deutsche Angelegenheiten einmischea Das

Deutsche Reich zerfiel in über dreihundert selbständige Fürstentümer mit umfassenden

Rechten, die Reichsstände erhielten alle wesentlichen Hoheitsrechte in geistlichen und

weltlichen Angelegenheiten darunter das Recht, ein eigenes H e« zu unterhalten und

Bündnisse mit ausländischen Partnern; zu schließen - »nur nicht gegen Kaiser und

Reich«, aber wer konnte das kontrollieren? Mitten in Europa entstand ein Mächteva­

kuum, und der Friedensvertrag ließ offen, wer dieses Vakuum ausfüllen würde.

Page 46: Historishe Landeskunde

9. AbsolutismusTERRITORIALSTAATEN Die nahezu souveränen Territorialstaaten

übernahmen als Regierungsform nach französischem Muster den Absolutismus. Der

Monarch herrschte uneingeschränkt, er schaltete Interessenvertretungen der Feu­

dalklasse aui und vereinigte in sich die Gesetzgebung, die Exekutive und die Rechtspre­

chung. Dabei stützte er sich auf einen großen, ihm hörigen Beamtenapparat und auf das

stehende Heer. Das Paradoxe an der deutschen Entwicklung war, daß der Absolutismus

hier nicht auf zentralisiertem Boden errichtet wurde wie in Frankreich. Trotzdem ver­

suchte in den deutschen Kleinstaaten jeder Landesherr, den Prunk der Versailler Hof­

haltung des französischen Königs Ludwig XIV. (»Sonnenkönig«, dessen Devise »L’6tat

c’est moi«, »Der Staat, das bin ich« lautete) zu übernehmen, die Residenz- zu einem kul­

turellen Mittelpunkt mit Theatertruppea, Orchestern, Kunstsammlungen, Bibliotheken

zu machen, Architektur, Kleidung, Speisen, Zeremonien, Musik, Literatur des französi­

schen Hofes nachzuahmett Dem Herrscher gebührte eine große Hofhaltung samt eini­

ger Mätressen; über August den Starken in Sachsen wird berichtet, daß er mehr als 300

uneheliche Kinder hatte. Zu diesem Lebensstil benötigten die Monarchen sehr viel

Geldf das sie durch hohe Steuern; durch den Verkauf von Beamtenstellen und derglei­

chen erlangten. Landwirtschaft und Handwerk entwickelten sich kaum, unterschiedliche

Münzen, Maße und Gewichte sowie Zoll- und Mautstellen an jeder Grenze hemmten

den Handel.

SPR A C H G ESELLSC H A FTEN Die Übernahme alles Französischen er­

streckte sich sogar auf die Sprache. Davon zeugt eine Flut französischer Lehnwörter.

Zum Schutz des Deutschen wurden von der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts an

Sprachgesellschaften gegründet, die berühmtesten sind »Die Fruchtbringende Ge­

sellschaft« (1617 in Weimar) und die »Gesellschaft der Hirten an der Pegnitz« (1644 in

Nürnberg). Aus dem Kreis der letzteren ging die Idee aus, daß die Dichtung mit Hilfe

des »Poetischen Trichters, die Teutsche Dicht- und Reimkunst ohne Behuf der lateini-

Page 47: Historishe Landeskunde

sehen Sprache in sechs Stunden einzugießen« mit Leichtigkeit zu erlernen sei. Der radi­

kalste Purist Philipp von Zesen wollte Fremdwörter völlig verbieten, duldete nicht ein­

mal Lehnwörter wie »Fenster«, »Natur« und »Kloster« (seine Vorschläge lauteten

»Tageleuchter«, »Zeugemutter« und »Jungfemzwinger«) und schlug statt der griechi­

schen Göttemamen Venus, Pallas und Vulkan deutsche vor: Lustinne, Kluginne und

Glutfang.

B A ROCK : BA U K U N ST In Italien entwickelt, am Hofe Ludwigs XIV. ge­

pflegt, wurde der Barockstil auch von deutschen Fürstenhöfen des 17. und 18. Jahrhun­

derts aufgenommen. Ihre prunkvollen Schlösser mit riesigen Parkanlagen sollten die

Größe des Herrschers symbolisieren, entweder in der Hauptstadt (Residenz Würzburg;

Zwinger in Dresden), oder - nach dem Vorbild von Versailles - außerhalb der Stadt­

grenzen (Ludwigsburg bei Stuttgart; Nymphenburg bei München; Schönbrunn bei Wien;

Schloß Sanssouci in Potsdam). Charakteristisch für die Schloßbauten waren ein Festsaal

im Mittelflügel und große Treppenhäuser; der Garten, eng mit dem Schloß zusammen­

gebaut, wurde ebenfalls zum Kunstwerk. Man unterscheidet den geometrische Formen

vorziehenden französischen Garten (mit griechischen Tempeln) und den Naturhaftigkeit

inszenierenden englischen (Burgruinen). Auch im Kirchenbau gab es in der Barockzeit

glänzende Leistungen, wie etwa Stift Melk, der Salzburger Dom, die Karlskirche in

Wien und die Frauenkirche in Dresden. Den ideellen Hintergrund der Barockkunst lie­

ferte die Gegenreformation: Bewegung, Farbenpracht und Verknüpfung verschiedener

Kunstelemente sollten die Menschen unter einen nahezu magischen Bann stellten.

BA ROCK : K Ü N STLER Die wichtigsten Baumeister der Epoche waren die

Österreicher Johann Bernhard Fischer von Erlach (Kollegienkirche Salzburg; Karlskir­

che, Palais Trautson, Hofbibliothek Wien, Pläne für Schönbrunn), Johann Lukas Hilde­

brandt (Belvedere Wien, Räckeve) sowie Balthasar Neumann (Würzburger Residenz),

Georg Wenzeslaus Knobelsdorff (Sanssouci) und Matthias Daniel Pöppelmann

(Dresdner Zwinger). Die bekanntesten Barockmaler hießen Paul Troger und Johann

Michael Rottmayr (schönste Arbeiten in Melk); Werke des sehr produktiven Franz An­

Page 48: Historishe Landeskunde

ton Maulbertsch befinden sich unter anderem in Raab (Györ), Sümeg, Zirc, Stuhlwei-

ßenburg (Sz6kesfeh6rvär), Erlau (Eger). Die Grenzen der einzelnen Künste wurden

immer mehr verwischt. Die bildende Kunst fügte sich organisch in die Bauten, die Bild­

hauerei ersetzte die Malerei (Lichtstrahlen und Blitz wurden modelliert), die Malerei

die Architektur (Gewölbe wurden gemalt: »Scheinarchitektur«) - man strebte eine Art

Gesamtkunstwerk an.

BAROCK: MUSIK Die von den Fürsten geförderte Musik des Barocks lie­

ferte eine seitdem kaum übertroffene Qualität. Heinrich Schütz schrieb während des

dreißigjährigen Krieges die erste deutsche Oper »Daphne«. Die Gattung kam bald in

Mode, jedes Schloß brauchte ein eigenes Theater mit entsprechender Bühnen­

dekoration, Orchester, ja sogar einem eigenen Hofkomponisten. Der bekannteste Ba­

rockkomponist war der Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach [1685-1750].

In seiner Kirchenmusik - beispielsweise in der »Matthäus-Passion« und im

»Weihnachtsoratorium« - findet das religiöse Gefühl den tiefsten Ausdruck. In seinen

instrumentalen Werken - so etwa in der »Kunst der Fuge«, die keine Angabe der zu

benutzenden Instrumente enthält, oder im »Wohltemperierten Klavier« - erforscht

Bach Kompositions- und Ausdrucksmöglichkeiten und Musikformen. Die

»Brandenburgischen Konzerte«, sechs kurze Instrumentalstücke, wurden zu Ehren des

brandenburgischen Markgrafen komponiert. Großartiges haben auch Georg Friedrich

Händel (»Wassermusik«, Oratorium »Messias«), Georg Philipp Telemann und mehrere

Mitglieder der Familie Bach geleistet. Als markantestes Instrument der Epoche galt die

Orgel.

BAROCK: SITTEN Es herrschte in der Barockzeit eine hemmungslose Ser-

vilität. Alles wurde streng formalisiert; jede Stunde hatte ihre bestimmte Kleidung, Be­

schäftigung und Gesellschaft, es konnte jedes Detail große Bedeutung gewinnen; fast

wichtiger als der Inhalt wurde die Form. Man verwendete viel Mühe auf den Unterricht

des artigen Benehmens und der wohlgesetzten Rede. Der Lieblingstanz der Barockzeit,

das Menuett, drückt vieles von der damaligen Stimmung aus. Man trank unverändert

Page 49: Historishe Landeskunde

viel Alkohol, es kam aber als typisches Barockgetränk der Kaffee auf (vgl. Bachs

»Kaffeekantate«). Auch Tabakkauen, Schnupfen und Rauchen waren in Mode. Die

Pfeife wurde bald zum unentbehrlichen Inventarstück von Soldaten und Studenten,

selbst Frauen waren ihr nicht abhold - allerdings weniger in den höheren Gesellschafts­

schichten. Man zeigte eine Vorliebe für schwere, teure Stoffe, die Lieblingsfarben der

Zeit waren scharlachrot, weichselrot und dunkelblau. Als das wohl wichtigste Kleidungs­

stück des Barocks galt die Perücke, die dauernd unter Puder gehalten werden mußte.

Die Reinlichkeit ließ selbst in den höchsten Kreisen viel zu wünschen übrig. Die öf­

fentlichen Bäder verschwanden vollständig, an privaten Badegelegenheiten herrschte

fast gänzlicher Mangel. So verwundert der verschwenderische Gebrauch aller Arten von

Parfüms, Haarsalben und wohlriechenden Schminken kaum.

A U F K L Ä R U N G Neben der höfischen Art des Absolutismus entfaltete sich

im 18. Jahrhundert im mittleren und östlichen Europa - und so vor allem in den größ­

ten deutschen Territorialgebieten Österreich und Brandenburg-Preußen - ein Abso­

lutismus, der im Zeichen der Aufklärung stand, einer Idee; die aus Frankreich nach

Deutschland gekommen war (Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Diderot). Aufklärung

sei, definierte der Philosoph Immanuel Kant,« der »Ausgang des Menschen aus seiner

selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Man vertraute auf die Kraft des Verstandes, hoffte

das Dunkel der Vorurteile, der Unmündigkeit und der Unwissenheit zu beseitige». Alle

bisher gültigen Ansichten über Religion, Staat, Gesellschaft und Wirtschaft wurden ei­

ner kritischen Prüfung unterzöge», der Mensch wurde aufgefordert, Mut zum Forschen

und zum Lernen, zu haben. Man sprach von der natürlichen Gleichheit der Menschen

und forderte Toleranz für die, die anders denke».

E R Z IE H U N G Größte Bedeutung maß die Aufklärung der Erziehung bei.

Rousseau stellte die programmatische These auf: »Alles ist gut, wie es aus den Händen

des Schöpfers der Dinge hervorgeht; alles verdirbt unter Menschen.« Von der Er­

ziehung erhoffte man also die Lösung aller sozialen, ethischen und wirtschaftlichen Pro­

bleme; im harmonisch ausgebildeten, tatkräftigen, selbstbewußten, geistig und kör­

Page 50: Historishe Landeskunde

perlich gleichermaßen erzogenen Menschen erblickte man das Idealbild der Zeit. Zu

seiner Ausbildung schuf man überall Schulen und Institute für Volksbildung und Volks­

aufklärung. Die bekanntesten deutschen Pädagogen waren die in Thüringen tätigen

Christian Gotthilf Sal^m ann und Johann Christoph Friedrich GutsMuths. Man erkannte

die Bedeutung der körperlichen Erziehung und der produktiven Arbeit der Schüler und

setzte sich für eine freiere Methodik des Unterrichts ein. Adolph Knigge beschrieb in

seinem Buch »Über den Umgang mit Menschen« vielbeachtete Verhaltensregeln. Die

Frauen wurden als Menschen anerkannt und gefördert, und die Erziehung sollte sich

auch auf die Herrscher erstrecken. Von der »Fürstenerziehung« erwartete man die Ver­

wirklichung des Ideals vom aufgeklärten Monarchen.

MERKANTILISMUS In der Wirtschaftspolitik hielten sich die Herrscher

des aufgeklärten Absolutismus an die Prinzipien des Merkantilismus. In dieser Theorie,

deren bekanntester Verfechter der Franzose Colbert war, wird die Volkswirtschaft als

ein rational lenkbares System aufgefaßt. Der Staat strebt nach wirtschaftlicher Autarkie,

beschränkt die E in fuhr auf das Notwendigste, vor allem auf die von den eigenen Ma­

nufakturen weiter zu verarbeitenden Rohstoffe. Fertigwaren für den eigenen Bedarf will

man möglichst im Land selbst herstellen, der Rest soll exportiert werden, damit durch

aktive Handelsbilanz Bargeld ins Land kommt. Die Bedeutung von Schutzzöllen und

Ausfuhrverbot für Rohmaterial und Grandnahrungsmittel nimmt stark zu. Durch die

hohen Einnahmen des Staates aus den wirtschaftlichen Gewinnen können die wachsen­

den Ausgaben für Heer und Beamtenschaft, für wirtschaftliche Eigenuntemehmen und

soziale Maßnahmen bestritten werden. Den größeren absolut regierten deutschen Staa­

ten (wie Bayern, Sachsen und Hannover) verhalf diese Politik zu einem ökonomischen

Erstarken^ am deutlichsten entfaltete sich das moderne Wirtschaftssystem, in Österreich

und Brandenburg-Preußen.

ÖSTERREICH NACH DER TÜRKENGEFAHR Habsburg verlor

zwar nach dem Dreißigjährigen Krieg die Vormachtstellung in Europa, konnte seine

Hausmacht aber unverändert stärken. Nach der Rückeroberung Wiens (1683) und

Page 51: Historishe Landeskunde

Ofens (1686) sowie dem endgültigen Zurückdrängen der Türken durch Prinz Eugen von

Savoyen (den »edlen Ritter«; Reiterstandbild vor der Budapester Nationalgalerie)

dehnte sich der Habsburgerstaat weiter aus. Mit dem Frieden zu Karlowitz 1699 wurde

anerkannt, daß die Habsburger Kaiser des Deutschen Reiches und Könige von Ungarn

waren. Österreich wurde - bei aller politischen Ohnmacht des Deutschen Reichs - zu

einer europäischen Großmacht, die Stadt Wien wurde immer größer und schöner; wich­

tige Adelsfamilien, wie die Esterhäzys, die Schwarzenbergs und die Lobkowitzs, bauten

sich prächtige Paläste in Wien, wo sie verschiedene hohe Ämter bekleideten. Der

sprichwörtliche Wiener Charme und die Wiener Gemütlichkeit entfalteten sich allmählich

M A R IA T H E R E S IA U N D JO S E P H H Um der inneren Spannungen in

ihrem Vielvölkerstaat Herr zu werden, führten die Habsburger im 18. Jahrhundert im

Geiste des aufgeklärten Absolutismus mehrere Reformen durch. Unter Maria Theresia

(1740-1780; 16 Kinder) und Joseph ü. (seit 1765 Kaiser und Mitregent, 1780-1790

Kaiser und König) wurden ein stehendes Heer, ein Staatsrat und eine einheitliche Ver­

waltung geschaffen (wodurch die Bedeutung der Selbstverwaltung wesentlich abnahm),

eine Schul- und Universitätsreform durchgeführt (einheitliche Schulbücher), die

Gleichheit vor dem Gesetz gesichert, die Binnenzölle beseitigt, die Errichtung von Ma­

nufakturen unterstützt, Wesentliches bei der Abschaffung der Leibeigenschaft der Bau­

ern geleistet, Kirchengüter und Klöster säkularisiert, die meisten Orden aufgehoben,

Rehgions- und Pressefreiheit gewährt (1781: Toleranzpatent) und Deutsch als einheitli­

che Verwaltungssprache eingeführt, was dem ungarischen Adel natürlich mißfiel. (1784

wurde eine Professur für deutsche Sprache an der Universität Pest für Alois Hoffinann

errichtet; es war der zweite Germanistiklehrstuhl der Welt - den ersten gab es in Wiea)

Vor allem unter Maria Theresia wurden in Gebieten Ungarns, die nach den Tür-

kenknegen entvölkert waren, Kolonisten, hauptsächlich Deutsche aus dem mittel- und

suddeutschen Raum, angesiedelt. Es sind die Ahnen der heutigen deutschen Minderheit

in Ungarn, deren Zahl auf etwa 200.000 geschätzt wird.

Page 52: Historishe Landeskunde

BRANDENBURG Das Kemgebiet des anderen mächtigen deutschen Staa­

tes der Epoche war Brandenburg. Im 11.-12. Jahrhundert erreichte die Ostexpansion

dieses seit der Völkerwanderung von Slawen bewohnte Gebiet östlich der Elbe. Die

zwei wichtigsten Städte - Berlin und Kölln an der Spree - wurden bereits von deut­

schen Kolonisten gegründet. Im 14.-15. Jahrhundert gab es in der Markgrafschaft be­

sonders viele Raubritter. Burggraf Friedrich Hohenzollern, der über weite Gebiete in

Schwaben und Franken verfügte und von König Sigismund mit dem Kurfürstentum be­

lehnt wurde, versprach nun, dem Raubrittertüm Einhalt zu gebieten. Er verstand es aber

zugleich, sich Adel, Junker und Städte zu unterwerfen. Im dreißigjährigen Krieg verbün­

dete sich Brandenburg, dessen Territorium fast von Anfang an Kriegsschauplatz war,

mal mit Schweden, mal mit dem Kaiser, mal blieb es neutral. Die Kriegsschäden und die

vielen Pestseuchen hatten zur Folge, daß das Land nach dem Westfälischen Frieden

dringend neue Bevölkerung brauchte, die vor allem aus Frankreich, Flandern und Hol­

land nach Brandenburg kam. Zu dieser Zeit verknüpfte sich die Geschichte Branden­

burgs endgültig mit der von Preußen.

PREUSSEN Nach dem Frieden von Thora fiel Westpreußen an Polen; Ost­

preußen blieb zwar Besitz des Deutschen Ritterordens, war jedoch zu Treueid und Hee­

resfolge gegenüber Polen verpflichtet. Der Ordensstaat wurde durch die Einführung der

Reformation 1525 in ein weltliches Herzogtum umgewandelt; Papst und Kaiser prote­

stierten vergebens. Im Jahre 1618 erwarb der brandenburgische Kurfürst das Gebiet von

Ostpreußen durch Erbfall. Von da an bestand das Herrschaftsgebiet der Kurfürsten von

Brandenburg aus zwei voneinander weit entfernten Territorien, aus Brandenburg und

Ostpreußen. Im 18. Jahrhundert ging die Bezeichnung Preußen auf alle - also nicht nur

auf die preußischen - Gebiete des Staates über. 1701 ließ sich Kurfürst Friedrich m.

mit Erlaubnis von Kaiser Leopold I. in Königsberg (heute: Kaliningrad, Sowjetunion)

zum »König in Preußen« krönen, nach der Aufteilung Polens führten die preußischen

Herrscher den Titel »König von Preußen«.

Page 53: Historishe Landeskunde

M ILITÄ RSTA A T Die wichtigste Rolle bei der Erweiterung der branden-

burgisch-preußischen Machtkonzentration spielte der »Große Kurfürst« Friedrich Wil­

helm I. (1640-1688). Er begünstigte den Adel, festigte die Leibeigenschaft der Bauern

und unterband die Herausbüdung eines städtischen Handelsbürgertums. Vor allem aber

schuf er ein stehendes Heer. »Alliancen seindt zwahr gutt«, schrieb er in seinem politi­

schen Testament, »aber eigene Krefte noch besser, darauff kan man sich sicherer verlas­

sen«. Diese Tendenz setzte sich unter seinen Nachfolgern fort, vor allem unter seinem

Enkel, dem »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. (Hobby: Sammlung »langer Kerls«),

dessen einziges Regierungsziel in der Erweiterung des Heeres bestand, in dem er den

Drill, das Prügelsystem und das Spießrutenlaufen einführte. Die preußischen Wer­

bemethoden waren berüchtigt: durch Weiber, Spiel, Alkohol, falsche Vorspielungen, ja

durch brutale Gewalt gewann man auch im Ausland Soldaten für das preußische Heer.

Unter Friedrich ü. umfaßte die Armee bereits 200.000 Mann und verschlang 85 Prozent

der Staatsausgaben. Unterordnung wurde in diesem starken, zentral verwalteten Mili­

tärstaat zur Hauptpflicht der Bürger und vor allem der Soldaten gemacht. »Überhaupt

muß der gemeine Soldat vor dem Offizier mehr Furcht als vor dem Feinde haben«, schrieb der Monarch.

F R IE D R IC H D E R G R O SSE Friedrich n . (1740-1786, Friedrich der

Große, im Volksmund: »der alte Fritz«, in Österreich sagte man: »fälschlich der

Große«) ist einer der umstrittensten Herrscher der deutschen Geschichte. Seiner ab­

solutistisch-militaristischen Regierungspraxis und einer skrupellosen Außenpolitik

(Beispiel: erste Teilung Polens) standen aufklärerische philosophische Gedanken ge­

genüber (er nannte sich »le philosophe de Sanssouci«), er war befreundet mit Voltaire,

spielte Flöte und komponierte Musik (seine Werke werden gelegentlich heute noch ge­

spielt). Er war bestrebt, der »erste Diener des Staates« zu sein (das steht sechsmal und

stets französisch in seinen Schriften) und alles »für das Volk, aber nicht durch das Volk«

geschehen zu lassen. Bürgern seines Staates, die zahlreiche private Manufakturen

(besonders für Textilien, Gold- und Silberwaren) gegründet hatten, sicherte Friedrich ü.

Page 54: Historishe Landeskunde

einen wirtschaftlichen Aufschwung, das allgemeine Lebensniveau stieg, die Bedrohung

durch Hungersnöte wurde durch die Einführung des Kartoffelanbaus gebannt, Handel

und Handwerk entwickelten sich, die Justiz funktionierte, Staatshaushalt und Finanzen

wurden streng kontrolliert. Alles zusammengenommen war Preußen unter Friedrich

aber »das sklavischste Land Europas« (Lessing): der »staatstreue Untertan« hatte zu

gehorchen; für Gefühle, Phantasie, Individualität gab es innerhalb der strengen Ord­

nung keinen Platz.

KÄM PFE ZW ISCHEN HOHENZOLLERN UN D HABSBUR­

GERN Das gesamte 18. Jahrhundert wurde von Hegemoniekämpfen europäischer

Großmächte geprägt, an denen sich nebst England und Frankreich auch die Dynastien

Hohenzollem und Habsburg wesentlich beteiligten. Es gab verschiedene Anlässe zu den

Auseinandersetzungen, wobei die Zusammensetzung der Bündnisse nur selten konstant

blieb. Zunächst kämpfte man um die spanische Erbfolge (1701 -1714), dann ging es um

die Annehmbarkeit der Pragmatischen Sanktioa Friedrich ü. war nur dann bereit, die

Kandidatur der Habsburger auf die Kaiserwürde zu unterstützen, wenn er von Öster­

reich das an Bodenschätzen reiche Schlesien bekäme. Nach dem ersten und zweiten

Schlesischen Krieg (1740-1742, 1744-1745) erreichte er auch dieses Ziel. Im Frieden

von Aachen (1748) wurden die Gültigkeit der Pragmatischen Sanktion und die Legi­

timität des bereits zum Kaiser gewählten Franz von Lothringen (Gemahl von Maria

Theresia) anerkannt. 1756 gingen die Kämpfe zwischen den beiden Herrscherhäusern

weiter. Friedrich überfiel, nun auch schon von England unterstützt, Sachsen. Die wech­

selvollen Ereignisse des Siebenjährigen Krieges 1756-1763 endeten mit dem Frieden

von Hubertusburg (bei Leipzig), in dem Preußen als neue Großmacht anerkannt wurde,

man bestätigte ihm den Besitz von Schlesien.

ROKOKO Die Haupteigenschaft des »galanten Zeitalters« Rokoko, das etwa

von 1730 bis zur französischen Revolution dauerte, war die Maßlosigkeit. Die Gebäude

wurden noch reicher verziert als im Barock. Die Krinoline machte den Damen das Ge­

hen unmöglich, man zog exotische Farben vor (Pistazie, Reseda, Flieder), Schönheits­

Page 55: Historishe Landeskunde

pflästerchen sollten die Regelmäßigkeit des Gesichts pikant unterbrechen, man trug

hohe Frisuren, die gelegentlich von den Kerzen der Lüster in Brand gesteckt wurden,

der Jahresverbrauch an Puder in Preußen mit 9 Millionen Einwohnern betrug etwa 91

Millionen Pfund. Die Feminisierung der Männermode erreichte ihren Höhepunkt, der

Bart verschwand völlig, dafür kam der Zopf in Mode. Die Liebe in der galt als ab­

surd, ja geschmacklos, die Ehepaare der guten Gesellschaft nannten sich auch zu Hause

»Madame« und »Monsieur«. Die Dame von Welt sollte mindestens einen Liebhaber

haben, und als höchste Auszeichnung galt, die Geliebte des Königs zu sein. Große Arti­

sten der Liebeskunst, wie Casanova und die Pompadour, wurden bekannt. Ein beson­

deres Interesse entfaltete sich für alles, was aus C hina kam. In den Gärten wurden Pa­

goden und Teehäuser errichtet, der Pfau erfreute sich einer großen Beliebtheit, und die

Porzellankunst eroberte Europa. Führend auf unserem Kontinent wurde die särhckrhg

Industrie. 1710 gründete der Hofalchimist von August dem Starken, Jo hann Friedrich

Böttcher, die Meißner Porzellanmanufaktur, die das elegante Publikum bis heute mit

schönem und praktischem Eßgeschirr versorgt (»die blauen Schwerter«).

Page 56: Historishe Landeskunde

10. Nach der französischen RevolutionDEUTSCHLAND BLEIBT ZU RÜ C K Am Ende des 18. Jahrhunderts

war Deutschland im Vergleich zu den führenden Staaten Europas sehr zurückgeblieben.

Der bedeutendste Produktionszweig war die Landwirtschaft, es gab keine Hauptstadt,

kein wirtschaftliches und politisches Zentrum. Zollschranken verhinderten die Entste­

hung einer einheitlichen Wirtschaft, noch immer herrschte die überholte mittelalterliche

Zunftverfassung. Die Keime kapitalistischer Produktionsweise waren immerhin schon

vorhanden mit Heimindustrie, Manufakturen, ersten Fabriken (Textilherstellung in

Sachsen) und nach wie vor funktionierenden Handelszentren (Leipzig, Frankfurt am

Main, Hamburg). Es kam zur ersten Anwendung von Maschinen, die aus England über­

nommen wurden: Dampfmaschine, Spinnmaschine, Webstuhl. Alles in allem glich die

Situation jedoch einer Sackgasse, nur von außen konnte Hilfe kommen. Die Nachricht

von dem Beginn der französischen Revolution 1789 - eingeleitet durch den Sturm auf

die Bastille, das Wahrzeichen des französischen Absolutismus - wirkte also wie ein

Aufruf.

REVOLUTIONSJAHR 1789 Die Ereignisse in Frankreich wurden von

vielen Teilen der Bevölkerung, vor allem von den Intellektuellen, leidenschaftlich be­

grüßt. Der junge Tieck schrieb, »Frankreich ist jetzt mein Gedanke Tag und Nacht - ist

Frankreich unglücklich, so verachte ich die ganze Welt«, und Klopstock wandte sich mit

dem Satz an seine Landsleute: »Frankreich schuf sich frei... und wir?« Es kam in ver­

schiedenen deutschen Einzelstaaten zu Volksbewegungen (1789 Empörungen in Baden

und in der Pfalz, 1790 Bauernaufstand in Sachsen), die aber aufgrund der ökonomischen

und politischen Verhältnisse und der daraus resultierenden Schwäche des Bürgertums

nicht in eine Revolution mündeten.

M AINZER REPUBLIK 1792 formierte sich unter Führung von Österreich

und Preußen eine europäische Koalition zur Bekämpfung der französischen Revolution.

Page 57: Historishe Landeskunde

Der Befehlshaber der Interventionsarmee, der Herzog von Braunschweig, drohte, Paris

dem Erdboden gleichzumachen, falls dem König oder seiner Family die kleinste Ge­

walttätigkeit zugefügt werde; auf französischer Seite meldeten sich 100.000 Freiwillige

zum Kampf. Im Herbst 1792 trafen beide Armeen bei Valmy zusammen. (Goethe, der

begeistert nach Frankreich mitzog, berichtet über seine Eindrücke in »Kampagne in

Frankreich«.) Die Franzosen siegten, gingen zu einem Gegenangriff über und rückten

bis Mainz vor. Dort entstand nach jakobinischem Muster eine »Gesellschaft deutscher

Freunde der Freiheit und Gleichheit«, geleitet vom Gelehrten und Schriftsteller Georg

Förster. Im Frühjahr 1793 wurde die Mainzer Republik, die erste bürgerliche Republik

auf deutschem Boden, ausgerufen, die die Aufhebung der Vorrechte des Adels und der

Geistlichkeit verkündete, nicht aber die Befreiung der Bauern von den feudalen Lasten.

Preußische Truppen eroberten Mainz im Juli 1793, und die feudale Ordnung wurde

wiederhergestellt.

ZERFA LL D E S HEILIGEN RÖM ISCHEN REICHES Wichtige

Schritte zum Ausbau des »Grand Empire« von Napoleon, der 1799 Erster Konsul, 1804

Kaiser wurde, waren der Sieg bei Austerlitz über Österreich und Rußland (1805) und

die Eroberung des linken Rheinufers und die Gründung des »Rheinbundes« (1806). Es

traten sechzehn süd- und westdeutsche Einzelstaaten (unter anderem die von Napoleon

zum Königreich erhobenen Bayern, Sachsen und Württemberg) aus dem Deutschen

Reich aus und vereinigten sich unter Napoleons Protektorat. D araufhin erklärte der

schon seit langem machtlose Habsburger Kaiser Franz ü . 1806 das

»reichsoberhauptliche Amt« für erloschen, das Heilige Römische Reich Deutscher Na­

tion löste sich endgültig auf. (Die Krone legte er schon zwei Jahre früher nieder; als

Franz I. ist er freilich Kaiser von Österreich und König von Ungarn geblieben.) Auch

der preußische Staat, der infolge seiner zwiespältigen Politik keine Unterstützung von

fremden Mächten erhielt und dessen Heere in der Doppelschlacht bei Jena und Auer-

städt (1806; Gedenkstätte in Cospeda bei Jena) eine vernichtende Niederlage erlitten

hatten, brach unter Napoleons Angriff zusammen. Es verlor im Tilsiter Frieden (1807)

Page 58: Historishe Landeskunde

die Hälfte seines Staatsgebietes und wurde nur auf Wunsch Rußlands erhalten. Da

F.ngland für Napoleon unangreifbar war, suchte er es durch wirtschaftliche Maßnahmen

zu bezwingen. Die Kontinentalsperre traf auch den kontinentaleuropäischen Handel

empfindlich, begünstigte aber durch die Abschnürung von der Konkurrenz die Entwick­

lung gewisser Wirtschaftszweige, wie der Textilindustrie in Sachsen sowie des Gruben-

und Hüttenwesens im Rheinland.

STEINSCHE REFO R M EN Um den zerschlagenen preußischen Staat wie­

der auf die Beine zu stellen, waren ein Umdenken und Reformen unerläßlich geworden.

Diese verknüpfen sich in erster Linie mit dem Namen von Ministerpräsident Freiherr

Karl vom und zum Stein und seinem Nachfolger Karl August von Hardenberg. Man hob

die Leibeigenschaft auf (Oktoberedikt 1807), führte die städtische Selbstverwaltung

(Städteordnung 1808) und die Gleichheit vor dem Gesetz ein und verkündete die

Gewerbefreiheit (Aufhebung des Zunftzwangs 1811). In der Heeresreform von Scham­

horst und Gneisenau wurden viele Adlige als Offiziere abgelöst, es konnten auch Bürger

Offiziere werden, man schuf das Söldnerwesen ab, und es wurde ein Volksheer mit bes­

serer Ausbildung und neuer Taktik, ohne Drill und Prügelstrafe aufgebaut. Man sah die

gllggmftinp. Wehrpflicht vor. Einer der Reformer war der Militärtheoretiker Clausewitz,

von dem die These stammt, Krieg sei eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit

Einmischung anderer Mittel. Im Zuge der Umgestaltung des Bildungswesens durch

Wilhelm von Humboldt erhielt 1810 endlich auch Berlin eine Universität. Viele der

preußischen Reformansätze blieben allerdings auf halbem Wege stecken; die

Teilnahme an der Gesetzgebung blieb den Bürgern weitgehend verwehrt.

R U S SL A N D F E L D Z U G Napoleons Große Armee (420.000 Mann, darunter

180.000 Deutsche) griff 1812 Rußland an. Die Taktik der russischen Truppen unter

Kutusow, der eine offene Feldschlacht vermied, dafür eher kleinere Gefechte und die

ständige Störung des Nachschubs vom Feind vorzog, sowie der Brand der besetzten

Hauptstadt Moskau zwangen Napoleon zum Rückzug. Sein Heer wurde zerrieben, es

kehrten nur 30.000 Menschen über den Fluß Beresina zurück. Im Verlauf der Kämpfe

Page 59: Historishe Landeskunde

hatte 1812 General Yorck (gegen den Willen des preußischen Königs) mit dem russi­

schen General Diebitsch die Konvention von Tauroggen abgeschlossen, der zufolge

preußische Truppen aus der napoleonischen Armee ausschieden. Das war ein wichtiger

Schritt bei der Bildung einer europäischen Koalition gegen Napoleon. Das geistige Le­

ben der Deutschen stellte sich in den Dienst der Befreiungsbewegung (vgl. die »Reden

an die deutsche Nation« des Philosophen Fichte und die Turngemeinschaften unter Ein­

fluß von »Turnvater« Friedrich Ludwig Jahn), literarische Werke propagierten die

Notwendigkeit des Kampfes. Es entstanden Freikorps gegen Napoleon, die bekannte­

sten waren die von Schill und Lützow.

N A PO LEO N S E N D E Die Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Ok­

tober 1813 besiegelte Napoleons Schicksal, seine Armee wurde von Preußen, Russen,

Schweden, Österreichern und anderen vernichtend geschlagen. Mit dem Ausein­

anderfallen des Rheinbundes und der Abdankung Napoleons nach der Kapitulation im

März 1814 in Paris endete diese von den Expansivbestrebungen der jungen französi­

schen Großbourgeoisie geprägte Periode europäischer Geschichte, in der die Klein­

staaterei in Deutschland teilweise beseitigt und der Weg zur kapitalistischen Produkti­

onsweise durch verschiedene bürgerliche Reformen geebnet wurde.

W EIM ARER KLASSIK In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielten

deutsche Künstler und Wissenschaftler eine führende Rolle im europäischen Geistes­

leben. Von den Ideen der Aufklärung ausgehend und die »edle Einfalt und stille

Größe« der griechischen Antike verherrlichend, schufen Johann Wolfgang Goethe

[1749-1832], Friedrich Schiller [1759-1805], Johann Gottfried Herder [1744-1803]

und andere großartige literarische Werke. Humanität, Selbstbeherrschung und Auf­

opferung, Einheit von Tun und Denken waren die wichtigsten Prinzipien, denen ihrer

Auffassung nach der Mensch zu entsprechen hatte. (Vgl. Goethe: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.«)

KLASSISCHE PH IL O SO PH IE Es waren in der gleichen Epoche auch

große Philosophen am Werk. Der Königsberger Professor Immanuel Kant [1724-1804]

Page 60: Historishe Landeskunde

schuf hauptsächlich mit seinen Büchern »Kritik der reinen Vernunft« (1781), »Kritik der

praktischen Vernunft« (1788) und »Kritik der Urteilskraft« (1790) ein umfassendes Sy­

stem, auf dessen Elemente (»Ding an sich«, »kategorischer Imperativ«, Fragen der

Pflicht und so weiter) sowohl bei allgemein theoretischen Ausführungen als auch bei

streng praxisbezogenen Überlegungen stets zurückgegriffen wird. Bei Georg Wilhelm

Friedrich Hegel [1770-1831] wirkte vor allem das überwältigend kohärente und ein­

heitliche Denkmodell (die dialektische Methode: Dreischritt von These, Antithese und

Synthese) nachhaltig auf die Philosophie der letzten anderthalb Jahrhunderte von Marx

bis zur christlichen Theologie. Weitere deutsche Philosophen des 18. und 19. Jahrhun­

derts wie Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Schelling und Ludwig Feuerbach

gehören ebenfalls zu den anerkannten Vertretern dieses Wissenschaftszweiges - die

Revolution, die in Deutschland unterblieb, scheint auf dem Gebiet des Geistes vollzo­

gen worden zu sein.

KLASSIZISMUS In der Baukunst orientierte man sich, ähnlich wie in der

Literatur, an den griechischen und römischen Mustern. Entgegen den weichlichen For­

men und der überladenen Prachtentfaltung des Rokoko herrschten strenge, gradlinige

Formen und sparsame Ausstattung, reine Maße und Proportionen, Überschaubarkeit

und Ordnung. Das Zentrum des Klassizismus lag in Preußen, die bekanntesten Baumei­

ster waren Carl Gottfried Langhaus (Brandenburger Tor), Friedrich Wilhelm Erd-

mannsdorf (Schloß in Wörlitz) und nicht zuletzt Karl Friedrich Schinkel, der Berlin

durch Stadtplanung und durch Bauten (das Alte Museum, die Nationalgalerie und die

Neue Wache) das Gepräge gab, das ihm den Beinamen »Spreeathen« eintrug. Christian

David Rauch war als Bildhauer von Bedeutung (Hauptwerk: Reiterdenkmal Friedrichs

des Großen), und Johann Gottfried Schadow machte sich durch Plastiken (zum Beispiel

die Quadriga mit Viktoria auf dem Brandenburger Tor) einen Namen; ihr bevorzugter

Werkstoff war der weiße Marmor. In der Malerei ist Wilhelm Tischbein zu nennen, des­

sen bekanntestes Gemälde den jungen »Goethe in der Campagna« darstellt.

Page 61: Historishe Landeskunde

im (1781), »Kritik der

^ ein umfassendes Sy-

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M OZART Das Zentrum des Musiklebens war Wen. Josepfc

[1732-1809], Wolfgang Amadeus Mozart [1756-1791], Ludwig van

[1770-1824] (»Wiener Klassiker«) und Franz Schubert [1797-1828] wirkten dort. M

Mozart bewunderten die Zeitgenossen nicht nur den äußerst produktiven Kompooisle*

für den »kein Auftrag zu groß oder zu klein war«, sondern auch den geschickten und

phantasiereichen Klavierspieler, der alles auf den ersten Blick meisterhaft spielen

konnte. Die vierzig Symphonien und das »Requiem« sind genauso berühmt geworden

wie die Opern »Figaros Hochzeit«, »Don Giovanni« und »Die Entführung aus dem

Serail«. In der »Zauberflöte« stehen zwei Weltanschauungen einander gegenüber, die

leidenschaftliche, dämonische Königin der Nacht und der sonnenklare Sarastro, der am

Ende den Sieg der Vernunft und des klaren Geistes über den Wahnsinn des Dämoni-

sehen verkündet - Trost für alle, die Tag für Tag das Gegenteü erleben müssen.

B E E T H O V E N »Beethoven hat die Weltstürme der Revolution in Tönen

nachgebüdet«, schrieb jemand nach dem Tod des in Bonn geborenen Komponisten. In

seinem reichen Schaffen pflegte Beethoven, der sich übrigens gern bei der Familie

Brunswick in Martonväsär (unweit von Budapest) aufhielt, verschiedene Formen, er

komponierte Sonaten (»Kreutzer-Sonate«), Streichquartette, eine Oper (die mit­

reißende Parabel von der Freiheit »Fidelio«) und neun Symphonien. Die bekanntesten

von diesen sind die dritte (»Eroica«, Napoleon als Vertreter des Freiheitsgeistes gewid­

met; als Napoleon sich zum Kaiser krönen ließ, soll Beethoven die Widmung voll Wut

zerrissen haben), die fünfte (»Schicksalssymphonie«), die sechste (»Pastorale«) und die

neunte nach Friedrich Schülers Ode »An die Freude«. Der Refrain »Alle Menschen

werden Brüder« drückt das innerste Glaubensbekenntnis des Komponisten aus.

R O M A N T IK In Deutschland stand Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts

die Wiege der Romantik, der Gegenbewegung zur rationalen Aufklärung und zur Klas­

sik. Goethe meinte, das Klassische sei das Gesunde, das Romantische das Kranke.

Wenn man die Klassik als Kunst der Vollkommenheit bezeichnet, so kann man die Ro­

mantik die Kunst der U nendlichkeit nennen. Sie proklamierte die absolute Freiheit und

Page 62: Historishe Landeskunde

bestritt die normsetzende Funktion der Vernunft. Der romantische Mensch betrieb

einen Ich-Kult, schätzte nichts höher als das Gefühl, wollte am Ganzen teilhaben und

die engen Grenzen von Zeit und Umwelt, in denen er stand, sprengen. Statt der kühlen

Größe bildeten nun Empfindung und Gefühl die Grundlage des künstlerischen Schaf­

fens, statt alte Muster zu bewundern, versenkte man sich in die Betrachtung der Natur.

Die Nacht, der Traum, die Musikalität wurden beliebte Motive der Literatur, und

hauptsächlich die Sehnsucht nach einem Ideal, das auf die Überwindung der Materie

durch den Geist abzielte. (Novalis sagte: »Die Welt ist kein Traum, aber sie soll und

wird vielleicht einer werden.«)

V O LK ALS Z E N T R A L B E G R IFF Die Romantiker erhoben das Volk, das

man sich als einen lebendigen Organismus vorstellte, zu einem zentralen Begriff. Man

sammelte Volkslieder (Clemens Brentano und Achim von Arnim: »Des Knaben

Wunderhom«) und Volksmärchen (Jakob und Wilhelm Grimm- »Kinder- und Haus­

märchen«), man studierte eifrig Eigenart, Lebensform, Geschichte und Sprache der

Völker. In diese Zeit fallen die Anfänge der wissenschaftlichen Germanistik (Brüder

Grimm) und der vergleichenden Sprachwissenschaft (Franz Bopp). Es prägte sich ein

Nationalgefühl heraus. Man versenkte sich gern in Geheimnisse einer vergangenen

Welt; allem voran entstand ein großes Interesse für das Mittelalter. Die Romantik hatte,

nicht zuletzt wegen ihrer Ablehnung der Demokratie (unklare Idee einer mittel­

alterlichen Kaiserherrlichkeit) und der Hinwendung zu geheimnisvollen Urgründen des

Lebens zum Teil zwiespältige Folgen (sie wurde zum Beispiel durch die Nazis aufgegrif­

fen), andererseits muß man aber auch sehen, daß sie bis heute jede Emeue-

rungsbestrebung in der Kunst nährt.

R O M A N T ISC H E MA L E R E I U N D M USIK Für die romantische Male­

rei, deren wichtigste Vertreter Caspar David Friedrich mit seinen stimmungsvollen

Landschaftsbildem und Philipp Otto Runge mit der Hlustration volkstümlicher literari­

scher Vorlagen waren, ist die eindringliche Symbolsprache, die Entdeckung des

menschlichen Schicksals in der Natur, eine überwältigende Verwendung der Färb-

Page 63: Historishe Landeskunde

kontraste charakteristisch. In der Musik war die Romantik langlebiger als in allen ande­

ren Kunstgattungen, sie erstreckte sich auf das gesamte 19. Jahrhundert und verhalf den

europäischen Nationen dazu, ihren besonderen eigenen Ton zu finden. Von den deut­

schen Komponisten zählt man so vorzügliche Musikanten zu dieser Stilnchtung wie

Franz Schubert, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Johannes Brahms, Robert Schumann

und Richard Strauss.

Page 64: Historishe Landeskunde

11. Der Weg zum NationalstaatWIENER KONGRESS Nach dem Sieg über Napoleon wurde das weitere

Schicksal Europas auf dem Wiener Kongreß 1814-1815 bestimmt. Die Hoffnungen

vieler Deutscher auf einen freien, einheitlichen Nationalstaat wurden nicht erfüllt, der

Kongreß brachte die Restauration der alten Mächte. England beherrschte die Meere,

Rußland, Österreich, Preußen, aber auch Frankreich teilten sich die Macht auf dem

Kontinent auf. 1815 gegründeten Preußen, Rußland und Österreich in Paris die Heilige

Allianz Dieser »Gendarm Europas«, dessen Symbol der österreichische Kanzler Kle­

mens Metternich wurde, sollte unter dem Deckmantel der Religion sämtliche fort­

schrittliche, liberale, nationale Bestrebungen in Europa unterdrücken. Die deutschen

Einzelstaaten gründeten 1815 den Deutschen Bund, einen nur äußerlichen und kraft­

losen Zusammenhalt, der aus 35 selbständigen Staaten und vier freien Städten bestand

und in dem die Vorherrschaft des Adels gewahrt blieb. Die Gesandten der Fürsten tra­

fen sich zu ständigen Beratungen im Bundestag in Frankfurt am Main; handlungsfähig

war der Bund nur in den seltenen Fällen, wenn die beiden immer deutlicher rivalisie­

renden Großmächte Preußen und Österreich übereinstimmten. Seine Hauptaufgabe sah

der Deutsche Bund in der Niederhaltung aller auf Einheit und Freiheit gerichteten

Bestrebungen. Der schwäbische Dichter Ludwig Uhland stellte fest: »Zermalmt habt ihr

die fremden Horden, / Doch innen hat sich nichts gehellt, / Und Freie seid ihr nicht

geworden.«

OPPOSmONSBEWEGUNGEN Die Restauration wirkte lähmend auf

die Deutschen; ihre aktive Beteiligung am öffentlichen Leben hielten die Mächtigen für

unerwünscht. Trotzdem verstärkte sich immer mehr eine neue, liberale Geisteshaltung,

man forderte Freiheit in Staat und Wirtschaft. Damit verknüpfte sich das Streben nach

einem einheitlichen Nationalstaat. Eine geschlossene Form nahm der Protest gegen

Restauration, Heilige Allianz und fortgesetzte Herrschaft der Feudalmächte in der Tä­

tigkeit der Burschenschaften an. Diese Bewegung nahm 1815 ihren Ausgang, als Studen­

Page 65: Historishe Landeskunde

ten und Professoren der Universität Jena die »Deutsche Burschenschaft« gründeten. Sie

verbreitete sich rasch, integrierte politisch recht unterschiedliche Gruppen

(republikanische, monarchistische, nationalistische und andere; einzelne traten sogar für

den individuellen Terror ein). Besonders deutlich wurden die Gegensätze zur staatli­

chen Ordnung auf dem Wartburgfest 1817, als sich Studenten aus ganz Deutschland in

Erinnerung an den Thesenanschlag Luthers 1517 und an die Völkerschlacht ver­

sammelten, um ein Bekenntnis zu Einheit und Freiheit abzulegen. Dabei verbrannten

sie auch Symbole der Reaktion (Zopf, Korporalstock) sowie für reaktionär gehaltene

Schriften.

K A R LSB A D ER B ESCH LÜ SSE Als der Schriftsteller August Kotzebue,

den man (wohl nicht zu Unrecht) für einen russischen Spion hielt, von einem Burschen­

schafter ermordet wurde, entfesselte sich die Reaktion. Metternich setzte 1819 mit den

Karlsbader Beschlüssen (Karlsbad = Karlovy Vary, CS FR) einen offenen Polizeiterror

durch, jedes freie politische Leben sollte unterdrückt, die Zensur wieder eingeführt, die

Burschenschaften verboten und die Universitäten unter Polizeiaufsicht gestellt werden.

Führende liberale wurden als »Demagogen« verfolgt

V O R M Ä R Z Nach der Julirevolution 1830 in Frankreich lockerte sich die

Unterdrückung zeitweilig. Auf dem Hambacher Fest 1832 wurden erneut Forderungen

nach Einheit und Freiheit laut. Der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersle­

ben besang den erhofften einheitlichen deutschen Staat im »Lied der Deutschen«

(»Deutschland, Deutschland über alles«). 1837 machte der Protest von sieben Göttinger

Professoren gegen die willkürliche Aufhebung der Verfassung durch den König von

Hannover von sich reden. Der König ließ sie mit der Bemerkung absetzen, Tänzerinnen

und Professoren finde man jederzeit, drei von ihnen wurden sogar des Landes verwie­

sen. Schriftsteller - Georg Büchner, Heinrich Heine, die Gruppe des »Jungen

Deutschland« - widmeten sich mit großer Schärfe sozialen Fragen. Gegenmaßnahmen,

beispielsweise die Erneuerung der Demagogenverfolgung, schränkten den Spielraum

der Progressiven jedoch immer wieder ein. Der norddeutsche Dichter Fritz Reuter, als

Page 66: Historishe Landeskunde

Demagoge selbst zum Tode verurteilt und später begnadigt, prägte den merkwürdigen

Satz: »Im Gefängnis wurden wir alle Demokraten.«

BIED ERM EIER Der Großteil der Bevölkerung zog sich währenddessen in

den privaten Bereich zurück. Die hausbackene Kunst des Biedermeier entsprach dieser

Haltung vollkommen. Kunst sollte Intimität, Schlichtheit, Klarheit, Gemütlichkeit her­

vorrufen, selbst die Innenarchitektur der Wohnungen, die Dekorationen auf Geschirr

und Tapeten, die Möbel aus hellem Holz hatten diesem Harmoniebedürfnis zu entspre­

chen. Die gute Stube kam in Mode, an ihren Wänden hingen Scherenschnitte. In der

Dichtung ist die Familie der wichtigste Handlungsraum; die Dichter entziehen sich gern

den großen Zeitfragen und widmen sich idyllischen, elegischen, manchmal leicht melan­

cholischen Bildern. Der Blick richtet sich auf die kleinen, bekannten Dinge, die uns das

Leben vertraut machen, auf die Erinnerungen an vergangene Zeiten. Naturliebe, Stille,

Zurückgezogenheit und Entsagung gehören zu den meistgepriesenen Eigenschaften.

ZOLLVEREIN Doch auf der Ebene der Wirtschaft und der Politik tat sich

Wichtiges. Seit 1819 traten liberal Denkende unter Leitung von Friedrich List in dem

»Allgemeinen deutschen Handels- und Gewerbeverein« gegen die Zollschranken und

für einen einheitlichen Markt ein. 1834 wurde unter Führung Preußens der »Deutsche

Zollverein« gegründet, in dem die Zölle untereinander beseitigt und gegenüber

Nichtmitgliedsländem gemeinsame Grenzzölle festgelegt wurden. Diese Organisation,

der in den folgenden Jahren die meisten deutschen Einzelstaaten beitraten, bedeutete

einen großen Fortschritt für die Herausbildung eines gemeinsamen Marktes und der

kapitalistischen Produktionsweise. Da Österreich dem Zollverein nicht angehörte, war

die Richtung zu einer möglichen späteren politischen Einigung ohne Österreich abge­

steckt.

INDUSTRIELLE REVOLUTION Das Deutschland nach dem Wiener

Kongreß war im wesentlichen immer noch ein Agrarland. In der Industrie überwogen

noch Heimarbeit und Manufakturen. Doch die industrielle Revolution hielt immer

deutlicher Einzug. Technische Neuerungen verbreiteten sich, es bildeten sich besonders

Page 67: Historishe Landeskunde

von den dreißiger Jahren an bedeutende Industriereviere heraus, zur Finanzierung

großer Aufgaben wurden Aktiengesellschaften gegründet. Der Ausbau der Ver­

kehrswege erlangte eine außerordentliche Rolle. Es wurden neue Verkehrsmittel ent­

wickelt. 1816 nahm man das erste Dampfschiff in Betrieb, 1835 wurde die erste, fünf

Kilometer lange Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth eröffnet; die erste

Langstrecke verband Leipzig und Dresden. Im Jahre 1875 betrug die Länge des Eisen­

bahnnetzes schon 27 930 Kilometer.

D IE SC H LESISC H EN W E B E R Mit der Beschleunigung der

Industrialisierung entstand die neue Klasse der Fabrikarbeiter. Sie fanden in der Indu­

strie zunächst bessere Verdienstmöglichkeiten, aber das rapide Bevölkerungswachstum

führte bald zu einem Überangebot von Arbeitskräften. Da zudem jede Sozialgesetzge­

bung fehlte, lebte die Masse der Fabrikarbeiter in großem Elend. Die Spannungen ent­

luden sich gewaltsam, wie beispielsweise 1844 beim Aufstand der schlesischen Weber.

Der Zorn dieser Heimarbeiter, die mit ihren niedrigen Löhnen noch ärmlicher lebten

als das übrige Proletariat, richtete sich immerhin noch weniger gegen ihre Ausbeuter,

als vielmehr gegen die Maschinen, in denen sie ihre Konkurrenten sahen. Der Aufstand,

durch preußisches Militär niedergeschlagen, rief ein nachhaltiges Echo hervor, vgl. das

»Weberlied« von Heinrich Heine, das Drama »Die Weber« von Gerhart Hauptmann

und Graphiken von Käthe Kollwitz.

A R B E IT E R B E W E G U N G Erste politische Organisationen der Arbeiter

entstanden bereits in den dreißiger Jahren, aber eine Arbeiterbewegung konnte sich nur

zögernd formieren. Einen qualitativ neuen Schritt bedeutete die Bildung des »Bundes

der Kommunisten« im Jahre 1847. Zum Programm der Partei wurde das von Karl Marx

[1818-1883] und Friedrich Engels [1820-1895] ausgearbeitete und 1848 heraus­

gegebene »Manifest der Kommunistischen Partei«. Die bisherige Geschichte sei von

Klassenkämpfen bestimmt worden, der letzte Kampf sei der zwischen Bourgeoisie und

Proletariat. Dazu müssen sich die Arbeiter zusammenschließen: »Proletarier aller Län­

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der, vereinigt euch!« Der Sieg des Proletariats werde eine Gesellschaft ohne Klassen

und ohne Privateigentum schaffen.

1848ER REVOLUTION Die Februarrevolution 1848 in Frankreich konnte

umso mehr als Auslöser einer Revolution in Deutschland wirken, als dieses mit erhebli­

chen wirtschaftlichen Schwierigkeiten rang. Die Revolution begann im Februar in Ba­

den, von wo sie auf andere Staaten Übergriff. Man stellte überall liberal-demokratische

und nationale Forderungen. In Wien verlangte man am 12. März in einer Petition an

den Kaiser Verfassung, Volksbewaffnung und die Absetzung Metternichs. Man erhielt

ausweichende Antworten, und Militär wurde zusammengezogen. Die darauffolgenden

Straßenkämpfe brachten den Sieg des Volkes, Metternich wurde gestürzt und floh ver­

kleidet nach E ngland. Die Völker des Habsburgerstaates erhoben sich. Große Erfolge

erzielten die Revolutionäre in Italien, Polen und vor allem Ungarn. In Berlin versprach

der König nach blutigen Barrikadenkämpfen am 18. und 19. März 1848, die Zensur auf­

zuheben und die politischen Forderungen des Volkes zu erfüllen.

FRANK FU RTER NATIONALVERSAMMLUNG Führende Liberale

kamen in Frankfurt am Main zusammen (Vorparlament) und bereiteten die Wahl einer

verfassungsgebenden Nationalversammlung vor. Am 18. Mai 1848 begannen die in all­

gemeinen, gleichen Wahlen gewählten Abgeordneten (soziale Zusammensetzung: in der

Mehrzahl Juristen, viele Professoren, Ärzte, Offiziere, Großgrundbesitzer; kein Arbeiter

und ein einziger Bauer) in der Frankfurter Paulskirche mit ihren Beratungen. Im März

1849 wurde die Reichsverfassung endlich fertig. Sie sah einen kleindeutschen Bundes­

staat (das heißt einen Staat ohne Österreich) vor, in dem die Regierung dem Parlament

verantwortlich sein sollte. An der Spitze des Bundes sollte ein Erbkaiser stehen. Für die

Würde wollte man Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gewinnen, doch der lehnte ab, an

der Krone würde, sagte er, der Ludergeruch der Revolution kleben. Die Kampfe zur

Durchsetzung der solchermaßen vereitelten Verfassung (unter anderem die

»Reichsverfassungkampagne« 1849 in Dresden) wurden, weil uneinheitlich und isoliert,

nacheinander von preußischen Truppen niedergeworfen, die untätige Na­

Page 69: Historishe Landeskunde

tionalversammlung vom württembergischen König auseinandergejagt. Im Sommer 1849

hatten die alten Mächte die revolutionäre Bewegung überall endgültig unterdrückt; ein

Jahr später wurde der Deutsche Bund wiederhergestellt.

»DU RCH EISEN UND BLUT« Die Revolution konnte die dringliche

Aufgabe der Gründung eines einheitlichen Nationalstaates nicht erfüllen. Nun wurde

das Problem durch das immer stärker werdende Preußen »von oben« gelöst. Die

Schlüsselfigur in diesem Prozeß war Otto von Bismarck. Er wurde 1862, als die Gefahr

eines erneuten Aufschwungs der nationalen Bewegung drohte, zum preußischen

Ministerpräsidenten berufen. Seinen Grundsatz formulierte er so: »Nicht durch Reden

und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der

Fehler von 1848 und 1849 gewesen -, sondern durch Eisen und Blut.« Jahrelang regierte

Bismarck ohne die nach der Verfassung erforderliche Genehmigung des Haushaltes

durch das Parlament Seine innenpolitisch prekäre Stellung konnte er durch außenpoli­

tische Erfolge festigen. Im Deutsch-Dänischen Krieg (1864) zwang Preußen gemeinsam

mit Österreich die Dänen zur Abtretung Schleswig-Holsteins, das sie zunächst gemein­

sam verwalteten. Bismarck betrieb jedoch die Annexion der beiden Herzogtümer und

steuerte den offenen Konflikt mit Österreich an.

KONIGGRATZ In der Schlacht bei Königgrätz (heute: Hradec Kralove,

CSFR) wurden die österreichischen Truppen 1866 vernichtend geschlagen. Es be­

währten sich das strategische Prinzip von Generalstabschef Helmuth Moltke »Getrennt

marschieren und vereint schlagen«, die bessere Ausbildung der Truppen, sowie die

technischen und organisatorischen Vorteile der Preußen: Fernmeldetechnik, Flammen­

werfer, Gasgranaten, motorisierte Einheiten. Während die Österreicher in weißem Bie­

dermeierfrack und hohem schwarzem Tschako auf dem Schlachtfeld erschienen, trugen

die Preußen Uniformen, die auf den Nahkampf ausgerichtet waren; während Waffen­

technik und Gesamtorganisation der österreichischen Armee seit Prinz Eugen im we­

sentlichen unverändert blieb, benutzten die preußischen Truppen moderne Hinterlader

und reisten mit der Eisenbahn an, so daß die Schlacht schon in den Morgenstunden, ehe

Page 70: Historishe Landeskunde

alle auf dem Schlachtfeld waren, beginnen konnte. Die Ȇberflutung Deutschlands

durch das Preußentum« wurde unvermeidlich, Preußen sicherte seine Hegemonie und

gründete den Norddeutschen Bund, dem Bismarck als Bundeskanzler Vorstand.

REICHSG RÜ N D U N G Die einzige europäische Großmacht, die die

Weiterführung von Bismarcks Einheitsplänen noch verhindern konnte und wollte, war

Frankreich. Es kam 1870-1871 zu einem von Bismarck provozierten Krieg, in dem die

Franzosen besiegt, zur Abtretung von Elsaß-Lothringen und zur Bezahlung hoher Repa­

rationssummen gezwungen wurden. In der patriotischen Begeisterung des Krieges

schlossen sich die süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund zum Deutschen

Reich zusammen. Zinn Kaiser des neuen Staates wurde am 18. Januar 1871 im Spiegel­

saal des Versailler Schloß der preußische König Wilhelm I. proklamiert. Der Großher­

zog von Baden brachte den ersten Hochruf auf seinen Schwiegervater aus. Das Volk war

an der Reichsgründung nicht beteiligt; nur eine Krankenschwester des Lazaretts, das

sich im Schloß befand, machte zufällig eine Tür auf und verirrte sich unter die fünfhun­

dert prominenten Gäste.

Page 71: Historishe Landeskunde

12. Die untergehende MonarchieÖSTERREICH NACH 1866 Österreich, das zwischen 1815 und 1848 noch

an der Spitze der europäischen Reaktion gestanden hatte, verlor in der zweiten Hälfte

des Jahrhunderts so rasch an Macht, daß es sogar im eigenen Reich Konzessionen ein-

gehen mußte. Der Ausgleich 1867 besiegelte die Entstehung der »Doppelmonarchie«

(österreichisch-ungarische Monarchie), die unter der Personalunion des Kaisers bezie­

hungsweise Königs praktisch aus zwei Staaten bestand: den Ländern der ungarischen

Krone (von Wien aus gesehen: Transleithanien; königlich) und den »im Reichsrat ver­

tretenen Ländern« (Zisleithanien; k. k. = kaiserlich-königlich). Es gab drei gemeinsame

(k. u. k. = kaiserlich und königlich) Ministerien: das Außenministerium, das Kriegs- und

Marineministerium und das F inanzm inisterium , wobei für die letzten beiden Ressorts

auch je ein österreichisches und ungarisches Ministerium existierte. In beiden Teilen der

Monarchie war die herrschende Nation (Deutschösterreicher beziehungsweise Magya­

ren) in der Minderheit. Man sprach zu Recht von einem »Absolutismus, gemildert durch

Schlamperei«.

F R A N Z JO SE PH Kaiser Franz Joseph I. (1848-1916) wurde - nebst der

Armee, die trotz Königgrätz nichts an Ansehen eingebüßt hatte - gleichsam zum Sym­

bol des Systems und zum Zusammenhalt für das zerfallende Staatsgebäude. Seine

Worte (»Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut« bei Protokollbesuchen, »Mir

bleibt nichts erspart« bei Familientragödien) wurden zitiert, Männer, ob Offizier, Por­

tier oder Fiakerkutscher, trugen einen Franz-Josephs-Bart, sein Bild hing an den Wän­

den des Vaterhauses, der Schule, der Kirche, der Kaserne - und der Gaststätte, wo es

gelegentlich (wie aus Haseks »Schwejk« bekannt) von Fliegen nicht verschont blieb.

Franz Joseph war ein Bürokrat mit Abneigung gegen alles Neue (Telefon, Zug, Wasser­

spülung), mit Angst vor Veränderung und mit eiserner Disziplin (Arbeitszeit von 5 bis

23 Uhr), der bei jedem Jubiläum pompös gefeiert wurde. Die Öffentlichkeit beschäftigte

sich eingehend mit dem Schicksal der kaiserlichen Familie, so etwa mit den ausge­

Page 72: Historishe Landeskunde

fallenen Hobbys (Reiten, Fotosammlung) der ungarnfreundlichen Kaiserin Elisabeth

(Sissy) und mit dem traurigen Ende ihres Sohnes Rudolf (ungeklärter Selbstmord in

Mayerling mit Mary Vetsera 1889). Kaum zwei Jahre nach dem Tod von Franz Joseph

zerfiel der Vielvölkerstaat der Habsburger unter Karl I. (als ungarischer König Karl IV.,

1916-1918).

»FRÖHLICHE APOKALYPSE« Bei aller politischen Paradoxie war in

der untergehenden Habsburgermonarchie eine außerordentliche kulturelle Blüte zu ver­

zeichnen. Hermann Broch nannte diese Jahrzehnte die »fröhliche Apokalypse«. Zu die­

ser Zeit entstand das heutige Stadtbild von Wien und Budapest; »Kakanien« (Robert

Musil) brachte bedeutende kulturelle Leistungen zustande, so etwa die Psychoanalyse

von Sigmund Freud (Hauptwerk: »Die Traumdeutung«, 1895); die Studie »Geschlecht

und Charakter« Otto Weiningers und die Sprachphilosophie von Ludwig Wittgenstein.

Die Friedenskämpferin Bertha von Suttner wirkte in Österreich. Auf musikalischem

Gebiet war Wien - vor allem mit Johann Strauß Sohn, der »geigte, während die Welt

brannte« - die Wiege der typischen k. u. k.-Gattung Operette, aber auch die Wirkungs­

stätte von Anton Bruckner, Gustav Mahler, Anton Webern, Alban Berg und Arnold

Schönberg (Zwölftontechnik), denen eine definitive Rolle in der neueren Musikge­

schichte zukommt. Das Theaterwesen erlebte eine Blütezeit. Es wurden von Arthur

Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus und anderen bedeutende literarische

Werke geschaffen; Hans Makart gehörte zu den bedeutendsten Malern. Die Kultur der

untergehenden Monarchie war von den Wechselwirkungen mit anderen Teilen des

Habsburgerstaates geprägt, es gibt - von den Lehnwörtern über Küche, Operette und

Militär bis hin zu der fast normierten Bauweise der Bahnhöfe im ganzen Staatsgebiet -

zahlreiche Parallelen, Ähnlichkeiten und direkte Beziehungen.

Page 73: Historishe Landeskunde

13. Deutsches ReichG R Ü N D E R JA H R E Das neugeschaffene Deutsche Reich, das also nicht

durch Volksbeschluß, »von unten«, sondern durch Fürstenvertrag, »von oben«, zustande

kam, war ein Bundesstaat aus 22 Einzelstaaten, in dem das Übergewicht von Preußen

erdrückend war. Reichskanzler des Deutschen Reiches wurde Bismarck. In schneller

Folge hat man nun die noch für die kapitalistische Entwicklung vorhandenen Hemm­

nisse beseitigt (Vereinheitlichung von Maßen, Währungen und Gesetzen). Statt des

Freihandels ging Bismarck bald zum Schutzzoll über, der die deutsche Industrie vor

ausländischer Konkurrenz schützen sollte. Es wurden Finanz- und Verwaltungsreformen

durchgeführt. Die wirtschaftlichen Fortschritte wurden durch die nach dem Deutsch-

Französischen Krieg erfolgte Abtretung Elsaß-Lothringens an Deutschland

(Erzbergwerke) und die hohen Reparationszahlungen Frankreichs an Deutschland

(etwa fünf Milliarden Goldmark) begünstigt. Es wurden ab 1870 rasch viele neue Fabri­

ken und Anlagen (vor allem in der Schwerindustrie), Aktiengesellschaften und Banken

gegründet (Gründeijahre). Bereits 1873 trat eine erste Überproduktionskrise ein (Grün­

derkrach mit Konkursen und Schließungen). Dessen ungeachtet war Deutschland be­

reits einer der wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt.

TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE ENTW ICKLUNG Im zwei­

ten Drittel des 19. Jahrhunderts beendete sich die erste Etappe der industriellen Re­

volution. Die Dampfmaschine war weit verbreitet, in der Schwerindustrie entstanden -

vor allem dank dem Bessemer- und dem Siemens-Martin-Verfahren zur Stahlher­

stellung - wichtige neue Industriezweige. Die Errichtung von Großbetrieben begann

(zum Beispiel Waffenfabrik Krupp in Essen; die Badische Anilin- und Sodafabrik -

BASF - in Ludwigshafen; mehrere Farbenfabriken, aus denen in den zwanziger Jahren

des 20. Jahrhunderts der Chemiekonzem IG Farbenindustrie AG entstand), das Ver­

kehrsnetz wurde ständig ausgebaut, Banken waren den Industriellen bei Investitionen

behilflich. Auch die landwirtschaftliche Produktion machte große Fortschritte, nicht zu­

Page 74: Historishe Landeskunde

letzt dank der Einführung des Dampfpflugs und der von Justus Liebig erfundenen

künstlichen Düngung. Justus Liebig legte den Grundstein für die chemische Industrie,

aus seiner Schule gingen 42 Nobelpreisträger hervor. Die Entstehung des einheitlichen

deutschen Staates beseitigte nun die letzten Hemmnisse für die Entwicklung der Wirt­

schaft. Es bildete sich ein nationaler Markt heraus, dessen Pfeiler die starke Währung,

die Einführung des metrischen Systems und der Markenschutz waren.

ERFIN DU NG EN Auf dem Gebiet der Naturwissenschaften übernahmen die

Deutschen im m e r mehr die führende Rolle in Europa. Der Mathematiker Gauß und die

Physiker Ohm und Möbius leiteten schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts re­

volutionäre Veränderungen ein, das Gesetz von der Erhaltung und Umwandlung der

Energie (von Robert Meyer erkannt und von Helmholtz formuliert) und die von Bunsen

und Kirchhoff erfundene Spektralanalyse eröffneten neue Dimensionen für die For­

schung. Zahlreiche Forschungsergebnisse konnten unmittelbar in die Praxis umgesetzt

werden. Carl Zeiss und Ernst Abbe gründeten in Jena eine Hochburg der optischen In­

dustrie, Siemens deckte Möglichkeiten der praktischen Einsetzung der Dynamoma­

schine auf und konstruierte eine Elektrolokomotive. Im Jahre 1885 stellte Carl Benz in

Mannheim das erste Automobil fahrbereit, das - dank dem Otto-Motor (1876), dem

Diesel-Motor (1897) und anderen Erfindungen - immer effektiver wurde. Der Mensch

hob sich sogar in die Luft, Otto Lilienthal führte vielversprechende Experimente mit

selbstgebauten Flügelapparaten durch, Graf Zeppelin präsentierte 1900 ein lenkbares

Luftschiff, und Hugo Junkers führte (kaum einige Jahre nach dem Flug der Gebrüder

Wright) die Ganzmetallbauweise für Flugzeuge ein.

RÖNTGEN & CO. Es wirkten in dieser Epoche große Mediziner, wie der

Sozialhygieniker Rudolf Virchow, der Entdecker des Tuberkelbazillus Robert Koch,

F.mil Behring, der das Heilserum gegen Diphtherie und Wundstarrkrampf erfand, der

Begründer der modernen Chemotherapie Paul Ehrlich und nicht zuletzt der erste No­

belpreisträger für Physik, der Würzburger Professor Conrad Röntgen, aus dessen Na­

men im Laufe der Zeit sogar ein Verb gebildet wurde: röntgen, röntgte, hat geröntgt.

Page 75: Historishe Landeskunde

Die Technik hielt Einzug ins Privathaus; durch Elektrizität, Nähmaschine, Bügeleisen,

Telefon veränderten sich die Lebensgewohnheiten der Menschen grundsätzlich.

K U LT U R K A M PF Bismarcks Innenpolitik ermöglichte den Bürgern keine

verantwortliche Mitarbeit am Staat. Sie sollten nach der preußischen Tradition dienen

und verdienen und wurden von der Obrigkeit mit »Zuckerbrot und Peitsche« behandelt.

Die Regierung war bemüht, Änderungen nur von oben zu vollziehen, ging dafür umso

härter gegen jede oppositionelle Bewegung vor, die gleich als reichsfeindlich eingestuft

wurde. Zur Einschränkung der Macht des Katholizismus und seiner Zentrumspartei in­

szenierte Bismarck in der ersten Hälfte der siebziger Jahre den sogenannten

»Kulturkampf«. Es sollten von der Kanzel keine Angriffe gegen den Staat erlaubt wer­

den, der Jesuitenorden wurde verboten, die Schulaufsicht ging von der Kirche auf den

Staat über, es wurde ein Gesetz über die alleinige Gültigkeit der Zivilehe verabschiedet.

Der Versuch, den Einfluß des politischen Katholizismus zu vermindern, war jedoch

kaum von Erfolg gekrönt, ebenso wie von der zweiten Hälfte der siebziger Jahre an die

Bemühung, die Arbeiterbewegung zu unterdrücken.

LASS ALLE AN E R UND EISENACHER Der wirtschaftliche Auf­

schwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begünstigte die Entstehung von

Arbeiterbildungsvereinen, die jedoch keine politischen Ziele verfolgten. Der 1863 von

Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein lehnte beispiels­

weise den Klassenkampf und die Revolution ab, wollte mit Produktivgenossenschaften

der Arbeiter in den Sozialismus hinüberwachsen, lehnte die Bauern - »reaktionäre

Masse« - als Bündnispartner ab. Als eine Gegenbewegung entstand unter dem Einfluß

von Karl Marx (1867: »Das Kapital«), Friedrich Engels und der Ersten Internationale

1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (Führer: Wil­

helm Liebknecht und August Bebel). 1875 schlossen sich auf dem Vereinigungskongreß

in Gotha die Lassalleaner und die Eisenacher zur Sozialistischen Arbeiterpartei

Deutschlands zusammen.

Page 76: Historishe Landeskunde

SO ZIA L IST E N G E SE T Z Mit dem 1878 beschlossenen Sozialistengesetz

versuchte nun Bismarck, der erstarkten Arbeiterbewegung Paroli zu bieten. Die Ar­

beiter sollten durch eine umfassende und in vielerlei Hinsicht vorbildliche Sozial­

versicherung (Unfalls-, Alters-, Krankheits- und Invaliditätsversicherung) an den Staat

gebunden und von der politischen Aktivität abgehalten werden. Die sozialistische Par­

tei, Gewerkschaften, Vereine, Versammlungen und die Herausgabe von

Druckerzeugnissen wurden verboten. Aber die Arbeiter vereinigten sich in illegalen

oder durch andere Namen getarnten Organisationen, der Widerstand gegen das Gesetz

wuchs, in den Reichstag wurden sogar mehr sozialdemokratische (Einzel-) Abgeordnete

als zuvor gewählt. Das Sozialistengesetz war zum Scheitern verurteilt. Bald nachdem die

Partei 1890 unter dem heute noch geführten Namen Sozialdemokratische Partei

Deutschlands wiedergegründet worden war, fing allerdings der Kampf zwischen den

Richtungen Revisionismus, Zentrismus, Linke an.

BISMARCKS AUSSENPOLITTK Im klaren Gegensatz zu der um­

strittenen und nur teilweise erfolgreichen Innenpolitik Bismarcks stehen seine konse­

quenten und weitsichtigen Bemühungen um die Bewahrung des in Europa nach 1871

entstandenen Status quo. Er wußte, daß für das Deutsche Reich jede Machtver­

schiebung gefährlich werden konnte, versuchte daher vor allem Frankreich von sämtli­

chen potentiellen Bündnispartnern femzuhalten. Das Ausbalancieren der Gegensätze

gelang ihm m it einem komplizierten, stets neue Akzente erhaltenden europäischen

Bündnissystem, dessen wichtigste Pfeiler der Berliner Kongreß (1878), der Zweibund

mit Österreich-Ungarn (1879), das Dreikaiserbündnis (1881), der Dreibund unter Ein­

beziehung Italiens (1882) und der Rückversicherungsvertrag mit Rußland (1887) waren.

Expansive Bestrebungen Deutschlands ließ der Reichskanzler nur außerhalb Europas

gelten (erste deutsche Kolonien in Afrika in den achtziger Jahren), und nur sofern sie

nicht mit Gefahren für das europäische Gleichgewicht verbunden waren.

GROSSE STILISTEN Während die deutsche Literatur in der zweiten Hälfte

des 19. Jahrhunderts ziemlich blaß ist, melden sich Männer mit überragendem Stilgefühl

Page 77: Historishe Landeskunde

auf benachbarten Gebieten. Der Autodidakt Heinrich Schliemann berichtet über seine

Abenteuer mit der antiken Welt, Alfred Brehm erzählt spannend über die Geheimnisse

der Tierwelt, Karl May über die Welt der Indianer, wo Freiheit und Toleranz herrschen,

Wilhelm Busch verknüpft witzige Zeichnungen mit nicht weniger witzigen Reimereien

(»Max und Moritz«). Große Stilkünstler waren auch der Philosoph des Weltschmerzes

Arthur Schopenhauer [1788-1860] (Hauptwerk: »Die Welt als Wille und Vorstellung«,

1819) und Friedrich Nietzsche [1844-1900], dessen Bedeutung darin liegt, daß er alle

bisherigen Werte umwertete. Grundbegriffe seiner Philosophie sind »der Tod Gottes«,

das heißt die Begründung aller Werte im Menschen und der Verantwortung für das ei­

gene Leben, »der Wille zur Macht«, das ständige Selbstübertreffen, und »der Über­

mensch«, das heißt derjenige, der die Aufgabe dieses ständigen Selbstübertreffens auf

sich nim m t Nietzsche ist, obwohl seine Lehren schwer mißbraucht wurden, vor allem

mit seinem Hauptwerk »Also sprach Zarathustra« (1883 — 1885) eine der Schlüssel­

figuren des modernen europäischen Denkens.

W AGNER Der überragende, wenn auch recht umstrittene Musiker der Zeit

war Richard Wagner [1813-1883]. Die Oper war, so meinte er, so entwürdfgt worden,

daß sie einen neuen Stil brauchte, um neue, tiefe Gedanken zu vermitteln. Wagner

schrieb nun nicht nur die Musik, sondern auch den Text zu seinen Opern, die er Musik­

dramen nannte, sie sollten philosophische, religiöse Gedanken vermitteln, ein

Gesamtkunstwerk darstellen. Durch die Werke führt den Zuschauer jeweils ein Leit­

motiv, das die Situationen und die Helden erkennen läßt und am Höhepunkt der

Handlung verschwindet. Die Stoffe entnahm Wagner (ähnlich wie die Romantiker) mit

Vorliebe der germanischen Vergangenheit. Seine bekanntesten Werke sind »Der Flie­

gende Holländer«, »Tannhäuser«, »Lohengrin«, »Tristan und Isolde« sowie die Tetralo­

gie »Der Ring des Nibelungen« (»Rheingold«, »Walküre«, »Siegfried« und

»Götterdämmerung«), In Bayreuth ließ Wagner (unterstützt von Bayemkönig Ludwig

ü.) ein Festspielhaus zur Inszenierung seiner Musikdramen errichten; die jährlichen

Page 78: Historishe Landeskunde

Festspiele, die Wagners Nachfahren immer noch in den Händen halten, locken Tau­

sende in die sonst langweilige Stadt.

G R O SSSTA D T Die mittelalterliche Parole »Stadtluft macht frei« schien um

die Jahrhundertwende eine neuartige Gültigkeit zu erlangen, die Menschen zogen mas­

senweise in die Städte (Landflucht). Besonders die Großstädte verzeichneten riesige

Zunahmen. In Wien beispielsweise, das im Jahre 1800 231.050 Einwohner gehabt hatte,

lebten 1890 bereits 1.364.548, 1910 gar 2.030.000 Menschen. Die rapide Urbanisierung

zog selbstverständlich nicht nur positive Folgen nach sich, viele Denker prangerten die

entfremdete, unpersönliche Welt der Metropolen an. Auch sie mußten aber zugeben,

daß im Stadtmilieu Kunst und Literatur gedeihen, Zeitschriften eine zunehmende Be­

deutung erlangen und das Verlagswesen blüht. Zu den traditionsreichen alten Verlagen,

die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Reclam) oder noch früher (Cotta)

gegründet wurden, stießen zu dieser Zeit zahlreiche Neugründungen: Insel, Langen, S.

Fischer, Rowohlt. Der vorzüglich organisierte Buchhandel (»Börsenverein der Deut­

schen Buchhändler« seit 1825) spielte international eine führende Rolle, Deutsch wurde

weltweit eine wichtige Bildungssprache. Es vollzog sich mit dem Aussprachewörterbuch

von Theodor Siebs (»Deutsche Bühnensprache«, 1898) und der Arbeit von Konrad Du­

den (»Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache«, 1880) auch

in der Sprache die Normsetzung.

N A T U R L IE B E Um die Jahrhundertwende verschärfte sich der Kampf um

die Gleichberechtigung der Frauen. Sie gründeten Vereine, setzten sich für das Wahl­

recht und für die Einführung des Frauenstudiums ein. Die konventionellen moralischen

Vorschriften lockerten sich, die Jugend tat, vom Radfahren angefangen, alles, was sich

für eine Frau eigentlich nicht gehörte. Der Sinn für die Natur erwachte wieder, die tra­

ditionelle Vorliebe der Deutschen für das Wandern (»Das Wandern ist des Müllers

Lust«) kulminierte. Junge Menschen schlossen sich in der Selbsterziehungsbewegung

der »Wandervögel« zusammen.

Page 79: Historishe Landeskunde

NATURALISMUS In der Kunstszene dominierte zwischen 1880 und 1900

der vor allem auf der wissenschaftlichen Richtung des Positivismus und der Vererbungs­

lehre Mendels basierende Naturalismus, dessen größter Vertreter in Frankreich fimile

Zola war. Die Poetik dieser Kunstrichtung verlangte absolute Objektivität bei der

Darstellung. »Die Kunst hat die Tendenz, weder die Natur zu sein«, sagte Arno Holz.

Der Dichter soll die Welt, das Milieu mit der Genauigkeit und der Kälte eines Wissen­

schaftlers darstellen, photographieren. Die dargestellten Menschen kommen meist aus

der untersten sozialen Schicht, es sind Proletarier, Elende, die an ihre Situation gebun­

den sind, die keine Hoffnung haben, sich davon zu befreien. Oft sind sie nur Typen,

Symbole für das Milieu, zu dem sie gehören. Der Naturalismus wurde in erster Linie in

der Literatur angewandt, zum Beispiel in den Dramen Gerhart Hauptmanns (»Vor

Sonnenaufgang«, »Der Biberpelz«) und in der Lyrik von Amo Holz.

JU G E N D ST IL Die vielleicht wichtigste Gegenströmung des Naturalismus war

der Jugendstil, der in Österreich »Sezession«, in Frankreich »Art Nouveau« hieß. Seine

Vertreter bevorzugten gegenüber der industriellen Massenherstellung von Waren die

handwerkliche Produktion, das Dekorative, eine Stilisierung der Zeichnung, die sich mit

Eleganz und Leichte entwickelt, neue Farben, die mit Nuancierungen sowie mit Gold

und Silber arbeiten. Die Gegenstände sollten einen persönlichen, dem Menschen und

seiner Umgebung nicht entfremdeten Charakter tragen. In der Architektur spielte das

Schmiedeeisen eine wichtige dekorative Rolle (Wendeltreppen und Geländer), und

auch die Goldschmiedekunst erlebte eine Blüte. Kostbare Buchausgaben trugen die ele­

ganten, blumenartigen Dekorationen; die Gebrauchsgraphik (zum Beispiel Plakate, Ti­

telblätter von Büchern) wurde aufgewertet. Zu den bedeutendsten Jugendstilmalera

zählen Gustav Klimt (»Der Kuß«) und Heinrich Vogeler; in der Baukunst ist haupt­

sächlich der Wiener Otto Wagner zu nennen. In Deutschland lag die Hauptwirkungs­

stätte des belgischen Innenarchitekten Henry van de Velde.

K U N ST R IC H T U N G E N Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhundert blühten

auch diverse weitere Kunstrichtungen auf. In der Neuromantik wurde die Phantasie und

Page 80: Historishe Landeskunde

das Übersinnliche betont und ein Schönheitskult gepflegt. Der Impressionismus baute

auf optische Eindrücke von der Oberfläche der Dinge, auf hinreißende Farbigkeit, auf

flirrendes Licht. Der Symbolismus (wichtigste Maler: Anselm Feuerbach, Arnold Böck-

lin) zielte auf Konzentration und versuchte einen hintergründigen Zusammenhang zwi­

schen alles Seiendem herzustellen. Vertreter der Heimatkunst, die ihre direkte Fort­

setzung in der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ästhetik fand, verherrlichten

bodenständiges Stammestum und heimatliche Scholle.

Page 81: Historishe Landeskunde

• •

14. Wilhelminische AraW ILH ELM II. Der letzte Kaiser des Deutschen Reiches, Wilhelm ü.

(1888-1918), wollte selbst regieren und entließ Bismarck im Jahre 1890. Reden und

Handeln dieses Mannes mit dem aufgezwirbelten Schnurrbart, der sich gern als Volks­

kaiser bezeichnete, seine regressive Innenpolitik, sein Übergang zur »Weltpolitik« ent­

sprachen genau den Vorstellungen des immer hungriger werdenden, die Neuaufteilung

der Welt fordernden deutschen Imperialismus. Im Zeichen der Parole »Platz an der

Sonne« begnügte man sich nicht mit dem bisher eroberten Kolonialbesitz, sondern

strebte offen Rohstoffquellen und Absatzmärkte an, die bereits von anderen Mächten

(vor allem Frankreich und England) in Besitz genommen worden waren. Zur theo­

retischen Begründung dieser Forderungen trugen neben Schulen, Hochschulen (immer

reaktionärer werdende Studentenverbindungen) und Presse ideologisch gefärbte Or­

ganisationen (Deutsche Kolonialgesellschaft, Deutscher Flottenverein und so weiter)

bei, Kinder »aus gutem Hause« trugen von der Zeit an Matrosenkleidung. Den Deut­

schen wurde ein Sendungsbewußtsein propagiert: Ihr Volk sei besser als die anderen

und solle seine Lebensform in der Welt verbreiten.

M ILITA RISM U S Der Militarismus, ohnehin große Traditionen in Preußen

und anderen deutschen Staaten aufweisend, griff immer mehr um sich. In fast jeder Le­

benslage herrschte der militärische Ton vor. Ausländer berichteten über die soldatische

Haltung der Briefträger und selbst der Straßenarbeiter in Berlin, man erzählte, daß die

Polizei Aufständische auf den Wegen eines Parks abfing, weil diesen nicht einfiel, quer

über die Rasenfläche zu fliehen. Es war die Parodie des deutschen Kaiserreiches, als

1906 ein vorbestrafter Schuhmacher sich als Hauptmann verkleidete und auf der Straße

einige Soldaten anhielt, mit ihnen ins Rathaus von Köpenick (Vorort von Berlin) mar­

schierte und sich die Stadtkasse aushändigen ließ (»Der Hauptmann von Köpenick«).

Page 82: Historishe Landeskunde

M Ä C H T E G R U P P IE R U N G E N Die Angst Bismarcks vor einem Zweifron­

tenkrieg beeinflußte die Lenker der deutschen Außenpolitik der neunziger Jahre nicht.

Obwohl Rußland bereits 1892 eine Militärkonvention, 1894 ein förmliches Bündnis mit

Frankreich schloß, wurde in Berlin behauptet, die Annäherung sei nicht gefährlich für

Deutschland, solange sich England den beiden Staaten, mit denen es erhebliche

Kolonialstreitigkeiten hatte, nicht anschließe. Als England jedoch während des Bu­

renkrieges (1899-1902) vergeblich versucht hatte, ein Bündnis mit Deutschland abzu­

schließen, begann es mit Frankreich zu verhandeln. Im Jahre 1904 entstand die Entente

cordiale, die die streitigen Fragen zwischen den beiden Ländern regelte. 1907 wurde das

Bündnis mit dem Beitritt Rußlands (trotz seiner unverändert bestehenden Gegensätze

mit England) zur Triple-Entente erweitert. Dieser großen Mächtegruppierung stand der

1882 gegründete Dreibund mit Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien gegenüber,

wobei Italien nur noch formell zum Bund gehörte, schloß es doch beispielsweise bereits

1902 einen Rückversicherungsvertrag mit Frankreich.

K Ä M PFE U M D IE N E U A U F T E IL U N G D E R W ELT Von der Jahr­

hundertwende an wurden mehrere kleine Kriege zur Neuaufteilung der Welt ausgetra­

gen, die Spannungen zwischen den Großmächten verschärften sich. Deutschland ero­

berte neue Kolonien in Afrika, unterdrückte den Herero- und Hottentottenaufstand

(1904-1907), versuchte mit Erfolg im Fernen Osten Fuß zu fassen (Kolonien in Phina

1897, Strafexpedition gegen den Boxeraufctand 1900). Die Hauptrichtung der deutschen

Expansion dieser Jahre war der Nahe Osten. Die Türkei wurde durch den Bau der 5000

km langen Bagdadbahn zur deutschen Halbkolonie, was vor allem Englands Interessen

empfindlich berührte. Österreich aktivierte sich auf dem Balkan, was nicht selten Inter­

essen Rußlands verletzte. Die Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich spitz­

ten sich 1905 und 1911 in den beiden Marokkokrisen zu, wo es um den Einfluß im erz­

reichen Sultanat ging. Deutschland setzte die Aufrüstung in einem atemberaubenden

Tempo fort (seine Ausgaben für Armee und Flotte stiegen von 938 Millionen Mark im

Page 83: Historishe Landeskunde

Jahre 1905 auf 3244 Millionen im Jahre 1914), die anderen Großmächte zogen mit.

Zum Weltenbrand war nur noch ein Funke nötig.

SARAJEW O UND D IE FOLGEN Am 28. Juni 1914 wurde in Sarajewo,

der Hauptstadt des von der Monarchie annektierten Bosnien, der österreichisch-unga­

rische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ermordet Die blutige Tat, die offen­

sichtlich vom benachbarten Serbien aus gelenkt wurde, bildete für Österreich-Ungarn

den Anlaß zur Ausschaltung Serbiens als politischem Machtfaktor auf dem Balkan. Kai­

ser Franz Joseph gewann für das Vorgehen gegen den serbischen Staat die volle Unter­

stützung Deutschlands. Am 23. Juli stellte er ein scharfes Ultimatum an Serbien, das auf

fast alle Forderungen einging, nur die Teilnahme österreichischer Beamter an den Un­

tersuchungen ablehnte, die einen Eingriff in seine Souveränitätsrechte bedeutet hätte.

Daraufhin erklärte Franz Joseph, nachdem er - wie er sagte - »alles reiflich erwogen«

hatte, am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg. Das mit Serbien verbündete Rußland antwor­

tete mit der sofortigen Generalmobilmachung, die vom Deutschen Reich als Zustand

drohender Kriegsgefahr aufgefaßt wurde. Am 1. August 1914 folgte die deutsche

Kriegserklärung an Rußland, und am 3. August, mit nie stattgefundenen Grenz­

verletzungen und Bombenwürfen auf deutsche Eisenbahnen begründet, die an

Frankreich. Innerhalb weniger Wochen standen die Länder der beiden Bündnisse in

Waffen.

KEIN BLITZKRIEG Der schon lange vorbereitete Kriegsplan der Deut­

schen, der Schlieffenplan (nach Generalstabschef Alfred Schlieffen) sah vor, daß im

Falle eines Zweifrontenkrieges zunächst durch Umklammerung seines Festungsgürtels

Frankreich besiegt wird. An der Ostfront sollte Deutschland solange in der Defensive

bleiben. Am 4. August 1914 marschierten deutsche Truppen ohne Kriegserklärung in

Belgien ein, das sie in wenigen Tagen überrannten. (»Das Unrecht, das wir damit tun,

werden wir wiedergutmachen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist«, sagte der

deutsche Kanzler Bethmann Hollweg im Reichstag.) Anfang September standen sie

schon an der Marne, wenige Kilometer vor Paris. In der Mameschlacht (8.-9. September

Page 84: Historishe Landeskunde

1914) wurde der deutsche Vormarsch von Franzosen und Engländern gestoppt

(England erklärte Deutschland nach dessen Einbruch in Belgien den Krieg.) Die Fron­

ten versteiften sich, es begann ein Stellungskrieg mit blutigen Materialschlachten, in

denen Hunderttausende von Menschen ihr Leben verloren. Das war das Scheitern der

deutschen Blitzkriegsstrategie.

»WENN DIE BLÄTTER FALLEN« In Deutschland und Österreich

(Mittelmächte) herrschte anfangs eine blinde Kriegsbegeisterung. »Serbien muß ster-

bien«, rief man auf Wiens Straßen, und Wilhelm ü. verabschiedete im August 1914 die

ersten deutschen Soldaten, die an die Front zogen, mit dem Satz »Ihr seid wieder da­

heim, wenn die Blätter fallen«. Man sprach von einem gerechten Verteidigungskrieg.

Die bei Kriegsausbruch geforderten Kredite wurden im Reichstag bewilligt (einzig Karl

Liebknecht stimmte dagegen); der deutsche Kaiser quittierte den »Burgfrieden« und die

Loyalität der ihm bis dahin recht unangenehmen Sozialdemokraten mit dem berühmten

Ausspruch »Ich keime keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche«.

NEUE KRIEGSSCHAUPLÄTZE An der Ostfront konnte das deutsche

Heer die zaristischen Truppen (wie man damals sagte, die russische Dampfwalze) auf­

halten. Doch weder der Sieg bei Tannenberg (August 1914) noch der an den Masuri­

schen Seen (September 1914) noch andere kleine Erfolge führten zur erhofften Beendi­

gung des Kriegs im Osten. Es entstanden sogar neue Kriegsschauplätze. Im Mai 1915

griff Italien in der H o ffnung auf große Landgewinne auf Seiten der Entente in den Krieg

ein. Wiederholte heftige Schlachten an der Isonzofront brachten jedoch keine endgül­

tige Entscheidung. Auch Rumänien erklärte den ehemaligen Verbündeten Österreich-

Ungarn und Deutschland den Krieg. Es konnte im Herbst 1916 durch eine überra­

schende Offensive geschlagen werden. Bereits im August 1914 weitete sich der europäi­

sche Krieg durch Japans Kriegserklärung an Deutschland zum Weltkrieg aus. Die

Kämpfe griffen schon im ersten Kriegsjahr auf den Nahen Osten und Afrika über, wo

Franzosen und Engländer die deutschen Kolonien zu besetzen suchten.

Page 85: Historishe Landeskunde

VERELENDUNG Deutschland und Österreich-Ungarn mußten ab 1916 zur

Verteidigung übergehen. Die anfängliche technische Überlegenheit, der Überra­

schungseffekt einzelner Manöver konnte nicht viel einbringen. Die unerhörten Ausmaße

der Kämpfe nahmen die ganze Wirtschaft der kriegführendes Mächte in Anspruch, und

darauf waren die Mittelmächte nicht entsprechend vorbereitet Die Vorräte waren er­

schöpft. Der außerordentlich strenge Winter 1916-1917 brachte einen Tiefpunkt der

Emährungslage. Statt Kartoffeln, der traditionellen Grundlage der deutschen Küche,

mußte man infolge der Mißernte sogar Rüben essen, die bis dahin als Viehfutter ver­

wendet worden waren (Rübenwinter). Während eine Verelendung breiter Bevölke­

rungsschichten vor sich ging, blühten Schwarzhandel und Spekulation auf. Feldmarschall

Paul Hindenburg, der mächtigste und einflußreichste Mann an der Spitze der obersten

Heeresleitung, erklärte trotzdem, der Krieg bekomme ihm wie eine Badekur. Die Wirt­

schaft wurde ganz auf die Kriegsführung umgestellt

VOM U-BOOT-KRIEG ZUR KAPITULATION Zur schnellen

Herbeiführung der militärischen Entscheidung glaubten nun die Deutschen ein be­

sonders radikales Mittel einsetzen zu müssen, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg.

Am 1. Februar 1917 gab Deutschland bekannt, es werde in den zum Sperrgebiet er­

klärten Gewässern alle feindlichen und neutralen Schiffe ohne Warnung versenken. Die

erwartete Folge, die Niederlage Englands innerhalb weniger Monate, trat indessen nicht

ein, dafür erklärten die Vereinigten Staaten gerade mit Berufung auf den U-Boot-Krieg

am 6. April 1917 Deutschland den Krieg. Mit dem Kriegseintritt der USA verstärkte

sich die Überlegenheit der Alliierten immer mehr, doch General Ludendorff (der an­

dere mächtige Kriegsführer neben Hindenburg) bestand in völliger Verkennung der

Lage noch fast ein Jahr lang auf einem »Siegfrieden«. Nach dem Austritt Rußlands aus

dem Krieg, der im März 1918 im Frieden von Brest-Litowsk besiegelt wurde, versuchten

die Mittelmächte in einer Frühjahrsoffensive die verfestigten Fronten im Westen zu

durchbrochen, doch scheiterten die deutschen Truppen bei Reims (April 1918) und die

österreichisch-ungarischen an der Piave (Juni 1918). Die im Juli 1918 gestartete

Page 86: Historishe Landeskunde

Gegenoffensive der Entente, nun auch schon von Amerika tatkräftig unterstützt, brachte

den Mittelmächten verheerende Niederlagen, von denen sie sich nicht wieder erholen

konnten. Deutschland und die österreichisch-ungarische Monarchie kapitulierten An­

fang November 1918.

EXPRESSIONISM US Eine itypiseh deutsche Stilrichtung ist der von der

Wilhelminischen Ära bis in die zwanziger Jahre blühende Expressionismus, der oft<er-

ütresa-subjektivistische Ausdruck des eatBchiedenea Protestes gegenjedeOewalt; die den

Menschen in seiner Natürlichkeit gefährden könnte. In der teldondeg Kunst sind vor

allem die espressionistisehe Künstlergruppe »Der Staue Reiter« in München, deren

wichtigste Gestalten der Russe WassilyKandinsky und der ScbweizerPäul Klefc waren,

sowie der norddeutsche Maler F.mtl Nolde und der Bildhauer Einst Barlach

(ausdrucksstarke Plastiken, zum Beispiel »Der Flüchtling<<) zu erwähnen. AuffaUend an

den expressionistischen Gemälden ist die starke ReduzierungderFonnen, ihre Verein-

Hebung zu einem geometrischen Gesamtbild, das oft ^beunruhigend aggressiv wirkt

(ähnlich wie Schönbergs Musik). Ferner hat vor allem ütoLiteratur wesentücheexpres-

«onistische- IseistuBgen hervorgebracht (Benn, Werfel; Anthologie

»Menschheitsdämmerung«); einige - wie Kokoschka und Barlach - leisteten sowohl in

der WWeHdeaüaiBSi als auch iaderLüeratur Nennenswertes.

Page 87: Historishe Landeskunde

15. Weimarer RepublikN O V E M B E R R E V O L U T IO N Schon im Laufe des Krieges hatten sich in

Deutschland zahlreiche Zeichen der Unruhe und der Unzufriedenheit des Volks ge­

zeigt. Anfang November 1918 weigerten sich Matrosen der Kieler Flotte, in der letzten

Minute des Krieges in eine sinnlose Seeschlacht auszulaufen, und nahmen Verbindung

zu den Werftarbeitern auf. Die Revolution breitete sich nach Süden und vor allem in die

Großstädte aus. Es bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. In Berlin erzwang man am

9. November 1918 in riesigen Demonstrationen den Rücktritt der Regierung. Der Kai­

ser räumte widerstandslos den Thron und floh verkleidet nach Holland, es wurde die

freie sozialistische Republik ausgerufen. Bald kam es zu Straßenkampfen, wobei sich die

Regierung auf Freikorps stützte, die von Offizieren der alten kaiserlichen Armee ange­

worben und befehligt wurden (Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg).

Die Aufständischen unterlagen sowohl in Berlin als auch in den übrigen revolutionären

Zentren Bremen, Ruhrgebiet, Mitteldeutschland und Bayern (Münchener Räterepublik

nach dem Beispiel der ungarischen Räterepublik).

W EIM ARER REPUBLIK Im Januar 1919 wurden Wahlen zur

Nationalversammlung durchgeführt. Die Nationalversammlung rief eine Republik aus,

die nach dem Tagungsort Weimarer Republik genannt wurde. Die Wahl der Stadt sollte

eine Absage an den militärischen Geist von Potsdam und zugleich ein Bekenntnis zur

Tradition der Weimarer Klassik ausdrücken, war aber auch ein Zeichen der Furcht vor

der unsicheren Lage in Berlin. Zum Präsidenten wählte die Nationalversammlung den

Sozialdemokraten Friedrich Ebert. (Seinen Namen trägt heute die SPD-nahe Friedrich-

Ebert-Stiftung.)

FR IE D E N S V E R T R A G Neben der Verfassung, die im August 1919 in Kraft

trat, bestimmte der am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses Versailles Unter­

zeichnete Friedensvertrag das Schicksal der Deutschen. Die Friedensbedingungen wa­

Page 88: Historishe Landeskunde

ren äußerst hart Deutschland hatte große Gebiete (darunter Elsaß-Lothringen und

sämtliche Kolonien) abzutreten, eine weitgehende Demilitarisierung durchzuführen (die

Wehrmacht war auf ein Berufsheer von 100.000 Mann beschränkt schwere Waffen wur­

den verboten), verschiedene finanzielle und wirtschaftliche Bestimmungen in Kauf zu

nehmen und vor allem erhebliche Reparationen zu zahlen, deren Gesamthöhe nach­

träglich berechnet werden sollte. Berechtigten Widerspruch fand die Behauptung der

Alleinschuld Deutschlands und seiner Verbündeten am Ausbruch des Krieges.

REVOLUTIONÄRE NACHKRIEGSPERIODE Anfangs konnte sich

die Regierung nur schwer behaupten. Im März 1920 besetzten putschende Freikorps un­

ter General Kapp Berlin; der Präsident und die Regierung mußten fliehen. Kapp ge­

bärdete sich einige Tage als Staatsoberhaupt Er scheiterte am einmütigen Gene­

ralstreik der Berliner. Die zurückgekehrte Regierung ließ jedoch auch die Arbeiter ent­

waffnen, die neu entstandenen Räte auflösen und sandte Truppen gegen Aufständische

im Ruhrgebiet in Thüringen und in Sachsen. Vor allem auf Initiative von Außenmini­

ster Walther Rathenau schloß Deutschland 1922 in Rapallo einen Vertrag mit

Sowjetrußland. Deutschland erkannte als erster westlicher Staat die sowjetische Regie­

rung an und schloß mit ihr einen Friedensvertrag. Sowjetrußland verzichtete auf alle

Kriegsentschädigungen. Für den Handel zwischen den beiden Staaten sollte das Prinzip

der Meistbegünstigung gelten. Rathenau, das Modell zu Araheim in Robert Musils »Der

Mann ohne Eigenschaften«, fiel noch in demselben Jahr dem Mordanschlag

rechtsradikaler, antisemitischer Jugendlicher zum Opfer.

KRISENJAHR 1923 Das Jahr 1923 war der Gipfel der innenpolitischen

Krise. Die Nichterfüllung einiger Reparationsforderungen durch Deutschland nahm

Frankreich zum Anlaß, das Ruhrgebiet zu besetzen. Die Regierung rief zum passiven

Widerstand auf, Arbeiter antworteten mit Demonstrationen und Streiks. Die

Geldentwertung, die schon während des ersten Weltkrieges eingesetzt hatte, erreichte

1923 mit der Inflation katastrophale Ausmaße und vergrößerte die sozialen Gegensätze

erheblich. Die Dollamotierung, die im Juli 1914 4,20 Mark, im Januar 1921 64,90, im

Page 89: Historishe Landeskunde

Januar 1923 17.972 war, kletterte am 15. November 1923 auf 4.200.000.000.000 Mark.

An diesem Tag wurde die neue Währung, die Reichsmark, eingeführt. In Sachsen und

Thüringen kam es zu kommunistischen Unruhen, und in München unternahm die

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) unter Adolf Hitler einen

Putschversuch.

RELATIVE STABILISIERUNG Nach der revolutionären Nachkriegsperi-

ode 1919-1923 setzte eine relative Stabilisierungsphase in Deutschland ein. Der

Lebensstandard stieg, eine effiziente Sozialpolitik wurde verwirklicht. Ausländische

Kapitalanleihen, vor allem aus den USA, sowie die neue Festlegung niedrigerer Repara­

tionszahlungen stimulierten die Wirtschaft, in der durch die Entstehung neuer mächtiger

Konzerne wieder eine Konzentration eintrat. Auch in politischer Hinsicht wurde

Deutschland in den zwanziger Jahren salonfähig. Es wurde in den Völkerbund

(Vorgänger der UNO, Sitz in Genf) aufgenommen. Im Locarnopakt 1925 verpflichteten

es sich gemeinsam mit Frankreich und Belgien, keinen Krieg gegeneinander zu führen.

Deutschland erkannte die Rückgabe Elsaß-Lothringens an, dafür wurde ihm von Eng­

land und Italien die Unverletzlichkeit seiner Westgrenze garantiert. Nicht in den Ver­

trag einbezogen war die deutsch-polnische Grenze, was zeigt, in welche Richtung wieder

entstehende deutsche Expansionsbestrebungen gelenkt werden sollten. Die aggressiven

Kreise des Monopolkapitals traten ja immer stärker für eine Wiederaufrüstung und ge­

gen die Beschränkung der Reichswehr durch den Versailler Vertrag auf etwa 100.000

Mann ein, das wurde besonders in der Aktion für den Bau von Panzerkreuzern deutlich.

WELTWIRTSCHAFTSKRISE Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im

Spätherbst 1929 setzte der Zeit der relativen Stabilisierung ein plötzliches Ende. Der

schnelle Aufschwung der Produktion führte zur Übersättigung des Marktes. 1932 wur­

den nur noch 25 Prozent der Produktionskapazität genutzt, der Rückgang der Produk­

tion erforderte die Stillegung von Betrieben, die Zahl der Arbeitslosen stieg bis über

sechs Millionen (fast die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung). In den Krisenjahren

verstärkte sich der Masseneinfluß radikaler politischer Auffassungen. Die faschistische

Page 90: Historishe Landeskunde

Bewegung knüpfte an die bestehenden sozialen und nationalen Forderungen des Volkes

an, verkündete einen Ausweg aus der deutschen Misere und versprach allen alles, einen

hohen Lebensstandard, die Verstaatlichung von Monopolen, die Beseitigung des Ver­

sailler Vertrages und so weiter. Damit fand sie vor allem bei den politisch ungebildeten

Schichten viel Zuspruch.

BERLIN ALS KULTURHAUPTSTADT Auf kulturellem Gebiet erwie­

sen sich die knapp anderthalb Jahrzehnte der Weimarer Republik als sehr fruchtbar.

Berlin trat als Kulturhauptstadt europäischen Ranges neben Paris und London. Vor ed­

lem auf dem Gebiet des Theaters gab es große Leistungen. Max Reinhardt, der 1917

(zusammen mit Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss und anderen) die Salzburger

Festspiele ins Leben gerufen hatte, gewann nun mit seinen revueartigen Aufführungen

auf Berliner Bühnen weltweiten Ruhm. Freude am Experimentieren zeichnete die In­

szenierungen vom Propagandisten des politischen Theaters Erwin Piscator aus. Die er­

sten Stücke von Bertolt Brecht wurden aufgeführt, darunter 1928 im Theater am Schiff­

bauerdamm (dem späteren Berliner Ensemble) die »Dreigroschenoper« mit Musik von

Kurt Weill. Seit Mitte der zwanziger Jahre wurde das literarische Leben immer mehr

von der »Neuen Sachlichkeit« beherrscht, die im Gegensatz zum spekulativen und ab­

strakten Expressionismus die Subjektivität des Autors mit positivistischer Objektivität

verknüpft, eine Wendung zu konkreten Inhalten zeigt und eine Sprache gebraucht, die

eine gewisse Distanzierung von den behandelten Themen herstellt.

MUSIK UND MODE Es gab ein glänzendes Musikleben in Berlin mit Diri­

genten wie Otto Klemperer, Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter. Die zwanziger

Jahre galten als Blütezeit des deutschen Kabaretts, für das Kurt Tucholsky, Erich Käst­

ner, Joachim Ringelnatz und andere Texte verfaßten. (Der größte deutsche Kabarettist

Karl Valentin war allerdings in München tätig.) Tanzsäle und Bars schossen wie Pilze

aus dem Boden, man drehte sich nach den Takten des aufkommenden Jazz. Sogar die

Mode wurde von Berlin aus diktiert. Die Frauenkleider wurden zu einer Röhre mit

einer Öffnung für die Beine, einer kleineren für den Kopf und seitlich zwei kleinen

Page 91: Historishe Landeskunde

Röhren für die Arme. Das Jahr 1925 enthüllte erstmalig das Knie. Aber häufig trugen

Frauen auch Hosen. Beliebt war der Bubikopf, mit dem die Frauen so aussehen sollten,

wie ein Junge, der einem Mädchen ähnlich ist

FILM Der deutsche Film, eines der wichtigsten neuen Instrumente der

Beeinflussung der Massen, behauptete sich ausgezeichnet im internationalen Feld.

Schauspieler und Regisseure in den Studios der 1917 gegründeten UFA (Universal Film

Aktiengesellschaft) zogen bei ihren schwarz-weißen Stummfilmen unter dem Einfluß

des Expressionismus überspitzte Ausdrucksmittel vor: hektische, fast hysterische

Bewegungen, aufschreiende Gesichter, grelle Lichteffekte und Kontraste zur Hervorhe­

bung der Spannung, betonte Expressivität der Mienen. International anerkannte Regis­

seure waren Ernst Lubitsch, Friedrich Wilhelm Murnau (»Der letzte Mann«), Fritz

I .ang (»Metropolis«) und Joseph von Sternberg. Letzterer verfilmte 1930 Heinrich

Manns Roman »Professor Unrat« unter dem Titel »Der blaue Engel« mit Marlene Diet­

rich in der Hauptrolle. »Der blaue Engel« war kein Stummfilm mehr, Lola-Lolas ver­

führerisches Lied »Ich bin von Kopf bis Fuß auf liebe eingestellt« kennt man heute

noch.

BAUHAUS Von Weimar aus eroberte das Bauhaus die W elt Diese von Wal­

ter Gropius begründete Kunstschule verbreitete eine neue Gesinnung, die sich von

Zweckmäßigkeit, Nüchternheit, Sachlichkeit und einer starken sozialen Verantwortung

leiten ließ. Kunst sollte der Auffassung des Bauhauses nach nicht nur für eine elitäre

Gruppe geschaffen werden, sondern im Dienst einer Gemeinschaft stehen. Im Manifest

zur Eröffnung der Schule im Jahre 1919 faßte Gropius seine Prinzipien so zusammen:

»Heute stehen die bildenden Künste in selbstgenügsamer Eigenheit, aus der sie erst

wieder erlöst werden können durch bewußtes Mit- und Ineinanderwirken aller

Werkleute untereinander. [...] Alle müssen zum Handwerk zurück, es gibt keine 'Kunst

von Beruf. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem

Handwerker.« Das Bauhaus, zu dessen Mitarbeitern auch mehrere Ungarn, wie Marcel

Breuer und Läszlö Moholy-Nagy, gehörten, mußte seine Wirkungsstätte 1925 nach Des­

Page 92: Historishe Landeskunde

sau versetzen, 1933 wurde es von den Nazis aufgelöst. Die Grundsätze des Bauhauses,

vor allem die Verwendung modernen Baumaterials und die zweckmäßige Schlichtheit,

wurden jedoch von fast allen Architekten des 20. Jahrhunderts befolgt.

N A T U R W ISSE N SC H A FT E N Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wa­

ren in Deutschland auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften großartige Leistungen

zu vermerken. Zur Manifestierung eines neuen Weltbildes trugen vor allem Max Planck

durch die Entdeckung des elementaren Wirkungsquantums und Albert Einstein durch

die allgemeine Relativitätstheorie bei. Werner Heisenberg und Otto Hahn zählen eben­

falls zu den größten Atomphysikem des 20. Jahrhunderts. Die Biochemie erhielt durch

Adolf Butenandt grundlegende Anregungen.

Page 93: Historishe Landeskunde

16. Nationalsozialistische DiktaturHITLERS MACHTERGREIFUNG Die Führer des Faschismus waren -

unabhängig von lauten antikapitalistischen Parolen - schon früh eine Bindung mit den

bedeutendsten Schwerindustriellen eingegangen, ja sie hätten ohne deren finanzielle

Unterstützung kaum existieren können. Bei der Reichspräsidentenwahl 1932 siegte wie­

der Feldmarschall Hindenburg, der schon seit dem Tod Friedrich Eberts im Jahre 1925

das Amt des Staatsoberhauptes in der Weimarer Republik bekleidet hatte. (Die prophe­

tische Wahlparole der KPD lautete: »Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler! Wer Hitler

wählt, wählt den Krieg!«) Die Reichstagswahlen im Juli 1932 brachten der NSDAP auf­

grund ihrer Versprechungen bedeutende Stimmgewinne, während eine Neuwahl im No­

vember 1932 ihr bereits Verluste zufügte (zwei Millionen Stimmen weniger) und den

steigenden Einfluß der KPD bezeugte (sechs Millionen Stimmen, stärkste kommuni­

stische Partei in einem westlichen Land). Daraufhin verlangten maßgebliche Kreise in

der Umgebung des Reichspräsidenten, Adolf Hitler zum Reichskanzler zu ernennen,

und er tat es.

REICHSTAGSBRAND Mit Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933 be­

gann das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Im Februar, kurz vor den

Parlamentswahlen, zündeten die Faschisten das Reichstagsgebäude in Berlin an. Das

sollte einen Vorwand für die Verfolgung aller antifaschistisch-demokratischen Kräfte

bilden, wurde doch von den Nazis die Brandstiftung ihnen und im besonderen den Kom­

munisten unterstellt. Der Reichstagsbrandprozeß (Ende 1933 in Leipzig) entsprach zwar

nicht den Vorstellungen der Nazis, denn dem Hauptangeklagten, dem bulgarischen

Kommunisten Georgi Dimitroff, gelang es, die Faschisten von Anklägern zu Angeklag­

ten zu machen und die Hintergründe des Reichstagsbrandes geistreich und mutig zu

entlarven. Doch die Nationalsozialisten errangen bei den Reichstagswahlen bereits die

absolute Mehrheit, es wurden die Gewerkschaften und alle Parteien außer der NSDAP

verboten, die Grundrechte praktisch außer Kraft gesetzt, die Pressefreiheit aufgehoben.

Page 94: Historishe Landeskunde

Es Vairi auch zu einer inneren Abrechnung. Im Sommer 1934 wurden potentielle Kon­

kurrenten der Gruppe um Hitler, mehrere hundert Personen, wegen angeblicher Betei­

ligung am »Röhm-Putsch« ermordet.

VERFO LGU NG D ER JU D EN Es setzten Massenverhaftungen ein,

Konzentrationslager (KZ) wurden eingerichtet, eine Geheime Staatspolizei (Gestapo)

aufgebaut. Terror und Bespitzelung begannen alltäglich zu werdea Die Verfolgung

politischer Gegner und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit trieben Tausende aus

dem Tand, es waren die besten deutschen Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler

unter ihnen. Besonderer Verfolgung waren - wie dies in Hitlers Buch »Mein Kampf«

(1925) vorausgesagt worden war - Bürger jüdischer Abstammung ausgesetzt, nach und

nach sollten ihnen alle Menschen- und Bürgerrechte geraubt werdea Bereits ab 1933

rief man zum Boykott gegen jüdische Geschäfte auf, Wissenschaftler und Beamten

wurden entlassen, Künstler durften nicht mehr vor die Öffentlichkeit treten. In den

Nürnberger Gesetzen (1935) wurde den Juden »zum Schutz des deutschen Blutes und

der deutschen Ehre« das Bürgerrecht aberkannt und die Eheschließung mit Nichtjuden

verbotea Nach den Olympischen Spielen, die 1936 in Berlin abgehalten wurden,

verschärften sich die Maßnahmen noch mehr. In der Kristallnacht (9.—10. "November

1938) wurden Synagogen, jüdische Geschäfte und zahlreiche Wohnungen zerstört. Ab

1941 war jeder Bürger jüdischer Abstammung verpflichtet, den gelben Davidsstera an

der Kleidung zu tragen. 1942 begann das Regime mit der »Endlösung der Judenfrage«.

Alle Juden, deren man habhaft werden konnte, wurden in Konzentrationslager

(Auschwitz, Dachau und andere) gebracht und fast ausnahmslos ermordet.

FASCHISTISCHE IDEO LOG IE Durch die Rassentheorie, der zufolge die

Deutschen eine arische Rasse und ein Herrenvolk seien, sollte nicht nur gegen die Ju­

den, sondern auch gegen andere, angeblich untergeordnete Rassen und Völker (Slawen,

Zigeuner) gehetzt werden. Man sprach von einer deutschen Volksgemeinschaft, beste­

hend aus Führer und Gefolgschaft, zu der übrigens auch die deutschsprachigen Bürger

anderer Länder, zum Beispiel Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns gezählt wur­

Page 95: Historishe Landeskunde

den. Man verbreitete zur Begründung der späteren Eroberungskriege die Theorie von

einem Volk ohne Raum. Hitler erklärte schon am Anfang seiner Herrschaft, daß er das

gesamte Erziehungswesen, Theater, Film, Literatur, Presse, Rundfunk in den Dienst

»einer durchgreifenden moralischen Sanierung des Volkskörpers« stellen wolle. Die

Presse wurde gleichgeschaltet, Schriftstellerorganisationen unterdrückt oder umfunktio­

niert, Kritik durch »fördernde Betrachtung« ersetzt, Bücher unbeliebter Autoren ver­

brannt und in öffentlichen Bibliotheken verboten, »entartete Kunst« (zum Beispiel Ge­

mälde von Emil Nolde) verfemt. Die deutschen Klassiker wurden vereinnahmt, politisch

profilierte Autoren wie Hölderlin, Kleist und Büchner zu präfaschistischen Reprä­

sentanten umgewertet. Selbst die deutsche Sprache haben die Nazis schwer mißbraucht,

vgl. dazu das Buch »LTI« von Victor Klemperer über den Sprachgebrauch im Dritten

Reich.

PROPAGANDAKUNST Im Bereich der Propagandakunst erwies sich der

deutsche Faschismus als durchaus originell und schöpferisch. Im Vordergrund stand

stets das Monumentale, Ornamentale, Kultische. Veranstaltungen wurden mit großer

Präzision als Massentheater inszeniert; das wurde besonders deutlich an Reichsparteita­

gen (vgl. den Film »Triumph des Willens« von Leni Riefenstahl über den Nürnberger

Parteitag von 1934). Ziel dieser - durch Joseph Goebbels mit äußerstem Einfallsreich-

tnm gelenkten - »Ästhetisierung der Politik« waren die Aufhebung politischer und so­

zialer Probleme, das Auslöschen des Individuums und das Schaffen manipulierbarer und

mißbrauchbarer Massen. In Bertolt Brechts »Kriegsfibel« steht unter einem Foto von

Hitler der Vierzeiler: »Das da hätte e inm al fast die Welt regiert. / Die Völker wurden

seiner Herr. Jedoch / Ich wollt, daß ihr nicht schon triumphiert: / Der Schoß ist frucht­

bar noch, aus dem es kroch.«

FÜ H R E R UND KANZLER Nach Hindenburgs Tod im Jahre 1934 ver­

einigte Hitler die Funktionen des Präsidenten und Ministerpräsidenten und ernannte

sich zum Führer und Kanzler in einer Person. Damit bekam er als Oberster Befehlsha­

ber die Wehrmacht in die Hand, die zunächst noch ein gewisses Eigenleben geführt

Page 96: Historishe Landeskunde

hatte. Hitler belebte mit Arbeitsbeschaffungs- und Rüstungsprogrammen

(Autobahnbau) die Wirtschaft wieder und senkte die Arbeitslosigkeit schnell. 1934 trat

Deutschland aus dem Völkerbund aus, der seine Interessen angeblich nicht genügend

berücksichtigt hatte; 1935 wurde im Widerspruch zu den Bestimmungen des Versailler

Vertrags die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Kriegsvorbereitungen, die zwangsläufig

Rohstoff- und Devisenmangel und dadurch schwerere Existenzbedingungen für die

Bevölkerung zur Folge hatten, bestimmten immer eindeutiger das Leben in Deutsch­

land. Die von Göring schon 1937 ausgegebene, zynisch offene Parole hieß »Kanonen

statt Butter«. 1935 -1937 besetzten Truppen der Wehrmacht die demilitarisierte Zone

des Rheinlandes und das Saargebiet. Hitler schloß ein Bündnis mit dem faschistischen

Italien Mussolinis, dem später auch Japan beitrat. Im spanischen Bürgerkrieg

1936-1939 unterstützte Deutschland den Putschversuch der Faschisten unter General

Franco, während Mitglieder der internationalen Brigaden aus allen Teilen der Welt der

Republik beistanden.

ANSCHLUSS Im März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich

ein; es wurde »ins Reich eingegliedert«. Die österreichische Republik, die am 12. No­

vember 1918 ausgerufen wurde (»Erste Republik«), war ein Staat, den niemand wollte.

Sie kämpfte, da sie das Hinterland, nicht aber den riesigen bürokratischen Apparat

verloren hatte, mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Es herrschte eine politische

Unsicherheit im Land, die einzelnen Gruppen radikalisierten sich immer mehr. Davon

zeugte der Arbeiteraufstand im Juli 1927 und die blutigen Februarereignisse 1934. In

demselben Jahr wurde der italienfreundliche Kanzler Engelbert Dollfuß von den Nazis

ermordet; ein Putschversuch konnte unter seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg noch

verhindert werden. Nach der Annäherung zwischen Italien und Deutschland stand dem

Anschluß, den nicht nur der aus Braunau (Westösterreich) stammende Hitler, sondern

auch weite Kreise der österreichischen Bevölkerung befürworteten, jedoch nichts mehr

im Wege.

Page 97: Historishe Landeskunde

M ÜNCHENER ABKOMMEN Ebenfalls 1938 ließ Hitler von der Wehr­

macht westliche Teile der Tschechoslowakei besetzen, um »das Selbstbestimmungsrecht

der dort lebenden Deutschen zu sichern«. Vorbereitet wurde die Aktion durch die

profaschistische Heim-ins-Reich-Bewegung. Die Regierungen der westeuropäischen

Länder (an der Spitze den englischen Premierminister Chamberlain) bestätigten diesen

Schritt im Münchener Abkommen 1938 im Zeichen einer Politik der Beschwichtigung;

Hitler versprach den Verzicht auf weitere Eroberungen. Einige Monate später zerschlug

die Wehrmacht den tschechoslowakischen Staat, es wurde ein deutsches Protektorat

Böhmen und Mähren gebildet. Nun stellte das faschistische Deutschland unerfüllbare

Forderungen an Polen (Freistadt Danzig, Polnischer Korridor), die Stoßrichtung der Ex­

pansion zeichnete sich mit aller Deutlichkeit ab.

ZW EITER W ELTKRIEG Am 1. September 1939 begann nach dem Über­

fall, den als Polen verkleidete Faschisten auf den deutschen Rundfunksender Gleiwitz

an der deutsch-polnischen Grenze inszeniert hatten, der Zweite Weltkrieg. Polen wurde

in einem Blitzkrieg niedergeworfen. England und Frankreich erklärten Deutschland den

Krieg, führten aber an der Westfront keine nennenswerten Kampfhandlungen durch. Im

Frühjahr 1940 besetzte die faschistische Wehrmacht Dänemark und Norwegen, überfiel

die Beneluxstaaten und Frankreich, führte Bombenangriffe gegen England. Die be­

setzten Gebiete wurden unerbittlich ausgebeutet (Rohstoffe, Lebensmittel), die Deut­

schen traten überall als Herrenmenschen auf. Am 22. Juni 1941 kam es - trotz eines

zuvor abgeschlossenen Nichtangriffsvertrages - zum Angriff auf die Sowjetunion. An­

fangs errang die deutsche Armee auch hier Erfolge, doch die Kampfkraft der

Sowjetunion konnte nicht gebrochen werden. Die endgültige Wende im Kriegsgesche­

hen trat mit der Schlacht bei Stalingrad ein. Die 6. deutsche Armee wurde am 2. Fe­

bruar 1943 vernichtet. Bald darauf begann die Gegenoffensive der Roten Armee. In

Deutschland wurde alles auf eine Wirtschaft des totalen Krieges umgestellt

WIDERSTAND Obwohl es der Nazipropaganda besonders in der Anfangs­

zeit gelang, die Verinnerlichung ihrer Thesen durch große Teile der Bevölkerung durch­

Page 98: Historishe Landeskunde

zusetzen, gab es in Deutschland immer auch nüchterne, kritische Menschen, selbst wenn

ihre H andlungsfähigke it im Staat mit dem perfektesten Denunziantennetz begrenzt

blieb. Der Berliner Pastor Martin Niemöller und seine Bekennende Kirche widersetzten

sich der Macht offen; Studenten der Münchner Universität um die Geschwister Sophie

und Hans Scholl (»Weiße Rose«) verteilten 1943 Flugblätter, und 1944 versuchte Oberst

Schenk von Stauffenberg Hitler in seinem Hauptquartier mit einer Zeitbombe zu töten,

doch das Attentat mißlang. Ober viertausend Menschen aller Gesellschaftsschichten

wurden in den Monaten danach hingerichtet.

K A PIT U L A TIO N Im Sommer 1944 eröffneten England und die Vereinigten

Staaten mit der T anriung der alliierten Truppen in Nordfrankreich die zweite Front. Die

Rote Armee setzte zu einer entscheidenden Offensive an. Nach dem Vorrücken der

Westfront und dem sowjetischen Sturm auf Berlin kapitulierte das faschistische

Deutschland am 8. Mai 1945. Adolf Hitler (geboren 1889, im Todesjahr von Kronprinz

Rudolf) beging am 30. April 1945 im Führerbunker Selbstmord; die bedingungslose Ka­

pitulation wurde von seinem Nachfolger, Großadmiral Dönitz, unterschrieben.

BILANZ 55 Millionen Tote und die ungeheuere Vernichtung materieller und

geistiger Werte waren das schreckliche Ergebnis des Krieges. Die Städte lagen in

Trümmern, ein Viertel aller Wohnungen war zerstört oder schwer beschädigt, Wirt­

schaft und Verkehr lagen darnieder, es fehlte am Nötigsten. Millionen Deutsche be­

fanden sich in Kriegsgefangenschaft, Millionen waren durch die Bombenangriffe

obdachlos geworden, Millionen Vertriebene waren auf der Flucht. Deutschland schien

keine Zukunft zu haben.

Page 99: Historishe Landeskunde

17. Nach 1945PO T SD A M E R A B K O M M EN Bereits vor Kriegsende hatten die Alliierten

auf den Konferenzen in Teheran 1943 und Jalta 1945 über die Zukunft des besiegten

Deutschland beraten. Im Juli und August 1945 trafen sich die Staatsoberhäupter der So­

wjetunion, Englands und der USA in Potsdam (Schloß Cecilienhof) und schlossen das

Potsdamer Abkommen, das den Weg des Neuaufbaus in Deutschland vorzeichnete. Es

sah unter anderem ein einiges, demokratisches Deutschland, Demilitarisierung und

Entnazifizierung sowie Bestrafung der Kriegsverbrecher vor. Im Nürnberger Prozeß

(1946) hatten sich die Hauptschuldigen des Weltkrieges vor einem internationalen Ge­

richt zu verantworten. Deutschland wurde in sowjetische, amerikanische, britische und

französische Besatzungszonen eingeteilt. Ober die Ausführung von Beschlüssen und Be­

fehlen wachte der Alliierte Kontrollrat, bestehend aus den Befehlshabern der vier Zo­

nen, mit Sitz in der Hauptstadt Berlin, die auch in vier Sektoren geteilt wurde. In Öster­

reich bildete man auch vier Besatzungszonen, die bis zum Staatsvertrag im Jahre 1955

bestanden. Dann verließen die Besatzungsmächte unseren Nachbarstaat.

DER WEG ZUR TEILUNG Trotz der dezimierten Bevölkerung, der mas­

senhaften Zerstörung von Produktivkräften, der gelähmten Wirtschaft, des allgemeinen

Chaos, der nachwirkenden faschistischen Ideologie und der Hoffnungslosigkeit vieler

Menschen bestand also dennoch die Möglichkeit, eine neue Gesellschaftsordnung mit

einem neuen Staatswesen aufzubauen. Es sollte sich jedoch zeigen, daß die

unterschiedlichen Voraussetzungen in den vier Besatzungszonen und die Ziele der Be­

satzungsmächte zu verschiedenartigen Haltungen gegenüber der Verwirklichung des

Potsdamer Abkommens und zu einer erneuten Spaltung Deutschlands führten. Wäh­

rend die Abhängigkeit der sowjetischen Besatzungszone von der Sowjetunion immer

größer wurde, erlaubten die Westmächte den anderen drei Zonen, sich immer enger

zusammenzuschließen. Wichtige Stationen auf diesem Wege waren die Bildung des Bi-

zonalen Wirtschaftsrates und Trizoniens.

Page 100: Historishe Landeskunde

B U N D E SR E PU B L IK - D D R 1949 wurde schließlich die Bundesrepublik

Deutschland mit der provisorischen Hauptstadt Bonn gegründet, Mitte September

wählte der Bundestag den Kölner CDU-Politiker Konrad Adenauer zum ersten Bun­

deskanzler. Die Gründung des anderen deutschen Staates ließ nicht lange auf sich war­

ten, am 7. Oktober 1949 entstand die Deutsche Demokratische Republik. Zu ihrer

Hauptstadt wurde Berlin erklärt, was allein schon für genügend Streit unter den Alliier­

ten sorgte. Der erste Präsident der DDR war Wilhelm Pieck, der erste Ministerpräsi­

dent Otto Grotewohl, die tatsächliche Macht lag aber in den Händen der Sozialistischen

Einheitspartei Deutschlands (SED, im Sommer 1946 aus dem Zusammenschluß der

KPD und der SPD entstanden, in den Westzonen nicht zugelassen). Vorsitzender der

SF.n wurde der Sachse Walter Ulbricht, dem 1971 der aus dem Saarland stammende

Erich Honecker folgte.

W IE D E R V E R E IN IG U N G Die Entwicklung in den beiden deutschen Staa­

ten nahm nun völlig unterschiedliche Formen an, sowohl in politischer, als auch in wirt­

schaftlicher, kultureller und sozialer Hinsicht. In der Bundesrepublik, die sich von 1947

an mit Hilfe des Marshallplanes der Vereinigten Staaten wirtschaftlich rapide verstärkte

und bald zu einer neuen europäischen Großmacht wurde, wechselten sich Rechte und

linke an der Spitze des Staates ab. Dem Land kam in der Integration der westeuropäi­

schen Staaten eine eminente Rolle zu. Der DDR, dem »ersten deutschen Arbeiter- und

Bauemstaat«, versuchte man währenddessen nach sowjetischem Vorbild ein funktions­

fähiges sozialistisches Gepräge zu geben, was - trotz gewisser nicht zu verkennender

Erfolge, zum Beispiel auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit - letztlich nie gelang. Die

Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten verschärften sich besonders nach

dem Bau der Berliner Mauer, die in der offiziellen DDR-Lexik antifaschistischer

Schutzwall hieß, im Jahre 1961. Es sah lange so aus, daß die Wege der beiden Staaten

sich immer mehr voneinander entfernen, bis Veränderungen im Jahr des großen Um­

bruchs 1989 zur Wiederherstellung der deutschen Einheit führten. Am 3. Oktober 1990

wurde die ehemalige DDR Teil der Bundesrepublik Deutschland.

Page 101: Historishe Landeskunde

18. Die SchweizE W IG E R B U N D Die Anfänge dermodernen Schweiz hegen 4m l3;Jahi>

hundert Das erste Bündnis gegenrdie.Habsburger, deren-Familienbesitz ia der-.Gegend

lag, schlossen c freie B auerngem einden vermutlich im Jahre 1273. Dieses wurde der

Überlieferung nach am 1. August 1291 auf der Rütliwiese bestätigt und ergänzt; die so­

genannten tirkäntöne (Uri; Sehwyz, JUnfrw tlden) vereinigten sich im Ewigen Bund.

Das Ereignis wird am eindrucksvollsten in Schülers Drama »Wilhelm Teil« dargestellt.

Die erste gut bestandene Bewährungsprobe für die junge Eidgenossenschaft war die

Schlacht amMorgartenpaß gegen Leopold den Streitbaren im Jahre 1315. Es schlossen

sich den LJrkantonen immer weitere Gebiete (Luzern^ Zürich, Bern) an. Ein erneuter

Angriff der Habsburger scheiterte 1386 bei Sempach. Die deutschen Kaiser betrachte­

ten die Schweiz auch im IS Jahrhundert als Teil ihres Reiches, obwohl sie immer mehr

Merkmale eines selbständigen staatlichen Gebildes aufwies. Im Frieden von-Sasel 1499

verzichtete M axim ilian I. schließlich auf-die Oberhoheit in der Schweiz.

SO U V E R Ä N IT Ä T Die endgüJtige Anerkennung :dw Souveränität der

Schweiz erfolgte im ^W e^^eh^B nedeTflW S. Die europäischen Großmächte gelang­

ten zu der Überzeugung (und diese Überzeugung hielt sich durch die Jahrhunderte),

daß die Existenz eines neutralen Staates mitten auf dem Kontinent politisch-wirt-

sehäftliGh auch für sie vonVorteil sein konnte, zum Beispiel so, daß sie dort immer

Söldner (Reisläufer) kaufen konnten. Es galt allerdings das Sprichwort: »Kein Geld,

kein Schweizer.« (Die päpstliche Leibwache im Vatikan in Landsknechttracht mit Hel­

lebarde rekrutiert sich heute noch aus schweizerischen Katholiken.)

H E LV E T ISC H E R E PU B L IK Nach 1789 erhob sich auch in vielen Teüen

der Schweiz die Bevölkerung und forderte im Geiste der Ideen der französischen Re­

volution Gewerbefreiheit, Erweiterung der Freiheitsrechte, Aufhebung der Feudallasten

und der Folter. 1798 entstand unter Einfluß Frankreichs, das die Schweiz besetzte, die

Page 102: Historishe Landeskunde

Helvetische Republik mit einem Direktorium in Aarau. Genf und andere Städte wurden

durch Frankreich einverleibt. Die Aufhebung der Kantone erwies sich jedoch als über­

eilt, so mußte Napoleon 1803 ihre Rechte wiederherstellen, wodurch die Schweiz zur

föderalistischen Staatsform zurückkehrte. Damals erhielt sie die noch heute gültige offi­

zielle Bezeichnung Schweizerische Eidgenossenschaft.

ALLGEM EINE SCHULPFLICHT Der Wiener Kongreß beseitigte 1815

die Abhängigkeit der Schweiz von Frankreich und garantierte ihre immerwährende

Neutralität, die Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit ihres Territoriums. Die alte

Patrizierherrschaft wurde wiederhergestellt, aber das Untertanenverhältnis zwischen

den nunmehr 22 Kantonen kehrte nicht wieder, die Leibeigenschaft und weitere feudale

Überreste wurden samt Zunftzwang aufgehoben, und man führte den Freihandel ein.

Von besonderer Wichtigkeit war die allgemeine Schulpflicht, die Umsetzung des päd­

agogischen Systems von Johann Heinrich Pestalozzi in die Praxis. Die Auffassung von

Pestalozzi beruht darauf, daß die Möglichkeit einer allgemeinen gesellschaftlichen Er­

neuerung nur gesichert werden kann, wenn das Erziehungssystem jedem Menschen zu­

gänglich ist und die Vollentfaltung der körperlichen, seelischen und sittlichen Anlagen

ins Auge faßt. Seine heute noch wirksame pädagogische Tätigkeit diente besonders der

bürgerlichen Volksschularbeit unseres Jahrhunderts als Vorbild.

SONDERBUNDKRIEG Schon einmal, in den Jahren 1529-1531 hatte es

einen Krieg zwischen den katholischen Urkantonen und den protestantischen Teilen des

Landes gegeben. Die Seiten, die sich in diesem Kappeler Krieg gegenüberstanden, ge­

rieten nach der französischen Revolution 1830 erneut in einen Gegensatz. Die katholi­

schen Bauemkantone (Schwyz, Uri, Unterwalden, Zug), die am Zolleinkommen und

Fremdenverkehr interessiert waren, versuchten die Bestrebung der anderen (Zürich,

Bern, Solothurn) zur Vorbereitung der weiteren kapitalistischen Entwicklung aufzuhal­

ten. Sie widersetzten sich der Aufhebung der Zollschranken, der Einführung der völli­

gen Handels- und Gewerbefreiheit, der Entwicklung des Verkehrs. Es kam zur Konfron­

tation religiöser Prägung zwischen beiden Lagern. Die konservativen Bauemkantone

Page 103: Historishe Landeskunde

schlossen sich zu einem Sonderbund zusammen, der aber von der Eidgenossenschaft

verboten wurde. 1847 brach daher der Sonderbundkrieg aus. General Dufour, dessen

Namen heute der höchste Gipfel der Schweiz trägt, besiegte innerhalb von vier Wochen

und ohne große Verluste (es gab insgesamt 104 Tote) den Sonderbund. Die europäi­

schen Großmächte, beschäftigt mit eigenen Schwierigkeiten, griffen erneut nicht ein.

BUNDESVERFASSUNG Im Jahre 1848 wurde die Bundesverfassung, bis

heute das Grundgesetz der Schweiz, angenommen. Sie verwandelte den Bund sou­

veräner Kantone in einen modernen, zentralistischen Bundesstaat. Die Verfassungsrevi­

sion 1874 verstärkte die zentralisierte Macht, die die Voraussetzung für die weitere In­

dustrialisierung und den Sieg kapitalistischer Produktionsverhältnisse sicherte. Dabei

bewahrten die Kantone eine weitgehende Selbständigkeit. (Ein einheitliches Strafrecht

wurde beispielsweise erst 1942 eingeführt.) Die Verfassung erklärte das Wappen des

Kantons Schwyz, weißes Kreuz im roten Feld, zur schweizerischen Nationalflagge, den

Entstehungstag des Ewigen Bundes, den 1. August, zum Nationalfeiertag und Bern zur

Hauptstadt. Als gleichberechtigte Amtssprachen wurden Deutsch, Französisch und Ita­

lienisch angenommen. Rätoromanisch wurde 1937 neben den Amtssprachen zur vierten

Landessprache erklärt.

FR A N K E N , BANKEN, IN D U ST R IE Im Jahre 1849 wurden die Zoll­

grenzen der Kantone aufgehoben, 1850 führte man den Schweizer Franken, eine der

stabilsten Währungen überhaupt, ein. (Ein Franken - Koseform »Fränkeli« - besteht

aus hundert Rappen.) Die Stärkung des Kapitalismus zeigte sich in der Konzentration

des Kapitals, besonders im Bankwesen; die Charakterzüge der modernen Industrie der

Schweiz, Präzision und geringer Materialaufwand, bildeten sich endgültig heraus. Große

Bauvorhaben, darunter der Bau des zwanzig Kilometer langen Simplontunnels, wurden

entwickelt. Es entstanden bedeutende internationale Organisationen mit Sitz in der

Schweiz, allem voran das Internationale Rote Kreuz, gegründet 1864 vom Genfer

Kaufmann Henri Dunant.

Page 104: Historishe Landeskunde

FL Ü C H T L IN G E Obwohl die Herstellung des Gleichgewichts zwischen

Staatsidee und Kulturidee für den Einzelnen nicht immer unproblematisch war, konnte

die Schweiz ihre Neutralität im 20. Jahrhundert weiter bewahren. Im ersten Weltkrieg

nahm sie - wie schon zu Zeiten der Heiligen Allianz - zahlreiche Asylanten auf. Zü­

rich wurde zum Zentrum neuer Kunstrichtungen, wie der Dada-Bewegung. Einem sehr

großen Druck mußte die Schweiz während der Naziherrschaft in Deutschland standhal­

ten. Das gelang schließlich mit Hilfe der sich auf alle Lebensbereiche erstreckenden, m

mancherlei Hinsicht schon bedenklichen geistigen Landesverteidigung. Umstritten

bleibt die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den dreißiger und vierziger Jahren. Man

nahm mit der Parole »Das Boot ist voll« nur eine sehr begrenzte Anzahl von Flücht­

lingen auf. Thomas Mann gehörte natürlich zu den Auserwählten. Von ihm soll der bit­

tere Satz beim Anblick eines Kindes stammen: »Acht Tage alt, und schon ein Schwei­

zer!«

W IR T SC H A FTSW U N D E R Da die Schweiz in den Krieg nicht direkt ver­

wickelt war und die Produktionsanlagen unzerstört blieben, erhielten Industrie, Handel

und Banken der Schweiz nach 1945 eine große Chance, die sie auch zu nutzen ver­

mochten. Aus dem erheblichen Startvorteil erwuchs das Schweizer Wirtschaftswunder

der Nachkriegszeit. Der Kleinstaat mit kaum mehr als sechs Millionen Einwohnern

wurde zwanzigste Industrie-, zwölfte Handelsnation und dritter Finanzplatz der Welt.

Auch die außenpolitische Isolation des Landes konnte relativ rasch durchbrochen wer­

den, die Schweiz wurde Mitglied verschiedener internationaler Organisationen, nur der

UNO-Beitritt wird aus innenpolitischen Überlegungen (angebliche Unvereinbarkeit mit

der Neutralität) bis heute abgelehnt. Die Eidgenossenschaft beteiligt sich maßgeblich an

großen internationalen Konzernen, Dienstleistungsbetrieben, Banken und Versicherun­

gen.

STABILITÄT Das politische System beruht unverändert auf Traditionalismus

und Stabilität. Der Armee mißt man eine enorme Bedeutung zu. Gut funktionierende

öffentliche Dienste, stabile Währung, Ruhe, Ordnung, Sauberkeit, Sicherheit sind cha­

Page 105: Historishe Landeskunde

rakteristisch für die Schweiz, sie gilt als eins der beliebtesten Wohn-, Reise- und

Fluchtländer. Jegliche Veränderung wird in diesem Milieu zögernd aufgenommen, Wi­

dersprüche versucht man möglichst zu vertuschen, Kompromißfähigkeit ist eine der ge­

schätztesten Eigenschaften. Als nationale Leittugenden gelten Fleiß, Tüchtigkeit und

Sparsamkeit; Reichtum wird immer noch kalvinistisch als Auszeichnung von Bewährung

aufgefaßt und eher verborgen gehalten.

Page 106: Historishe Landeskunde

Dokumente

1.1. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtet in seiner Schrift »De origine et situ Germanorum« (98) vom Thing:

Gefällt der Vorschlag nicht, so weist ihn die Versammlung durch Murren zurück; wenn er aber Beifall findet, so schlagen die Versammelten ihre Speere klirrend zusammen. [...] Bei einem großen Thing dürfen auch Anklagen vorgebracht und Prozesse auf Leben und Tod anhängig gemacht werden. Die Strafen richten sich nach der Art des Verbrechens: Landes­verräter und Überläufer werden an dürren Bäumen gehenkt, Feiglinge und diejenigen, die sich dem Kriegsdienst entziehen, ebenso wie Sittlichkeitsverbrecher werden in den Morast ge­stoßen und mit Reisig überdeckt.

12. Die »Merseburger Zaubersprüche« wurden gegen Ende des 10. Jahrhunderts auf­gezeichnet, als die alten germanischen Vorstellungen trotz Aufnahme des Christentums noch lebendig waren, in der Dombibliothek Merseburg aufbewahrt, 1841 wiederent­deckt und ein Jahr später von Jakob Grimm veröffentlicht. Wir zitieren den zweiten Zauberspruch im althochdeutschen Original und in hochdeutscher Übersetzung.

Phol ende Uuodan vuorun zi holza du uuart demo Balderes volon sin vuoz

birerüdt.thu biguolen Sinthgunt, Sunna era suister, thu biguolen Friia, Volla era suister; thu biguolen Uuodan, so he uuola conda;Sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki;Ben zu bena, bluot zi bluoda, lid zi giliden, sose gelimida sin!

Phöl und Wotan fuhren zu Holz [ritten in denWald].

Da ward dem Fohlen des Baldersein Fuß verrenkt.Da besprach ihn Sinthgut, Sunna ihre Schwester; da besprach ihn Freya, Volla ihre Schwester; da besprach ihn Wotan, so gut, wie er es konnte;Sei es Beinverrenkung, sei es Blutverrenkung, sei es Gliedverrenkung;Bein zu Beine, Blut zu Blute,Glied zu Gliedern, als ob sie geleimt wären!

Page 107: Historishe Landeskunde

2.1. Die »Fränkischen Reichsannalen« berichten darüber, wie Pippin der Jüngere [714-768] König wurde:

Pippin schickte Gesandte zum Papst Zacharias und ließ wegen der Könige in Franken, die damals, ohne wirkliche königliche Macht zu besitzen, residierten, anfragen, ob das gut sei oder nicht. Zacharias gab Pippin den Bescheid, es sei besser, den als König zu bezeichnen, der die Macht tatsächlich in Händen habe, als jenen, der ohne königliche Gewalt bleibe.

22. Karl der Große [747-814] schrieb 796 an den Papst:

Uns obliegt: gemäß dem Beistand der göttlichen Güte überall Christi heilige Kirche gegen den Einbruch der Heiden und Verheerung durch Ungläubige nach außen mit Waffen zu verteidigen und nach innen durch die Anerkennung des katholischen Glaubens zu festigen. Euch obliegt, heiligster Vater. Mit zu Gott erhobenen Händen gleich Moses uns im Kampf zu unterstützen, auf daß, durch Euer Eintreten von Gott geführt und gefördert, das christli­che Volk über die Feinde seines heiligen Namens überall Sieg gewinne und der Name un­seres Herrn Jesu Christ in der ganzen Welt verherrlicht werde.

***

23. In einer zeitgenössischen Quelle steht über die Kaiserkrönung von Karl dem Großen durch Papst Leo HI. im Jahre 800 in Rom:

Am Tage der Geburt unseres Herrn Jesu Christi krönte ihn der ehrwürdige und segen­spendende Papst eigenhändig mit der kostbarsten Krone. Darauf riefen alle gläubigen und getreuen Römer, die den Schutz und die Liebe sahen, die Karl der heiligen römischen Kirche und ihrem Vertreter gewährte, einmütig mit lauter Stimme auf Gottes und des hL Petrus, dem Himmelreiches Schlüsselträger, Eingebung aus: »Karl, dem allerfrommsten von Gott gekrönten Augustus, dem großen und friedreichen Kaiser, Heil und Sieg!« Vor der heiligen Confessio des seligen Petrus [dem Grab Petrus’ unter dem Hauptaltar der Kirche] ist das, unter Anrufung vieler Heiliger, dreimal ausgerufen worden, und von allen ist er als Kaiser der Römer eingesetzt worden.

««»

2.4. Einhard, der Biograph Karls des Großen, beschreibt die Palastkapelle des Herr­schers in Aachen:

Die christliche Religion, in die er von Kindheit an eingeßhrt worden war, übte er mit der größten Gewissenhaftigkeit und höchsten Frömmigkeit. Deshalb erbaute er auch zu Aachen eine wunderschöne Kirche und schmückte sie mit Gold, Silber und Leuchtern sowie Gittern und Türen aus gediegenem Erz. Da er die Säulen und den Marmor zu ihrem Bau anderswo­her nicht bekommen konnte, ließ er sie aus Rom und Ravenna herbeischaffen. Die Kirche besuchte er unverdrossen morgens und abends, ebenso zum Nachtgebet und zur Zeit der Messe, so lange, als es seine Gesundheit erlaubte, und er ließ es sich sehr angelegen sein, daß alles, was darin vorging, mit dem allergrößten Anstand geschah.

**»

Page 108: Historishe Landeskunde

2.5. Im Jahre 529 gründete Benedikt von Nursia das Kloster Montecassino (südlich von Rom) und gab den Brüdern feste Regeln des klösterlichen Zusammenlebens. Einige Stellen:

5. Kapitel Vom Gehorsam. Der höchste Grad der Demut ist unverzüglicher Gehorsam. Die­ser Gehorsam ist dann Gott wohlgefällig und den Menschen angenehm, wenn der Auftrag nicht zaghaft, nicht lässig, nicht lau, nicht mit Murren oder gar mit offener Widerrede aus­geführt wird Werden Oberen gehorcht, gehorcht ja Gott.

33. Kapitel Ob die Mönche Eigentum haben dürfen. Dieses Übel vor allem muß mit der Wurzel aus dem Kloster ausgerottet werden. Keiner darf sich anmaßen, ohne Erlaubnis des Abtes etwas zu verschenken oder anzunehmen oder etwa als eigen zu besitzen, nichts, weder ein Buch noch eine Schreibtafel, noch einen Griffel, überhaupt gar nichts. Es ist ja den Mönchen nicht einmal erlaubt, über ihren Leib und ihren Willen frei zu verfügen. Sie dürfen jedoch alles, was sie brauchen, vom Vater des Klosters erwarten. Allen sei alles gemeinsam, wie geschrieben steht.

48. Kapitel Von der täglichen Handarbeit. Müßiggang ist der Feind der Seele. Deshalb sol­len sich die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit und wieder zu bestimmten Stun­den mit heiliger Lesung beschäftigen. [...] Bringt es die örtliche Lage oder die Armut mit sich, daß die Brüder die Feldfrüchte selbst einemten müssen, so sollen sie darüber nicht un­mutig werden. Dann sind sie ja in Wahrheit Mönche, wenn sie gleich unsem Vätern und Aposteln von der Arbeit ihrer Hände leben. Es geschehe jedoch wegen der Kleinmütigkeit alles mit Maß.

***

2.6. In einem Brief des Bonifatius [um 672 -754] heißt es:

Alle Jahre sollen Synoden gehalten werden, die Metropoliten sollen ihr Pallium [Weiße Schulterbinde mit sechs schwarzen Kreuzen: das persönliche Amtszeichen der Erz- bischöfe] von jenem Stuhl erbitten und die Amtsführung der Bischöfe überwachen, die Bischöfe alle Jahre ihre Sprengel besuchen [...].

*** *** ***

3.1. Widukind von Corvey berichtet über die Krönung Ottos I. [912 -973] zum König im Jahre 936:

Der Bischof trat nun an den Altar, nahm das Schwert mit dem Wehrgehenk und sprach zum König - der nach fränkischer Sitte mit einem eng anliegenden Gewände bekleidet war - : »Empfang dies Schwert, vertreibe damit alle Feinde Christi, Heiden und schlechte Christen, da dir durch göttlichen Willen alle Macht im ganzen Frankenreiche übertragen ist, zum dau­ernden Frieden aller Christen.« Dann nahm er den Mantel und die Spangen und bekleidete ihn damit, indem er sagte: »Dieses Gewand, dessen Zipfel bis auf den Boden reicht, möge dich ermahnen, daß du im Eifer des Glaubens glühen und in Wahrung des Friedens behar­ren sollst bis in den Tod « Darauf ergriff er den Stab und das Zepter und sprach: »Durch die­ses Zeichen gemahnt, leite deine Untertanen in väterlicher Zucht, reiche vor allem den Die­nern Gottes, den Witwen und Waisen die Hand des Erbarmens, und niemals möge deinem Haupte das Öl der Barmherzigkeit mangeln, damit du jetzt und in Zukunft mit ewigem Lohn gekrönt werdest.« Darauf wurde er mit heiligem Öl gesalbt und mit der goldenen Krone gekrönt. Als die Weihe rechtmäßig vollzogen war, führte ihn der Erzbischof von

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Mainz und ein anderer Bischof auf den Thron, zu dem sie über eine Wendeltreppe emporstiegen.

3.2. Ein Zeitgenosse (Priester Gerhard) berichtet darüber, wie Bischof Ulrich von Augsburg die Stadt gegen die Ungarn verteidigt:

Im Jahre 955 seit der Menschwerdung unseres Herrn Jesus Christus brachen die Ungarn in solchen Massen los, wie keiner der Lebenden sie jemals erblickt hatte. Sie durchzogen und verwüsteten das Land der Noriker von der Donau bis zum Schwarzwald. Sie belagerten auch Augsburg. [•••] Doch hatte der heilige Bischof Ulrich viele treffliche Ritter in der Stadt zusammengezogen, und deren Wachsamkeit und Kühnheit bildeten mit Gottes Beistand eine gute Wehr.

Als diese Ritter die Ungarn die Stadt umzingeln sahen, wollten sie ihnen entgegenziehen. Damit war jedoch der Bischof nicht einverstanden, sondern ließ das am meisten gefährdete Tor stark verrammeln. Vor dem Osttor, das zum Wasser führt, standen die Ungarn in solch dichten Scharen, daß sie meinten, sie könnten den Durchbruch auf der Stelle erzwingen. Aber die Ritter des Bischofs leisteten vor dem Tore tapferen Widerstand, bis einer der Vor­kämpfer der Ungarn [...] fie l Als sie diesen tot niederstürzen sahen, ergriff sie entsetzliche Furcht, sie [...] zogen sich in ihr Lager zurück. [...]

Als jedoch gemeldet wurde, daß das ruhmreiche Heer König Ottos sich nähere, hob der Un­garnkönig sofort die Belagerung von Augsburg auf.

***

33. Widukind schreibt über den Sieg Ottos I. über die Ungarn 955:

Ruhmbedeckt durch den herrlichen Sieg wurde der König von dem Heere als Vater des Va­terlandes begrüßt. In festlichem Zuge kehrte er, vom Jubel des Volkes begleitet, in das Sach­senland heim und wurde hier vom Volke mit Freuden aufgenommen. Denn eines solchen Sieges hatte sich kein König seit dem Siege Karl Martells über die Mohammedaner erfreut.

***

3.4. Der Geschichtsschreiber Thietmar von Merseburg über die Umstände der Kaiser­krönung von Otto I., 962:

961 zog Otto mit einem starken Heer in die Lombardei und nahm König Berengar gefangen [der seine Macht gegen den Kirchenstaat ausbreiten wollte]. Von da zog Otto gegen Rom, dessen widerspenstige [mit Berengar verbündete] Bürger er zweimal besiegte. Dann spen­dete ihm Papst Johann XII. [der Otto gegen die Bürger Roms zu Hilfe gerufen hatte] die Kaiserweihe. Als er nun Schutzherr der römischen Kirche geworden war, setzte er sich in den Besitz von Benevent, Kalabrien und Apulien.

***

3.5. Notger wurde zum Abt gewählt und anschließend von Kaiser Otto I. belehnt:

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Nun wirst du mein Mann, sagte der Kaiser, als er ihn durch die Gebärde der Hände zum Lehnsmann angenommen hatte. Darauf küßte er ihn. Anschließend wurde ein Evangelium gebracht, und der Abt schwor Treue.

«»*

3.6. Eine Bestimmung von Kaiser Otto I. aus dem Jahre 965:

In Gottes Namen übergeben wir das Recht, Märkte zu haltert, Münzen zu schlagen, dazu das Recht, Zölle zu erheben, an die Mauritiuskirche zu Magdeburg.

*«*

3.7. In der Urkunde über die Einsetzung des Erzbischofs von Worms durch Otto I. (979) steht:

Wir überlassen dem Bischof von Worms zu dauerndem Besitz den Ertrag und das Recht, aus allen Bannen und Zöllen in der Stadt und im Stadtgebiet, sowie die gesamte Gerichtsbar­keit, wie dies auch der Bischof von Köln innehat.

*•*

3.8. Ein Beispiel für die Belehnung eines Bischofs mit den Grafschaftsrechten (um 1000):

Wir übertragen und schenken durch diese königliche Urkunde auf Bitten des vereh­rungswürdigen Bischofs der hL Paderbomer Kirche, Meinwerk, ihm und seiner Kirche [...] die Grafschaft, die der Graf Hahold zu seinen Lebzeiten innehatte, mit allen gesetzlichen Rechten zu eigen, damit der genannte Bischof Meinwerk und seine Nachfolger als Bischof der genannten Kirche von nun an die freie Verfügungsgewalt über diese Grafschaft und ihre Erträge haben und damit machen können, was ihnen beliebt

***

3.9. Leitsätze von Papst Gregor VH. im sogenannten »Dictatus Papae« (1075):

1. Allein der römische Papst ist berechtigt, den Titel Papst in der Weltkirche zu führen.

2 Der Papst darf Bischöfe absetzen und wieder einsetzen.

3. Sein Legat hat vor allen Bischöfen den Vorsitz im Konzil

4. Niemand darf mit einem, der gebannt ist, in einem Hause verweilen oder sonst sich mit ihm abgeben.

5. Der Papst allein darf die kaiserlichen Zeichen führen.

6. Der Papst kann Kaiser absetzen.

7. Was der Papst sagt, darf rächt in Frage gestellt werden; er aber darf das Urteil aller ande­ren verwerfen.

8. Die römische Kirche hat nie geirrt und wird nie irren.

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9. Niemand darf den Papst richten.

10. Der Papst kann Untertanen vom Treueid gegen ungerechte Herrscher lösen.

***

3.10. Aus dem Brief von König Heinrich IV. an Papst Gregor VII., 1076:

Heinrich, rächt durch Anmaßung, sondern durch Gottes heilige Einsetzung König, an Hilde­brand, den falschen Mönch, nicht mehr Papst [...]. Denn um von vielem nur weniges [...] anzuführen: die Leiter der heiligen Kirche, nämlich die Erzbischöfe, Bischöfe und Priester [...] hast du [...] unter deine Füße getreten [...]. Sie alle, so urteilst du, wüßten nichts, du aber allein verstündest alles. Du [...] scheutest dich [...] nicht, gegen die von Gott uns verliehene königliche Gewalt dich zu erheben und hast gewagt zu drohen, du weidest sie uns entreißen, [...] als ob wir von dir das Reich empfangen hätten, als ob die Königs- und Kaiserkrone in deiner, nicht in Gottes Hand sei Du also durch aller unserer Bischöfe Urteil und das unsrige verdammt, steig herab, verlasse den [...] Apostolischen Stuhl! Ein anderer besteige den Thron des seligen Petrus [...].

Ich, Heinrich, König von Gottes Gnaden, und alle unsere Bischöfe, wir sagen dir: Steig herab, steig herab, du für alle Zeiten Verdammter!

»t*

3.11. Papst Gregor Vü. spricht 1076 den Bann über König Heinrich IV. aus:

Heiliger Petrus, Fürst der Apostel, neige zu mir, ich bitte Dich [...] und höre mich, Deinen Knecht [...]. Zur Ehre und zum Schutze Deiner Kirche, widersage ich [...] dem König Hein­rich, Kaiser Heinrichs Sohn, der gegen Deine Kirche mit unerhörtem Hochmut sich erhoben hat, [...] und löse alle Christen von dem Band des Eides, welchen sie ihm geleistet haben oder noch lebten werden, und ich untersage jedem, ihm [...] als einem König zu dienen, weil er sich selbst von Deiner Kirche losreißt, indem er sie zu spalten trachtet, so binde ich ihn mit dem Bande des Fluches.

***

3.12. Papst Gregor VH. berichtet an seine Anhänger in Deutschland vom Tag von Ca­nossa (27. Januar 1077):

König Heinrich harrte drei Tage lang vordem Burgtor in kläglicher Verfassung, ohne körper­lichen Schmuck, barfuß, in wollenem Büßergewand und flehte unter Tränen um Trost und Erbarmen. [...] Von seiner Zerknirschung und durch die Fürbitte aller Anwesenden bewegt, lösten wir ihn schließlich vom Bann und nahmen ihn wieder in die kirchliche Gemeinschaft auf, nachdem erfolgenden Eid geschworen hatte:

Ich, König Heinrich, werde mich innerhalb der vom Papst festgesetzten Frist nach dem Rat des Papstes mit den Bischöfen, Herzögen und Grafen aussöhnen und nach seinem Urteil Recht walten lassen.

3.13. Bestimmungen über die Investitur im Wormser Konkordat, 1122:

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Ich, Heinrich, von Gottes Gnaden erlauchter Kaiser der Römer, überlasse aus Liebe zu Gott und zur Heiligen Römischen Kirche [...] der Heiligen Katholischen Kirche jede Investitur mit Ring und Stab und gestatte, daß in allen Kirchen meines Königreiches und Kaiserreiches die Wahl auf kanonische Weise stattfinde und die Weihe frei sei [...]

Ich, Calixt, Bischof und Knecht der Knechte Gottes, gestatte Dir, meinem lieben Sohne Heinrich [.„1 daß die Wahlen der Bischöfe und Äbte im deutschen Königreiche, soweit sie dazugehören, in Deiner Gegenwart stattfinden. [...] Der Gewählte aber soll von Dir durch das Szepter die Regalien empfangen, und was er daraus Dir rechtlich schuldet, soll er leisten.

***

3.14. Drei Ansichten über das Verhältnis von Kirche und Staat. Die erste stammt von Papst Innozenz ED. (1198-1216), der es als den Willen Gottes ansah, als Stellvertreter Christi für sich den Vorrang vor den weltlichen Mächten zu fordern:

Den Fürsten ist gegeben die Gewalt auf Erden, den Priestern aber ist die Gewalt auch im Himmel zugeteilt, jenen nur über die Körper, diesen auch über die Seelen. [...] Die einzelnen Fürsten haben einzelne Länder, die einzelnen Könige einzelne Königreiche. Petrus aber überragt alle, wie an Fülle so auch an Umfang der Herrschaft, weil er Stellvertreter dessen ist, des die Erde und die Fülle des Erdkreises ist und alle, die auf ihr wohnen.

Im »Sachsenspiegel« (1220) des Eike von Repgau steht der Satz:

Zwei Schwerter ließ Gott auf Erden, zu beschirmen die Christenheit, dem Papste das geistli­che, dem Kaiser das weltliche.

Papst Bonifatius VTTI. in der Bulle »Unam sanctam« (1302) gebraucht ebenfalls das Bild von den zwei Schwertern:

Denn der Herr sagt bei Johannes: »Es gibt nur eine Herde und einen Hirten.« Daß dieser über zwei Schwerter zu verfügen hat, ein geistliches und ein weltliches, das lehren uns die Worte des Evangeliums. Beide Schwerter hat die Kirche in ihrer Gewalt, das geistliche und das weltliche. Dieses aber ist f i r die Kirche zu führen, jenes von ihr, dieses ist zu fuhren von der Hand der Könige und Ritter, aber nur wenn und solange der Priester es will Ein Schwert aber muß dem anderen untergeordnet sein; die weltliche Macht muß sich der geistlichen fü ­gen [...] Wer sich also dieser von Gott so geordneten Gewalt widersetzt, der widerstrebt Got­tes Ordnung. [...] So erklären wir denn, daß alle menschliche Kreatur bei Verlust ihrer Seelen Seligkeit untertan sein muß dem Papst in Rom, und sagen es ihr und bestimmen es.

***

3.15. Auf der Synode von Clermont (1095) rief Papst Urban H. zum ersten Kreuzzug auf:

Es gibt einen Schmerz, der unendlich groß, und ein Unglück, das unendlich tief ist: Palä­stina und Jerusalem sind in den Händen der Feinde!

Der Erlöser unseres Geschlechts, welcher zum Heile aller menschlichen Wesen Leib und Gestalt annahm, wandelte in jenem auserwählten Lande. Jede Stelle ist dort geweiht durch die Worte, die er gesprochen, durch die Wunder, die er verrichtet hat; jede Zeile des Alten und Neuen Testaments beweist, daß Palästina als Erbteil des Herrn und Jerusalem als der

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Sitz aller Heiligtümer und Geheimnisse rein bleiben sollen von der Befleckung. [...] In dem Tempel, aus welchem Christus die Kaufleute vertrieb, damit das Heiligtum nicht verunreinigt würde, wird jetzt des Teufels Lehre öffentlich verkündet. [...] Lasttiere stehen in den heiligen Gebäuden, und für die Erlaubnis, solch Elend zu schauen, verlangen die Frevler sogar noch schweren Zins. Die Gläubigen werden verfolgt, Priester geschlagen und getötet [...]

Wehe uns, wenn wir leben und solchem Unheile nicht steuern; besser ist sterben, als der Brüder Untergang länger dulden.

Jeder verleugne sich selbst und nehme Christi Kreuz auf sich, damit er Christum gewinne; kein Christ mehr streite wider den anderen, damit das Christentum selbst nicht untergehe, sondern verbreitet und gefördert werde. [...] Keiner fürchte Gefahr, denn wer mit dem Herrn streitet, dem sind die Kräfte der Feinde untertan; keiner fürchte Mangel und Not, denn wer den Herrn gewinnt, ist überall reich; keiner lasse sich durch Klagen der Zurückbleibenden vom Zuge abhalten, denn die Gnade des Herrn wird auch diese schützen. [An dieser Stelle der Rede ertönte aus der Menge der Ruf: »Gott will es!« Als wieder Ruhe eingetreten war, setzte der Papst fort]

Es gehen die Worte der Schrift in Erfüllung: »Wo auch nur zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, werde ich mitten unter euch sein« So möge dies Wort euer Feldgeschrei sein in jeder Gefahr, welche ihr übernehmt für die Lehre Christi, das Kreuz aber sei euer Zeichen zur Kraft und Demut Des Apostolischen Stuhles Fluch soll jeden treffen, der sich unterfängt, das heiligste Unternehmen zu hindern; sein Beistand dagegen im Namen des Herrn eure Bahn ebnen und euch geleiten auf allen Wegen!

***

3.16. Aus der Ordensregel des Deutschen Ritterordens:

Drei Dinge bilden die Grundfeste jeglichen geistlichen Lebens: die Keuschheit ewiglich; der Verzicht auf eigenen Willen, das ist der Gehorsam bis in den Tod; das Gelöbnis der Armut, daß der ohne Eigentum lebe, der diesen Orden empfängt. [...] Nur als Ganzes darf der Or­den besitzen Gut und Erbe, Land und Äcker, Burgen, [...] den Zehnten und anderes. Es ist ein Orden zur Ritterschaft gegen die Fände des Kreuzes und des Glaubens, daher sind Rosse, Waffen, Knechte und was sonst noch zum Kampf gehört, gestattet. Laute Jagd mit Meute und B ete ist den Brüdern verboten, aber Raubzeug [...] mögen sie jagen, nicht zur Kurzweil, sondern zu gemeinen Nutzen, und Vögel schießen zur Übung.

***

3.17. Urkunde des slawischen Herzogs Konrad von Masowien für den Deutschen Orden, 1230:

Ich, Konrad, durch göttliche Gnade Herzog von Masowien und Kujawien, will, daß allen Gegenwärtigen und Zukünftigen, die diese Schrift einsehen, bekannt sei, daß ich [...] wegen der Verteidigung des Glaubens [...] den Brüdern vom Deutschen Hause das ganze Kulmer- land mit allem Zubehör zu ewigem Besitze geschenkt habe, mit allem Nutzen und jeder nur möglichen Freiheit [...] und mit edlem übrigen, was man in Privilegien zu schreiben pflegt [...] Die Brüder selbst haben auch mit voller Glaubwürdigkeit mir und allen meinen Erben versprochen, daß sie, so viel mit Gottes Hilfe und mit ihrer Macht möglich ist, gegen Christi und unsere Feinde, nämlich alle Heiden, ohne Vorbehalt und ohne allen Vorwand, solange auch nur einer lebt, mit uns zusammen zu jeder Zeit kämpfen werden.

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**•

3.18. Ein Vertrag zwischen Herzog Heinrich IV. von Schlesien aus dem slawischen Hause der Piasten und dem Lokator Wilhelm aus der Stadt Brieg in Schlesien im Jahre 1274. (Lokator heißt der vom Grundherrn beauftragte Unternehmer, der Siedler an­wirbt und das Siedelrecht vergibt.)

Wir, Herzog Heinrich von Schlesien, machen bekannt, daß wir [...] Wilhelm unseren Wald übertragen. Er soll ihn nach deutschem Siedelrecht zu Besiedlung in kleinen Hufen austun. Deren Inhaber sollen für 10 Jahre alle Freiheit genießen. Am Ende dieser Periode gibt jede Hufe anstelle aller Abgaben und auf ihr ruhenden Rechtsansprüche 1 Vierdung Silber und ein Malter dreifach gemischtes Getreide. Wer auf solcher Hufe siedelt, soll nach unserem Willen von der Stadt Brieg ein erbliches Eigentum erhalten, weil er mit dem Ertrag aus seiner Hufe und seinem übrigen Gut uns und der Stadt ganz besonders dient. Wilhelm und seinen Nachkommen aber stehen, weil er Lokator war und nun das Schultheißenamt innehat, vier Freihufen und der dritte Pfennig aus dem Gericht für immer zu.

***

3.19. Da Heinrich der Löwe Fürsten und Bischöfe in ihren Rechten und Besitzungen ge­schädigt und dem Kaiser die Heeresfolge im Itaüenfeldzug verweigert hatte, vor dem Gericht trotz mehrmaliger Vorladung nicht erschienen war und sich dadurch auch der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht hatte, wurde 1180 folgender Gerichtsbeschluß gegen ihn gefaßt:

Über Heinrich, Herzog von Sachsen und Bayern, wird die Reichsacht verhängt, und es wer­den ihm beide Herzogtümer und alle Reichslehen entzogen. Mit Rat und Zustimmung der Fürsten wird der [westliche] Teil Sachsens dem Erzbischof Philipp von Köln als Herzogtum Westfalen, der [östliche] Teil dem [Askanier] Bernhard als Herzogtum [Sachsen] verliehen und übertragen.

Heinrich ging ins Exil nach England. Seine Familiengüter durfte er zwar behalten, aber außer Sachsen wurde ihm auch das Herzogtum Bayern genommen und Otto von Wit­telsbach übertragen. Die Familie behielt das Land bis ins 20. Jahrhundert.

***

3JO. Gottfried von Straßburg berichtet in seinem Epos »Tristan und Isolde« über die Erziehung des Knappen:

Doch neben aller Wissenschaft lernt er mit Schild und Lanzenschaft leicht und behende reiten, das Roß zu beiden Seiten geschickt mit Sporen rühren und keck im Sprunge führen, [...] nach Ritterbrauch im Ritterspiel: so tummelt er sich oft und viel Er übte Fechten, Rin­gen, Speerwerfen, Laufen, Springen. Auch kam ihm, wie die Märe sagt, niemand gleich in Pirsch und Jagd.

*** *** ***

4.1. Aus einem Gesetz von Kaiser Friedrich ü. [1194-1250], in dem er den Fürsten be­deutende Zugeständnisse macht:

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[Wir setzen fest,] daß keine neue Burg oder Stadt auf geistlichem Gebiet oder aus Veranlas­sung der Vogtei durch uns oder durch irgend sonst jemand unter irgendeinem Vorwand er­richtet werden darf [...] Jeder einzelne unter den Fürsten soll der Freiheiten, Gerichtsbarkei­ten, Grafschaften und Zehnten, seien sie ihm eigen oder zu Lehen gegeben, gemäß der Ge­wohnheit seines Landes ruhig genießen. [...] Die Eigenleute der Fürsten, Edlen, Adligen, Dienstmannen und der Kirchen sollen in unseren Städten keine Aufnahme finden. [...] Wir wollen keine neue Münze im Lande irgendeines Fürsten schlagen lassen, durch welche eine Münze des betreffenden Fürsten verschlechtert werden könnte.

**•

4.2. Kaiser Karl IV. versuchte, mehr Einfluß auf die deutsche Politik zu gewinnen als seine Vorgänger, doch die Kurfürsten beschlossen 1338 zu Rense (nahe Koblenz am Rhein):

Nach Recht und seit alters bewährter Gewohnheit des Reiches bedarf einer, der von den Kurfürsten des Reiches oder selbst bei Uneinigkeit von der Mehrheit desselben zum römi­schen König gewählt ist, keiner Ernennung, Anerkennung, Bestätigung, Zustimmung oder Ermächtigung des Apostolischen Stuhles für die Verwaltung der Güter und Rechte des Rei­ches o d er für die Annahme des Königstitels.

***

43. Aus der Goldenen Bulle, 1356:

Die erlauchten König von Böhmen und der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg [haben] kraft des Königtums und ihrer Herzogtümer bei der Wahl des römischen Königs und zu krönenden Kaiser, zusammen mit den Kirchenfür­sten, ihren Mitkurfürsten, Recht, Stimme und Sitz. [...] Sie [sind] die wahren und rechtmäßi­gen Kurfürsten des Reichs. [...]

Damit nicht unter den Söhnen der weltlichen Kurfürsten über Recht, Stimme und vorbesagte Befugnisse in künftigen Zeiten Stoff zu Streitigkeiten und Zwietracht erweckt und so das all­gemeine Beste durch gefährliche Verzögerung aufgehalten werden kann [..•! beschließen wir und verordnen nach ka iserlich er Machtvollkommenheit durch gegenwärtiges Gesetz, was für künftige Zeiten gelten soll, daß, wenn die weltlichen Kurfürsten und jeder von ihnen sterben sollte, Recht, Stimme und Befugnisse zur Wahl auf den erstgeborenen, rechtmäßigen, im Laienstand befindlichen Sohn, falls aber dieser nicht mehr lebt, auf des Erstgeborenen, der ebenso Laie ist, frei und ohne Widerspruch übergehe.

***

4.4. Das Konstanzer Konzil erklärte 1415:

1. Wir sind im Heiligen Geist rechtmäßig versammelt und stellen die katholische Kirche dar, die ihre Gewalt unmittelbar von Jesus Christus hat.

2 Jeder, auch der Papst, hat dem Konzil in allem zu gehorchen, was auch den Glauben, die Spaltung der Kirche und ihre Erneuerung betrifft.

3. Wer den Befehlen und Anordnungen dieses Konzils nicht gehorcht, wird bestraft, und sollte es der Papst selbst sein.

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***

4.5. Johannes Hus sagte sich in der Schrift »De ecclesia« von der Kirche in Rom los, sie sei nicht wahrhaft fromm und auserwählt.

Es gibt nur eine Heilige allgemeine Kirche, und diese ist die Gesamtheit der Prädestinierten. Petrus ist weder, noch war jemals das Haupt der Heiligen Katholischen Kirche. Die päpstli­che Würde stammt vom Kaiser. Der Papst ist nicht der wahre und offenkundige Nachfolger des Apostelfürsten Petrus, wenn er in seinen Sitten dem Petrus zuwider lebt

***

4.6. Aus der Chronik Ulrichs von Richental über das Konstanzer Konzil:

Da rief der Herzog Ludwig [im Auftrag des Kaisers]; »Vogt, nimm ihn [Hus] hin und ver­brenne ihn als einen Ketzer!« [...] Es war ein Priester da. Dieser ging zu Hus hin und sprach zu ihm: »Lieber Herr, wollt ihr dem Unglauben und der Ketzerei entsagen, so will ich gern eure Beichte hören.« [...] Da erwiderte Hus: »Es ist nicht nötig, ich bin kein Todsünder.« Als er darauf anfangen wollte, deutsch zu predigen, wollte das Herzog Ludwig nicht leiden und befahl, ihn zu verbrennen. Da ergriff ihn der Henker, band ihn [...] an einen Pfahl Erstellte ihn auf einen Schemel, legte Holz und Stroh um ihn herum, schüttete etwas Pech hinein und brannte es an. Da begann er, gewaltig zu schreien, und war bald verbrannt. [...] Dann führte man alles, was man von der Asche fand, in den Rhein.

«»*

4.7. Ulrich von Hutten sieht das Ritterleben zu Beginn des 16. Jahrhunderts recht trost­los. An den Humanisten Willibald Pirckheimer schreibt er 1518:

Die Leute, von denen wir unseren Unterhalt beziehen, sind ganz arme Bauern, denen wir unsere Äcker, Weinberge, Wiesen und Felder verpachten. Der Ertrag daraus ist im Verhältnis zu den darauf verwandten Mühen sehr gering, aber man sorgt und plagt sich, daß er mög­lichst groß werde; denn wir müssen äußerst umsichtige Wirtschafter sein. Wir dienen dann auch einem Fürsten, von dem wir Schutz eihoffen; tue ich das nicht, so glaubt jeder, er dürfe sich alles und jedes gegen mich erlauben. Aber auch für den Fürstendiener ist diese Hoff­nung Tag für Tag mit Gefahr und Furcht verbunden. Denn so wie ich nur einen Fuß aus dem Hause setze, droht Gefahr, daß ich auf Leute stoße, mit denen der Fürst Spähne [Streit] und Fehden hat und die mich anfallen und gefangen wegfuhren. Habe ich Pech, so kann ich die Hälfte meines Vermögens als Lösegeld darangeben. [...] Wir halten uns deshalb Pferde und kaufen uns Waffen, umgeben uns auch mit einer zahlreichen Gefolgschaft, was alles ein schweres Geld kostet Dabei können wir dann keine zwei Acker lang unbewaffnet gehen; wir dürfen keinen Bauernhof ohne Waffen besuchen, bei Jagd und Fischfang müssen wir eisengepanzert sein. Die Streitereien zwischen unseren und fremden Bauern hören nicht auf; kein Tag vergeht, an dem uns nicht von Zank und Hader berichtet wird, die wir dann mit größter Umsicht beizulegen suchen Denn wenn ich das Meine allzu hartnäckig vertei­dige oder auch Unrecht verfolge, so gibt es Fehden. Lasse ich aber etwas allzu geduldig hin­gehen oder verzichte gar auf mir Zustehendes, so gebe ich mich ungerechten Übergriffen von allen Seiten preis. Gleichgültig ob eine Burg auf einem Berg oder in der Ebene steht, so ist sie auf jeden Fall doch nicht für die Behaglichkeit, sondern zur Wehr erbaut, mit Gräben und Wall umgeben, innen von bedrückender Enge, zusammengepfercht mit Vieh- und Pfer­deställen, Dunkelkammern, vollgepfropft mit schweren Büchsen, Pech, Schwefel und allen übrigen Waffen und Kriegsgerät. Überall stinkt das Schießpulver, und der Duft der Hunde und ihres Unrates ist auch nicht lieblicher, wie ich meine. Reiter kommen und gehen, dar­

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unter Räuber, Diebe und Wegelagerer. [...] Und welch ein Lärmt Da blöken die Schafe, brüllt das Rind, bellen die Hunde, auf dem Feld schreien die Arbeiter, die Wagen und Kar­ren knarren, und bei uns zu Hause hört man auch die Wölfe heulen.

* * S

4.8. Ritter Götz von Berlichingen schildert seine Fehde mit den Nümbergem um 1520:

Ich wußte, daß die Nürnberger über Würzburg zur Frankfurter Messe zogen. Im Spessart kundschaftete ich sie aus und warf sechs von ihnen nieder; darunter war ein Kaufmann, den ich bereits zum drittenmal in diesem halben Jahr gefangen und an seinem Gut geschädigt hatte. Die anderen waren Ballenbinderzu Nürnberg. Ich ließ sie niederknien, als wollte ich ihnen die Köpfe und Hände abhauen; aber es war nicht mein Emst, sondern ich trat dem einen nur mit dem Fuß in den Hintern, den anderen gab ich eine hinters Ohr. Weiter strafte ich sie nicht, und dann ließ ich sie wieder ziehen.

Das Reich stellte darauf400 Pferde gegen mich auf, Grafen und Herren, Ritter und Knechte- ihre Fehdebriefe sind noch vorhanden - , und ich kam mit meinem Bruder zusammen in die Acht. Alles, was wir hatten, wurde uns genommen. Wir mußten uns versteckt halten; aber dennoch tat ich meinen Feinden ziemlichen Schaden an, so daß kaiserliche Kom­missare immer wieder zwischen uns schlichten mußten. [...]

Damals wollte ich die Nürnberger mitsamt dem Bürgermeister, der eine große goldene Kette am Hals hängen hatte und mit einem Streitkolben bewaffnet war, alle ihre Reisigen und ein Fähnlein Knechte mit Gottes Hilfe schlagen und gefangennehmen, als sie gegen die Burg Hohertkrähen zogen. Aber meine Freunde rieten mir davon ab, und ich folgte ihnen - zu meinem Schaden.

***

4.9. Aus einer Wormser Chronik über den Rheinischen Städtebund:

Damals stand es in Deutschland, vornehmlich am Rhein, so, daß, wer der Stärkste war, der schob den anderen in den Sack, wie er konnte und mochte. Die Reiter und die Edelleute nährten sich aus dem Stegreif, mordeten, wenn sie konnten, verlegten und versperrten die Straßen und Pässe. [...] Weil sonst keinerlei Hilfe zu erwarten war, verbanden sich sechzig am Rhein gelegene Städte [...]. Sie vereinigten ihre Kriegsrüstungen [...], rissen die Raub­schlösser ein und schleiften sie und vertrieben die Mörder und Straßenräuber aus dem Land.

***

4.10. Aus dem Wiener Stadtrecht vom 18. Oktober 1221:

Wenn ein Bürger jemandem eine Hand oder einen Fuß abschlägt oder ein Auge oder eine Nase oder irgendein edles Glied, der soll dem Richter zehn Talente und dem Beschädigten ebensoviel geben. Wenn aber der Beschädiger das Geld nicht haben sollte, so soll er nach dem Gesetz gerichtet werden, nämlich Aug’ um Auge, Hand um Hand, und so auch bezüg­lich der anderen Glieder. [...]

Wird einer durch sieben ehrbare und glaubwürdige Männer überßhrt, ein falsches Zeugnis abgelegt zu haben, so soll ihm die Zunge abgeschnitten werden, oder er löse sich dieselbe mit zehn Talenten und ersetze dem durch se in e falsche Aussage Geschädigten den Schaden [...]

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Wer Gott den Herrn und seine Heiligen lästert, dem soll die Zunge abgeschnitten werden und um keinen Preis dieselbe zu lösen erlaubt sein.

Ebenso soll derjenige, der innerhalb der Stadtmauer ein langes Messer, das »Stechenmesser« [Dolch] heißt, am Gürtel hängen hat, dem Richter ein Talent und dieses Messer geben. Wer es aber im Stiefel oder anderswo an sich verborgen und heimlich trägt, der sott dem Richter zehn Talente geben oder die Hand verlieren. [...]

Endlich bestimmen wir, daß 24 einsichtsvolle Bürger der Stadt [das heißt der Stadtrat] mit einem Eide beschwören, daß sie über Handel und Wandel und über alles, was zur Ehre und zum Vorteil der Stadt dient, nach bestem Wissen Anordnungen treffen wollen; und was sie in dieser Beziehung tun und verfügen, das soll der Stadtrichter in keinerlei Weise zu hindern wagen Wer jedoch in irgendeiner Hinsicht gegen die Verfügungen dieser 24 handelt, der soll dem Richter die von jenen festgesetzte Strafe zahlen Um diese 24 sollen so oft als möglich zur Ordnung der Verhältnisse der Stadt Zusammenkommen

«»*

4.11. In Chroniken aus dem Mittelalter findet man immer wieder Berichte über Seu­chen, Hungersnöte und so weiter. Drei bezeichnende Zitate:

[1267] Im Jahre des Herrn 1267 herrschten Seuchen und Hungersnot im österreichischen, wozu Brände von Dörfern und Städten hinzukamen, und die Bevölkerung, der auch ihr ge­samtes Vieh wegstarb, erlag elendig der Seuche.

[1338] In demselben Jahr machte sich vom Orient aus ein Heuschreckenschwarm auf und fraß in Ungarn, Polen, Böhmen, Mähren, Österreich, Steier, Kärnten, Krain, Schwaben, Bayern, Lombardey, Friaul und den Alpenländem bis zum Rhein hin alles Grün der Erde in den Monaten Juli und August mit Stumpfund Stil ab.

[1348] Do ward der sterb [die Pest] in allem Österreich sehr groz, doch besunder daz zu Wienn. [...] Und starben sovil Leut, an einem Tag czwelliff hundert leich, die gelegt wurden in den gots acker.

*«*

4.12. Wachordnung der Stadt Freiburg aus dem Jahre 1406:

Vom Klötzlinstor bis zum Schwabentor die Gerber und Henni Lermündli und Hessermann. Vom Schwabentor bis zum Schneckentor die Wirte und alle aus der Vorstadt, außer den Schmieden, und mit ihnen Heinrich Geben und Peterman Tegerüin. Vom Schneckentor bis zum Peterstor die Schmiede und Tücher und mit ihnen Jakob Wisswil, Gerhard von Krot- zingen und Konrad Tegerüin Vom Peterstor bis zum Predigertor die Schuhmacher und die Zimmerleute und mit ihnen Bart von Munzingen und Konrat von Hagenau. Vom Prediger­tor bis zum Diebstor die Krämer und die Brotbecken, und mit ihnen Henni Snewelin und Rudolf Turner. Vom Diebstor bis zum Mönchstor die Gerber in der Neuenburg und in der Altstadt und die Metzger und mit ihnen Henni Tegerüin und Jösett Tusenlinger. Vom Mönchstor bis zum Schultor die Rebleute, Heinrich von Munzingen, der junge Rudi von Aue, Konrat Wibler und Konrat Snedery. Beim Bürgermeister die Schneider, Karrer, Küfer und Kürschner und alle, die beritten sind

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4.13. Der Stadtrichter in Graz und die zwölf Geschworenen des Rates bestätigen den einheimischen Sattlermeistern 1293 ihre alten Rechte:

Ich, Volgkhmar, Richter zu Graz, und die zwölf Geschworenen des Rates in derselben Stadt tun allen kund, die diese Urkunde sehen oder hören, daß wir den angesessenen Sattlern in Graz mit dieser Urkunde ihre Rechte erneuerten und nach ihrer Bitte bestätigen Es ist ihr Recht, daß keiner Meister werden darf ohne ihren Willen Wer mit ihrem Willen Meister werden will, soll in die Bruderschaft eine Mark Pfennige geben und soll allen Angehörigen der Bruderschaft samt ihrem Gesinde ein Mahl geben Dem Richter hat er ein halbes Pfund Pfennige und dem Nachrichter 40 Pfennige zu geben Will jemand Meister werden, der bei ihnen in Graz gelernt hat, dieser braucht nur die Hälfte der Abgaben zu geben Wergegen ihr Recht das Handwerk ausübt, hat so oft Strafe zu zahlen, als es ihm die Sattler verbieten und so oft er das Verbot bricht, und zwar den Meistern sechzig Pfennig und dem Stadtrichter sechzig Pfennig. Nimmt ein Sattler eine Meisterstochter zur Ehe, so erwirbt er damit das Recht auf die Werkstätte, die ihr Vater innehatte. Alle weiteren Abgaben an die Bruderschaft sollen nur nach einstimmigem Beschluß der Bruderschaftsmitglieder gereicht werden dürfen

***

4.14. Aus dem Amtsbrief der Zunft der Kölner Leinenweber, 1397:

2 Wer in diesem Handwerk und Bruderschaft ist, der soll den Meistern jederzeit gehorsam sein So nicht, soll er dem Handwerk eine kölnische Mark Buße bezahlen

3. Niemand soll ein Stück Ware verkaufen, es sei denn zuerst im Tuchhaus geprüft.

4. Wer sein Tuch zu kurz oder zu schmal macht, muß sechs Schilling Buße zahlen, zur Hälfte zu Gottes Ehre und zur Hälfte in die Büchse zu Nutzen des Handwerks.

5. Hat ein Meister drei Jahre lang im Handwerk gedient, soll er einen Vollhamisch haben und halten zu Nutzen der Stadt.

6. Wenn zum Totengeleit aufgerufen wird und einer dem nicht nachkommt, zahlt er ein hal­bes Pfund Silber Buße.

7. Die Meister sollen zwei Meister aus ihren Reihen wählen, und diese sollen zu den Heiligen schwören, das Am t in Ehren zu halten und zu regieren Sie sollen die Bußen empfangen zu Nutzen des Kaufhauses und des Amts. Und diese Meister sollen das Siegel haben und zu den Heiligen schwören, das Siegel treulich zu bewahren, daß der Kaufmann geschützt sei

***

4.15. Strenge Bestimmungen fiir fremde Kaufleute im Wiener Stadtrecht (1221):

Keinem Bürger aus Schwaben, aus Regensburg oder aus Passau soll es erlaubt sein, mit sei­nen Waren Ungarn zu betreten Wer dagegen handelt, soll uns zwei Mark Goldes zahlen Kein auswärtiger Kaufmann soll auch mit seinem Kaufgut in der Stadt länger als zwei Mo­nate verweilen, soll auch die Waren keinem Fremden, sondern nur an Bürger verkaufen

***

4.16. Aus der Kölner Messeordnung im Jahre 1360:

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Jedem Gast und Kaufmann soll gleiches Recht in bezug auf Geld und Ware eingeräumt werden Wenn die Messezeit beginnt, soll man die Glocke von S t Martin so lange läuten, daß man eine Weile weit reiten könnte, und dann sei für alle Friede. Wenn die Messe endet, soll man dieselbe Glocke wieder läuten, und jeder soll sich fortbegeben Wer zur Messezeit den Frieden bricht, den soll man nach dem Recht richten

Niemand soll auswärtige Münzen in Kölner Geld wechseln und umgekehrt. Zwei vereidigte Wäger sollen den jeweiligen Geldwert feststellen; sie dürfen dafür von je 100 Gulden nur 2 Pfennig nehmen

Die Stadt stellt 4 oder 6 vereidigte Tuchprüfer an Sie sollen dem Herren schwören, ge­wissenhaft zu prüfen und nur nach dem Stadtmaß zu nehmen Und man soll nehmen vom ganzen Scharlachtuch einen halben Gulden, vom langen Tuch zwei Groschen, vom kurzen einen Groschen

Aller Wein soll während der 14 Tage dauernden Messe auf dem Rhein verkauft werden

i f k i t * * * * * *

5.1. Der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere über den Bernsteinhandel:

Als zuverlässig richtig gilt, daß sich der Bernstein auf den Inseln des nördlichen Ozeans bil­det. [...] Der Bernstein entsteht ähnlich dem Gummi der Kirschbäume und dem Harz der Pinien, die sich auch aus überquellendem Baumsaft bilden, aus dem Ausfluß einer Pinien­gattung. Die Flut spült das Harz, das entweder unter dem Einfluß der Kälte oder der Zeit, vielleicht aber auch durch Einwirkung des Seewassers erstarrt ist, hinweg. Der Bernstein wird dann an der Festlandküste angeschwemmt, da er so leicht ist, daß er zu schweben scheint und nicht zu Boden sinkt.

Daß der Bernstein tatsächlich vom Harz einer Piniengattung abstammt, ist auch daran zu erkennen, daß er, wenn man ihn reibt, wie eine Pinie riecht. Zündet man ihn an, duftet er wie Kienholz. Von den Germanen wird er zunächst nach der Provinz Pannonien gebracht und von dort zu den Venetern, die in der Nachbarschaft Pannoniens und um das Adria­tische Meer herum wohnen Diese haben ihn bei den übrigen bekannt gemacht. Die germa­nische Küste, von der er eingeführt wird, ist von Carnuntum 600 Meilen entfernt, wie kürz­lich bekannt wurde.

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52. Eine Quelle aus der Zeit um 870 schildert die Missionierung im slawischen Teil Kärntens:

[...] der Kaiser [Karl] selbst befahl dem Erzbischof Amo, in das Gebiet der Slawen zu gehen, diese ganze Gegend zu missionieren und den kirchlichen Dienst nach seinem bischöflichen Amt zu versehen und die Volksstämme durch Predigen im Glauben und im christlichen Lebenswandel zu bestärken So tat er auch, als er hinkam, weihte Kirchen, bestellte Priester, lehrte das Volk in Predigten Und als er von dort zurückkehrte, meldete er dem Kaiser, daß dort viel Gutes erreicht werden könne, wenn jemand dort eine Lebensaufgabe fände. Da fragte ihn der Kaiser, ob er nicht einen Geistlichen habe, der in diesem Land für Gott Seelen gewinnen könne. Und dieser antwortete, er habe einen solchen, der Gott gefallen habe und Hirte jenes Volkes werden könnte. Dann wurde auf Befehl des Kaisers Deodericus vom Salzburger Erzbischof zum Bischof geweiht. Amo und der Graf Gerold geleiteten ihn selbst

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nach Slawonien, empfahlen ihn dem Schutz der Fürsten und übergaben ihm als Bischof das Gebiet der Karantaner und ihrer Nachbarn im Gebiet westlich der Drau, bis dahin, wo die Drau in die Donau fließt, daß er kraft seiner Vollmacht durch seine Predigt das vielleicht leite und durch das Evangelium lehre, Gott zu dienen, und Kirchen weihe und Priester be­stelle und einführe; und er verlangte, daß er den ganzen Kirchendienst in jenen Gegenden [...] verrichte unter der kirchlichen Oberhoheit des Salzburger Bistums.

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53. In einer Schenkungsurkunde Kaiser Ottos HI. von 996 scheint erstmals der Name Ostarrichi auf:

Im Namen der heiligen und ungeteilten Dreifaltigkeit. Otto, durch göttliche vorherbestimmte Milde Kaiser und Herrscher des Reiches. Es möge der Eifer aller unserer Getreuen, sowohl der gegenwärtigen als auch der zukünftigen, wissen, daß wir den Bitten unseres geliebten Vetters Heinrich, des Herzogs von Bayern, zustimmend, gewisse Besitzungen unseres Rechtes in der Gegend, die im Volke Ostarrichi heißt, in der Mark und Grafschaft des Grafen Hein­rich, des Sohnes des Markgrafen Luitpold, in dem Ort, der Niwanhova genannt wird, in den Schoß der Freisinger Kirche, zum Dienste der Heiligen Maria und des Heiligen Bekenners Christi und Priesters Corbinian [christlicher Heiliger, der zur Zeit des Bonifatius im baye­rischen Gebiet gewirkt hatte], der nun unser getreuer Gottschalk, der ehrwürdige Bischof, vorsteht, zum eigenen und ewigen Gebrauch gewährt und durch unsere kaiserliche Macht fest übergeben haben.

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5.4. Die Urkunde »Privilegium minus« (1156), in der der Babenberger Heinrich eine Reihe von Vorrechten zugesichert erhält, zählt zu den wichtigsten Dokumenten der österreichischen Geschichte.

Im Namen der heiligen und ungeteilten Dreifaltigkeit. Friedrich, von Gottes Gnaden Kaiser der Römer und Herrscher [...] Es sollen alle jetzt lebenden Getreuen Christi und unseres Kaiserreiches sowie die nachfolgenden Geschlechter wissen, wie wir mit Beihilfe der Gnade dessen, weicherden Frieden der Menschen vom Himmel auf die Erde gesandt hat, auf dem allgemeinen zu Regensburg am Feste der Geburt der Jungfrau Maria abgehaltenen Hoftage in Gegenwart vieler frommer [...] Fürsten den Streit und die Zwietracht, welche wegen des Herzogtums Bayern zwischen unserem sehr geliebten Oheim Heinrich, dem Herzog von Österreich, und unserem sehr lieben Neffen Heinrich, dem Herzog von Sachsen, lange herrschten, auf diese Weise beigelegt haben, daß der Herzog von Österreich uns das Her­zogtum zurückgab, welches wir alsogleich als Lehen dem Herzog von Sachsen überließen. Der Herzog von Bayern aber stellte uns zurück die Mark Österreich mit allen seinen Rechten und allen seinen Lehen, welche einst Markgraf Leopold vom Herzogtum Bayern besaß. [...]

Damit hiedurch die Ehre und der Ruhm unseres geliebten Oheims nicht einigermaßen ver­mindert erscheinen, verwandelten wir nach dem Rate und dem Urteile der Fürsten [...] die Mark Österreich in ein Herzogtum mit allen Rechten unserem vorgenannten Oheim Hein­rich und seiner erhabenen Gemahlin als Lehen und bestimmten gesetzlich für ewige Zeiten, daß sie und ihre Kinder nach ihnen, ohne Unterschied ob Söhne oder Töchter, dieses Her­zogtum Österreich erblich vom Reiche innehaben und besitzen sollen.

*«*

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5.5. Darüber, wie Österreich 1156 Herzogtum wurde, steht im Geschichtswerk »Gesta Friderici ü.« des Otto von Freising:

Es war aber die große Sorge des erhabensten Fürsten [Friedrich I.J als alles im Reich glücklich vonstatten ging, wie der Streit, welcher zwischen seinem Fleisch und Blut, das heißt zwischen den Herzögen Heinrich II. [Jasomirgott], seinem Oheim, und gleichfalls Heinrich [dem Löwen], dem Sohn seines Oheims von seiner Mutter Seite, über das norische Herzog­tum wütete, ohne Blutvergießen beendigt werden könnte. Es war nämlich dieser Heinrich der Sohn des früheren Herzogs von Bayern, den wie anderen Orts geschildert worden ist, König Konrad aus Bayern vertrieben und in Sachsen zu bleiben gezwungen hatte. Er hatte das Her­zogtum erst Leopold IV., dem Sohn des Markgrafen Leopold [HL], und dann seinem Bru­der, Heinrich [Jasomirgott] verliehen. [...]

Am Dienstag [nach Pfingsten 1156] darauf unterredete er sich nicht weit von der Stadt Ra- tispona [Regensburg] mit seinem Oheim, dem Herzog Heinrich und bewog ihn nun endlich, mit dem anderen Heinrich einen Vergleich abzuschließen. [...]

Da nun Mitte September schon herangekommen war, versammelten sich die Fürsten in Ra- tispona und warteten einige Tage lang auf die Ankunft des Kaisers. Als dann der Fürst sei­nem Oheim im Feldlager begegnete - jener blieb nämlich an zwei Meilen entfernt unter Zelten - und alle Vornehmen und Großen herbeieilten, wurde der Beschluß, welcher schon lange geheimgehalten wurde, verkündigt. [...]

Das aber war die Summe der Einigung, wie ich mich erinnere: Heinrich der Ältere [Jasomirgott] verzichtete auf das Herzogtum Bayern durch Rückgabe von sieben Fahnen an den Kaiser. Nachdem diese dem Jüngeren [Heinrich dem Löwen] übergeben worden waren, gab er durch Fahnen die Ostmark mit den seit alters zu ihr gehörenden Grafschaften zurück. Darauf machte der Kaiser aus eben dieser Mark samt genannten Grafschaften, deren man drei nannte, nach dem Urteil der Fürsten ein Herzogtum und übergab es nicht allein ihm [Heinrich Jasomirgott], sondern auch seiner Gemahlin mit zwei Fahnen und bestätigte mit einer Urkunde, daß das in Zukunft von keinem seiner Nachfolger geändert oder aufgehoben werden könnte.

«**

5.6. 1186 wurde zwischen dem kinderlosen, kränklichen Herzog Ottokar IV. von der Steiermark und dem Babenberger Leopold V. mit kaiserlicher Zustimmung ein Erbver­trag abgeschlossen, der die endgültige Erwerbung der Steiermark durch die Babenber­ger vorbereitete:

[...] und weil Gott nur in Würdigung seiner Barmherzigkeit zuerst unseren Eltern, dann uns an Leuten und Gütern großen Ruhm zuteilte, bedrängt uns eine nicht geringe Sorge, da wir keinen Erben haben, dem all unser Gut zum Erbteil werden sollte. Nachdem wir rum mit unseren Vornehmen klugen Rat gemeinsam gepflogen, haben wir den sehr edlen, gestrengen und treuen Herzog von Österreich, Leopold, unseren Blutsverwandten, als unseren Nachfol­ger bezeichnet, wenn wir ohne Leibeserben sterben sollten. Da sein Land an unseres grenzt, kann jedes unter eines Friedens und Fürsten Gerechtigkeit leichter regiert werden. Weil wir uns sehr freundschaftlich gesinnt wissen, setzen wir auch das volle Vertrauen in ihn, daß er Zeit seines Lebens nicht Übles gegen uns und die Unseren unternehmen werde. Damit je­doch keiner unserer Nachfolger, väterlicher Art und Freundschaft vergessend, gegen unsere Dienstmannen und Landleute gewissenlos und grausam handle, haben wir beschlossen, die Rechte der Unsrigen, wie sie verlangten, durch eine schriftliche Urkunde festzuhalten und zu bekräftigen. Insbesondere setzen wir fest, daß, sollte der genannte Herzog oder sein Sohn

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Friedrich, denen wir unser Eigen zugewendet haben, uns überleben, derjenige, der Österreich irmehat, auch das Herzogtum Steiermark regieren soll, unangefochten von seinen Brüdern

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5.7. Ein Bericht über die unmittelbare Vorgeschichte der Erwerbung Kärntens durch die Habsburger:

Die Tochter Heinrichs nun und deren Gemahl [Johann HeinrichJ der Sohn des Böhmen­königs, entsandten eilends Boten zu dem Böhmenkonig, welcher ihnen noch zu Lebzeiten des Herzogs Heinrich zum Vormund gesetzt worden war, und ließen ihm sagen, er möge ohne Zaudern herbeieilen und in ihrem, seiner Kinder Namen das Land übernehmen. Wenn er sich nämlich der Dinge nicht mit entsprechender Umsicht und unverzüglich an­nehme, könnten bestimmte Folgen eintreten und den Ländern daraus Gefahren erwachsen. [...]

Die Herzöge von Österreich jedoch, die Brüder Albrecht [ü.] und Otto, als Söhne einer Schwester des Verstorbenen, da dieser keine Söhne hinterlassen, wandten sich an Ludwig [IV. von Bayern], der das Steuerruder des Reiches lenkte. Sie baten ihn, er möge sich her- beiiassen, zu ihnen nach Linz, einer an der Donau gelegenen Stadt, zu kommen. Ludwig gab ihren Bitten statt, und so trafen sie am genannten Ort mit ihm zusammen. Hier pflegten sie erst nach den Anstrengungen der Reise ein wenig der Ruhe; dann brachten die Herzöge dem Kaiser ihre Bitten und Gesuche vor. Vertrauensvoll und dringend baten sie, er möge sie mit dem erledigten Land Kärnten belehnen [...].

*** *** ***

6.1. Auf dem Wormser Reichstag von 1495 verkündete Kaiser Maximilian I. [1459-1519] den »Ewigen Landfrieden« zur Abstellung des Fehdewesens. Darin heißt es:

Von der Zeit der Verkündigung an soll niemand - weder er selbst noch in seinem Auftrag - einen anderen befehden, bekriegen, berauben, gefangennehmen, angreifen, belagern, auch kein Schloß, Städte, Märkte, Befestigungen, Dörfer, Höfe oder Weiler bestürmen oder ohne des anderen Willen gewaltsam und freventlich einnehmen, abbrennen oder irgendwie scha- digen; ferner soll niemand denen, die solches tun, Hilfe und Beistand leisten. [...] Wer sich gegen das Gesetz vergeht, soll — abgesehen von anderen Strafen - in Unsere und des Heili­gen Reiches Acht fallen.

***

6.2. Der kaiserliche Rat Spießheimmer berichtet über die Persönlichkeit von Kaiser Maximilian I.:

Außer seiner Muttersprache beherrschte er Latein, Französisch und Italienisch. Auch be­schäftigte er sich gern mit der Philosophie und sprach oft verständig über die Dinge der Na- tur, niemals jedoch oberflächlich Über die Geheimnisse des Glaubens hat er oft scharfsin­nig, aber nicht ohne die Erleuchtung, die Pythagoras gewiesen hat, gestritten. Diejenigen Ju­risten, die die alten, abgedroschenen Meinungen vortrugen, waren ihm zuwider. So haben sich unter seiner Führung allmählich die hebräische, die griechische und die lateinische

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Sprache, überhaupt die feinere Bildung in Deutschland, erhoben, sind dann langsam em­porgewachsen und schließlich wie in einem Strome hervorgeschossen.

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63. Der italienische Humanist Petrarca über die Erfindung der Feuerwaffen:

Es genügt ihnen rächt der Zorn des unsterblichen Gottes, wenn er vom Himmel donnert Nein, die Menschlein (oh, welch ein Gemisch von Grausamkeit und Übermut) müssen auch auf der Erde donnern. Die menschliche Wut hat den unnachahmlichen Blitz nachgeahmt. Den Blitz, der sonst aus den Wolken geschleudert wird, schleudern sie mit ei­nem Werkzeug, das nur aus Holz besteht, aber aus der Hölle stammt

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6.4. Der Humanist Erasmus von Rotterdam über die Nationen, 1517:

Der Engländer ist des Franzosen Feind, nur weil dieser Franzose ist. [...] Der Deutsche ist mit dem Franzosen uneinig, der Spanier mit beiden. Welche Verkehrtheit! [...] Warum ma­chen [...] sie sich nicht zu Freunden? [...] Du, Engländer, willst dem Franzosen übel Warum willst du rächt [...] als Christ dem Christen wohl? [...] Einst hat der Rhein die Gallier von den Germanen geschieden, aber der Rhein trennt nicht den Christen vom Christen. Die Py­renäen sondern zwar die Spanier von den Franzosen ab, lösen aber nicht die Einheit der Kirche. Das Meer trennt wohl die Engländer von den Franzosen, aber rächt die Gemein- schaft des Glaubens. [...] Euch Fürsten rede ich an, von deren Wink das Wohl der Menschen am meisten abhängt, die ihr das Bildnis des Fürsten Christus unter den Sterblichen verkörpert. [...] Der größte Teil des Volkes haßt den Krieg und bittet um Frieden. Nur einige wenige [...] wünschen den Krieg.

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6.5. Papst Sixtus IV. schreibt 1477 an Graf Eberhard V. von Württemberg, der in Tübin­gen eine Universität gründen möchte:

Die uns neulich von [...] Graf Eberhard von Württemberg vorgelegte Bitte enthielt die Fest­stellung, daß die Länder des Grafen weit und breit ausgedehnt und an Einwohnerzahl und Erträgen reich sind. Dennoch ist in seinen Städten [...] und Orten keine Universität, zu der sich die Einwohner, die in den Wissenschaften Fortschritte machen wollen, zum Lernen und Studieren begeben könnten. Daher soll nun in der Stadt Tübingen, einem ausgezeichneten Platz voll bequemer Wohnungen, in der es eine große Menge Nahrungsmittel gibt, eine Universität errichtet werden.

*** *** ***

7.1. Ein Ablaßbrief des Papstes Sixtus IV. aus dem Jahre 1480:

Alle Gläubigen erhalten vollkommenen Ablaß ihrer Sünden, wenn sie die sieben Altäre im Freiburger Münster in der dritten Woche vor Ostern besuchen, je einen Altar an einem Tag, und wenn sie von ihren Gütern, die ihnen Gott verliehen hat, zur Vollendung des Chores und zum Weiterbau der Kirche, zur Vermehrung von Kelchen, Büchern und anderer Zierde, so viel in den Opfersack legen, wie ein jeder für seine Person gewöhnlich in einer Woche ver­braucht.

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12. Beschwerden der deutschen Nation über den römischen Hof, zusammengestellt 1521 von den Reichsständen:

Zum ändern überforden der Papst die erwählten Bischöfe deutscher Nation mit großen Un­kosten zur Zahlung der Palliengelder. [Der Papst verlangte für die Bestätigung eines deut­schen Bischofs oder Abtes hohe Gebühren.] Es werden die Pfründen deutscher Nation zu Rom etwa Büchsenmeistem, Falknern, Eseltreibern und Stallknechten und ändern untaugli­chen Personen verliehen. [...] Daraus erwächst, daß sie ihre geistlichen Ämter nicht selbst versehen, sondern anderen armen Priestern zu versehen befehlen [...], die oft abwesend sind. Dadurch werden die armen Laien [...] alles seelsorgerischen Trostes durch ihre Pfarrer be­raubt. [...]

Es werden die Ablässe, dadurch der Seelen Heil geschehen und die man mit Beten, Fasten, Liebe des Nächsten und anderen guten Werken erlangen sollte, um Geld gegeben. [...] Es kommt wohl vor, daß der Ablaßprediger [...] nichts anderes tut als betrügen; das leidet man [...], weil er viel Gelds in den Kasten bringt.

Die Seelsorger [fordern] für die Leichenbegängnisse, Sakramente, das Messelesen eine Be­lohnung nach ihrem Gefallen. [...] Priester sitzen in Wirtshäusern [...] und wandeln bei Tän­zen auf den Gassen mit langen Messern und laiischen Kleidern. [...]

Zu Zeiten halten die Geistlichen auch offen Wirtschaft [führen eine Gaststätte] auf den Kirchweihen.

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73. Am 31. Oktober 1517 schlug Martin Luther [1483-1546] seine 95 Thesen ans Tor der Schloßkirche zu Wittenberg. Einige der Thesen:

21. Es irren die Ablaßprediger, die da sagen, daß durch des Papstes Ablässe der Mensch von aller Sündenstrafe losgesprochen und erlöst werde.

27. Menschenlehre predigen die, welche sagen, daß, sobald der Groschen im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.

32. Wer durch Ablaßbriefe meint, seiner Erlösung gewiß zu sein, der wird ewiglich verdammt sein samt seinen Lehrmeistern.

36. Jeglicher Christ hat, wenn er in aufrichtiger Reue steht, vollkommen Erlaß von Strafe und Schuld, die ihm auch ohne Ablaßbrief zusteht.

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7.4. Aus Luthers Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen .Standes Besserung« (1520):

Man hat erfunden, daß Papst, Bischof, Priester, Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, Fürsten, Herren, Ackerleut und Handwerker der weltliche Stand Aber es sind alle Christen wahrhaft geistlichen Standes. Unter ihnen ist kein Unterschied. [...] Wir werden alle durch die Taufe zu Priestern geweiht. [...] Die »Romanisten« [Anhänger des Papstes] be­

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haupten, daß die Priester allein Meister der Schrift sein wollen. [...] Aber wir sind ja alle Priester: Wie sollten wir denn nicht auch Macht haben [...] zu urteilen, was da Recht und Unrecht im Glauben wäre.

***

7.5. Aus Luthers Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (1520):

Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. [...] Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. [...] Ein jeg­licher Christenmensch ist zweierlei Natur, geistlicher und leiblicher. [...]

Also hilft es der Seele nichts, ob der Leib heilige Kleider anlegt, wie Priester und Geistliche tun; auch nicht [...], ob er leiblich bete, faste, wallfahre und alle guten Werke tue. Es muß noch etwas anderes sein, was der Seele Freiheit bringt. [...] Die Seele hat kein ander Ding [...] darinnen sie lebe, fromm, frei und christlich sei, [als] das heilige Evangelium, das Wort Gottes. [...] Wo sie das Wort hat, bedarf sie keines ändern Dings mehr.

***

7.6. Karl V. lehnte auf dem Wormser Reichstag 1521 Luthers Lehre mit den Worten ab:

Ihr wißt, daß ich abstamme von den allerchristlichsten Kaisern der edlen deutschen Nation, von den katholischen Königen Spaniens, den Erzherzogen von Österreich, den Herzögen von Burgund, die alle bis zum Tode getreue Söhne der römischen Kirche gewesen sind [...] So bin ich entschlossen, festzuhalten an allem, was seit dem Konstanzer Konzil geschehen ist. Denn es ist sicher, daß ein einzelner Bruder irrt, wenn er gegen die Meinung der ganzen Chri­stenheit steht, da sonst die Christenheit tausend Jahre oder mehr geirrt haben mußte.

***

7.7. Einem zeitgenössischen Bericht zufolge sprach Luther in seiner Verteidigungsrede vor dem Wormser Reichstag folgende Sätze:

[In meinen Büchern wird] das Papsttum und [seine] Lehre angegriffen [sowie auch dieje­nigen, die] mit ihrer falschen Lehre, bösem Leben und schlechtem Vorbild die Christenheit an Leib und Seele verwüstet haben. [...] So ich nun [...] widerrufen würde, so würde ich nichts anderes tun, als daß ich [der Päpste Tyrannei] stärkte und solcher großen Gottlosig­keit [...] Tür und Tor auftäte. [...] Ich kann und will nichts widerrufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu tun. Es sei denn, daß ich mit Zeugnissen der Heiligen Schrift oder mit öffentlichen, klaren und hellen Gründen und Ursachen widerlegt [...] werde, denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es am Tage ist, daß sie oft geirrt und sich selbst widersprochen haben. [...] Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.

***

7.8. Im Wormser Edikt vom 8. Mai 1521 spricht Karl V. das Urteil über Luther aus:

Und befehlen euch ernstlich [...], daß ihr Martin Luther nicht beherbergt, nährt und tränkt, sondern ihn gefangennehmt und uns wohlbewahrt zusendet. [...] Desgleichen gebieten wir allen Richtern, daß sie die Schriften, Bücher, Zettel [Luthers] im ganzen Reich einsammeln, zerreißen und mit öffentlichem Feuer verbrennen. [...] Damit auch der Gift derer, die solche

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Schriften verfassen, nicht weiter ausgebreitet und die hochberühmte Kunst der Druckerei al­lein in guten und löblichen Sachen gebraucht [...] werde, so haben wir [...] geboten, daß hinfort kein Buchdrucker im Reich Bücher oder andere Schriften über den christlichen Glauben zum ersten Mal drucke ohne Wissen und Willen der geistlichen Oberen des jeweili­gen Orts und [nur] mit Erlaubnis der theologischen Fakultät der nächstliegenden Universi­tät.

***

IS . Martin Luthers bekanntestes Kirchenlied ist der 1528 entstandene Psalm 46, sozu­sagen die Hymne der Lutheraner:

Ein feste Burg ist unser Gott,Ein gute Wehr und Waffen.Er hilft uns frei aus aller Not,Die uns jetzt hat betroffen.Der alt böse Feind Mit Emst er’s itzt meint.Groß Macht und viel List Sein grausam Rüstung ist,A u f Erd ist nicht seinsgleichen.

Mit unser Macht ist nichts getan.Wir sind gar bald verloren.Es streit für uns der rechte Mann,Den Gott hat selbst erkoren.Fragst du wer der ist?Er heißt Jesus Christ Der Herr Zebaoth,Und ist kein ander Gott.Das Feld muß er behalten.

Und wenn die Welt voll Teufel wär Und wollt uns gar verschlingen,So fürchten wir uns nicht so sehr,Es soll uns doch gelingen.Der Fürst dieser Welt,Wie saur er sich stellt,Tut er uns doch nicht.Das macht, er ist gericht.Ein Wörtlein kann ihn fallen.

Das Wort sie sollen lassen stahn Und kein Dank dazu haben,Er ist bei uns wohl auf dem Plan Mit seinem Geist und Gaben.Nehmen sie den Leib,Gut, Ehr, Kind und Weib,Laß fahren dahin,Sie haben'’s kein Gewinn.Das Reich muß uns doch bleiben.

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7.10. Aus dem Programm des thüringischen Predigers Thomas Müntzer fum 1490-1523]:

Sie predigen, der arme Mann soll sich von den Tyrannen schinden lassen. Warm wird er die Heilige Schrift lesen lernen? Sollen die Schriftgelehrten schöne Bücher lesen und der Bauer ihnen zuhören? Matthäus sagt: »Ihr könnt nicht Gott und den Reichtümem dienen.« Wer Ehre und Güter besitzt, wird schließlich von Gott verlassen werden. Gott sagt: die Gewalti­gen und ungläubigen Menschen müssen vom Stuhl gestoßen werden. Man kann nicht das Evangelium predigen, Gott fürchten, gleichzeitig die unvernünftigen Regenten ehren und den Junkern gehorchen. Ist es unmöglich, daß die Niedrigen erhoben und von den Bösen abge­sondert werden? Soll die heilige Kirche erneuert werden, muß ein begnadeter Knecht Gottes kommen und wie Elias in höchstem Eifer die Christenheit von den gottlosen Regenten be­freien.

***

7.11. Luthers Stellungnahme zum Bauernkrieg in der Schrift »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern« (1525):

Dreierlei greuliche Sünden wider Gott und Menschen laden diese Bauern auf sich, daran sie den Tod verdient haben an Leib und Seele mannigfaltig: zum ersten, daß sie ihrer Obrigkeit Treu und Huld geschworen haben, untertänig und gehorsam zu sein. [...] Zum ändern, daß sie Aufruhr anrichten, rauben und plündern mit Frevel Klöster und Schlösser, die nicht ihre sind [...] Zum dritten, daß sie solche schreckliche, greuliche Sünde mit dem Evangelio decken.

***

7.12. In Jean Calvins »Unterricht in der christlichen Religion« steht:

Bei dem Gehorsam gegen die Obrigkeit [...] gibt es immer eine Ausnahme oder besser ein Gesetz, das vor allem anderen zu befolgen ist: dieser Gehorsam darf uns nie hindern, dem zu gehorchen, unter dessen Willen sich vernünftigerweise alle Wünsche der Könige unterord­nen, dessen Befehl alle ihre Anordnungen weichen und vor dessen Majestät alle ihre Würde sich demütigt und erniedrigt. [—] Wohl sollen wir denen gehorchen, die Gewalt über uns ha­ben. Aber wenn diese etwas anordnen, was gegen seinen Willen ist, so brauchen wir das nicht zu achten. In diesem Falle ist die Würde der Obrigkeit hinfällig, die Würde, die un­antastbar ist, wenn sie sich dem Willen Gottes unterwirft.

*** *** ***

8.1. Aus dem Augsburger Religionsfrieden, 1555:

Wo ein Erzbischof, Bischof, Prälat oder ein anderer geistlichen Standes von unserer alten Religion abtreten würde, soll derselbige sein Erzbistum, Bistum, Prälatur und andere Beneß- zien [...] alsbald ohne Erwiderung und Verzug [...] verlassen, auch den Kapiteln [...] eine Per­son, der alten Religion verwandt, zu wählen zugelassen sein solL [...] Es soll auch kein Stand den anderen noch desselben Untertanen zu seiner Religion dringen [...] oder wider ihre Ob­rigkeit in Schutz nehmen.

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82 .1556 dankte Kaiser Karls V. ab, sein mächtiges Reich wurde zwischen seinem Sohn König Philipp ü . und seinem Bruder Kaiser Ferdinand I. aufgeteilt. So entstand die österreichische und die spanische Linie der Habsburger. Letztere ist 1700 ausgestorben, und um dieses Erbe brach der spanische Erbfolgekrieg aus. - Karl sagte in seiner Abdankungsrede:

Ich habe immer meine Unfähigkeit erkannt. Heute aber fühle ich mich ganz nutzlos und dieses mein Leben, das Gott mit solcher Trübsal erfüllt, dient mehr zur Buße für meine Sünden als zum Leben.

**«

8.3. Nikolaus Kopemikus [1473-1543] aus Thom schreibt in der Vorrede zu seinem Werk »Über die Bewegungen der Himmelskörper«:

Die Meinung von der Unbeweglichkeit der Erde durch das Urteil vieler Jahrhunderte [schien] bestätigt [...]. Ich dagegen behaupte, die Erde bewege sich.

*«*

8.4. Aus einem Brief von Ignatius von Loyola, dem Begründer der »Gesellschaft Jesu«, aus dem Jahre 1553:

Daß andere Orden es uns in Fasten, Nachtwachen und ändern strengen Regeln zuvortun, die jeder seiner Eigenart entsprechend heilig hält, können wir uns schon gefallen lassen; aber im reinen und vollkommenen Gehorsam, der wahrhaften Verzicht auf unseren Eigenwillen und Verleugnung unseres eigenen Urteils einschließt: darin, teuerste Brüder, wünsche ich dringend diejenigen ausgezeichnet zu wissen, die sich in dieser Gesellschaft Gott unserm Herrn geweiht haben, und daran soll man ihre echten Söhne erkennen.

Deshalb sollen wir niemals auf die Person sehen, der wir gehorchen, sondern in ihr auf Chri­stus unsem Herrn, dem zuliebe Gehorsam zu leisten ist. Denn nicht etwa weil der Obere sehr klug oder sehr tugendhaft oder in irgendwelchen ändern Gaben Gottes, unseres Herrn, be­sonders ausgezeichnet ist, sondern weil er Gottes Stelle vertritt und von ihm Vollmacht hat: deshalb muß man ihm gehorchen.

***

8.5. Ein ranghöher deutscher Jesuit über die Ziele des Ordens:

Es ist nötig, daß wir gute und beredte Prediger, hervorragende Theologen, in Prosa und Vers erfahrene Beichtväter, beim Volk beliebte Priester und eifrige Mönche einsetzen. Damit ge­winnen wir erstens das Volk und zweitens die Gunst und das Wohlwollen der hohen Herren.

***

8.6. Aus den Beschlüssen des Trienter Konzils (1545 -1563):

Wenn jemand sagt, der Sünder werde durch Glauben allein gerechtfertigt, in der Meinung, es werde zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade keine Mitwirkung verlangt, und sei in keiner Weise erforderlich, sich selbst durch Anregung des eigenen Wdlens vorzubereiten und empfänglich zu machen: der sei im Banne. [...]

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Wenn jemand sagt, daß die Sakramente des neuen Gesetzes nicht alle von unserem Herrn Jesus Christus eingesetzt oder daß es mehr oder weniger als sieben seien: Taufe, Firmung, Eucharistie, Buße, letzte Ölung, Priesterweihe und Ehe; oder daß irgendeines dieser sieben nicht wahrhaft und eigentlich ein Sakrament sei: der sei im Banne. [...]

*•*

8.7. Aus der »Schulordnung der Fürstentümer Ober- und Niederbayem«, 1569:

Bei allen Schulen [...] sollen die Lehrer ihre anbefohlene Jugend zur Gottesfurcht anweisen und [...] täglich die Unterrichtsstunden mit lautem Gebet anfangen und schließen. In den lateinischen Schulen sind hierzu lateinische Hymnen, in den deutschen Schulen deutsche Gebete und gute alte katholische Gesänge zu gebrauchen. Neue deutsche Psalmen und Lie­der zu lernen oder zu singen [oder den lutherischen Katechismus zu gebrauchen] soll nicht gestattet werden. [...]

Es soll keiner mehr zu einer Schulstelle angenommen werden, der nicht [...] altgläubig und katholisch [...] ist.

Die Lehrer [sollen] in der ersten Fasten- und ersten Adventswoche ein Verzeichnis ihrer Schulkinder den Pfarrern zustellen, damit diese ersehen können, welche im Beichten und Kommunizieren den schuldigen Gehorsam leisten. Die Säumigen sind den Obrigkeiten namhaft zu machen.

«*•

8.8. Aus einem Zensurerlaß von 1616:

1. Wer verbotene ketzerische Bücher besitzt, hat solche innerhalb acht Tagen [...] bei Ver­meidung einer Geld- und Gefängnisstrafe der Obrigkeit einzuliefem.

2. In jeder Stadt und jedem Markte sind zwei [...] eifrige katholische Bürger als Kommissare zu ernennen, welche neben dem Pfarrer oder Prediger zweimal im Jahr [...] bei den Buch­händlern eine Visitation vornehmen und ketzerische Bücher, Lieder und Gemälde beschlagnahmen sollen, mit der Ankündigung, daß, wenn sie sich mit dergleichen noch ein­mal ertappen lassen, ihr Buchhandel aufgehoben werde, und daß überdies eine exemplari­sche Strafe eintrete. [...]

4. Niemand darf in Glaubenssachen Bücher nach Bayern hereinbringen, die nicht zu Ingol­stadt, Löwen, Freiburg [Schweiz], Paris, Lyon, Rom, Venedig, Florenz, Bologna oder in Spanien gedruckt sind. Alle übrigen, sowohl in deutschen als auch in welschen Landen, in Frankreich und England gedruckten Bücher sind verboten.

***

8.9. Das bekannteste Epigramm von Friedrich Logau [1604 -1655] nimmt Bezug auf den Dreißigjährigen Krieg.

Deß Krieges Buchstaben

Kummer/ der das Marek verzehret/R aub/ der Hab vnd Gut verheret/

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Jammer/der den Sinn verkehret/Elend/das den Leib beschweret/Grausamkeit/ die Unrecht kehret/Sind die Frucht die Krieg Bewehret.

**•

8.10. Aus den Bestimmungen des Westfälischen Friedens, 1648:

Damit aber vorgesorgt sei, daß künftig in der politischen Ordnung keine Streitigkeiten entste­hen, sollen alle und jede Kurfürsten, Fürsten und Stände des Römischen Reiches in [...] der freien Ausübung der Landeshoheit sowohl in geistlichen als auch in weltlichen Angelegen­heiten [.„1 kraft dieses Vertrages so befestigt und bestätigt sein, daß sie von niemandem je­mals unter irgendeinem Vorwand tätlich gestört werden können oder dürfen [...]

Vor allem aber soll das Recht, unter sich und mit dem Ausland Bündnisse für die Erhaltung und Sicherheit abzuschließen, den einzelnen Ständen immerdar freistehen, jedoch unter der Bedingung, daß dergleichen Bündnisse nicht gegen Kater und Reich [...] gerichtet, sondern so beschaffen seien, daß der Eid, durch den ein jeder dem Kaiser und Reich verpflichtet ist, in allen Stücken unverletzt bleibt.

Ob die Untertanen aber katholisch oder Augsburgischer Konfession sind, so sollen sie nir­gends wegen ihrer Religion verachtet und nicht von der Gemeinschaft der Kaufleute, Hand­werker und Zünfte, von Erbschaften, Vermächtnissen, Spitälern, Siechenhäusem, Almosen und anderen Rechten oder Handelsgeschäften und noch viel weniger von den öffentlichen Friedhöfen oder der Ehre der Bestattung ausgeschlossen werden

*#*

8.11. Ein schwedischer Bericht über das Deutschland nach dem dreißigjährigen Krieg:

Wie jämmerlich stehen nun große Städte! Da zuvor tausend Gassen gewesen sind, sind nun nicht mehr hundert. [...] Die kleinen Städte, die offenen Flecken! Da liegen sie verbrannt, zerfallen, zerstört. [...] Sie haben sie [Kirchen] verbrannt, zu Pferdeställen und Marketenderhäusem gemacht. [...] Man wandert 10 Meilen und sieht nicht einen Menschen, nicht ein Vieh. [...] In allen Dörfern sind die Häuser voll von Leichnamen und Asem, Mann, Weib, Kinder und Gesinde, Pferde, Schweine, Kühe, Ochsen neben- und untereinander, vom Hunger und von der Pest erwürgt [...], von Wölfen, Hunden, Krähen und Raben gefressen, weil niemand mehr dagewesen, der sie begraben hat.

*** *** ***

9.1. Im Barock galt der komplizierte Ausdruck als elegant. Die offizielle Adresse des Reichskammergerichts zu Wetzlar lautete beispielsweise:

Denen hoch- und wohlgeborenen, edlen, festen und wohlgelahrten, dann respektive hochge- bomen, hoch- und wohledelgebomen, respektive Ihro kaiserlichen und königlichen Majestät verordneten wirklichen geheimen Räten, dann des löblich kaiserlichen und Reichs­kammergerichts zu Wetzlar fachverordneten Kammer-Richter-Präsidenten und Beisitzern, unseren besonders lieben Herren und lieben Besondem, dann hochgeehrtest auch respektive freundlich vielgeliebten und hochgeehrten Herrn Vettern, dann hoch- und vielgeehrten wie auch weiteres respektive insbesonders hochgeneigt und hochgeehrtesten Herren

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92. Anfang und Ende des 1783 entstandenen Aufsatzes »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von Immanuel Kant [1724-1804]:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit

Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. [...]

Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Ant­wort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon im Stande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsgedanken sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines än­dern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet, sich darin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeit­alter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs.

***

9.3. Ein Beispiel der heiteren Seiten der Aufklärung ist das Gedicht »Lob der Faulheit« von Gotthold Ephraim Lessing [1729-1781].

Lob der Faulheit

Faulheit, jetzo will ich dir Auch ein kleines Loblied bringen. - O... wie... sau... er... wird es mir,Dich... nach Würden... zu besingen!Doch, ich will mein bestes tun,Nach der Arbeit ist gut ruhn.

Höchstes Gut! wer dich nur hat,Dessen ungestörtes Leben - Ach!... ich... gähn... ich... werde matt...Nun... so... magst du... mir’s vergeben,Daß ich dich nicht singen kann;Du verhinderst mich ja dran.

***

9.4. Die Lebensregeln in Adolph Knigges [1752-1796] Buch »Über den Umgang mit Menschen« prägten lange das Verhalten der Deutschen.

Sorge für die Gesundheit deines Leibes und deiner Seele, aber verzärtle beide nicht! Wer auf seinen Körper losstürmt, der verschwendet ein Gut, welches oft allein hinreicht, ihn über Menschen und Schicksal zu erheben und ohne welches alle Schätze der Erde eitle Bettel-

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wäre. Wer aber jedes Lüftchen ßrchtet und jede Anstrengung und Übung seiner Glieder scheut, der lebt ein ängstliches, nervenloses Austemleben und versucht es vergeblich, die verrosteten Federn in Gang zu bringen, wenn er in den Fall kommt, seiner natürlichen Kräfte zu bedürfen. Wer sein Gemüt ohne Unterlaß dem Sturme der Leidenschaften preis­gibt oder die Segel seines Geistes unaufhörlich spannt, der rennt auf den Strand oder muß mit abgenutztem Fahrzeuge nach Hause lavieren, wenn grade die beste Jahreszeit zu neuen Entdeckungen eintritt. Wer aber die Fähigkeit seines Verstandes und Gedächtnisses immer schlummern läßt oder vor jedem kleinen Kampfe zurückbebt, der hat nicht nur keinen wahren Genuß, sondern ist auch ohne Rettung verloren da, wo es auf Kraft, Mut und Ent­schlossenheit ankommt.

Hüte dich vor eingebildeten Leiden des Leibes und der Seele. Laß dich nicht gleich nieder­beugen von jedem widrigen Vorfälle, von jeder körperlichen Unbehaglichkeit. Fasse Mut! Sei getrost! Alles in der Welt geht vorüber, alles läßt sich überwinden durch Standhaftigkeit; al­les läßt sich vergessen, wenn man seine Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand heftet.

»**

9.5. Die bekannteste Formulierung der Grundsätze des Merkantilismus stammt vom französischen F inanzm iniste r Jean Baptiste Colbert aus dem Jahre 1664.

Die Holländer [...] ßhren [...] Industrieerzeugnisse bei uns ein, um im Austausch dafür von uns für ihren Verbrauch und Handel nötigen Materialien zu beziehen. Würden statt dessen [...] Manufakturen bei uns eingerichtet, so hätten wir nicht nur deren Erzeugnisse für unseren Bedarf, sondern wir hätten auch noch Überschüsse für die Ausfuhr, die uns wieder einen Rückfluß an Geld einbrächten. Dies ist [...] aber das einzige Ziel des Handels. [...]

Ich glaube [...], daß es einzig und allein der Reichtum an Geld ist, der die Unterschiede an Größe und Macht zwischen den Staaten begründet. [...]

Durch die Manufakturen [werden sicherlich] eine Million zur Zeit arbeitslose Menschen ihren Lebensunterhalt gewinnen. Eine ebenso beträchtliche Anzahl wird in der Schiffahrt und in den Seehäfen Verdienst finden, und die fast unbegrenzte Vermehrung der Schiffe wird im gleichen Verhältnis Größe und Macht des Staates vermehren. [...]

[Ich] schlage vor [...]: Es sollte jährlich eine bedeutende Summe für die Manufakturen und die Förderung des Handels [...] ausgeworfen werden. Desgleichen [...] Zahlung von Zuschüs­sen an alle, die neue Schiffe kaufen oder bauen oder große Handelsreisen unternehmen. Die Landstraßen sollten ausgebessert, die Zolbtationen an den Flüssen aufgehoben [...], die Flüsse [...] schiffbar gemacht werden, [...] man prüfe sorgfältig die Frage [eines Mittelmeer- Atlantik-Kanals und eines Mittelmeer-Nordsee-Kanals] und unterstütze tatkräßgdie Ost- und Westindbche Kompagnie [Handelsgesellschaft].

»**

9.6. Der führende Theoretiker des österreichischen Merkantilismus Hörnigk schreibt:

Denn ob heutigen Tages eine Nation mächtig und reich sey oder nicht, hanget nicht ab von der Menge oder der Wenigkeit ihrer Kräfte und Reichtum, sondern ßm ehmlich ab deme, ob ihre Nachbarn deren mehr oder weniger ab sie besitzen.

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9.7. Das Toleranzpatent von Joseph ü. (1781) gestattete den Protestanten beider Be­kenntnisse und den Griechisch-Orthodoxen die freie Religionsausübung, wenngleich das katholische Bekenntnis den Vorrang der Staatsreligion bewahrte.

Überzeugt einerseits von der Schädlichkeit alles Gewissenszwanges und andererseits von dem großen Nutzen, der für die Religion und für den Staat aus einer wahren christlichen Toleranz entspringt, haben Wir Uns bewogen gefunden, den Augsburgischen und den Helve­tischen Religionsverwandten, dann den nicht unierten Griechen ein ihrer Religion gemäßes Privat-Exercitium allenthalben zu gestatten ohne Rücksicht, ob selbes jemals gebräuchlich oder eingeführt gewesen sei oder nicht. Der katholischen Religion allein soll der Vorzug des öffentlichen Religions-Exercitü verbleiben. [...] Insbesondere aber bewilligen Wir: Erstens den akatholischen Untertanen, wo hundert Familien existieren, wenn sie auch nicht in dem Orte des Bethauses oder Seelsorgers, sondern ein Teil derselben auch einige Stunden entfernt wohnen, ein eigenes Bethaus nebst einer Schule erbauen zu dürfen. [...] Seine K K Majestät haben verordnet, daß bei Vergebung der Ämter einzig und allein auf Verdienst, Fähigkeit und frommen christlichen Lebenswandel Bedacht genommen werden soll mit Hintanset­zung aller Rücksicht auf die Religionsverschiedenheit.

***

9.8. Kurfürst Friedrich Wilhelm (der Große Kurfürst) im sogenannten »Potsdamer Edikt« über die Aufnahme der Hugenotten:

Wir, Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden Markgraf zu Brandenburg, des HL Römischen Reiches Ertz-Cammerer und Chur-Fürst [...] thun kund und geben [...] zu wissen, nachdem die harten Verfolgungen und rigorosen proceduren, womit man [...] in dem Königreiche Frankreich wider Unsere der Evangelisch-Reformierten Religion zugethane Glau­bensgenossen verfahren, viele Familien veranlasset, [...] selbigen Königreich hinweg in an­dere Länder sich zu bewegen, daß wir dannenher aus gerechtem Mitleiden [...] bewogen werden, vermittels dieses von Uns eigenhändig unterschriebenen Edikts denselben eine und freye retraite [Zuflucht] in alle Unsere Lande und Provincen in Gnaden zu offerieren, und ihnen daneben kund zu thun, was für Gerechtigkeiten, Freyheiten und Praerogativen [Vorrechte] Wir ihnen zu concediren gnädigst gesonnen seyn, um dadurch die grosse Noth und Trübsal [...] auf einige Weise zu subleviren [erleichtern] und erträglicher zu machen. [...]

Diejenigen, welche einige Manufakturen von Tuch, Stoffen, Hüten oder was sonsten ihre Profession mit sich bringet, anzurichten willens seyn, wollen Wir nicht allein desfals verian- geten Freyheiten Privilegiis und Begnadigungen versehen, sondern auch dahin bedacht seyn [...], daß ihnen auch mit Gelde und ändern Nothwendigkeiten, deren sie zur Fortsetzung ihres Vorhabens bedürfen werden, [...] an Hand gegangen werden sott.

***

9.9. Eine Anweisung von König Friedrich Wilhelm I. an seine Minister, 1722:

Wenn einer der vier Herren krank ist, so müssen die anderen seine Arbeit mit übernehmen. [...] Sie sollen jeden Montag Mittwoch, Donnerstag, Freitag [...] Zusammenkommen. [...] im Sommer um 7 Uhr früh, des Winters um 8 Uhr, und sie sollen nicht eher auseinandergehen, bis alles abgetan ist, und können sie [...] nicht fertig werden, so sollen sie bis abends um 6 Uhr zusammenbleiben. Deswegen befehle ich, daß 4 Portionen Essen aus meiner Küche [nach] oben gebracht werden, dann etliche essen können, die Hälfte arbeiten, die andere

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Hälfte wieder essen und die andere Hälfte wieder arbeiten. [...] Sie sollen mir jede Woche einen kurzen Bericht tun, was jeden Tag gemacht wurde. [...] Ich bin doch Herr, ich kann doch hernach tun, was ich will [...] Wer da wird 1 Stunde zu spät kommen [...], soll 100 Dukaten [zahlen]; wer da fehlt und nicht krank ist, hat 6 Monate bei Wasser und Brot in Spandau in einer Kammer zu sitzen.

***

9.10. Eine Verordnung von Friedrich Wilhelm I. aus dem Jahre 1731:

Ein jeder Untertan auf dem Land soll sich die Ausrottung der Sperlinge mit allem Fleiß an­gelegen sein lassen und sechs Jahre nacheinander ein jeder [...] Bauer jährlich 12 [...] Sper­lingsköpfe an die Obrigkeit abzuliefem schuldig sein oder an deren Statt für einen jeden einen Dreyer zur Armenkasse des Dorfes zahlen.

***

9.11. Aus dem Generalschulplan für Preußen von 1736:

§ 1 Das Schulgebäude errichten und erhalten die Gemeinden.

§ 2 Der König gibt freies Bauholz; Türen, Fenster und Kachelofen werden von den Opfer- geldem angeschafft.

§ 4 Jede Kirche zahlt zum Unterhalt des Schulmeisters jährlich vier Taler. Dagegen helfen die Schulmeister beim Kirchendienst mit.

§ 6 Zu seinem Unterhalt werden dem Schulmeister eine Kuh, ein Kalb, ein Paar Schweine und etwas Federvieh frei auf der Weide gehalten und zwei Fuder Heu und zwei Fuder Stroh geliefert.

§ 7 Dazu bekommt er von dem König einen Morgen Land.

§ 9 Jedes Schulkind gibt ihm jährlich, es gehe zur Schule oder nicht, 1/6 Taler.

§ 10 Ist der Schulmeister ein Handwerker, so kann er sich schon ernähren; ist er es nicht, so wird ihm erlaubt, in der Erntezeit sechs Wochen lang auf Tagelohn zu gehen.

***

9.12. Aus einem Klassenbuch von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es werden jeweils Name, Alter, »Fleiß im Schulgehen« und Verhalten der Schüler genannt.

Christoff N. - 13 - des Sommers - guter ahrt und achtsam.

Hanß N. - 14 - wenigste Zeit - Munter, gehorsam undßrchtet Gott.

Margrete N. - 12 - Kombt ziemlich fleißig - Hat wieder Unachtsamkeit zu streiten und sich zu beßem.

AnnaN. - 11 - 1/4 Jahr - Muß sich für Lügen hüten.Christian N. - 9 - 1/2 Jahr - Gehorsam dabey schertzhafft.

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Maria N. - 8 - bleibt offt aus - Muß nicht unbeständig seyn und andere offt anklagen.

Elisabeth N. - 7 - Komt nur des Vormittags - Gott bewahre sie für Verwegenheit, liederl Wesen und trotz.

Susanna N. - 6 - Kombt alzeit - Einfältig u. stille wie ein Lam.

Gerdrut N. - 5 - ist erst Kommen - Daher noch nicht offenbahr.

* * *

9.13. Ein Vertrag zwischen einem Neusiedler und der Königsberger Domänenkammer [Gutsverwaltung] über die Besetzung unbebauten Landes, 1719:

George Jedzoneck, ein freier Mann und kein königlicher Erbuntertan, nimmt von jetziger Brachzeit andere zwei wüste Hufen [etwa 14,5 ha unbebauten Lands] in dem königlichen Dorfe Bienau zu bebauen an, dergestalt, daß er gegen Genuß dreier Freijahre auf selbigen ein gutes Wohnhaus, Scheune und Schuppen aufbauen kann; nach genossenen Freijahren aber gleich anderen Zinsbauem dieses Dorfs, den gewöhnlichen Zins, nämlich 4 Reichstaler 40 Groschen pro Hufe, jährlich zu zahlen hat, dann auch alle übrigen Lasten an Grund­steuer, Einquartierung [kostenlose Beherbergung von Soldaten! Zehntem, Frondienste bei dem königlichen Vorwerk [Haupthof der Domäne] auf sich zu nehmen hat. [...] Wenn er einmal solches Erbe verlassen wollte, [muß er] einen tüchtigen Wirt an seine Stelle setzen, der alles, so in diesem Vertrag enthalten, übernimmt.

***

9.14. Friedrich ü. [1712-1786] formulierte die Grundsätze des aufgeklärten Monarchen so:

Der Herrscher ist nicht zu seinem hohen Rang erhoben, man hat ihm nicht die höchste Macht anvertraut, damit er in Verweichlichung dahinlebe, sich vom Mark des Volkes mäste und glücklich sei, während alles darbt. Der Herrscher ist der erste Diener des Staates. [...]

Die erste Bürgerpflicht ist, seinem Vaterlande zu dienen. Ich habe sie in allen verschiedenen Lagen meines Lebens zu erfüllen gesucht. Als Träger der höchsten Staatsgewalt hatte ich die Gelegenheit und die Mittel, mich meinen Mitbürgern nützlich zu erweisen. Meine Liebe zu ihnen gibt mir den Wunsch ein, auch nach meinem Tode noch einige Dienste zu leisten. [...]

In einem Staate wie Preußen ist es durchaus notwendig, daß der Herrscher seine Geschäfte selbst führt; denn ist er klug, wird er nur dem öffentlichen Interesse folgen, das auch das seine ist. Ein Minister dagegen hat, sobald seine eigenen Interessen in Frage kommen, stets Nebenabsichten. [...]

Ich habe mich entschlossen, niemals den Lauf des gerichtlichen Verfahrens zu stören. In den Gerichtshöfen müssen die Gesetze sprechen und die Herrscher schweigen. [...] Katholi­ken, Lutheraner, Reformierte, Juden und zahlreiche andere christliche Sekten wohnen in meinem Staate und leben friedlich miteinander. Wenn der Herrscher aus falschem Eifer auf den Gedanken käme, eine dieser Religionen zu bevorzugen, so würden sich sofort Parteien bilden und stetige Streitigkeiten ausbrechen [...] und Tausende von Untertanen würden un­sere Nachbarn mit ihrem Gewerbefleiß bereichern und ihre Volkszahl vermehren.

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9.15. Friedrich ü. begründet die Vorteile der »langen Kerls« (1768):

In den ersten Kriegen entschieden nicht die Geschütze, sondern die Menschen den Sieg, und Bataillone mit großen Figuren zerstreuten, das Bajonett fällend, mit einem Schlag feindliche Truppen, deren Soldaten sich nicht mit den Gestalten der unseren messen konnten.

***

9.16. Friedrich ü. in seinem Lehrbuch für Generale (1753) über die Disziplin:

Unsere Regimenter bestehen halb aus Landes/ändern und halb aus Ausländem. [...] diese letzteren [...] versuchen bei der ersten Gelegenheit wieder wegzulaufen. Deshalb ist es beson­ders wichtig: [...] Daß man meidet, nahe an einem Wald zu lagern. [...] Daß man bei Nacht nicht marschiert. [...] Daß, wenn man [zum Rückzug] genötigt ist, man dies den Truppen sorgfältig verbirgt.

***

9.17. Die erste Strophe eines Soldatenliedes, das zur Melodie des Marschliedes »Wir preußischen Husaren, wann kriegen wir das Geld« gesungen wurde, wenn kein Vorge­setzter in der Nähe war. Sahen sich die Soldaten beobachtet, sangen sie einfach auf das »offizielle« Marschlied um.

O, König von Preußen, du großer Potentat, wie sind wir deines Dienstes so überdrüssig satt!Was fangen wir nun an in diesem Jammertal, allwo ist nichts zu finden als lauter Not und Qual

***

9.18. Friedrich ü. über Adel und Bürgertum:

Ein Gegenstand der Politik des Königs von Preußen ist die Erhaltung seines Adels. [...] Da­mit der Adel sich in seinem Besitz behauptet, ist zu verhindern, daß die Bürger adlige Güter erwerben. Im großen und ganzen hat der Adel Ehrgefühl. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß hin und wieder auch Verdienst und Talent bei Nichtadligen vorkommt, aber dies ist doch recht selten der Fall Der Adelsstand [bildet] die Grundlagen und die Säulen des Staates. [...]

Erwürben Bürgerliche Landbesitz, so stünden ihnen alle Stuutsämter offen. Die meisten denken niedrig und sind schlechte Offiziere.

***

9.19. Friedrich ü. über die Religion:

Für die Politik ist es völlig belanglos, ob ein Herrscher religiös ist oder nicht. Geht man allen Religionen auf den Grund, so beruhen sie auf einem mehr oder minder widersinnigen Sy­

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stem von Fabeln. [...] Allein diese [...] Wundergeschichten sind für die Menschen gemacht, und man muß auf die große Masse soweit Rücksicht nehmen, daß man ihre religiösen Ge­fühle nicht verletzt, einerlei, welchem Glauben sie angehören.

***

9.10. Im Jahre 1851 schuf der klassizistische Bildhauer Christian Daniel Rauch [1777-1857] das Reiterdenkmal Friedrichs ü. Kurz nachdem es aufgestellt worden war, fand man am Sockel des Monuments einen Zettel mit den Versen:

Alter Fritz, steig du hernieder, und regier’die Preußen wieder, laß in diesen schweren Zeiten lieber Friedrich Wilhelm reiten!

Das Denkmal stand bis 1950 Unter den Linden, dann wurde es abmontiert. Von 1963 an durfte man es im Hippodrom von Schloß Sanssouci besichtigen, seit 1980 befindet es sich wieder Unter den Linden.

***

9.11. Im Jahre 1713 erließ Kaiser Karl VI. die »Pragmatische Sanktion«, ein Gesetz, demzufolge alle der Habsburgischen Dynastie unterstehenden Länder stets ein einheit­liches, unteilbares Ganzes unter der Herrschaft seiner Nachkommen bilden sollten. Bei Fehlen männlicher Erben sollen auch weibliche Erben an die Regierung gelangen kön­nen. Eine zeitgenössische Beschreibung der Erlassung der »Pragmatischen Sanktion«:

[Nach der vom Kaiser angeordneten Verlesung der Abmachungen sei zu entnehmen gewesen] daß daher Ihrer kaiserlichen Majestät übertragenen spanischen Erbkönigreichen und Landen nunmehr nach Absterben [...] Ihres Herrn Bruders Majestät [...] ohne männli­chen Erben auf Ihre kaiserliche Majestät auch alle dessen hinterlassene Erbkönige und Landen gefallen und sämtlich bei ihren ehelichen männlichen Leibeserben nach dem iure primogeniturae, solange solche vorhanden, unzerteilt zu verbleiben haben; auf ihres männli­chen Stammes Abgang aber - so Gott gnädig abwenden wolle - auf die ehelich hinter- lassenen Töchter allezeit nach Ordnung und Recht der primogenitur gleichmäßig unzerteilt kommen: ferner in Ermangelung oder Abgang der von Ihrer kaiserlichen Majestät herstam­menden aller ehelichen Descendenten männlichen und weiblichen Geschlechts, dieses Erb­recht [...] unzerteilt auf Ihrer Majestät Herrn Bruders Josephi [...] nachgelassene Frauen Töchter und deren eheliche Descendenten wiederum auf obige Weise nach dem iure primo­geniturae falle.

**»

9.12. Zwei Wochen nach dem Tod von Kaiser Karl VI. (1740) schrieb Friedrich ü . an seinen Wiener Gesandten:

Der Kaiser ist tot, das Reich wie das Haus Österreich ist ohne Haupt, die Finanzen Öster­reichs sind zerrüttet, die Armeen heruntergekommen [...]. Dazu treten die sattsam bekannten Prätentionen Bayerns urul Sachsens, die zur Zeit zwar noch unter der Asche glimmen, aber jeden Augenblick aufflammen können, die geheimen Anschläge Frankreichs, Spaniens und Savoyens, die gar bald zu Tage treten werden. Wie ist es da nur möglich, daß man sich in Wien solcher Sorglosigkeit hingibt und gar nicht der Gefahren achtet, die sich in so fürchter­licher Anzahl wider jenes unglückliche Haus auftürmen werden, und wie können so viele

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klarsehende Männer, die noch im Rat der Krone sitzen und die keine Schuld an der Ver­wahrlosung des Staates tragen, sich zum Nachteil der Rettung dieser Großmacht vor heillo­sem Untergang der Täuschung hingeben, zu glauben, alles werde auf Befehl für die unge­schmälerte Aufrechterhaltung der Erbfolge mit ganzem Herzen in den Krieg ziehen?

**«

9.13. Zwei Stimmen zur Teilung Polens. Das erste Zitat stammt von Friedrich ü. (1752), das zweite von Maria Theresia (1772).

[Friedrich ü.] Die Provinz, die uns nächst Sachsen am gelegensten wäre, ist Pobiisch-Preu- ßen. Es trennt Preußen von Pommern. [...] Polen ist ein Wahlreich, beim Tod seiner Könige ist es in ständiger Unruhe durch den Streit der Parteien. Das muß man sich zunutze machen und bei eigener Neutralität, bald eine Stadt, bald einen Distrikt für sich gewinnen, bis das ganze verspeist ist. [...] Erwerbungen, die man durch die Feder erreicht, sind denen, die man mit dem Schwert macht, immer vorzuziehen. Man wagt dabei weniger und ruiniert weder seine Börse noch seine Armee.

[Maria Theresia] In dieser /polnischen] Sache, bei der [...] das offenbare Recht himmel­schreiend gegen uns ist, [...] muß ich bekennen, daß ich mich zeitlebens [...] noch nie so ge­schämt habe. Bedenken Sie, was wir in aller Welt für ein Beispiel geben, wenn wir um ein elendes Stück Polens [...] unsere Ehre und unseren Ruf aufs Spiel setzen.

***

9.14. Am 12. Februar 1797 wurde die Hymne von Joseph Haydn (Musik) und Lorenz Leopold Haschka (Text) auf Kaiser Franz ü. zum ersten Mal gesungen. Mit mehrfach geändertem Text galt das Lied bis Ende des ersten Weltkrieges als österreichische Na­tionalhymne.

Gott erhalte Franz den Kaiser

Gott erhalte Franz den Kaiser,Unsem guten Kaiser Franz!Hoch als Herrscher, hoch als Weiser Steht er in des Ruhmes Glanz.Liebe windet Lorbeerreiser Ihm zum ewig grünen Kranz,Gott erhalte Franz den Kater,Unsem guten Kaiser Franz!

Über blühende Gefilde Reicht sein Szepter weit und breit,Säulen seines Throns sind Milde,Biedersinn und Redlichkeit,Und von seinem Wappenschilde Strahlet die Gerechtigkeit.

. Gott erhalte Franz den Kaiser,Unsem guten Kaiser Franz!

Sich mit Tugenden zu schmücken,Achtet er der Sorgen wert,Nicht um Völker zu erdrücken,

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Flammt in seiner Hand das Schwert, Sie zu segnen, zu beglücken,Ist der Preis, den er begehrt.Gott erhalte Franz den Kaiser, Unsem guten Kaiser Franz!

Erzerbrach der Knechtschaft Bande, Hob zur Freiheit uns empor.Früh erleb ’ er deutscher Lande, Deutscher Völker höchsten Flor,Und vernehme noch am Rande Später Gruft der Enkel Chor:Gott erhalte Franz den Kaiser,Unser guten Kaiser Franz!

*** ***

10.1. Ein Beispiel dafür, wie sehr der Zunftzwang im 19. Jahrhundert ein Hemmschuh der industriellen Entwicklung wurde:

Frankfurt [ist] von Fabriken fast ganz entblößt. Als Ursachen wird vor allen Dingen der Zunftzwang angegeben. Ein Fabrikant kann [keine Belegschaft] von eigenen Arbeitern halten, ohne fast mit allen Innungen in Händel zu geraten. Der [...] Wagenfabrikant in Offenbach [...] würde hier gezwungen sein, seine zahlreichen Bedürfnisse von hiesigen Schmieden, Schlossern, Schreinern, [...] Sattlern, [...] Lackierern usw. verfertigen zu lassen. Er würde dabei [...] tausenderlei Vorteile entbehren. [...] Zwar [will man] die hiesigen Zünfte [einschränken]. Dies aber gehört zu den delikatesten Gegenständen [für die Stadtregie- rung].

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10.2. Im Oktoberedikt von Freiherr vom Stein [1757-1831] über die Bauernbefreiung (9. Oktober 1807) heißt es:

Wir haben erwogen, daß es eben sowohl den unerläßlichen Forderungen der Gerechtigkeit als den Grundsätzen einer wohlgeordneten Staatswissenschaft gemäß sei, alles zu entfernen, was den einzelnen bisher hinderte, den Wohlstand zu erlangen, den er nach dem Maß seiner Kräfte zu erreichen fähig war. Wir haben ferner erwogen, daß die vorhandenen Beschrän­kungen teils in Besitz und Genuß des Grundeigentums, teils in den persönlichen Verhältnis­sen des Landarbeiters Unserer wohlwollenden Absicht entgegenwirken und der Wiederher­stellung der Kultur eine große Kraft seiner Tätigkeit entziehen, jene, indem sie auf den Wert des Grundeigentums und den Kredit des Grundbesitzers einen höchst schädlichen Einfluß haben, diese, indem sie den Wert der Arbeit verringern.

***

10.3. In der »Städteordnung« (1808) von Freiherr vom Stein wird den Bürgern der Städte eine gewisse Selbstverwaltung gewährt.

Die Stadtverordneten erhalten durch ihre Wahl die unbeschränkte Vollmacht, die Bür­gergemeinde zu vertreten und sämtliche Gemeindeangelegenheiten für sie zu besorgen. Sie sind berechtigt, alle diese Angelegenheiten ohne Rücksprache mit der Gemeinde abzuma­

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chen. Sie bedürfen weder einer Instruktion noch einer Vollmacht durch die Bürgerschaft, und sie sind auch nicht verpflichtet, derselben über ihre Beschlüsse Rechenschaft abzugeben. Das Gesetz und die Wahl sind ihre Vollmacht, ihre Überzeugung und ihre Ansicht vom Be­sten der Stadt sind ihre Instruktion, ihr Gewissen aber ist die Behörde, der allein sie deshalb Rechenschaft zu geben haben.

***

10.4. Aus den »Politischen Leitsätzen« des preußischen Ministerpräsidenten Freiherr vom Stein:

Ich halte es für wichtig, die Fesseln zu zerbrechen, durch welche die Bureaukratie den Auf­schwung der menschlichen Tätigkeit hemmt, jenen Geist der Habsucht, des schmutzigen Vorteils, jene Anhänglichkeit ans Mechanische zu zerstören, die diese Regierungsform be­herrschen. Man muß die Nation daran gewöhnen, ihre eignen Geschäfte zu verwalten und aus jenem Zustande der Kindheit hinauszutreten, in dem eine immer unruhige, immer dienstfertige Regierung die Menschen halten will Der Übergang aus dem alten Zustand der Dinge in eine neue Ordnung darf nicht zu hastig sein, und man muß die Menschen nach und nach an selbständiges Handeln gewöhnen, ehe man sie zu großen Versammlungen be­ruft und ihnen große Interessen zur Diskussion anvertraut.

***

10.5. Aus dem »Katechismus der Deutschen zum Gebrauch für Kinder und Alte«, 1809:

Frage: Wer sind deine Feinde, mein Sohn?

Antwort: Napoleon und [...] die Franzosen.

Frage: Ist sonst niemand, den du hassest?

Antwort: Niemand auf der ganzen Welt.

***

10.6. Aufruf an die Deutschen zum gemeinschaftlichen Kampf gegen die Franzosen, 1813:

Deutsche für Deutsche!

Nicht Bayern, nicht Braunschweiger, nicht Hannoveraner, nicht Hessen, nicht Holsteiner, [...] nicht Österreicher, [...] nicht Preußen, nicht Sachsen, nicht Schwaben [...] Alles was sich Deutsche nennen darf - nicht gegeneinander sondern: Deutsche f ir Deutsche!

***

10.7. Der berühmteste patriotische Dichter der Napoleon-Zeit, Emst Moritz Arndt, schrieb 1813 unter dem Titel »Was ist des Deutschen Vaterland?«:

Was ist des, Deutschen Vaterland?So nenne ich das große Land!Soweit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt,

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Das soll es sein!Das, wackrer Deutscher, nenne dein!Das ist des Deutschen Vaterland...

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10.8. Die 28jährige Eleonore Prohaska, die sich als August Renz ausgab und mit dem Lützower Freikorps gegen Napoleon kämpfte, schrieb an ihren Bruder:

Ich bin seit vier Wochen schon Soldat! Erstaune nicht, aber schelte auch nicht. Du weißt, daß der Entschluß dazu schon Anfang des Krieges meine Brust beherrschte. Ich war im In­nern meiner Seele überzeugt, keine schlechte oder leichtsinnige Tat zu begehen; denn sieh nur Spanien und Tirol, wie da die Weiber und Mädchen handelten! Ich verkaufte also mein Zeug, um mir erst eine anständige Männerkleidung zu kaufen. Dann kaufte ich mir eine Büchse für acht Taler, Hirschfänger und Tschako zusammen für drei und einen halben Ta­ler. Nun ging ich unter die schwanen Jäger. Meiner Klugheit kannst Du Zutrauen, daß ich unerkannt bleibe.

Lebe recht wohl, guter Bruder! Ehrenvoll oder nie siehst Du mich wieder.*»*

10.9. Jakob Grimm [1785-1863] und Wilhelm Grimm [1786-1859] begannen 1806, mündlich überlieferte Märchen aufzuzeichnen. Sie hielten sich in der ersten Fassung der »Kinder- und Hausmärchen« (1812-1815) stilistisch und inhaltlich noch streng an die Vorlagen. Aus dieser Fassung sei der folgende Text zitiert:

Die wunderliche Gasterei

A u f eine Zeit lebten eine Blutwurst und eine Leberwurst zusammen, und die Blutwurst bat die Leberwurst zu Gast. Wie es Essenszeit war, ging die Leberwurst ganz vergnügt zu der Blutwurst, als sie aber in die Hausthüre trat, sah sie allerlei wunderliche Dinge, auf jeder Stiege der Treppe, deren viele waren, immer etwas anderes, da war ein Besen und eine Schippe, die sich miteinander schlugen, dann ein Affe mit einer großen Wunde am Kopf und dergleichen mehr.

Die Leberwurst war ganz erschrocken und bestürzt darüber, doch nahm sie sich ein Herz, ging in die Stube und wurde von der Blutwurst freundschaftlich empfangen. Die Leberwurst hub an, sich nach den seltsamen Dingen zu erkundigen, die draußen auf der Treppe wären, die Blutwurst that aber, als hörte sie es nicht, oder als sey es nicht der Mühe werth davon zu sprechen, oder sie sagte etwa von der Schippe und Besen: »es wird meine Magd gewesen seyn, die auf der Treppe mit jemand geschwätzt«, und brachte die Rede auf etwas anderes.

Die Blutwurst ging darauf hinaus, und sagte, sie müsse in der Küche nach dem Essen sehen, ob alles ordentlich angerichtet werde, und nichts in die Asche geworfen. Wie die Leberwurst derweil in der Stube auf und abging, und immer die wunderlichen Dinge im Kopf hatte, kam jemand, ich weiß nicht, wers gewesen ist, herein und sagte: »ich warne dich, Leberwurst, du bist in einer Blut- und Mörderhöhle, mach dich eilig fort, wenn dir dein Leben lieb ist.« Die Leberwurst besann sich nicht lange, schlich die Thür hinaus und lief, was sie konnte, sie stand auch nicht eher still, bis sie aus dem Haus mitten auf der Straße war. Da blickte sie sich um, und sah die Blutwurst oben im Bodenloch stehen mit einem langen, langen Messer, das blinkte, als wärs frisch gewetzt, damit drohte sie, und rief herab:

»hätt ich dich, so wollt ich dich!«

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11.1. In der Stiftungsurkunde der Heiligen Allianz (1815) heißt es über die Herrscher Rußlands, Österreichs und Preußens:

Entsprechend den Worten der Heiligen Schrift, welche edle Menschen heißt, sich als Brüder zu betrachten, werden die drei Monarchen vereinigt bleiben durch die Bande einer wahren und unauflöslichen Brüderlichkeit, indem sie sich als Landsleute artsehen und sich bei jeder Gelegenheit und an jedem Orte Hilfe und Beistand leisten; indem sie sich ihren Untertanen und Heeren gegenüber ab Familienväter betrachten, werden sie sie in dem gleichen Geiste der Brüderlichkeit lenken, von dem sie erfüllt sind, um Religion, Frieden und Gerechtigkeit zu schützen.

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l l i . In der Gründungsurkunde des Deutschen Bundes (1815) steht:

Die souveränen Fürsten und Freien Städte Deutschland, mit Einschluß Ihrer Majestäten des Kaisers von Österreich und der Könige von Preußen, von Dänemark und der Niederlande, und zwar der Kaiser von Österreich und der König von Preußen beide für ihre gesamten, vor­mals zum Deutschen Reiche gehörigen Besitzungen, der König von Dänemark für Holstein, der König der Niederlande für das Großherzogtum Luxemburg, vereinigen sich zu einem be­ständigen Bunde, welcher der Deutsche Bund heißen soll

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11.3. Aus der Ansprache des Jenenser Studenten Riemann auf dem Wartburgfest, 1817:

Vier lange Jahre sind seit jener Schlacht verflossen, das deutsche Volk hatte schöne Hoff­nungengefaßt, sie sind alle vereitelt, alles ist anders gekommen, als wir erwartet haben. Viel Großes und Herrliches, was geschehen konnte und mußte, ist unterblieben; mit manchem heiligen und edlen Gefühl ist Spott und Hohn getrieben worden.

Nun frage ich euch, die ihr hier versammelt seid in der Blüte eurer Jugend, euch, die ihr der­einst des Volkes Lehrer, Vertreter und Richter sein werdet, auf die das Vaterland seine Hoff­nung setzt, euch, die ihr zum Teil schon mit den Waffen in der Hand, alle aber im Geist und mit dem Willen für des Vaterlandes Heil gekämpft habt; euch frage ich, ob ihr solcher Ge­sinnung beistimmt? Neinl Nie und nimmermehr!

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11.4. Aus den Karlsbader Beschlüssen, 1819:

Die Bundesregierungen verpflichten sich [...] Universitäts- und andere Lehrer, die [...] durch Verbreitung verderblicher, der öffentlichen Ordnung und Ruhe feindseliger oder die Grund­lagen der bestehenden Staatseinrichtungen untergrabender Lehren ihre Unfähigkeit [...] an den Tag gelegt haben, von den Universitäten oder sonstigen Lehranstalten zu entfernen. [...]

Die bestehenden Gesetze gegen geheime [...] Verbindungen auf den Universitäten sollen [...] auf den [...] unter dem Namen der Allgemeinen Burschenschaft bekannten Verein [...] aus­gedehnt werden.

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[Es] dürfen Schriften, die in der Form täglicher Blätter oder heftweise erscheinen, des­gleichen solche, die nicht über 20 Bogen im Druck stark sind, in keinem deutschen Bundes­staat ohne Vorwissen [...] der Landesbehörden zum Druck befördert werden.

Zentraluntersuchungskommission zu Mainz

Ihre Aufgabe ist: Untersuchung und Feststellung [...] der gegen die bestehende Verfassung und innere Ruhe [...] des ganzen Landes [und] einzelner Bundesstaaten gerichteten revolu­tionären Umtriebe und demagogischen Verbindungen.

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11.5. Der Schriftsteller Ludwig Börne [1786-1837] über die Pressezensur nach den Karlsbader Beschlüssen:

Wer von uns den Jüngsten Tag erlebt, wird viel zu lachen bekommen. Was Gott unter zwan­zig Bogen spricht, wird zensuriert werden, und wenn die Welt brennt und das Fett schmilzt von den Ständern herab, wird die Polizei bekanntmachen: Unruhestifter haben das Gerücht verbreitet, es sei heiß in der Welt; aber das ist eine hämische Lüge, das Wetter war nie kühler und schöner. Man warnt jedermann vor unvorsichtigen Reden und müßigem Umher­schweifen auf der Straße. Eltern sollen ihre Kinder, Lehrer ihre Schüler, Meister ihre Gesel­len zu Hause behalten. Man bleibe ruhig. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Und dann wird die Welt untergehen und ruhig werden, und dann wird die Welt deutsch sein

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11.6. Aus der Rede des badischen Politikers Siebenpfeifer auf dem Hambacher Fest, 1832:

Wir widmen unser Leben der Wissenschaft und der Kunst [...] aber die Regungen der Vater­landsliebe sind uns unbekannt, die Erforschung dessen, was dem Vaterlande Not tut, ist Hochverrat, selbst der leiseste Wunsch, nur erst wieder ein Vaterland, eine freimenschliche Heimat zu erstreben, ist Verbrechen. [...] Es wird kommen der Tag, wo [...] die Zollstöcke und die Schlagbäume, wo alle Hoheitszeichen der Trennung [...] und Bedrückung ver­schwinden. [...] Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört! Vaterland - Volkshoheit - Völkerbund hoch!

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11.7. Am 26. August 1841 verfaßte August Heinrich Hoffmann von Fallersleben [1798 -1874] auf der Insel Helgoland »Das Lied der Deutschen«. Mit Musik von Joseph Haydn, die Haydn ursprünglich mit einem anderen Text zu Ehren von Kaiser Franz komponiert hatte, wurde das »Deutschlandlied« (wie es allgemein genannt wird) be­rühmt. In der Weimarer Republik erhob man es zur Nationalhymne. Heute gilt seine dritte Strophe als Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland.

Deutschland, Deutschland über alles,Über alles in der Welt,Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält,Von der Maas bis an die Memel,Von der Etsch bis an den Belt -

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Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!

Deutsche Frauen, deutsche Treue,Deutscher Wein und deutscher Sang Sollen in der Welt behalten Ihren alten schönen Klang,Uns zu edler Tat begeistern Unser ganzes Leben lang - Deutsche Frauen, deutsche Treue,Deutscher Wein und deutscher Sang!

Einigkeit und Recht und Freiheit Für das deutsche Vaterland!Danach laßt uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand!Einigkeit und Recht und Freiheit Sind des Glückes Unterpfand - Blüh im Glanze dieses Glückes,Blühe, deutsches Vaterland!

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11.8. Im Jahre 1834 veröffentlichte Heinrich Heine [1797-1856] seine Schrift »Religion und Philosophie in Deutschland«. Darin steht die ungeheuere Vision von den Folgen des deutschen Nationalismus:

Die Wildheit der alten Kämpfer rasselt wieder empor, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome. [...] Wenn ihr dann Gepolter und Geklirre hört, hütet euch, ihr Nachbarskinder, ihr Franzo­sen, und mischt euch nicht in die Geschäfte, die wir zuhaus in Deutschland vollbringen. Es könnte euch schlecht bekommen. Hütet euch, das Feuer anzufachen, hütet euch, es zu lö­schen. Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revo­lution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden. Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner kommt langsam herangerollt. Und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus den Lüften tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harm­lose Idylle erscheinen möchte.

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11.9. Die Satire von Adolf Glaßbrenner [1810-1876] schildert die deutschen Zustände im Vormärz.

Der gute, stammelnde Untertan

Ich bin ein guter Untertan, das leidet keinen Zweifel,

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Mein Fürst, das ist ein frommer Mann, o, war er doch beim teu-ren Volke immer, so würd’ es niemals schlimmer.

Wir haben ihn wohl oft betrübt, doch nimmermehr belogen.Er sagte, daß er uns geliebt,und hat uns doch betro-ffen oft auf Taten,die er uns nicht geraten.

Die Staatsbeamten taten recht,sie wahrten seine Rechte,und der war ihm der liebste Knecht,der sich nicht viel erfre-ulich zu uns neigte,und Mitleid uns bezeugte.

Den Schwur, so er geleistet hat,Erfüllung alles dessen, was seine Pflicht an Gottes Statt, den hat ergänz verge-bens halten wollen, es hat nicht glücken sollen.

Du Polizei, die dazu da,das wilde Volk zu zügeln,dich möchte ich nur einmal ja,so recht vom Herzen prü-fen und dich fragen,wer über dich könnt’ klagen.

Ihr Ritter des Philistertumsund ihr gelehrte Rabenam Friedenshof des Altertums,o, laßt euch doch begr-eiflich alles machen,wie sehr wir euch bewachen.

Ihr Mönche, vornehm, schwarz und weiß,das Volksglück, das verpuffte,wird eurer steten Mühe Preis,denn ihr seid große schu-lgerechte Lehrerund fleißige Bekehrer.

Ihr Stolzen, ihr im deutschen Land vom Rheine bis nach Polen, ihr seid mir durch und durch bekannt, euch soll der Kuckuck ho-hes Alter melden, euch weisen Friedenshelden.

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11.10. Die Komposition des Hilfspriesters Joseph Mohr und des Lehrers Franz Gruber »Stille Nacht, heilige Nacht«, ein Musterbeispiel für die Biedermeier-Mentalität, er­klang erstmals während der Christmette des Jahres 1818 in Oberndorf bei Salzburg.

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Stille Nacht, heilige Nacht!Alles schläft, einsam wacht nur das traute, hoch heilige Paar,Holder Knabe im lockigen Haar, schlaf in himmlischer Ruh, schlaf in himmlischer Ruh.

Stille Nacht, heilige Nacht,Hirten erst kundgemacht.Durch der Engel Halleluja tönt es laut von fern und nah:Christ, der Retter, ist da!Christ, der Retter, ist dal

Stille Nacht, heilige Nacht!Gottes Sohn, o wie lachtLieb aus deinem göttlichen Mund,da uns schlägt die rettende Stund,Christ, in deiner Geburt,Christ, in deiner Geburt.

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11.11. Der württembergische Jurist Paul Pfizer über die Aufgabe des Liberalismus:

Was Deutschland organisch vereint und [...] das diplomatische Staatenbündnis in einen na­tionalen Bundesstaat verwandelt, [kann nur] eine deutsche Nationalvertretung sein, und hierzu muß die Anregung und der Hauptanstoß durch den Liberalismus gegeben werden, [da] die Spannung des Kampfes zwischen Liberalismus und Absolutismus [...] nachgelassen hat.

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11.12. Eine von Friedrich List [1789-1846] verfaßte Eingabe des »Allgemeinen deut­schen Handels- und Gewerbevereins« im Jahre 1819; sie wurde vom Bundestag abge­lehnt.

Achtunddreißig Zoll- und Mautlinien in Deutschland lähmen den Verkehr im Innern und bringen ungefähr dieselbe Wirkung hervor, wie wenn jedes Glied des menschlichen Körpers unterbunden wird, damit das Blut ja nicht in ein anderes überfließe. Um von Hamburg nach Österreich, von Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchschneiden [...] zehnmal Durchgangszölle zu bezahlen. Trostlos ist dieser Zustand für Männer, welche wirken und handeln möchten.

1830 sagte Friedrich List über die Aufgaben des Zollvereins:

Der Zollverein soll die Deutschen ökonomisch [...] zu einer Nation verbinden [...], durch die . Wahrung seiner auswärtigen Gesamtinteressen wie durch die Beschützung seiner inneren Produktivität die materielle Kraft der Nation stärken; er soll durch Verschmelzung der ein­zelnen Provinzialinteressen [...] das Nationalgefühl wecken und heben. [...] Das deutsche Volk [fühlt], daß [ein wirtschaftliches] Schutzsystem das einzige Mittel ist [...], nationalen Sinn zu erzeugen [...], und daß [...] dem Freihandelssystem die Arglist des Fremden inne­wohnt.

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11.13. Der preußische Finanzminister Friedrich Motz prophezeite in den zwanziger Jah­ren des 19. Jahrhunderts:

Wenn es staatswissenschaftliche Wahrheit ist, daß Zölle nur die Folge politischer Trennung verschiedener Staaten sind, so muß es auch Wahrheit sein, daß Einigung dieser Staaten zu einem Zoll- und Handelsverband zugleich auch Einigung zu einem und demselben poli­tischen System mit sich führt.

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11.14. Vier Aussagen und ein anonymes Gedicht zur Eisenbahn:

[Goethe an Eckermann, 1828] Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde; un­sere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige tun.

[Unternehmer E. Hackort] Ich fühle instinktiv, daß die Lokomotive der Leichenwagen ist, auf welchem Absolutismus und Feudalismus zum Kirchhof gefahren werden.

[Friedrich Wilhelm m., König von Preußen] Alles soll Karriere [schnelle Gangart des Pferdes] gehen. Die Ruhe und Gemütlichkeit leidet aber darunter. Kann mir keine große Glückseligkeit vorstellen, ob man einige Stunden früher in Potsdam ankommt oder nicht.

[Der König von Hannover] Ich will keine Ebenbahn in meinem Lande. Ich will nicht, daß jeder Schuster und Schneider so rasch reben kann wie ich.

Ja, alle Ketten, Fesseln, Wehr und Waffen aus roher, harter Zeit, sie werden einst in Schienen umgeschaffen zum Prebe der Menschlichkeit.

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11.15. Bericht eines Bürgermeisters über die Kinderarbeit, 1822:

[Die Kinder] arbeiten 12 Stunden, die nicht in den Fabriken arbeitenden betteln. [...] Die mebt gehend und stehend verrichtete Arbeit in luftigen Gebäuden erhält die Kinder gesund, die nicht darin arbeitenden sind krank und betteln [...] Die in der Spinnerei in der Kindheit gearbeitet habenden sind erwachsen mebt gesunde, starke Handwerker.

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11.16. Wilhelm Wolff, ein Freund von Marx, beschrieb das Elend der schlesischen We­ber so:

Oftmal bin ich im Winter solchen Armen begegnet, die in dem schrecklichsten Wetter, hungrig und frierend, viele Meilen weit ein fertig gewordenes Stück zum Fabrikanten trugen Zu Hause warteten Frau und Kinder auf die Rückkunft des Vaters; sie hatten seit eineinhalb Tagen bloß eine Kartoffelsuppe genossen. Der Weber erschrak bei dem auf seine Ware ge­machten Gebot; da war kein Erbarmen; die Kommb und Gehilfen begegneten ihm wohl noch obendrem mit empörender Härte. Er nahm, was man ihm reichte, und kehrte, Ver-

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zweiflung in der Brust, zu den Seinigen. [...] Ließ der Weber seinen Klagen freien Lauf und führte er seinen Zustand dem Kaufmann zu Gemüte, so hieß es, die schlichte Handelskon­junktur sei an allem schuld

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11.17. Am 4. Juni 1844 begann der Aufstand der schlesischen Weber. Heinrich Heines »Weberlied« entstand kurz danach und wurde als Flugblatt (Auflage 50.000) verteilt. P in Jahr später stellte Heine die bekanntere fiinfstrophige Fassung des Gedichtes (»Die schlesischen Weber«) her.

Weberlied

Im düstemAuge keine Träne,Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne;Alt-Deutschland, wir weben dein Leichentuch,Wir weben hinein den dreifachen Fluch.Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, dem blinden, dem tauben,Zu dem wir gebetet mit kindlichem Glauben.Wir haben vergeblich gehofft und geharrt,Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt.Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,Den unser Elend nicht konnte erweichen,Der uns den letzten Groschen erpreßt Und uns, wie die Hunde, erschießen läßt.Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,Wo nur gedeihen Trug und Schande,Wo nur Verwesung und Totengeruch;Alt-Deutschland, wir weben dein Leichentuch.Wir weben, wir weben

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11.18. Das von Karl Marx und Friedrich Engels verfaßte »Manifest der Kommu­nistischen Partei« (1848) beginnt und endet mit den berühmt gewordenen Sätzen:

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus. [...]

Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie er­klären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Um­sturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten Sie kß'-en - ine Welt zu gewinnen.

Proletarier dler Länder, vereinigt euch!

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11.19. Forderungen der Kölner Arbeiter an den Kölner Gemeinderat und den preußi­schen König, 1848:

1. Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk, da ein freies Volk [...] sich nicht mehr im Interesse einzelner ausbeuten lassen will [...], allgemeines Wahlrecht und allgemeine Wähl­barkeit.

2 Unbedingte Freiheit der Rede und Presse.

3. Aufhebung des stehenden Heeres und Einführung einer allgemeinen Volksbewaffnung mit vom Volke gewählten Führern. [...]

4. Freies Vereinigungsgesetz.

5. Schutz der Arbeit und Sicherstellung der menschlichen Bedürfnisse für alle [...}. Nur die schlechte Verteilung der Arbeit und ihre Ausbeutung im Interesse einzelner verhindert es, daß genug hervorgebracht wird, um die Bedürfnisse aller einzelnen zu befriedigen. Es ist da­her Sache des Staates, die Produktion dem Interesse der einzelnen zu entreißen und sie im Interesse aller zu leiten Jeder Mensch hat ein Recht auf Arbeit, sowie auf einen seinen Be­dürfnissen angemessenen Lohn

6. Vollständige Erziehung aller Kinder auf öffentliche Kosten

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11.20. Zwei Stimmen zur Problematik »kleindeutsch« oder »großdeutsch«. Der österrei­chische Abgeordnete Ameth und der Hesse Waitz-Göttingen sprachen am gleichen Tag, am 20. Oktober 1848, in der Frankfurter Nationalversammlung.

[Araeth] Der Österreicher, meine Herren, ist deutsch und er will es bleiben. [...] Er will aber auch Österreich nicht zerreißen [—1, er will das Fortbestehen in und mit Deutschland [...]; wir glauben, daß es in Deutschlands hohem Interesse liege, die aus einer Losreißung der nichtdeutschen Provinzen in Österreich unzweifelhaft hervorgehende Entstehung neuer selb­ständiger [...] Reiche an der Ostgrenze Deutschlands zu hindern.

[Waitz-Göttingen] Es ist nur die Alternative: die deutschen österreichischen Länder, sie bleiben bei uns - oder sie bleiben bei den erblich verbundenen ungarisch-slawisch-italieni­schen Ländern. [...] Deutschlands Bau würde leichter sein ohne Österreich, aber ich glaube, es ist niemand, niemand sage ich, in der Versammlung, der nicht den schwierigsten und mühseligsten Bau lieber will als den leichteren ohne Österreich.

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11.21. Preußen schloß bereits 1866 Verträge mit einzelnen süddeutschen Staaten, die von der Nützlichkeit der deutschen Einheit unter preußischer Führung überzeugt wer­den sollten. Ein Auszug aus dem Vertrag mit Bayern:

Art. 1: Zwischen seiner Majestät, dem König von Preußen, und seiner Majestät, dem König von Bayern, wird hiemit ein Schutz- und Trutzbündnis geschlossen Es garantieren die hohen Kontrahenten einander die Integrität des Gebietes Ihrer bezüglichen Länder und verpflichten sich, im Falle eines Krieges Ihre volle Kriegsmacht zu diesem Zweck einander zur Verfügung zu stellen

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1122. Nach der Schlacht bei Königgrätz (1866) rückte die preußische Armee bis in die Umgebung Wiens vor. Bismarck drängte trotzdem auf Friedensverhandlungen, obwohl sein König und die Generäle den Krieg weiterführen wollten.

Es scheint mir von größter Wichtigkeit, daß der gegenwärtige, günstige Augenblick nicht ver­säumt werde. Durch die von Ew. Majestät ausgesprochene Annahme en bloc der Vorschläge Sr. M. des Kaisers der Franzosen ist die von der letzteren Seite her drohende Gefahr einer Parteinahme Frankreichs gegen Preußen, welche aus einer diplomatischen Pression leicht in eine wirkliche aktive Teilnahme Umschlägen könnte, beseitigt worden. [...]

A u f eine Unterstützung weitergehender oder auch nur dieser preußischen Forderungen sei­tens der anderen Großmächte läßt sich nicht rechnen. Ew. Majestät haben aus dem Brief Sr. Majestät des Kaisers von Rußland ersehen, mit welcher Besorgnis Höchstderselbe den Bedingungen entgegensieht. [...]

In England fängt die öffentliche Meinung an, sich den Waffenerfolgen Ew. Majestät zuzu­wenden; von der Reperung aber läßt sich Gleiches nicht sagen und nur annehmen, daß sie vollendete Tatsachen anerkennen werde. [...]

So würde es nach meinem Dafürhalten ein politischer Fehler sein, durch den Versuch einige Quadratmeilen mehr von Gebietsabtretung, oder wenige Millionen mehr an Kriegskosten von Österreich zu gewinnen, das ganze Resultat wieder in Frage zu stellen und es den unge­wissen Chancen einer verlängerten Kriegsführung oder einer Unterhandlung, bei der fremde Einmischung sich nicht ausschließen lassen würde, auszusetzen.

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11.23. Bismarck erzwang 1870 die Kriegserklärung Frankreichs durch die Ver­öffentlichung der sogenannten »Emser Depesche«. In seinen »Gedanken und Er­innerungen« ist darüber zu lesen:

Während der Unterhaltung mit Kriegsminister von Roon und mit Moltke bei Tisch wurde mir gemeldet, daß ein Ziffemtelegramm, wenn ich mich recht erinnere, von ungefähr 200 Gruppen, aus Ems, von dem Geheimrat Abeken unterzeichnet, in Übersetzung begriffen sei Nachdem mir die Entzifferung überbracht war [...], las ich dasselbe meinen Gästen vor, de­ren Niedergeschlagenheit so tief wurde, daß sie Speise und Trank verschmähten. Bei wieder­holter Prüfung des Aktenstückes verweilte ich bei der einen Auftrag involvierenden Ermäch­tigung seiner Majestät, die neuen Forderungen Benedettis und ihre Zurückweisung sogleich sowohl unserem Gesandten als auch in der Presse mitzuteilen.

Ich stellte an Moltke einige Fragen in bezug auf das Maß seines Vertrauens auf den Stand unserer Rüstung, respektive auf die Zeit, deren dieselben bei der überraschend aufgetauchten Kriegsgefahr noch bedürfen würden. Er antwortete, daß er, wenn Krieg werden sollte, von ei­nem Aufschub des Anbruchs keinen Vorteil für uns erwarte. [...]

Der Haltung Frankreichs gegenüber zwang uns nach meiner Ansicht das nationale Ehrge­fühl zum Krieg, und wenn wir den Forderungen dieses Gefühls nicht gerecht wurden, so verloren wir auf dem Weg zur Vollendung unserer nationalen Entwicklung den ganzen 1866 gewonnenen Vorsprung. In dieser Überzeugung machte ich von der mir durch Abeken übermittelten königlichen Ermächtigung Gebrauch, den Inhalt des Telegramms zu veröf­

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fentlichen, und reduzierte in Gegenwart meiner beiden Tischgäste das Telegramm durch Streichungen, ohne ein Wort hinzuzusetzen oder zu ändern. [...]

Der Unterschied in der Wirkung des gekürzten Textes der Emser Depesche im Vergleich mit der, welche das Original hervorgerufen hätte, war kein Ergebnis stärkerer Worte, sondern der Form, welche diese Kundgebung als eine abschließende erscheinen ließ, während die Reak­tion Abekens nur als ein Bruchstück einer schwebenden, in Berlin fortzusetzenden Ver­handlung erscheinen würde.

Nachdem ich meinen beiden Gästen die konzentrierte Redaktion vorgelesen hatte, bemerkte Moltke: »So hat das einen anderen Klang, vorher klang es wie eine Schamade, jetzt wie eine Fanfare in Antwort auf eine Herausforderung.«

Die beiden Fassungen der »Emser Depesche«. Zunächst das ursprüngliche Telegramm:

S.M. der König schreibt mir: »Graf Benedetti fing mich auf der Promenade ab, um auf zu­letzt sehr eindringliche Art von mir zu verlangen, ich sollte ihn autorisieren, sofort zu telegra­phieren, daß ich für alle Zukunft mich verpflichtete, niemals wieder meine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollem auf ihre Kandidatur zurückkämen. Ich wies ihn, zuletzt etwas ernst, zurück, da man ä tour dergleichen Engagement nicht nehmen dürfe noch könne. Na­türlich sagte ich ihm, daß ich noch nichts erhalten hätte und, da er über Paris und Madrid früher benachrichtigt sei als ich, er wohl einsähe, daß mein Gouvernement wiederum außer Spiel sei«

S.M. hat seitdem ein Schreiben des Fürsten bekommen. Da S.M. dem Grafen Benedetti ge­sagt, daß er Nachricht vom Fürsten erwarte, hat Allerhöchstderselbe, mit Rücksicht auf die obige Zumutung, auf des Grafen Eulenburg und meinen Vortrag beschlossen, den Grafen Benedetti nicht mehr zu empfangen, sondern ihm nur durch einen Adjutanten sagen zu las­sen, daß S.M. jetzt vom Fürsten die Bestätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris schon gehabt, und dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe. S.M. stellt Ew. Exzel­lenz anheim, ob nicht die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweisung sogleich sowohl unseren Gesandten als in der Presse mitgeteilt werden solle.

Die von Bismarck verfaßte und veröffentlichte gekürzte Variante:

Nachdem die Nachricht von der Entsagung des Prinzen von Hohenzollem der Kaiserlich Französischen Reperung von der Königlich Spanischen amtlich mitgeteilt worden ist, hat der französische Botschafter in Ems an S.M. den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisieren, daß er nach Paris telegraphiere, daß S.M. der König sich für alle Zukunft ver­pflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollem auf ihre Kan­didaturzurückkommen sollten.

S.M. hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß S.M. dem Botschafter nichts mehr mitzuteilen habe.

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12.1. Den Weg zum Ausgleich ebneten unter anderem das Oktoberdiplom (1860), das Februarpatent (1861), die Niederlagen von Habsburg in Italien und bei Königgrätz. Ei­nige Bestimmungen des Ausgleichsgesetzes:

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Gesetz vom 21. December 1867,

betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheitenund die Art ihrer Behandlung.

Wirksam für Böhmen, Dalmatien, Galizien mit Krakau, Österreich u n ter u n d ob der Erms, Salzburg, Steiermark, Kämthen, Kram, Bukowina, Mähren Schlesien, Tirol, Vorarlberg, Görz und Gradiska, Istrien und die Stadt Triest mit ihrem Gebiete.

Mit Zustimmung der beiden Häuser des Reichsrathes finde Ich in Ergänzung des Staats­grundgesetzes über die Reichsvertretung nachstehendes Gesetz zu erlassen:

§. 1. Nachfolgende Angelegenheiten werden als den im Reichsrathe vertretenen Kö­nigreichen und Ländern der ungarischen Krone gemeinsame erklärt:

a) Die auswärtigen Angelegenheiten mit Einschluß der diplomatischen und commerziellen Vertretung dem Auslande gegenüber, sowie die in Betreff der internationalen Verträge etwa nothwendigen Verfügungen, wobei jedoch die Genehmigung der internationalen Vertrage, m soweit eine solche verfassungsmäßig nothwendig ist, den Vertretungßkörpem der beiden Reichshälften (dem Reichsrathe und dem ungarischen Reichstage) Vorbehalten bleibt;

b) das Kriegswesen mit Inbegriff der Kriegsmarine, jedoch mit Ausschluß der Recru- tenbewilligung und der Gesetzgebung über die Art und Weise der Erfüllung der Wehrpflicht, der Verfügungen hinsichtlich der Dislocirung und Verpflegung des Heeres, ferner der Rege­lung der bürgerlichen Verhältnisse und der sich nicht auf den Militärdienst beziehenden Rechte und Verpflichtungen der Mitglieder des Heeres;

c) das Finanzwesen rücksichtlich der gemeinschaftlich zu bestreitenden Auslagen ins­besondere die Festsetzung des dießftüligen Budgets und die Prüfung der darauf bezüglichen Rechnungen [...]

§. 3. Die Kosten der gemeinsamen Angelegenheiten (§. 1) sind von beiden Reichstheüen nach einem Verhältnisse zu tragen, welches durch ein vom Kaiser zu sanctionirendes Über­einkommen der beiderseitigen Vertretungskörper (Reichsrath und Reichstag) von Zeit zu Zeit festgesetzt werden wird. Sollte zwischen beiden Vertretungen kern Übereinkommen er­zielt werden, so bestimmt der Kaiser dieses Verhältniß, jedoch nur für die Dauer Eines JoHl m Die Außringung der auf jede der beiden Reichstheile hiernach entfallenden Leistungen ist jedoch ausschließlich Sache eines jeden Theiles. [...]

§. 4. Die Beitragsleistung zu den Lasten der gegenwärtigen Staatsschuld wird durch ein zwi­schen beiden Reichshälften zu treffendes Übereinkommen geregelt. [...]

§. 6. Das den Vertretungskörpem beider Reichshälften (dem Reichsrathe und dem un­garischen Reichstage) zustehende Gesetzgebungsrecht wird von demselben insoweit es sich um die gemeinsamen Angelegenheiten handelt, mittelst zu entwendender Delegationen aus­geübt.

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122. Der aus Budapest stammende Theodor Herzl [1860-1904], damals Redakteur der »Neuen Freien Presse« in Wien, erklärte 1896:

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Es ist merkwürdig, daß wir Juden diesen königlichen Traum [einer Wiedererrichtung des Judenstaates] während der langen Nacht unserer Geschichte geträumt haben. Jetzt bricht der Tag an. [...] Ich halte die Judenfrage weder für eine soziale noch für eine religiöse. [...] Sie ist eine nationale Frage, und um sie zu lösen, müssen wir sie zu einer politischen Welt­frage machen, die im Rate der Kulturvölker zu lösen sein wird. Wir haben ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Vä­ter zu bewahren. Man läßt es nicht zu. [...] Wir sind ein Volk - der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, ln der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötz­lich unsere Kraft. Ja, wir haben die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu bilden. Man gebe uns die Souveränität eines für unsere gerechten Volksbedürfnisse genügenden Stückes der Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen.

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123. Robert Musil [1880-1942] schrieb im Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« über »Kakanien« (das ist Österreich-Ungarn):

Die beiden Teile Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. Die Hose Österreich hieß aber in der amtlichen Sprache »Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder«, was natür­lich gar nichts bedeutete und ein Name von Namen war, denn auch diese Königreiche, zum Beispiel die ganz Shakespeareschen Königreiche Lodomerien und Ilfyrien gab es längst nicht mehr und hatte es schon damals nicht mehr gelben, als noch ein ganzer schwarz-gelber Anzug vorhanden war. Fragte man darum einen Österreicher, was er sei, so konnte er natür­lich nicht antworten; Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Länder, die es nicht gibt, - und er zog es schon aus diesem Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der sogenannte Nationalismus. Man stelle sich ein Eichhörn­chen vor, das nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist, ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehn, daß es unter Umständen vor seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in solchem Verhältnis zu einander befanden sich die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Schreck vor Gliedern, die ein­ander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu tun Seit Bestehen der Erde ist noch kein We­sen an einem Sprachfehler gestorben, aber man muß wohl hinzußgen, der österreichischen und ungarischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie widerfuhr es trotzdem, daß sie an ihrer Unaussprechlichkeit zugrunde gegangen ist.

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12.4. Aus der zeitlichen und räumlichen Distanz konnte die österreichisch-ungarische Monarchie als Hort der Sicherheit erscheinen. Stefan Zweig [1881 -1942] schreibt in seinem Erinnerungsbuch »Die Welt von Gestern« (1942):

Wenn ich versuche, ß r die Zeit vor dem ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Be­ständigkeit. Die Rechte, die er seinen Bürgern gewährte, waren verbrieft vom Parlament, der frei gewählten Vertretung des Volkes, und jede Pflicht genau begrenzt. Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandel­barkeit. Jeder wußte, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten

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war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht. [...] Alles stand in diesem weiten Reiche fest und unverrückbar an seiner Stelle und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts sich ändern in der wohlberechneten Ordnung. Niemand glaubte an Kriege, an Revolutionen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft.

Dieses Gefühl der Sicherheit war der anstrebenswerteste Besitz von Millionen, das ge­meinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut. Erst waren es nur die Besitzen­den, die sich dieses Vorzugs erfreuten, allmählich aber drängten die breiten Massen heran, das Jahrhundert der Sicherheit wurde das goldene Zeitalter des Versicherungswesens. Man assekurierte sein Haus gegen Feuer und Einbruch, sein Feld gegen Hagel und Wetter­schaden, seinen Körper gegen Unfall und Krankheit, man kaufte sich Leibrenten für das Alter und legte den Mädchen eine Police in die Wiege für die künftige Mitgift.

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13.1. In der Abhandlung »Die galvanische Kette, mathematisch bearbeitet« formulierte Georg Simon Ohm [1787-1854] das »Ohmsche Gesetz«:

Die Stromstärke ist gleich der elektromagnetischen Kraft geteilt durch den Widerstand

***

13.2. »Die Cannstatter Zeitung« berichtete am 10. November 1885 von dem ersten Kraftwagen:

Ein seltsames gasmotorgetriebenes Fahrzeug das in der Daimlerschen Werkstatt zu Cann­statt [bei Stuttgart] gebaut wurde, machte gestern seine erste Fahrt. [...] Unter dem Sitz des Velozipeds befindet sich der Motor, der eine halbe Pferdekraft stark ist. Er findet zwischen den Beinen des Reiters bequem Platz. Der Motor saugt das zum Betriebe notwendige Petro­leum selbständig aus dem Reservoir ein, und der Radfahrer braucht nur die Menge des Zu­flusses durch einen Hahn zu regulieren.

***

13.3. Der Physikprofessor der Jenaer Universität Ernst Abbe [1840-1905], Erfinder zahlreicher optischer Instrumente, erzählt über seine Kindheit:

Mein Vater war Spinnmeister in Eisenach; er hat bis Anfang der fünfziger Jahre jeden Tag den Gott werden ließ, von morgens 5 Uhr bis abends 7 Uhr bei normalem Geschäftsgang sechzehn Stunden von morgens 4 Uhr bis abends 8 Uhr bei gutem Geschäftsgang gearbeitet— und zwar ohne jede Unterbrechung sogar ohne Mittagspause. Ich selber habe als Junge zwischen fü n f und neun Jahren [...] meinem Vater das Mittagsbrot gebracht. Und ich bin dabeigestanden, wie mein Vater sein Mittagessen, an eine Maschine gelehnt oder auf eine Kiste gekauert, aus dem Henkeltopf mit aller Hast verzehrte, um mir dann den Topf zu­rückzugeben und sofort wieder an seine Arbeit zu gehen. Mein Vater war von uner­schöpflicher Robustheit, aber mit 48 Jahren in Haltung und Aussehen ein Greis.

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13.4. Ein Bericht über die soziale Herkunft der Eisenschmelzer bei Krupp:

Die ersten Schmelzer waren Bauemtagelöhner der Meister Vierhaus war ein arbeitsloser Kaffemühlenarbeiter, Huyssohn war ein Schneider von [Beruf] und seinerzeit Bettler, der jetzige Werkführer R. war der Sohn eines armen Feilenhauers, Hagewiesche war Nagel­schmied, Strünk war tüchtiger Ackerschmied.

***

13.5. Aus einer Rede des Industriellen Alfred Krupp an seine Arbeiter im Jahre 1877:

Genießet, was Euch beschieden ist. Nach getaner Arbeit verbleibt im Kreise der Ewigen, bei den Eltern, bei der Frau und den Kindern und sinnt über Haushalt und Erziehung. Das sei Eure Politik, dabei werdet Ihr frohe Stunden erleben. Aber für die große Landespolitik er­spart Euch die Aufregung. Höhere Politik treiben erfordert mehr freie Zeit und Einblicke in die Verhältnisse, als dem Arbeiter verliehen ist. Ihr tut Eure Schuldigkeit, wenn Ihr durch Vertrauenspersonen empfohlene Leute wählt. Ihr erreicht aber sicher nichts als Schaden, wenn Ihr eingreifen wollt in das Ruder der gesetzlichen Ordnung. Das Politisieren in der Kneipe ist nebenbei sehr teuer, dafür kann man im Hause Besseres haben.

***

13.6. Aus der Satzung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins von Ferdinand Las­salle, 1863:

Unter dem Namen »Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein« begründen die Unterzeichneten ß r die deutschen Bundesstaaten einen Verein, welcher, von der Überzeugung ausgehend, daß nur durch das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung der Klas­sengegensätze in der Gesellschaft herbeigeßhrt werden kann, den Zweck verfolgt, auf friedli­chem und legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Überzeugung ß r die Herstellung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zu wirken.

***

13.7. Bismarck begründet das Sozialistengesetz vor dem Reichstag, 1878:

[Die sozialdemokratischen Organisationen haben] den Charakter einer feindlichen Armee in unserer Mitte [...], die über den Eigentümer, den Kapitalisten, der [...] etwas anlegen will, Gericht halten [möchte], um ihm das wohlerworbene Eigentum zu entziehen oder zu be­schränken. [...] Solange die sozialistischen Bestrebungen diese bedrohliche [Form] haben wie jetzt, wird aus Furcht vor der weiteren Entwicklung das Vertrauen und der Glaube im Innern nicht wiederkehren, und deshalb wird die Arbeitslosigkeit auch so lange, wie die So­zialdemokratie uns bedroht [...], anhalten.

***

13.8. Bismarck begründet die Sozialgesetzgebung vor dem Reichstag, 1889:

Wenn wir 700.000 kleine Rentner, die vom Reiche ihre Renten beziehen, haben, gerade in diesen Klassen, die sonst nicht viel zu verlieren haben und bei einer Veränderung irrtümlich glauben, daß sie viel gewinnen können, so halte ich das ß r einen außerordentlichen Vorteil [...]. Ich glaube, wenn Sie uns diese Wohltat von mehr als einer halben Million kleinen

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Rentnern im Reiche schaffen können, [wird der] gemeine Mann das Reich als eine wohltä­tige Institution ansehen.

13.9. Bismarck im Jahie 1877 über die Grundsätze seiner Außenpolitik:

Ich [würde] als wünschenswerte Ergebnisse ansehen: 1) [Verstärkung] der russischen und österreichischen Interessen und gegenseitigen Rivalitäten nach Osten hin, 2) den Anlaß für Rußland, eine starke Defensivstellung im Orient und an seinen Küsten zu nehmen und un­seres Bündnisses zu bedürfen, 3) für England und Rußland ein befriedigender Status quo, die ihnen dasselbe Interesse an Erhaltung des Bestehenden gibt, das wir haben, 4) Loslösung Englands von dem uns feindlich bleibenden Frankreich

13.10. Im Oktober 1879 wurde zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn der Zweibundvertrag abgeschlossen.

Art. 1. Sollte wider Verhoffen und gegen den aufrichtigen Wunsch der beiden Kontrahenten eines der beiden Reiche von Seiten Rußlands angegriffen werden, so sind die hohen Kontra­henten verpflichtet, einander mit der gesamten Kriegsmacht ihrer Reiche beizustehen und demgemäß den Frieden nur gemeinsam und übereinstimmend zu schließen.

Art. 2. Würde einer der hohen kontrahierende Teile von einer anderen Macht angegriffen werden, so verpflichtet sich hiemit der andere hohe Kontrahent, dem Angreifer gegen s ineJ l hohen Verbündeten nicht nur nicht beizustehen, sondern mindestens eine wohlwollende neutrale Haltung gegen den hohen Mitkontrahenten zu beobachten.

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13.11. Aus dem Dreibund-Vertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Ita­lien, 1882:

Art. 2. Falls Italien ohne direkte Herausforderung seinerseits von Frankreich aus ir­gendeinem Grunde angegriffen werden sollte, sollten die beiden anderen vertrags­schließenden Parteien gehalten sein, der angegriffenen Partei mit allen ihren Kräften Hilfe und Beistand zu leisten. Diese gleiche Verpflichtung soll Italien im Falle eines nicht un­mittelbar herausgeforderten Angriffs Frankreichs gegen Deutschland obliegen.

Art. 3. Wenn eine oder zwei der hohen vertragsschließenden Parteien ohne unmittelbare Herausforderung ihrerseits angegriffen werden sollten und sich in einem Kneg mit zwei oder mehreren Großmächten verwickelt sehen sollten, die den gegenwärtigen Vertrag nicht unterzeichnet haben, so soll der »casus foederis« gleichzeitig ß r alle hohen vertrags­schließenden Parteien eintreten.

Art. 4. In dem Falle, wo eine Großmacht, die den gegenwärtigen Vertrag nicht unterzeichnet hat, die Sicherheit der Staaten einer der hohen vertragsschließenden Parteien bedrohen sollte, und die bedrohte Partei sich dadurch gezwungen sehen sollte, gegen sie Kneg ^ ß n - ren, verpflichten sich die beiden anderen, ihrem Verbündeten gegenüber eine wohlwollende Neutralität zu bewahren.

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Art. 5. Wenn der Friede einer der hohen vertragsschließenden Parteien unter den Umständen bedroht werden sollte, die in den vorhergehenden Artikeln vorgesehen sind, so werden sich die hohen vertragsschließenden Parteien rechtzeitig über die militärischen Maßnahmen ver­ständigen, die im Hinblick auf etwaiges Zusammenwirken zu treffen wären.

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13.12. Im Juni 1887 wurde zwischen dem Deutschen Reich und Rußland der zunächst mit drei Jahren befristete Rückversicherungsvertrag abgeschlossen.

Art. 1. Für den Fall, daß eine der hohen vertragsschließenden Parteien sich mit einer dritten Großmacht im Krieg befinden sollte, wird die andere eine wohlwollende Neutralität bewah­ren und ihre Sorge darauf richten, den Streit örtlich zu begrenzen. Diese Bestimmung soll auf einen Krieg gegen Österreich und Frankreich keine Anwendung finden, falls dieser Krieg durch einen Angriff einer hohen vertragsschließenden Partei gegen eine dieser beiden Mächte hervorgerufen ist.

Art. 2 Deutschland erkennt die geschichtlich erworbenen Rechte Rußlands auf der Balkan­halbinsel an und insbesondere der Rechtmäßigkeit seines vorwiegenden und entscheidenden Einflusses in Bulgarien und in Ostrumelien Die beiden Höfe verpflichten sich, keine Ände­rungen des territorialen Status quo der genannten Halbinsel ohne vorheriges Einverständnis zuzulassen und sich gegebenenfalls jedem Versuch, diesem Status quo Abbruch zu tun oder ihn ohne ihr Einverständnis abzuändem, zu widersetzen

Ganz geheimes Zusatzprotokoll:

Punkt 2: In dem Fall, daß S.M. der Kaiser von Rußland sich in die Notwendigkeit versetzt sehen sollte, zur Wahrung der Rechte Rußlands selbst auf Aufgabe der Verteidigung des Zu­gangs zum Schwarzen Meer zu übernehmen verpflichtet sich Deutschland, seine wohlwol­lende Neutralität zu gewähren und die Maßnahmen die S.M. für notwendig halten sollte, um den Schlüssel seines Reiches in der Hand zu behalten moralisch und diplomatisch zu unterstützen

***

13.13. Bismarck über die Kolonien:

[1881] Solange das Reich finanziell nicht [gefestigt] ist, dürfen wir an so teure Unter­nehmungen nicht denken [...] Direkte Kolonien können wir nicht verwalten, nur Kom­pagnien unterstützen Kolonialverwaltung wäre eine Vergrößerung des parlamentarischen Exerzierplatzes.

[1885] Unsere Kolonialbestrebungen sind Hilfsmittel für die Entwicklung des deutschen Ex­ports. [...] Schutzgebiete, die nichts weiter darstellen als ein weiteres Hilfsmittel zur Entwick­lung des deutschen wirtschaftlichen Lebens.

[1888 zu dem Afrikaforscher Wolf] Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Rußland, und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte; das ist meine Karte von Afrika.

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13.14. Der liberale Abgeordnete Ludwig Bamberger charakterisiert den Reichstag in der Bismarck-Ära:

Das deutsche Parlament ist das einzige in der Welt, in welchem die Minister und ihre Ver­treter mit dem Säbel an der Seite erscheinen und mit der Hand auf dem Degenknauf ihre Reden halten Es ist viel darüber geklügelt worden, warum Fürs! Bismarck seiner Erschei­nung in Staatsgeschäften die eines Reiteroffiziers gegeben habe. Trotzdem der Zauber seiner Kraft gewiß nicht in der Uniform lag, hat diese ihm doch Dienste dabei geleistet.

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13.15. Eine Passage aus »Brehm’s Thierleben« (1876-1879):

Der Igel (Erinaceus europaeus) ist ein drolliger Kauz und dabei ein guter, furchtsamer Ge­sell, welcher sich ehrlich und redlich, unter Mühe und Arbeit durchs Leben schlägt. Wenig zum Gesellschafter geeignet, findet ersieh fast stets allein oder höchstens in Gemeinschaft mit seinem Weibchen Unter den dichtesten Gebüschen unter Reisichhaufen oder in Hecken hat sich jeder einzeln sein Lager aufgeschlagen und möglichst bequem zurechtge­macht. Es ist ein großes Nest aus Blättern, Stroh und Heu, welches in einer Höhle oder unter dichtem Gezweige angelegt wird. Fehlt es an einer schon vorhandenen Höhle, so gräbt er sich mit vieler Arbeit eine eigne Wohnung und füttert diese aus. Sie reicht etwa 30 Centim. tief in die Erde und ist mit zwei Ausgängen versehen, von denen der eine in der Regel nach Mittag, der andere gegen Mitternacht geleg ist. Allein diese Thüren verändert er wie das Eichhorn, zumal bei heftigem Nord- und Südwinde. In hohem Getreide gräbt er sich selten eine Höhle, sondern macht sich bloß ein großes Nest. Die Wohnung des Weibchens ist fast immer nicht weit von der des Männchens, gewöhnlich in einem und demselben Garten Es kommt wohl auch vor, daß beide Igel in der warmen Jahreszeit in ein Nest sich legen; ja zärtliche Igel vermögen es gar nicht, von ihrer Schönen sich zu trennen, und theilen regel­mäßig das Lager mit ihr. Dabei spielen sie allerliebst miteinander, necken und jagen sich ge­genseitig, kurz, kosen zusammen, wie Verliebte überhaupt zu thun pflegen

***

13.16. Aus Friedrich Nietzsches [1844-1900] Buch »Also sprach Zarathustra«:

Ich lehre euch den Übermenschen Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll Was habt ihr getan ihn zu überwinden?

Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?

Was ist der Affe ß r den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.

Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe.

Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heiße ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden?

Seht, ich lehre euch den Übermenschen!

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Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!

Ich beschwöre euch, meine Brüder; bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.

Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren!

Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb, und damit starben auch die Frevelhaften. An der Erde zu freveln, ist jetzt das Furchtbarste, und die Eingeweide des Un- etforschlichen höher zu achten, als den Sinn der Erde!

«•*

13.17. Friedrich Nietzsche konnte mitunter sehr provokativ und ungerecht sein. Auch dafür ein Zitat:

Das Weib will selbständig werden: und dazu fängt es an, die Männer über das »Weib an sich« aufzuklären - das gehört zu den schlimmsten Fortschritten der allgemeinen Verhäßli- chung Europas. Denn was müssen diese plumpen Versuche der weiblichen Wissenschaft­lichkeit und Selbst-Entblößung alles ans Licht bringen! Das Weib hat so viel Grund zur Scham; im Weibe ist so viel Pedantisches, Oberflächliches, Schulmeisterliches, Kteinüch- Anmaßliches, Kleinlich-Zügelloses und Unbescheidnes versteckt - man studiere nurseinen Verkehr mit Kindern! - , das im Grund bisher durch die Furcht vor dem Manne am besten zurückgedrängt und gebändigt wurde. Wehe, wenn erst das »Ewig-Langweüige am Weibe« - es ist reich daran! - sich hervorwagen darf! wenn es seine Klugheit und Kunst, die der A n­mut, des Spielern, Sorgen-Wegscheuchens, Erleichtems und Leicht-Nehmens, wenn es seine feine Anstelligkeit zu angenehmen Begierden gründlich und grundsätzlich zu verlernen be­ginnt!

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13.18. Das Gral-Motiv in zwei Opern von Richard Wagner [1813-1883]. Zunächst Gur- nemanz’ Erzählung im ersten Aufzug des Musikdramas »Parsifal«:

GURNEMANZ: Titurel, der fromme Held, der kannt’ ihn wohl

Denn ihm, da wilder Feinde List und Macht des reinen Glaubens Reich bedrohten, ihm neigten sich in heilig ernster Nacht

dereinst des Heilands selige Boten: daraus der trank beim letzten Liebesmahle, das Weihgefäß, die heilig edle Schale, darein am Kreuz sein göttlich Blut auch floß, dazu den Lanzenspeer, der dies vergoß - der Zeugengüter höchstes Wundergut - das gaben sie in unsres Königs Hut.Dem Heiligtum baute er das Heiligtum.

Die seinem Dienst ihr zugesindet auf Pfaden, die kein Sünder findet,

ihr wißt, daß nur dem Reinen vergönnt ist, sich zu einen

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den Brüdern, die zu höchsten Rettungswerken des Grales (heil’ge) Wunderkräfte stärken.Drum blieb es dem, nach dem ihr fragt, verwehrt,KUngsom, wie hart ihn Müh’ auch darob beschwert Jenseits im Tale war er eingesiedelt; darüberhin liegt üpp’ges Heidenland: unkund blieb mir, was dorten er gesündigt; doch wollt’ er büßen nun, ja heilig werden.Ohnmächtig, in sich selbst die Sünde zu ertöten,

an sich legt’ er die Frevlerhand, die nun, dem Grale zugewandt,

verachtungsvoll des’ Hüter von sich stieß.Darob die Wut nun Klingsom unterwies,

wie seines schmäl’chen Opfers Tat ihm gäbe zu bösem Zauber Rat;

den fand er nun - Die Wüste schuf er sich zum Wonnengarten,

drin wachsen teuflisch holde Frauen; dort will des Grales Ritter er erwarten

zu böser Lust und Höllengrauen: wen er verlockt, hat er erworben; schon viele hat er uns verdorben.

Da Titurel, in hohen Alters Mühen,Dem Sohn(e nun) die Herrschaft hier verliehen:

Amfortas ließ es da nicht ruhn, der Zauberplag’ Einhalt zu tun.Das wißt ihr, wie es da (dort) sich fand: der Speer ist nun in Klingsors Hand;

kann er selbst Heiliger mit dem verwundeten, den Gral auch wähnt er fest schon uns entwunden

Die Gralserzählung in Wagners Musikdrama »Lohengrin«:

LOHENGRIN (in feierlicher Verklärung vor sich herblickend):In fernem Land, unnahbar euren Schritten,liegt eine Burg, die Montsalvat genannt;ein lichter Tempel stehet dort inmitten,so kostbar, als auf Erden nichts bekannt;drin ein Geßß von wundertät’gem Segenwird dort als höchstes Heiligtum bewacht:Es ward, daß sein der Menschen reinste pflegen, herab von einer Engelschar gebracht; alljährlich naht vom Himmel eine Taube, um neu zu stärken seine Wunderkraft:Es heißt der Gral, und selig reinster Glaube erteilt durch ihn sich seiner Ritterschaft.Wer nun dem Gral zu dienen ist erkoren, den rüstet er mit überirdischer Macht; an dem ist jedes Bösen Trug verloren, wenn ihn ersieht, weicht dem des Todes Nacht.Selbst wer von ihm in ferne Land’ entsendet, zum Streiter für der Tugend Recht ernannt, dem wird nicht seine heil’ge Kraft entwendet,

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bleibt als sein Ritter dort er unerkannt.So hehrer Art doch ist des Grales Segen, enthüllt - muß er des Laien Auge fliehn; des Ritters drum sollt Zweifel ihr nicht hegen, erkennt ihr ihn - dann muß er von euch ziehn. Nun hört, wie ich verbotner Frage lohne!Vom Gral ward ich zu euch daher gesandt: Mein Vater Parzival trägt seine Krone, sein Ritter ich - bin Lohengrin genannt.

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14.1. Zur Begründung der Kolonialpolitik in der Wilhelminischen Ära sagte Kanzler Bülow im Reichstag:

Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem ändern das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront - diese Zeiten sind vorüber. [...] Wir müssen verlangen, daß der deutsche Missionar und der deutsche Un­ternehmer, die deutschen Waren, die deutsche Flagge und das deutsche Schiff in China ge­radeso geachtet werden wie diejenigen anderer Mächte. Wir sind endlich gern bereit, in Ost­asien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. Mit ei­nem Wort: Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.

*«*

14.2. Einem Artikel des »Militär-Wochenblattes« vom Juli/August 1889 kann man Auf­schlußreiches über die Stellung des Offiziers in der damaligen Gesellschaft entnehmen.

Der Stolz jedes Deutschen ist die Armee, die Blüte des Volkes. Deutschlands Heer - die Elite des Heeres, ist das Offizierskorps. [...] Wenn der Offiziersberuf jetzt nicht mehr wie frü­her das Monopol des Adels ist, so dürfen doch nur Ebenbürtige, nur Ritter vom Geiste und Kavaliere von Erziehung und Gesinnung Mitglieder und Genossen dieses bevorzugten Stan­des sein [...] Der bürgerliche sowohl wie der adelige Offizier vertreten [...] die aristokratische Weltanschauung gegen die demokratische. Der junge Offizier aus bürgerlicher Familie be­kundet durch die Wahl des Offiziersberufes, daß er [...] sich zur Aristokratie der Gesinnung rechnet, welche den Offizier beseelen muß. [...] Die Gesinnungen [des Offiziersstandes] sind: dynastischer Sinn, unbedingte Treue gegen die Person des Monarchen, erhöhter Patrio­tismus, Erhaltung des Bestehenden, Verteidigung der seinem Schutze anvertrauten Rechte des Königs und Bekämpfung vaterlandsloser, königsfeindlicher Gesinnung. [...] Vor allen anderen ist der Offizier berufen, die Fahne des Königs von Gottes Gnaden voranzutragen [...] Die Stellung als Offizier erfordert [die] Mißbilligung jener politischen Richtungen, wel­che das Königtum von Gottes Gnaden bekämpfen oder seine ihm zustehenden Rechte ver­kürzen möchten

***

14.3. Kaiser Wilhelm ü. [1859 -1941] bei der Rekrutenvereidigung 1891 in Potsdam:

Rekruten! Ihr habt jetzt vor dem geweihten Diener Gottes und angesichts dieses Altars Mir Treue geschworen [...], ihr seid jetzt Meine Soldaten, ihr habt euch Mir mit Leib und Seele

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ergeben; es gibt für euch nur einen Feind, und der ist Mein Feind Bei den jetzigen soziali­stischen Umtrieben kann es Vorkommen, daß Ich euch befehle, eure eigenen Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschießen - was ja Gott verhüten möge - , aber auch dann müßt ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen

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14.4. Aus der 1900 gehaltenen »Hunnenrede« von Wilhelm ü. bei der Einschiffung der deutschen Truppen nach China, wo sie den Boxeraufstand niederzuschlagen hatten:

Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich einen Namen gemacht haben, der sie noch jetzt in Überlie­ferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.

• »*

14.5. Der österreichische Opernsänger Leo Slezak über den preußischen Polizisten:

Dem nächsten Schutzmann, der mit einem kriegerisch aufgezwirbelten Kaber-Wilhelm- Schnurrbart und einer Pickelhaube an der Ecke stand, legte ich vertraulich die Hand auf die Schulter und wollte fragen - da schrie er mich atu »Nicht anfassen, wat fällt Ihnen denn ein? Sie sind wohl!« Ich erschrak und fragte eingeschüchtert: »Ich bitte schön, wie komme ich zum Potsdamer Platz?« »Da jehn Se mal die Friedrichstraße lang bis zur Leipzija Straße, dort rechts an zum Leipzija Platz, den überqueren Se, und dann sind Se am Pots­damer Platz.« »Ich danke schön!« »Gedankt wird nicht, wiederholen!«

***

14.6. Das Beamtenverhältnis war und ist ein anstrebenswertes Ziel für viele Deutsche. A nfang des 20. Jahrhunderts wurde es so charakterisiert:

Das Beamtenverhältnis ist nicht bloß ein Vertrag über bestimmte einzelne Arbeitsleistungen, sondern es ist ein Dienstvertrag, ein Treuevertrag, der die ganze Person umfaßt, ein Verhält­nis der Treue, die durch den Eid beschworen ist, in welchem dem König Gehorsam und der Verfassung und den Gesetzen Befolgung zugeschworen wird. Mit solchem Eid, mit dem Ein­gehen eines solchen Treueverhältnisses ist die Zugehörigkeit zu einer Partei [SPD, im Jahre 1913 110 Sitze im Reichstag], die die Republik erstrebt und dieses Ziel auf dem Wege der Gewalt und Revolution erreichen will, unvereinbar.

***

14.7. Wilhelm ü. über das reformbedürftige Schulwesen, 1890:

Wer selbst auf dem Gymnasium gewesen ist [...], der weiß, wo es da fehlt. Und da fehlt es vor allem an der nationalen Basis. Wir müssen ab Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer. [...] Der deutsche Aufsatz muß der Mittelpunkt sein, um den sich alles dreht. Wenn einer im Abiturientenexamen einen tadellosen deutschen Aufsatz liefert, so kann man daraus [...] beurteilen, ob er etwas taugt.

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14.8. Das österreichische Ultimatum, das am 23. Juli 1914 an Serbien überreicht wurde, sollte die serbische Regierung zu harten Maßnahmen verpflichten:

1. Jede Publikation ist zu unterdrücken, die zum Haß oder zur Verachtung der Monarchie aufreizt und deren allgemeine Tendenz gegen ihre territoriale Integrität gerichtet ist

2 Sofort den Verein »Narodna Odbrana« aufzulösen, dessen gesamte Propagandamittel zu konfiszieren und in derselben Weise gegen die anderen Vereine und Vereinigungen in Serbien einzuschreiten, die sich mit der Propaganda gegen Österreich-Ungarn beschäftigen.

3. Ohne Verzug aus dem öffentlichen Unterricht in Serbien, sowohl was den Lehrkörper als auch was die Lehrmittel betrifft, alles zu beseitigen, was dazu dient oder dienen könnte, die Propaganda gegen Österreich-Ungarn zu nähren.

4. Aus dem Militärdienst und aus der Verwaltung im allgemeinen alle Offiziere und Beam­ten zu entfernen, die der Propaganda gegen Österreich-Ungarn schuldig sind.

5. Einzu willigen, daß in Serbien Organe der k. u. k. Regierung bei der Unterdrückung der ge­gen die territoriale Integrität der Monarchie gerichteten subversiven Bewegungen mitwirken.

6. Eine gerichtliche Untersuchung gegen jene Teilnehmer des Komplotts vom 28. Juni ein­zuleiten, die sich auf serbischem Territorium befinden; von der k.u . k. Regierung hiezu dele­gierte Örgane werden an den bezüglichen Erhebungen teilnehmen.

***

14.9. Der Abgeordnete Haase, Sprecher der SPD, beim Ausbruch des ersten Welt­krieges im Reichstag, 4. August 1914:

Die Folgen der imperialistischen Politik [...] sind wie eine Sturmflut über Europa her­eingebrochen. Die Verantwortung hierfür fällt den Trägem dieser Politik zu; wir lehnen sie ab. [...] Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse der Invasion. [...] Es gilt, diese Gefahr abzuwenden. [...] Da machen wir wahr, was wir im­mer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich

»**

14.10. Ein Plakat aus dem Jahre 1918:

Bekanntmachung

A u f Abschnitt 36 der Eierkarte kann vom 27. März bis 6. April

ein Ei

abgegeben und entnommen werden.

Berlin, den 23. März 1918Magistrat der Königlichen Haupt- und Residenzstadt

Wermuth

Page 165: Historishe Landeskunde

«*«

14.11. Der deutsche Liberale Friedrich Naumann [1860-1919] sagte 1900 beim Besuch der Weltausstellung in Paris über die technische Entwicklung:

Es gibt Maschinen, bei deren Anblick man geradezu glücklich ist vor Freude, daß einem Menschen so etwas glücken konnte. Oft sind das vielleicht nicht die allemotwendigsten und wirtschaftlichsten Maschinen, aber sie beleuchten am besten, was im Grunde die Maschine ist: der eiserne Mensch! Ich habe früher gesagt, die eiserne Hand, finde aber, daß dieser Ausdruck nicht ganz ausreicht. Die Maschine tut alles, was irgendein Glied des Körpers me­chanisch leistet, sie sieht, hört, bläst den Staub weg, tritt, knetet, walkt, reibt, preßt, leckt, klebt, schreibt, stempelt, zählt, näht, schmiedet, drechselt, mißt, schiebt, sägt, hobelt, bohrt, nagelt, sticht, gerbt, windet, bindet, rollt, stanzt, punzt, fräst. Man kann nicht sagen• die Ma­schine liebt, die Maschine hofft, die Maschine bittet um Entschuldigung! Aber abgesehen von diesen rein seelisch-sittlichen Vorgängen, was tut die Maschine nicht? Sie putzt Fla­schen, ß llt sie, korkt sie, entkorkt sie - der Mensch aber trinkt. Es ist rührend von der Ma­schine, daß sie mit Wasser und Kohle zufrieden ist. Sie ist geduldiger und leistungsfähiger als ein Kamel Tagelang bin ich zwischen den Maschinen der Völker hindurchgegangen, den Katalog in der Hand, das Auge offen Das, was ich gesehen habe, kann ich schwer in ein paar kurzen Worten fassen, denn es ist nichts Neues, nichts direkt Überraschendes. Es ist der Eindruck von der unaufhaltsamen Ausbreitung der maschinellen Arbeitsteilung.

***

14.12. Der evangelische Theologe, Arzt, Musiker Albert Schweitzer [1875-1965], der 1953 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde, schätzte menschliche Werte höher als den technischen Fortschritt.

Die Kräfte der Natur machen wir uns in der Maschine dienstbar. Als ein Schüler des Kungtse [Konfuzius], so wird in den Schriften des Dschuang Dsi [Tschuangtse] erzählt, einen Gärtner sah, der, um Wasser zum Begießen seiner Beete zu holen, jedesmal mit dem Gefäß in den Brunnen hinunterstieg, fragte er ihn, ob er sich die Arbeit nicht erleichtern wolle. »Wieso denn?«, erwiderte dieser. Kungtses Schüler sprach: »Man nimmt einen hölzernen Hebelarm, der hinten beschwert und vorne leicht ist. A u f diese Weise kann man das Wasser schöpfen, daß es nur so sprudelt. Man nennt das einen Ziehbrunnen.« Da ant­wortete der Gärtner, der ein Weiser war: »Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer Maschinen benützt, so betreibt er alle seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz, wenn aber einer ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren«

Die von jenem Gärtner im 5. Jahrhundert vor Christus geahnten Gefahren treten uns in ihrer ganzen Schwere auf. Rein mechanische Arbeit ist das Los vieler um uns her geworden Vom eigenen Haus und vom eigenen nährenden Boden losgelöst, leben sie in einer drückenden, materiellen Unfreiheit. Durch die Umwälzung, die die Maschine hervorgerufen hat, sind wir fast alle einem allzu geregelten, allzu eingeengten und allzu anstrengenden Arbeitsdasein unterworfen worden Selbstbesinnung und Sammlung sind uns schwer gemacht. Das Fami­lienleben und die Erziehung der Kinder leiden Not. Alle sind wir mehr oder weniger in Ge­fahr, Menschendinge statt Persönlichkeiten zu werden. Vielfache materielle und geistige Schädigung der Menschenexistenz ist also die Schattenseite der Errungenschaften des Wis­sens und Könnens.

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15.1. Mitteilung über die Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm ü. am 9. Novem­ber 1918:

Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen. [...] Er beabsichtigt, dem Regenten die Ernennung des Abgeordneten Ebert zum Reichskanzler und die Vorlage eines Gesetzesentwurfes wegen der sofortigen Ausschreibung allgemeiner Wahlen für eine verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung vorzuschlagen, der es obliegen würde, die künftige Staatsform des deutschen Volkes [...] endgültig festzustellen. Der Reichskanzler Max, Prinz von Baden.

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15.2. Am 11. November 1918 verzichtete der österreichische Kaiser Karl I. auf die Aus­übung der Regierungsgeschäfte. Darüber erließ er folgende Kundgebung in der Extra­ausgabe der offiziellen »Wiener-Zeitung«.

Seit Meiner Thronbesteigung war Ich unablässig bemüht, Meine Völker aus den Schrecknis­sen des Krieges herauszuführen, an dessen Ausbruch ich keinerlei Schuld trage.

Ich habe nicht gezögert, das verfassungsmäßige Leben wiederherzustellen, und habe den Völkern den Weg zu ihrer selbständigen staatlichen Entwicklung eröffnet.

Nach wie vor von unwandelbarer Liebe für alle Meine Völker erfüllt, will Ich ihrer freien Entfaltung Meine Person nicht als Hindernis entgegenstellen.

Im voraus erkenne Ich die Entscheidung an, die Deutschösterreich über seine künftige Staatsform trifft.

Das Volk hat durch seine Vertreter die Regierung übernommen, Ich verzichte auf jeden An­teil an den Staatsgeschäften.

Gleichzeitig enthebe Ich Meine österreichische Regierung ihres Amtes.

Möge das Volk von Deutschösterreich in Eintracht und Versöhnlichkeit die Neuordnung schaffen und befestigen. Das Glück Meiner Völker war von Anbeginn das Ziel Meiner heißesten Wünsche.

Nur der innere Friede kann die Wunden dieses Krieges heilen.

Karl m.p. Lammasch m.p.

'***

15.3. Am 12. November 1918 wurde die »Erste Republik« in Österreich ausgerufen. Den Text der Proklamation, von dem hier der Anfang zitiert wird, verfaßte der So­zialdemokrat Karl Renner, den man zum Staatskanzler wählte.

Kraft Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung verordnet der Staatsrat wie folgt:

Art. 1. Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten wer­den vom Volk eingesetzt.

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Art. 2 Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik. Besondere Gesetze re­geln die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der Deutschen Republik sowie die Ausdehnung des Geltungsbereichs von Gesetzen und Einrichtungen der Deutschen Republik auf Deutschösterreich.

Art. 3. Alle Rechte, die nach der Verfassung der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder dem Kaiser zustanden, gehen einstweilen, bis die konstituierende Natio­nalversammlung die endgültige Verfassung festgesetzt hat, auf den deutschösterreichischen Staatsrat über.

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15.4. Zwei Artikel aus der Verfassung der Republik Österreich. Der erste verpflichtet den österreichischen Staat zur Wahrung seiner Unabhängigkeit (und macht dadurch Ar­tikel 2 der vorhin zitierten Proklamation ungültig); der zweite bestimmt, daß Österreich, ebenso wie seine Verbündeten, die Schuld am Ausbruch des Krieges gegenüber der Weltöffentlichkeit auf sich zu nehmen und Reparationen zu zahlen habe.

Art. 88. Die Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich, es sei denn, daß der Rat des Völ­kerbunds einer Abänderung zustimmt. Daher übernimmt Österreich die Verpflichtung, sich, außer mit Zustimmung des gedachten Rates, jeder Handlung zu enthalten, die mittelbar oder unmittelbar oder auf irgendwelchem Wege, namentlich - bis zu seiner Zulassung als Mitglied des Völkerbunds — im Wege der Teilnahme an den Angelegenheiten einer anderen Macht seine Unabhängigkeit gefährden könnte.

Art. 177. Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Österreich erkennt an, daß Österreich und seine Verbündeten als Urheber für die Verluste und Schäden verant­wortlich sind, die die alliierten und assoziierten Reperungen und ihre Staatsangehörigen in­folge des ihnen durch den Angriff Österreich-Ungarns und seiner Verbündeten auf­gezwungenen Krieges erlitten haben.

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15.5. Artikel 80 des Versailler Friedensvertrags 1919 hatte das Verbot eines Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich zum Inhalt.

Art. 80. Deutschland erkennt die Unabhängigkeit Österreichs innerhalb der durch den Ver­trag zwischen diesem Staat und den alliierten und assoziierten Hauptmächten fest­zusetzenden Grenzen an und verpflichtet sich, sie unbedingt zu achten; es erkennt an, daß diese Unabhängigkeit unabänderlich ist

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15.6. Auszüge aus der Weimarer Verfassung:

Art. 25: Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem glei­chen Anlaß.

Art. 48: Der Reichspräsident kann, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung [...] erforderlichen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten

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Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. [Davon] hat der Reichspräsident unver­züglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichs­tages außer Kraft zu setzen.

Art. 53: Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen.

Art. 54: Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Ver­trauens des Reichstages. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.

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15.7. Für die Niederlage im ersten Weltkrieg machten einflußreiche Kreise in Deutsch­land jene Kräfte verantwortlich, die die Revolution auslösten und damit der Front »in den Rücken gefallen waren«. Diese Dolchstoßlegende wurde auch von hohen Offizie­ren, zum Beispiel von General Groener, gestützt:

[...] mir konnte es nur lieb sein, wenn bei diesen unglückseligen Verhandlungen [den Waf­fenstillstandsverhandlungen], von denen nichts Gutes zu erwarten war, das Heer und die Heeresleitung so unbelastet wie möglich blieb. [...] Die Heeresleitung stellte sich bewußt auf den Standpunkt, die Verantwortung für den Waffenstillstand und alle späteren Schritte von sich zu weben. Sie tat dies, streng juristisch gesehen, nur mit bedingtem Recht, aber es kam mir und meinen Mitarbeitern darauf an, die Waffe blank und den Generabtab für die Zu­kunft unbelastet zu erhalten.

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15.8. Der Schriftsteller Ernst Jünger erinnert sich an den ersten Weltkrieg im Buch »In Stahlgewittern« (1920) so:

Wir sind nicht gewillt, diesen Krieg aus unserem Gedächtrüs zu streichen, wir sind stolz auf ihn. Wir sind durch Blut und Erinnerung unlöslich verbunden. [...] Wir brauchen für die kommenden Zeiten ein ebemes, rücksichtsloses Geschlecht. Wir werden wieder die Feder durch das Schwert [...] ersetzen, sonst treten uns andere in den Dreck. Wir haben aus der Revolution gelernt. [...] Uns leite über alles Niederträchtige hinweg unsere große [...] Idee: das Vaterland

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15.9. Aus dem Vertrag von Rapallo, 1922:

Art. la. Das Deutsche Reich und die russbche Sowjetrepublik verzichten gegenseitig auf Er­satz der Kriegskosten sowie auf Ersatz der Kriegsschäden, d. h. derjenigen Schäden, die ih­nen und ihren Staatsangehörigen durch im Kriegsgebiet vorgenommene Requbitionen ent­standen sind. [...]

y,rt. 3. Die diplomatbchen und konsularischen Beziehungen zwbchen dem Deutschen Reich und der Sowjetregierung werden sogleich wieder aufgenommen [...]

Art. 4. Beide Reperungen sind sich ferner auch darüber einig, daß für die allgemeine Rechts­stellung der Angehörigen des einen Teib im Gebiet des anderen Teib und für die allgemeine

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Regelung der beiderseitigen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen der Grundsatz der Meistbegünstigung gelten solL [...]

Art. 5. Die beiden Regierungen werden den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geist wechselseitig entgegenkommen.

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15.10. Am 24. Juni 1922 wurde Außenminister Walther Rathenau [1877-1922] von ei­nem aufgehetzten jungen Mann erschossen. Rathenaus Mutter wandte sich in einem of­fenen Brief an die Mutter des Mörders.

In namenlosem Schmerz reiche ich Ihnen, Sie ärmste aller Frauen, die Hand Sagen Sie Ihrem Sohn, daß ich im Namen und Geist des Ermordeten ihm verzeihe, wie Gott ihm ver­zeihen möge, wenn er vor der irdischen Gerechtigkeit ein volles offenes Bekenntnis ablegt und vor der göttlichen bereut. Hätte er meinen Sohn gekannt, den edelsten aller Menschen, den die Erde trug, so hätte er eher die Mordwaffe auf sich selbst gerichtet als auf ihn. Mögen diese Worte Ihrer Seele Frieden geben

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15.11. Auszüge aus der ersten und der letzten Rede des deutschen Außenministers Gustav Stresemann (Friedensnobelpreis 1926) vor dem Völkerbund:

[1926] Eine starke Gärung der Gedanken kämpft unter den Völkern der Erde. Die einen vertreten das Prinzip der nationalen Geschlossenheit und verwerfen die internationale Verständigung, weil sie das national Gewordene nicht durch den allgemeinen Begriff der Menschheit ersetzen wollen [...] Der göttliche Baumeister der Erde hat die Menschheit nicht geschaffen als ein gleichförmiges Ganzes. [...] Aber es kann nicht der Sinn einer göttlichen Weltordnung sein, daß die Menschen ihre nationalen Höchstleistungen gegeneinander keh­ren und damit die allgemeine Kulturentwicklung immer wieder zuriickwerfen

[1929] Die deutsche Regierung hat stets den Standpunkt vertreten, daß der Ausgangspunkt aller Bemühungen um die Friedenssicherungen der Ausbau der Methoden für die friedliche Bereinigung jeder Art von Staatskonflikten sein muß. [...] Ich glaube denen, die in den Erinnerungen leben an den Heroismus der Jugend aller Völker, das eine zurufen zu dürfen, daß die technischen Kriege der Zukunft, selbst wenn man von allem anderen absieht, für persönlichen Heroismus wenig Bestätigungsmöglichkeiten geben werden. [...] Wir in unserem Kreise, wir haben die nüchterne Aufgabe, die Völker einander näherzubringen, ihre Gegen­sätze zu überbrücken [...] Auch diese Arbeit wird nicht nur durch Elan und Hurra allein sich lösen lassen

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16.1. Am 28. Februar 1933, dem Tag nach dem Reichstagsbrand, erschien die »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat«.

§ 1. Die Artikel 114, 115, 117,118, 123, 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reiches werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechtes, der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegrafen- und Fem- sprechgeheimnis, Anordnungen von Hausdurchsuchungen und von Beschlagnahmungen

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sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hiefiir bestimmten gesetzli­chen Grenzen zulässig.

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162 . Die am 2. August 1934 eingeführte Eidesformel bei der Reichswehr:

Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen

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16-3. Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels verkündete 1934:

Wir Nationalsozialisten haben [...] niemals behauptet, daß wir Vertreter eines de­mokratischen Standpunktes seien, sondern wir haben offen erklärt, daß wir uns demo­kratischer Mittel nur bedienen, um die Macht zu gewinnen, und daß wir nach der Macht­eroberung unseren Gegnern alle die Mittel versagen würden, die man uns in Zeiten der Op­position zugebilligt hatte.

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16.4. Die totale Beherrschung der Menschen war eines der Hauptziele der national­sozialistischen Bewegung. In einer Rede erklärte Hitler:

Diese Jugend lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort zum erstenmal überhaupt frische Luft bekommen und fihlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standesgegner, son­dern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS [...] und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganz Nationalsozialisten geworden sein sollten, dam kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deut­schen Spaten Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren zu­rückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben lang.

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16.5. Im Mai 1933 stand in der deutschen Presse:

Bekanntmachung!

1. Sämtliche Gaststätteninhaber werden ersucht, künftighin in ihren Lokalen keine Jazzmu­sik mehr spielen zu lassen. Entstehen hinsichtlich des Begriffes »Jazzmusik« Zweifel, so ent­scheidet SA-Obermusikmeister K .. endgültig.

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2 Sämtliche Gaststätteninhaber werden ersucht, in ihren Lokalen an gut sichtbarer Stelle Plakate mit folgender Aufschrift aufzuhängen: Die deutsche Frau raucht nicht!

Der Sonderkommissar Sch..

Sturmbannführer.

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16.6. Am A nfang der Hitlerherrschaft waren kritische Stimmen noch möglich. Kabaret­tist Werner Finch spöttelte beispielsweise Abend für Abend über die Hitler-Eiche:

»Vor ein paar Monaten war sie noch ganz klein, gerade bis zu meinen Knöcheln, dann reichte sie mir bis an die Knie, und jetzt steht sie mir schon bis zum Hals.«

Bei solchen Pointen hatten zwei Herren unten an den Tischen jedesmal eifrig mitge­schrieben. Mitunter kamen die Lacher zu schnell und die Beamten nicht nach. Finch fragte dann vom Podium herunter:

»Kommen Sie mit, oder soll ich mitkommen?«

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16.1. Erich Kästner [1899-1974] gehört zu den wenigen deutschen Schriftstellern, die ihre Heimat auch in den Jahren der Hitlerherrschaft nicht verließen. Er war zugegen, als seine Bücher verbrannt wurden.

Im Jahre 1933 wurden meine Bücher in Berlin, auf dem großen Platz neben der Staatsoper, von einem gewissen Herrn Goebbels, mit düster-feierlichem Pomp verbrannt. Vierundzwan­zig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er trium­phierend bei Namen Ich war der einzige der Vierundzwanzig der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizu wohnen.

Ich stand vorder Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt. Der Kopf ei­nerzerschlagenen Büste Magnus Hirschfelds stak auf einer langen Stange, die, hoch über der stummen Menschenmenge, hin und her schwankte. Er war widerlich

Plötzlich rief eine schrille Frauenstimme: »Dort steht ja der Kästner!« Eine junge Ka­barettistin, die sich mit einem Kollegen durch die Menge zwängte, hatte mich stehen sehen und ihrer Verblüffung übertrieben laut Ausdruck verliehen Mir wurde unbehaglich zumute. Doch es geschah nichts. (Obwohl in diesen Tagen gerade sehr viel zu »geschehen« pflegte.) Die Bücher flogen weiter ins Feuer. Die Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners ertönten weiterhin Und die Gesichter der braunen Studentengarde blickten, die Sturmriemen unterm Kinn, unverändert geradeaus, hinüber zu dem Flammenstoß und zu dem psalmodierenden, gestikulierenden Teufelchen

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16.8. Joseph Goebbels ordnete am 27. November 1936 mit Gesetzeskraft die Aufhebung der Kritik a a

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Da auch das Jahr 1936 keine befriedigende Besserung der Kunstkritik gebracht hat, unter­sage ich mit dem heutigen Tage endgültig die Kunstkritik in der bisherigen Form. An die Stelle der bisherigen Kunstkritik, die in völliger Verdrehung des Begriffes »Kritik« in der Zeit jüdischer Kunstüberfremdung zum Kunstrichtertum gemacht worden war, wird ab heute der Kunstbericht gestellt; an die Stelle des Kritikers tritt der Kunstschriftleiter. Der Kunstbericht soll weniger Wertung als vielmehr Darstellung und damit Würdigung sein.

16.9. Plakat für die Ausstellung »Entartete Kunst« (München 1937):

Gequälte Leinwand -

Seelische Verwesung -

Krankhafte Phantasten -

Geisteskranke Nichtskönner

von Judencliquen preisgekrönt, von Literaten gepriesen, waren Produkte und Produzenten einer »Kunst«, für die Staatliche und Städtische Institute gewissenlos Millionenbeträge deut­schen Volksvermögens verschleuderten, während deutsche Künstler zur gleichen Zeit verhun­gerten. So, wie jener »Staat« war seine »Kunst«.

Seht Euch das an! Urteilt selbst!

Besuchet die Ausstellung

»Entartete Kunst«

Hofgarten-Arkaden, Galeriestraße 4

Eintritt frei Für Jugendliche verboten

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16.10. Alle Künstler und Geistesschaffenden waren im Dritten Reich den Weisungen des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda unterworfen. Wer nicht ge­horchte, erhielt Berufsverbot, wie der expressionistische Maler Karl Schmidt-Rottluff:

Aktenzeichen: IIB /M 756/87

HerrnKarl Friedrich Schmidt-Rottluff Berlin W 30, Bambergerstraße 19

Anläßlich der mir seinerzeit vom Führer aufgetragenen Ausmerzung der Werke entarteter Kunst in den Museen mußten von Ihnen allein 608 Werke beschlagnahmt werden Eine An­zahl dieser Werke war auf den Ausstellungen »Entartete Kunst« in München, Dortmund und Berlin ausgestellt.

Aus dieser Tatsache mußten Sie ersehen, daß Ihre Werke nicht der Förderung deutscher Kultur in Verantwortung gegenüber Volk und Reich entsprechen

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Obwohl Ihnen außerdem die richtungwebenden Reden des Führers anläßlich der Eröffnung der Großen Deutschen Kunstausstellungen in München bekannt sein mußten, geht aus Ih­ren nunmehr zur Einsichtnahme hergereichten Originalwerken der Letztzeit hervor, daß Sie auch heute noch dem kulturellen Gedankengut des nationabozialbtbchen Staates fentste­hen.

Ich vermag Ihnen auf Grund dieser Tatsache nicht die ß r die Mitgliedschaft bei meiner Kammer erforderliche Zuverlässigkeit zuzuerkennen. A u f Grund des § 10 der Ersten Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz vom 1. November 1933 (RGBL 1, S. 797) schließe ich Sie aus der Reichskammer der bildenden Künste aus und untersage Ihnen mit sofortiger Wirkung jede berufliche - auch nebenberufliche - Betätigung auf den Gebieten der bildenden Künste. [...]

Gez. Ziegler

***

16.11. Einer der gefeierten Autoren des Hitlerstaates war Hermann Claudius [1878-1980], der Urenkel des Dichters Matthias Claudius [1740-1815]. Hier ein Text von ihm aus dem Hausbuch »Ewiges Deutschland« (1940):

Deutscher Spruch

Herrgott,steh ’ dem Führer bei daß sein Werk das Deine sei daß sein Werk das Deine sei Herrgott,steh ’ dem Führer bei!Herrgott,steh’uns allen bei daß sein Werk das Unsre sei Unser Werk das seine sei Herrgott,steh ’ uns allen bei!

***

16.12. SA-Befehl zur »Reichskristallnacht«, 9./10. November 1938:

Sämtliche jüdbche Geschäfte sind sofort von SA-Männem in Uniform zu zerstören [...] Jü­dische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken [...] Die Feuerwehr darf nicht eingreif en [...] Der Führer wünscht, daß die Polizei nicht eingreift. [...] An den zerstörten jüdbchen Ge­schäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen mit etwa folgendem Text:

Rache ß r Mord an vom Rath [Deutscher Botschaftssekretär in Paris, der am 7. No­vember erschossen wurde.]

Tod dem internationalen Judentum.

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16.13. Franz Ferdinand Höß, Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, im Nürnberger Prozeß:

Wir bemühten uns, die Opfer zum Narren zu halten, indem sie glaubten, daß sie ein Entlau­sungsverfahren durchzumachen hätten Natürlich erkannten sie auch häufig unsere wahren Absichten, und wir hatten deswegen manchmal Aufruhr und Schwierigkeiten Sehr häufig wollten Frauen ihre Kinder unter den Kleidern verbergen, aber wenn wir sie fanden, wurden die Kinder natürlich zur Vernichtung hineingesandt. Wir sollten diese Vernichtungen im ge­heimen ausführen, aber der faule und Übelkeit erregende Gestank, der von der unun­terbrochenen Körperverbrennung ausging, durchdrang die ganze Gegend, und alle Leute, die in den umliegenden Gemeinden lebten, wußten, daß in Auschwitz Vernichtungen im Gange waren

16.14. In Bertolt Brechts [1898-1956] »Flüchtlingsgesprächen« steht der Satz:

Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen

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16.15. Radnöti Miklös, Naplö:

Hogy fäjhatnak a nemeteknek most a rendhagyö igöik.

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16.16. Der österreichische Kanzler Schuschnigg mußte Hitler auf dessen Aufforderung am 12. Februar 1938 einen Besuch auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden abstatten, von dem er später im Buch »Requiem in Rot-Weiß-Rot« so berichtete:

[Hitler] »Ich sage Ihnen, ich werde die ganze sogenannte österreichische Frage lösen, und zwar so oder so! Glauben Sie, ich weiß nicht, daß Sie die österreichische Grenze gegen das Reich befestigen lassen? [...] Ich brauche nur einen Befehl zu geben, und über Nacht ist der ganze lächerliche Spuk an der Grenze zerstoben Sie werden doch nicht glauben, daß Sie mich auch nur eine halbe Stunde aufhalten können? Wer weiß - vielleicht bin ich über Nacht auf einmal in Wien; wie der Frühlingssturm! Dann sollen Sie etwas erleben!«

[Schuschnigg] »Ich werde mich erkundigen und alle eventuellen Grenzarbeiten an der deut­schen Grenze einstellen lassen Ich weiß natürlich, daß Sie in Österreich einmarschieren können; aber, Herr Reichskanzler, ob wir es wollen oder nicht - das wird ein Blutvergießen geben; wir sind nicht allein auf der Welt. Das bedeutet wahrscheinlich den Krieg.«

[Hitler] »Das sagt sich sehr leicht; jetzt, wo wir beide in Klubsesseln sitzen. Aber dahinter steht eine Unsumme von Leid und Blut. Das wollen Sie auf Ihre Verantwortung nehmen, Herr Schuschnigg? Glauben Sie nur nicht, daß mich irgend jemand in der Welt in meinen Entschlüssen hindern wird! Italien? - Mit Mussolini bin ich im reinen; ich bin mit Italien aufs engste befreundet. England? - England wird keinen Finger für Österreich rühren [...] Und Frankreich? - Ja, vor zwei Jahren noch cds wir mit einer Handvoll Bataillone ins Rheinland einmarschierten - damals habe ich viel riskiert. Aber jetzt ist es für Frankreich zu spät!«

* * *

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16.17. Am Abend des 11. März 1938 trat der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg zurück. In seiner Abschiedsrede, die vom Rundfunk übertragen wurde, wandte er sich an das österreichische Volk:

Österreicher und Österreicherinnen!

Der heutige Tag hat uns eine schwere und entscheidende Situation gestellt. Ich bin be­auftragt, dem österreichischen Volk über die Ereignisse des Tages zu berichten. Die deutsche Regierung hat dem Herrn Bundespräsidenten [Miklas] ein unbefristetes Ultimatum gestellt, nach welchem der Herr Bundespräsident einen von ihm vorgeschlagenen Kandidaten zum Bundeskanzler zu ernennen und die Regerung nach den Vorschlägen der deutschen Reichsregierung zu bestellen hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen für diese Stunde in Aussicht genommen wurde.

Ich stelle fest vor der Welt, daß die Nachrichten, die in Österreich verbreitet wurden, daß Ar­beiterunruhen gewesen seien, daß Ströme von Blut geflossen seien, daß die Regierung nicht Herrin der Lage wäre und aus eigenem nicht hätte Ordnung machen können, von A bis Z erfunden sind

Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen, daß wir der Gewalt weichen. Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in ernster Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, daß der Einmarsch durchgeführt wird, ohne Widerstand sich zurückzuziehen und die Entscheidung der nächsten Stunden abzuwarten. Der Herr Bundespräsident hat den General der Infanterie Schilhawsky, den Generaltruppeninspektor, mit der Führung der Wehrmacht betraut. Durch ihn werden weitere Weisungen an die Wehrmacht ergehen.

So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deut­schen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!

***

16.18. Telefongespräch Görings mit dem nach Wien gesandten Staatssekretär Keppler am 11. März 1938 um 20.48 Uhr:

Keppler: Wir haben jetzt die Regierung [Seyss-Inquart].

Göring: Nun passen Sie auf: Folgendes Telegramm soll der Seyss-Inquart hersenden: [...] »Die provisorische Regerung die nach der Demission der Regierung Schuschnigg ihre Auf­gabe darin sieht, die Ruhe und Ordnung in Österreich wieder herzustellen, richtet an die deutsche Regierung die dringende Bitte, sie in ihrer Aufgabe zu unterstützen und ihr zu hel­fen, Blutvergießen zu verhindern. Zu diesem Zweck bittet sie die deutsche Regierung um baldmöglichste Entsendung deutscher Truppen.« [...] Legen Sie ihm das Telegramm vor und sagen Sie ihm, wir bitten - er braucht das Telegramm ja gar nicht zu schicken, er braucht nur zu sagen: einverstanden.

***

16.19. Kurz nach dem Anschluß, am 15. März 1938, hielt Hitler eine »Befreiungskundgebung« auf dem Wiener Heldenplatz. Vom unerwarteten Erfolg be­rauscht, rief er in die Massen:

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Ich kann somit in dieser Stunde dem deutschen Volk die größte Vollzugsmeldung meines Lebens abstatten. Als Führer und Reichskanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich

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16.20. Im Anschlußgesetz, das für mehr als sieben Jahre das Schicksal Österreichs be­stimmen sollte, steht unter anderem:

Art. 1. Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches.

A rt 2. Sonntag, den 10. April 1938, findet eine freie und geheime Volksabstimmung der über 20 Jahre alten deutschen Männer und Frauen Österreichs über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich statt

A rt 3. Bei der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

Art. 4. Die zur Durchführung und Ergänzung dieses Bundesverfassungsgesetzes erfor­derlichen Vorschriften werden durch Verordnung getroffen.

Art. 5. Dieses Bundesverfassungsgesetz tritt am Tag seiner Kundmachung in Kraft. Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut.

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16.21. Hitlers Befehl zum Angriff auf Polen (Geheime Kommandosache OKW-WFA 170-39).

Nachdem alle politischen Möglichkeiten erschöpft sind, um auf friedlichem Wege eine für Deutschland unerträgliche Lage an seiner Ostgrenze zu beseitigen, habe ich mich zur gewalt­samen Lösung entschlossen.

Der Angriff gegen Polen ist nach dem für den »Fall Weiß« getroffenen Vorbereitungen zu führen mit Abänderungen, die sich beim Heer durch den inzwischen fast vollendeten Auf­marsch ergeben.

Aufgabenverteilung und Operationsziel bleiben unverändert

Angriffstag: 1. 9.1939 - Angriffszeit: 4,45 Uhr.

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16.22. Mit folgenden Worten einer Rundfunkrede am 1. September 1939 begründete Hitler vor der Weltöffentlichkeit den Angriff auf Polen:

Polen hat heute nacht auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten ge­schossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen. [...] Ich habe mich daher nun entschlos­sen, mit Polen in der gleichen Sprache zu reden, mit der Polen nun seit Monaten mit uns spricht.

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1623. Nach der Niederlage von Stalingrad rief Goebbels Parteigenossen zu einer Kund­gebung in den Sportpalast in Berlin und verkündete von dort aus unter dem jubelnden Beifall der Menge den »totalen Krieg«.

Ihr also, meine Zuhörer, repräsentiert in diesem Augenblick die Nation. Und an euch möchte ich zehn Fragen richten, die ihr mir und dem deutschen Volk vor der ganzen Welt, insbesondere aber vor unseren Feinden, die uns auch an ihrem Rundfunk zuhören, beant­worten sollt. [...]

Die Engländer behaupten, das deutsche Volk wehrt sich gegen die totalen Knegsmaß- nahmen der Regerung. Es will nicht den totalen Kneg, sondern die Kapitulation. Ich frage euch; Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler, radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?

Schon nach der ersten Frage scholl Goebbels aus dem Munde der Tausende ein ein­stimmiges Ja entgegen, das nach jeder weiteren Frage von neuem den Sportpalast er­dröhnen ließ.

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16.24. Das letzte Flugblatt der »Weißen Rose«, einer Studentengruppe um die Geschwi­ster Scholl in München, 1943:

Der Tag der A b re ch n u n g ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der ver­abscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen der deutschen Jugend fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen, zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen.

***

1625. Das populärste Lied des zweiten Weltkrieges war »Lili Marleen« (Musik: Norbert Schulze, Text: Hans Leiß). Es wurde erstmals von Laie Andersen über den Belgrader Sender gesungen und bald in zahlreiche Sprachen übersetzt. »Lili Marleen« wurde zu dem Lied, das die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung ausdrückte - egal, an welcher Seite der Front.

Vor der Kaserne,vor dem großen Torstand eine Laterne,und steht sie noch davor,so wolln wir uns da wiedersehrt,bei der Laterne wolln wir stehnwie einst, Lili Marleen.

Unsre beiden Schatten sahn wie einer aus.Daß wir so lieb uns hatten, das sah man gleich daraus.Und alle Leute solln es sehn, wenn wir bei der Laterne stehn, wie einst, Lili Marleen.

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Schon rief der Posten, sie blasen Zapfenstreich, es kann drei Tage kosten! Kamerad, ich komm ja gleich.Da sagten wir wohl auf Widersehn wie gerne wollt ich mit dir gehn, wie einst, Lili Marleen.

Deine Schritte kennt sie, deinen zieren Gang, alle Abend brennt sie, mich vergaß sie lang.Und sollte mir ein Leids geschehn, wer wird bei der Laterne stehn mit dir, Lili Marleen?

Aus dem stillen Raume, an der Erde Grund - hebt mich wie im Traume dein verliebter Mund.Wenn sich die späten Nebel drehn, werd ich bei der Laterne stehn wie einst, Lili Marleen.

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17.1. Die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens hinsichtlich der »Überführung deutscher Bevölkerungsteile«:

Die Konferenz erzielte folgendes Abkommen über die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn: Die L.] Regerungen haben die Frage in all ihren Aspekten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestand­teile derselben, die in Polen, in der Tschechoslowakei und in Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll

***

17.2. Bereits in der »Moskauer Deklaration« (1. November 1943) deutet sich das Schick­sal Österreichs nach dem zweiten Weltkrieg an.

Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjetunion und der Vereinigen Staaten von Amerika sind darin einer Meinung daß Österreich, das erste freie Land, das der typi­schen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll

Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 13. März 1938 als null und nichtig. Sie betrachten sich durch keinerlei Änderungen, die in Österreich seit diesem Zeit­punkt durchgeführt wurden, als irgendwie gebunden. Sie erklären, daß sie wünschen, ein freies und unabhängges Österreich wiederhergestellt zu sehen und dadurch ebensosehr den Österreichern selbst wie den Nachbarstaaten, die sich ähnlichen Problemen gegenüberge­

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stellt sehen werden, die Bahn zu ebnen, auf der sie die politische und wirtschaftliche Sicher­heitfinden können, die die einzige Grundlage für einen dauerhaften Frieden ist.

Österreich wird aber daran erinnert, daß es für die Teilnahme am Krieg an der Seite Hitler- Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und daß anläßlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wieviel es selbst zu seiner Befreiung beige­tragen haben wird, unvermeidlich sein wird.

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173. Am 27. April 1945 wurde die Wiederherstellung der Republik Österreich (»Zweite Republik«) proklamiert. Staatskanzler wurde Karl Renner.

Angesichts der Tatsache,

daß der Anschluß des Jahres 1938 nicht durch Verhandlungen von Staat zu Staat vereinbart und durch Staatsverträge abgeschlossen, sondern durch militärische Bedrohung von außen und den hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet, endlich durch militärische kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volk Öster­reichs aufgezwungen worden ist

und angesichts der Tatsache,

daß die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Annexion des Landes das macht — und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, erlassen die Unterzeichneten Vertreter aller antifa­schistischen Parteien Österreichs ausnahmslos die nachstehende

UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG

Art. I: Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geist der Verfas­sung von 1920 einzurichten.

Art. II: Der im Jahr 1938 dem österreichischen Volk aufgezwungene Anschluß ist null und nichtig.

Art. III: Zur Durchführung dieser Erklärung wird eine Provisorische Staatsregierung einge­setzt und vorbehaltlich der Rechte der besetzenden Mächte mit der vollen Gesetzgebungs­und Vollzugsgewalt betraut.

Art. IV: Am Tag der Kundmachung dieser Unabhängigkeitserklärung sind alle von Österrei­chern dem Deutschen Reich und seiner Führung geleisteten militärischen, dienstlichen oder persönlichen Gelöbnisse nichtig und unverbindlich.

Art. V: Von diesem Tag an stehen alle Österreicher wieder im staatsbürgerlichen Pflicht- und Treueverhältnis der Republik Österreich

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17.4. In einer Rundfunkrede anläßlich des Neujahrstages 1950 schlug der österreichische Bundespräsident Karl Renner selbstbewußte Töne an:

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Meine lieben Mitbürger müssen verstehen, Österreich ist ein europäisches Problem, ja ein Weltproblem geworden. Soweit es unser Problem ist, haben wir es selbst längst gelöst. Jeder Österreicher empfindet: Laßt unser Land in Ruhe, wir sind imstande, unsere Angelegenhei­ten selbst zu regeln. [...] Wir wollen allein sein, also laßt uns allein!

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17.5. Das Gedicht »Land der Berge, Strand am Strome« von Paula von Preradovic ist mit Musik von Mozart die österreichische Nationalhymne:

Land der Berge, Land am Strome,Land der Äcker, Land der Dome,Land der Hämmer, zukunftsreich!Heimat bist du großer Söhne,Volk, begnadet für das Schöne,Vielgerühmtes Österreich!

Heiß umfehdet, wild umstritten Liegst dem Erdteil du inmitten,Einem starken Herzen gleich Hast seit frühen Ahnentagen Hoher Sendung Last getragen,Vielgeprüftes Österreich!

Mutig in die neuen Zeiten,Frei und gläubig sieh uns schreiten,Arbeitsfroh und hoffnungsreich,Einig laß in Brüderchören,Vaterland, dir Treue schwören,Vielgeliebtes Österreich!

***

17.6. Aus einem Bericht der amerikanischen Erziehungskommission über die Not in Deutschland 1946:

Nirgends in der Welt ist es möglich gewesen, das Gebäude einer erfolgreichen demo­kratischen Selbstregierung auf der Grundlage des Hungers und der wirtschaftlichen Unord­nung zu errichten. [...] Im Juli [betrug] das Durchschnittsgewicht der 10jährigen Knaben beinahe 10 % unter der Altersnorm. [...] Das erschreckende Ansteigen der Tuberkulose [...] beleuchtet die Emährungskrise sehr eindringlich, während .das Auftreten der Krätze die Aufmerksamkeit auf die Folgen des Mangeb an Seife und warmem Wasser lenkt.

***

17.7. US-Außenminister Marshall an der Harvard-Universität, 5. Juni 1947:

Wenn die Vereinigten Staaten [...] zum Gesundungsprozeß der europäbchen Welt beitragen, müssen die Länder Europas untereinander zu einer Einigung kommen [...] und selbst dazu beitragen [...], eine volle Auswertung der Maßnahmen unserer Regerung zu erzielen. [...]Ein Programm [für] die wirtschaftliche Wiederaufrichtung Europas [zu entwerfen], bt Sache der Europäer selbst. Die Initiative muß von Europa ausgehen. [...] Unsere Rolle sollte darin be­stehen, den Entwurf eines europäbchen Programms [...] zu unterstützen.

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• «*

17.8. Je ein Zitat aus der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (1949) und der Verfassung der DDR (1949).

[Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland] [Um] seine nationale und staatliche Ein­heit zu wahren und als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das deutsche Volk in den Ländern [elf Ländernamen], um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben [...], dieses Grundge­setz [...] beschlossen. Es hat auch für jene Deutsche gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.

[Verfassung der DDR] Vom Wdlen erfüllt, die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern, hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben.

***

17.9. Die Nationalhymne der Deutschen Demokratischen Republik wurde 1949 von Jo­hannes R. Becher verfaßt.

Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt,Laß uns dir zum Guten dienen,Deutschland, einig Vaterland Alte Not gilt es zu zwingen,Und wir zwingen sie vereint,Denn es muß uns doch gelingen,Daß die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint.

Glück und Friede sei beschieden Deutschland, unsrem Vaterland!Alle Welt sehnt sich nach Frieden!Reicht den Völkern eure Hand Wenn wir brüderlich uns einen,Schlagen wirdes Volkes Feind.Laßt das Licht des Friedens scheinen,Daß nie eine Mutter mehr Ihren Sohn beweint!

Laßt uns pflügen, laßt uns bauen,Lernt und schafft wie nie zuvor,Und der eignen Kraft vertrauend Steigt ein frei Geschlecht empor.Deutsche Jugend, bestes Streben Unsres Volks in dir vereint,Wirst du Deutschlands neues Leben,Und die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint.

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* * *

17.10. »Paris Match« 1952 zu der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik:

Der deutsche Arbeiter hat das Totenhaus, das Deutschland nach dem Kriege war, in ein Bienenhaus verwandelt.

*•*

17.11. Die Hallstein-Doktrin (nach dem damaligen Staatssekretär im Auswärtigem Amt, Walther Hallstein) bestimmte lange die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Bundeskanzler Konrad Adenauer formulierte ihr Wesen 1955 so:

Ich muß [...] feststellen, daß die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme di­plomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten [...] als einen unfreundlichen Akt ansehen würde, da er geeignet wäre, die Spaltung Deutschlands zu vertiefen.

***

17.12. Auszüge aus der Rede Walter Ulbrichts [1893-1973] zum Bau der Berliner Mauer, gehalten am 18. August 1961 im Fernsehen der DDR.

Meine lieben Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und liebe Freunde in West­deutschland und Westberlin!

Ereignisreiche Tage liegen hinter uns. Hier und da gingen die Wogen etwas hoch Sie glätten sich allmählich Die von Schöneberg und Bonn künstlich geschürte Aufregung ist abgeebbt. Natürlich müssen wir weiterhin wachsam sein. Aber das Leben geht seinen ruhigen Gang. Sie erwarten mit Recht, daß ich als Vorsitzender des Staatsrates der DDR einiges zu den Ge­schehnissen und zu der neuen Situation sage.

Doch zuvor drängt es mich, den prächtigen Söhnen und Töchtern unserer Werktätigen, die gegenwärtig Uniform tragen, den prächtigen Jungen in der Nationalen Volksarmee und in der Volkspolizei, den Unteroffizieren und Generalen unserer bewaffneten Kräfte im Namen des Staatsrates, im Namen der Regierung der DDR und im Namen der Partei der Arbeiter­klasse herzlichen Dank zu sagen. Sie haben die erfolgreiche Aktion vom 13. August hervor­ragend und diszipliniert, mit großartigem Kampfgeist und großartiger Moral durchgeführt. Der Dank gebührt allen Angehörigen unseres Staatsapparates, der hier bewiesen hat, daß er zu großen Leistungen fähig ist.

Wir haben - so glaube ich - einen wichtigen Beitrag zum Frieden geleistet, indem wir die Grenzen der DDR gegenüber Westberlin und gegenüber Westdeutschland gesichert haben. Wir haben uns bei unseren Maßnahmen an die Vereinbarungen mit der Sowjetunion und mit den anderen Staaten des Warschauer Vertrages gehalten, die uns verpflichten, die Gren­zen unseres Staates wirksam zu schützen und unter Kontrolle zu halten. [...]

Manche Leute haben gesagt, durch die Maßnahmen der Regierung der DDR würden die Brüder und Schwestern in Westdeutschland von uns getrennt. Aber wer hat denn die Men­schen in Westdeutschland von uns getrennt? Das waren doch die amerikanischen Imperiali­sten, weil sie Westdeutschland in einen Rammbock gegen den Sozialismus verwandeln wollten.

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Wie ist das eigentlich mit den Brüdern und Schwestern? Die Sache ist doch so: Wir sind für enge Beziehungen mit der westdeutschen Bevölkerung. Leider aber haben unsere westdeut­schen Brüder und Schwestern zugelassen, daß bei ihnen Militarismus und Nazismus wie­derum starke Machtpositionen einnehmen, die dazu ausgenutzt werden, einen dritten Welt­krieg vorzubereiten.

***

17.13. Zwei verschiedene Antworten auf die Frage, ob es zwei deutsche Nationen gibt. Die erste stammt von Albert Norden, Mitglied des Politbüros des ZK der SED aus dem Jahr 1973, die zweite von Bundeskanzler Willy Brandt aus dem Jahr 1970.

[Norden] Die Arbeiterklasse der DDR [hat sich] mit der Eroberung der politischen Macht »als Nation konstituiert«. Sie hat mit ihren Verbündeten den sozialistischen Nationalstaat DDR geschaffen. [...] Bei uns in der [DDR blüht] die sozialistische Nation auf[...\ während in der BRD die kapitalbtische Nation [...] fortbesteht. Von [einer] »Einheit der Nation« kann überhaupt keine Rede sein.

[Brandt] Nation umfaßt und bedeutet mehr ab gemeinsame Sprache und Kultur, als Staat und Gesellschaftsordnung. Die Nation gründet sich auf das fortdauernde Zusammengehö­rigkeitsgefühl der Menschen eines Volkes. Niemand kann leugnen, daß es in diesem Sinne eine deutsche Nation gibt und geben wird.

«**

17.14. Der französische Journalist und Schriftsteller Jean-Jacques Servan-Schreiber sagte 1968 in einer Fernsehdiskussion:

Wenn unsere Generation die amerikanische Herausforderung nicht erkennt und ihr nicht entsprechend begegnet, so wird es in 15 Jahren zu spät sein. [...] Wir müssen begreifen, daß die Herausforderung unserer Kultur und nicht unserem Geld gilt. Und dagegen müssen wir uns durch geeignete Maßnahmen zur Wehr setzen. Letzte Woche war ich in einem sehr hübschen, sonnigen Ort an der Südküste Frankreichs in der Nähe von Nizza. Diesen Ort hatte der amerikanische Elektronik-Gigant IBM gewählt, um dort sein Hauptlaboratorium in Europa zu errichten. [...] In Wahrheit verkörpert dieses IBM-Gebäude die eigentliche Be­satzung. Hier wird mit französischem Geld, französischen Wissenschaftlern und auf franzö­sischem Boden gearbeitet, um Erfindungen zu machen. Und diese französischen Wissen­schaftler machen fortlaufend Erfindungen und schicken sie jeweils per Telex nach New York. [...]

Wissen Sie, wir könnten darüber diskutieren, ob wir Amerikaner werden und die ame­rikanische Lebensweise übernehmen möchten oder nicht. Aber um diese Frage geht es im Grund ja nicht, sie ist rein theoretischer Art. Angenommen, wir versagen und die Amerika­ner beherrschen in zehn Jahren das Wirtschaftsleben Europas. Was wird dann aus uns? Werden wir Amerikaner? Niemals! Wir werden von Amerika kolonisiert.

***

17.15. Zitate aus dem Neckermann-Urlaubskatalog 1973.

Jeden Mittwoch nach Mallorca mit Jets der Germanair.

Bus-Transfer vom Flughafen Palma.

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Linienbus zur City.

Ihr Hotel: Air-condition in allen Salons, großer Speisesaal, Bar, TV, Souvenir-shop, Friseur. Abends quirliges Treiben in der Diskothek (.Jockey und Brand)!

Bungalow-Anlage mit großem Swimmingpool, Kinderspielplatz, Minigolf, Tennis, Bowling.

Snack-Bar; Grillroom; Nightclub; Shows, Cafeteria.

*** *★* ***

18.1. In einer lateinischen Urkunde aus dem Jahre 1291 bestätigen die Urkantone Schwyz, Uri und Unterwalden das Bündnis von 1273.

1. Die Leute der Täler erneuern einen bestehenden älteren Bund und verpflichten sich in Anbetracht der Arglist der Zeit eidlich, einander mit Rat und Tat, mit Leib und Gut, aller Macht und Anstrengung innerhalb und außerhalb der Täler beizustehen wider alle und jede, die ihnen odereinem von ihnen irgendwelche Gewalttat, Beschwerde oder Beleidigung zufü­gen würden.

2 Wer einem Grundherrn verpflichtet ist, soll seine Verpflichtungen nach Recht erfüllen. Doch haben die Landleute mit einhelligem Beifall festgesetzt und verordnet, daß sie keinen Gerichtsherm, der dies Amt irgendwie um Geld erkauft hätte oder der nicht ihr Einwohner und Landsmann wäre, annehmen oder anerkennen.

3. Das Urteil der einheimischen Richter, denen allein Gehorsam geleistet werden muß, ist an eine Landfriedensordnung gebunden. Alle Verbündeten oder Eidgenossen stehen dafür ein, daß kein Verurteilter sich dem Richterspruche widersetzen kann.

4. Wenn sich unter den Eidgenossen Parteien bilden oder Streit entsteht, dann sollen die ver­ständigsten Männer als Schiedsgericht zusammentreten, um die Mißhelligkeit zu beseitigen. Den Teil, der sich ihrem Entscheide nicht unterwirft, müssen alle übrigen dazu zwingen.

5. Der Bund und seine Satzungen sollen, so Gott will, ewig dauern. Deswegen ist darüber auch eine Urkunde ausgefertigt und mit den Regeln der drei Uinder bekräftigt worden.

***

182 . Schweizerdeutsches Volkslied. Der Ballade liegt wohl eine historische Begebenheit aus dem Jahre 1670 zugrunde, als die Werbungen für den Kriegsdienst in Flandern be­gannen.

Babeli

Es het a Buur es Töchterli mit Name heißt es Babeli, es het zwei Zöpfli rot wie Gold, drum isch em au der Dursli hold

Der Dursli lauft em Ätti noh »OÄtti, wollsch mer’s Babeli lo?«

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»Mis Babeli isch no vil zu chlei, es schloft das Jahr no sanft allei«

Der Dursli lauft in vollem Zom wohl in die Stadt gage Solothum.Er lauft die Gassen i und us,ins daß er chunt vor’s Hauptmes Hus.

»O Hauptme, lieber Hauptme mi, i will mi dingen i Flanderen L«Der Hauptme zieht der Sackei us und git em Durs drei Taler drus.

Der Dursli geit jetz wieder hei, hei zu söm liebes Babeli chlei.»O Babeli, du liebs Babeli mi, i ha mi düngen i Flanderen L«

Das Babeli lauft wohl hinger’s Hus, es grint im fascht sini Äugeli us.»O Babeli, tue doch rtit esol I wott ja wieder umme chol

Und chumm i über’s Jahr rät hei, so schriebe i dir es Briefli chlei.Darinne soll geschriebe stoh- Mis Babeli wott i rät verloh

Und wenn der Himmel papierig war, und jeder Stern e Schriber war, und jeder Schriber hätt sebe Hand, sie schriebe doch all miner Liebe kes End.«

***

18.3. Im Roman »Die letzte Freude« des norwegischen Schriftstellers Knut Hamsun [1859-1952] stoßen diverse Ansichten über die Schweiz aufeinander.

Schweiz, sagte Frau Brede, ich weiß nichts über die Schweiz; aber ich habe einmal einen Kleiderstoff von dort bekommen, das war der schlimmste Betrug, den ich je erlebt habe.

Die Lehrerin sprach von dem, was sie gelernt hatte, von den Uhrenfabriken und den Alpen und Calvin -

Ja, das sind aber auch die drei einzigen Dingen in tausend Jahren, sagte der Adjunkt, bleich vor Ingrimm.

Der Rechtsanwalt aber begann von diesem wunderbaren Lande zu erzählen, dem Muster für alle kleinen Staaten der Welt. Diese Gesellschaftsordnung, diese Volksabstimmung, welch eine Planmäßigkeit in der Ausnützung der landschaftlichen Schönheiten; dort gab es Hotels, dort verstand man die Kunst, Reisende zu behandeln! Kolossal! Wenn wir nur hier daheim einen solchen Schweizerkäse machen könnten, sagte er. Dann wären wir nicht so arm. Sie

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können uns dort alles lehren, ihre Sparsamkeit, den Fleiß, die Abendarbeit, die kleine Hausindustrie -

Und so weiter! unterbricht ihn der Adjunkt, die Kleinlichkeiten, die Nichtigkeiten, das Negative. Ein Land, das nur durch die Gnade der Nachbarn besteht, dürfte denn doch kein Vorbild für irgend ein anderes Land auf der Erde sein. Wir müssen versuchen, uns über diese Jammergedanken zu erheben, wir werden nur kläglich davon. Die großen Länder, die großen Dinge sind es, die ein Vorbild sein sollen. Denn alles wächst, selbst das Kleine, wenn es nicht zu einem Liliputdasein geboren ist... Sie haben dort nicht einmal ein einziges Mär­chen. Da sitzen sie Geschlecht auf Geschlecht und feilen Uhrenräder und fuhren die Engländer auf ihre Gipfel; aber es ist ein Land, das aller Volkslieder und Märchen bar ist. Und nun sollten wir fest arbeiten, damit Norwegen auch in diesem Punkt werde wie die Schweiz, nicht wahr... Schweiz, unser großes Ziel ist, dir zu gleichen; wer kann so viel aus seinen Alpen herauswirtschaften, wer kann solche Uhrenräder feilen wie du?

**•

18.4. In den Reisenotizen »Sväjci terefere« (»Pesti Hfrlap«, 1927) schreibt Kosztolänyi Dezsö:

Az emberek roppant becsületesek Utänam hozzäk felöltömet, mefyet elhagytam egy padon. Ha väsärlok valam.it, meg se keil olvasnom a pinzem et Sohase adnak vissza kevesebbet. Ez megnyugtat. De többet se adnak vissza. Ez viszont lever.

*«*

18.5. Der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung [1875-1961] über seine Landsleute:

Aus der Erdgebundenheit des Schweizers gehen sozusagen alle seine guten und schlechten Eigenschaften hervor, die Bodenständigkeit, der Sparsinn, die Gediegenheit, der Eigensinn, die Ablehnung des Fremden, das Mißtrauen, das ärgerliche Schwyzerdütsch und die Unbe­kümmertheit oder Neutralität - politisch ausgedrückt.«

***

18.6. Friedrich Dürrenmatt [ 1921 -1990] sprach in seinen Werken viele peinliche Wahr­heiten über die Schweiz aus. Im kurzen Dialog aus dem Drama »Romulus der Große« distanziert er sich beispielsweise von dem für seine Landsleute heiligen Patriotismus:

REA: Soll man denn nicht das Vaterland mehr lieben als alles andere in der Welt?

ROMULUS: Nein, man soll es weniger lieben als einen Menschen. Man soll vor allem gegen sein Vaterland mißtrauisch sein. Es wird niemand leichter ein Mörder als das Vaterland

In einem Essay analysiert er die Haltung der Eidgenossenschaft in und nach dem zwei­ten Weltkrieg:

Unser Davonkommen war nicht vorbildlich, auch eine erfolgreiche Politik hat ihre bitterbö­sen Seiten. Wir ließen unsere Opfer nicht im Land oder schoben sie wieder über die Grenze und damit aus unserem Bewußtsein. Wir hatten Verräter, wir erschossen sie, wir hatten Mit­läufer, wir vergaßen sie, wir hatten Antisemiten, wir haben sie noch Wir bewährten uns, in­dem wir es nicht ganz zur Bewährung kommen ließen, wir hielten an unseren Idealen fest, ohne sie unbedingt anzu wenden, wir schlossen die Augen, ohne gerade blind zu werden. Teil

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spannte zwar die Armbrust, doch grüßte er den Hut ein wenig - beinahe fast nicht und das Heldentum blieb uns erspart.

***

18. 7. Zwei aphoristische Definitionen des Schweizer Wesens von den Schriftstellern Ludwig Hohl [1904-1980] und Walter Vogt [1929-1988]:

[Hohl] Die Schweizer sind stolz darauf, daß sie so schöne Berge geschaffen haben.

[Vogt] Die Schweiz - der Traum der ändern.

*** * * * * * *

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Der Limes

Das Weströmische Reich unter germanischer Herrschaft

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Wlß. Rafcb C U o tM p S il — B m m d M F n n t e in l d a u n a » O ttS ab d w rB M ta

Das Reich Korb des Großen

Das Reich Ottos des Großen

Page 190: Historishe Landeskunde

Die Kreuzzüge

Europäische Handelszentren

Page 191: Historishe Landeskunde

Die Erwerbungen Habsburgs im Kampf gegen die Türken

Die Staaten Europas nach dem Wiener Kongreß

Page 192: Historishe Landeskunde

Europa nach dem ersten Weltkrieg

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Page 194: Historishe Landeskunde

Stilkarte Gotik

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Page 196: Historishe Landeskunde

Stilkarte Barock

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Page 198: Historishe Landeskunde

Stilkarte Biedermeier

Page 199: Historishe Landeskunde

Worms, Dom, 1171-1230

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Freiburg im Breisgau, Münster, 1275-1350

Köln, Dom, um 1380 begonnen, erst 1842-1880 beendet

Page 201: Historishe Landeskunde

Heidelberg, Schloß, 1556-1604

Leipzig, Altes Rathaus, 1556

Page 202: Historishe Landeskunde

Pommersfelden, Schloß Weißenstein, 1711-1718

Page 203: Historishe Landeskunde

Wien, Palais Schwarzenberg, 1697-1704

Ellwangen, Wallfahrtskirche auf dem Schönenberg, 1682-1702

Page 204: Historishe Landeskunde

Berlin, Brandenburger Tor, 1788-1792

Berlin, Altes Museum, 1824-1830

Page 205: Historishe Landeskunde

Chronologie der Herrscher

Die KarolingerKarl Martell 737-741

König der Franken (de facto)Pippin 751-768

König der FrankenKarl I. (der Große) 768-814

768: König der Franken 800: Kaiser

Ludwig I. (der Fromme) 814-840 813: Mitkaiser (Mitregent)814: Alleinherrscher 816: Kaiser

a) Ludwig II. (der Deutsche) 843-876Teilkönig der Ostfranken

b) Lothar 1.840-855Kaiser

c) Karl II. (der Kahle) 843-877843:Teilkönig der Westfranken 875: Kaiser

Karl III. (der Dicke) 876-887876: König in Alemannien 881: Kaiser

Arnulf (von Kärnten) 887-899887: König der Ostfranken 896: Kaiser

Ludwig (das Kind) 900-911 König der Ostfranken

Ludwig III. (der Blinde) 901-905 Kaiser

Konrad 1.911-918König der Ostfranken

Die sächsischen Herrscher (Ottonen; Liudolfinger)Heinrich I. (der Vogler) 919-936Otto I. (der Große) 936-973

962: KaiserOtto II. 973-983

961: Mitkönig 967: Mitkaiser

Otto III. 983-1007 996: Kaiser

Heinrich II. 1002-1024 1014: Kaiser

Die fränkischen Herrscher (Salier)Konrad II. 1024-1039

1027: KaiserHeinrich III. 1039-1056

1046: KaiserHeinrich IV. 1056-1106

1053: römischer König 1084: Kaiser

Heinrich V. 1106-11251099: römischer König 1111: Kaiser

Lothar II. 1125-11371125: römischer König 1133: Kaiser

Die schwäbischen Herrscher (Staufer; Hohenstaufen)Konrad III. 1138-1152

1127-1135: Gegenkönig 1138: römischer König

Friedrich I. (Barbarossa) 1152-1190 1155: Kaiser

Heinrich VI. 1190-11971169: römischer König1191: Kaiser1194: König von Sizilien

Konstanze (Witwe Heinrichs VI.)1197-1198: Regentin

a) Philipp (von Schwaben) 1198-1208römischer König

b) Otto IV. (von Braunschweig)1198-12181198: römischer König 1209: Kaiser

c) Friedrich II. 1212-12501198: König von Sizilien 1212: Gegenkönig 1220: Kaiser

[Heinrich (VII.) 1220-1235 1220: römischer König 1228: Regent in Deutschland]

Konrad IV. 1250-12541231: römischer König 1243: Regent in Deutschland

Page 206: Historishe Landeskunde

[Heinrich Raspe (von Thüringen)1246-1247 Gegenkönig]

»Interregnum«Wilhelm (von Holland) 1254-1256

1247-53: Gegenkönig 1254: römischer König

a) Richard (von Cornwall) 1257-1272römischer König

b) Alfons (von Kastilien) 1257-1273römischer Gegenkönig

Die Habsburger/1Rudolf 1.1273-1291

römischer König

Adolf von Nassau 1292-1298

Die Habsburger/2Albrecht 1.1298-1308

römischer König

Die Luxemburger/1Heinrich VII. 1308-1313

1312: Kaiser

Die Wittelsbacher/1a) Ludwig IV. (der Bayer) 1314-1347

1328: Kaiser

Die Habsburger/3b) Friedrich (III.) (der Schöne)

1314-1330 1314: Gegenkönig 1325: Mitregent

Die Luxemburger/2Karl IV. 1346-1378

1346: Gegenkönig 1347: Alleinherrscher 1355: Kaiser

[Günther von Schwarzburg 1349-1349 Gegenkönig]

Wenzel 1378-14001376: römischer König

Die Wittelsbacher/2 (die pfälzische Lime)Ruprecht (von der Pfalz) 1400-1410

römischer König

Die Luxemburger/3a) Jobst (von Mähren) 1410-1411

römischer Kömg, Gegenkönigb) Sigismund 1410-1437

1410-1411: römischer König 1433: Kaiser

Die Habsburger/4Albrecht II. 1438-1439

römischer KönigFriedrich III. (IV.) 1440-1493

1452: KaiserMaximilian 1.1493-1519

1486: Mitkönig (Mitregent) 1508: Kaiser

Karl V. 1519-1556 1530: Kaiser

Ferdinand 1.1556-15641531: römischer König (Mitregent)1556: römischer König (Alleinherrscher im Reich) 1558: Kaiser

Maximilian II. 1564-15761562: römischer König 1564: Kaiser

Rudolf II. 1576-1612 Kaiser

Matthias 1.1612-1619 Kaiser

Ferdinand II. 1619-1837 Kaiser

Ferdinand III. 1637-16571636: römischer König 1637: Kaiser

Leopold 1.1658-1705 Kaiser

[Ferdinand IV. 1653-1654römischer König, Mitregent]

Page 207: Historishe Landeskunde

Joseph 1.1705-17111690: römischer König (Mitregent)1705: Kaiser

Karl VI. 1711-1740 Kaiser

Karl VII. (Albrecht) 1742-1745Franz I. Stephan (von Lothringen)

1745-1765 Kaiser (de jure)

[Maria Theresia 1740-1780 Regentin de facto 1740: Erzherzogin von Österreich 1741: Königin von Ungarn 1743: Königin von Böhmen]

Joseph II. 1765-17901764: römischer König (Mitregent)1765: Kaiser1780: Alleinregierung (in Österreich, Ungarn usw.)

Leopold II. 1790-1792 Kaiser

Franz II. (I.) 1792-18351792-1806: römischer Kaiser (als Franz IL)1804-1835: Kaiser von Österreich (als Franz I.)

Ferdinand 1.1835-1848Kaiser von Österreich

Franz Joseph 1.1848-1916 Kaiser von Österreich

Karl 1.1916-1918 „Kaiser von Österreich

Die Regenten in Brandenburg und Preußen (Hohenzollem)Johannes Sigismund 1608-1619

Kurfürst von BrandenburgGeorg Wilhelm 1619-1640

Kurfürst von BrandenburgFriedrich Wilhelm (»der große

Kurfürst«) 1640-1688 Kurfürst von Brandenburg Herzog von Preußen

Friedrich 1.1688-17131688: Kurfürst von Brandenburg und Herzog von Preußen 1701: König in Preußen

Friedrich Wilhelm 1.1713-1740König in Preußen und Kurfürst von Brandenburg

Friedrich II. (der Große) 1740-1786 1740: König in Preußen 1772: König von Preußen

Friedrich Wilhelm II. 1786-1797 König von Preußen

Friedrich Wilhelm III. 1797-1840 König von Preußen

Friedrich Wilhelm IV. 1840-1861 König von Preußen

Wilhelm 1.1861-18881858: Regent in Preußen 1861: König von Preußen 1871: deutscher Kaiser

Friedrich III. 1888deutscher Kaiser und König von Preußen

Wilhelm II. 1888-1918deutscher Kaiser und König von Preußen

Die spanischen HabsburgerPhilipp II. 1556-1598

König von SpanienPhilipp III. 1598-1621

König von SpanienPhilipp IV. 1621-1665

König von SpanienKarl II. 1665-1700

König von Spanien