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Leipziger Schriften zur Philosophie Band 22 Herausgegeben vom Institut Philosophie der Universität Leipzig Susanne Herrmann-Sinai I Henning Tegtmeyer (Hg.) METAPHYSIK DER HOFFNUNG ERNST BLOCH ALS DENR DES HUMANEN LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG 2012

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Leipziger Schriften zur Philosophie

Band 22 Herausgegeben vom Institut für Philosophie

der Universität Leipzig

Susanne Herrmann-Sinai I Henning Tegtmeyer (Hg.)

METAPHYSIK DER

HOFFNUNG ERNST BLOCH ALS DENKER DES HUMANEN

LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG 2012

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Francesca Vidal

Teller 2009: Jürgen Teller, Die große alte Dame der Linken, in: Jan Robert Bloch, Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.), Briefe durch die Mauer. Briefwechsel 1 954-1 998 zwischen Ernst & Karola Bloch und Jürgen &

Johanna Teller, Mössingen: Talheimer. Vidal 1 994: Francesca Vidal, Kunst als Vermittlung von Welterfahrung. Zur

Rekonstruh.i:ion der Ästhetik von Ernst Bloch, Würzburg: Königshausen &

Neumann. Vidal 2003: Francesca Vidal, Bloch, in: Stefan Lorenz Sorgner/Oliver Für­

beth (Hg.), Musik in der deutschen Philosophie. Eine Einführung, Stutt­gart/Weimar: Metzler, S . 1 3 5-154 .

Wizisla 1 990: Erdmut Wizisla, Ernst Bloch und Bert Brecht. Neue Doku­mente ihrer Beziehung, in: Karlheinz Weigand (Hg.), Bloch-Almanach. Periodikum des Ernst-Bloch-Archivs der Stadt Ludwigshafen a. Rh., 1 0 . Folge, Mössingen: Talheimer.

Zeilinger 2006: Doris Zeilinger, Wechselseitiges Ergreifen. Ästhetische und ethische Aspekte der Naturphilosophie Ernst Blochs, Würzburg: Königs­hausen & N eumann.

Zi)llmermann 2008: Rainer E. Zimmermann, Rezension von Anna Czajka, Poetik des Augenblicks, in: Francesca Vidal (Hg.), Ernst Bloch und das Bauhaus, Mössingen: Talheimer.

Zudeick 1 987: Peter Zudeick, Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch. Leben und Werk, Moos & Baden-Baden: Elster.

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Frank Kannetzky' Die Utopie des Reichs der Zwecke.

Versuch über Bloch und Kant

"Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit,

dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht." Vaclav Havel

Dass Ernst Bloch sich in die Tradition von Schelling, Regel und Marx stellt und gestellt wird, ist keine Neuigkeit, und dass er Kant beerbt, auch nicht. Letzteres wird aber in der Bloch-Rezeption nicht im gleichen Maße zum Gegenstand. Das mag daran liegen, dass Bloch selbst zwar positiv auf Kant Bezug nimmt, aber dessen praktische Philosophie letztlich als zu formali­stisch und v. a. als zu abstrakt charakterisiert. Kant setze dem Sein ein ab­straktes Sollen gegenüber. Über diesen Punkt kann man streiten, er wäre aber uninteressant, ein eher philosophiehistorisches Problem der Deutung von Blochs Kant-Deutung, wenn er nicht auch ein Licht auf einige Charakteristi­ka, auch auf einige Schwierigkeiten und Unschärfen der Blochsehen Philoso­phie werfen würde. Ich glaube, dass eine Blochsehe Lesart der Kautsehen praktischen Philosophie möglich ist, die Potenzen der Kautsehen Philosophie ans Licht bringt, die wiederum der Schärfung des Blochsehen Utopiebegriffs dienen können. M. a. W.: Ich möchte, ohne Textexegese zu betreiben, vor­��hlagen, Bloch einmal Kantsch und Kant einmal Blochsch zu lesen. Einige Uberlegungen dazu möchte ich im Folgenden skizzieren.1

Von der Diskussion ontologischer Fragen, insbesondere zur Fassun g des Begriffs der Möglichkeit, werde ich weitgehend absehen. Diese würde eine eigene Abhandlung er­fordern. Nur so viel: Kant sieht Möglichkeiten v. a. als Denkmöglichkeiten, d. h. al s

Verhältnis des Erkenntnisverm ögens zu Gehalten, und Resultate einer produktiven Ein­bildungskraft. Bloch bestreitet, dass bloße Denkmöglichkeit der Modus und Topos des

Utopischen ist. Möglichkeiten würden nicht (als bloß intelligible Gegenstände) den­kend konstruiert, sondern vom antizipatorischen Bewusstsein repräsentiert. Utopie lie­fe ohne ontisches Korrelat einer Neues hervorbringenden Prozessmaterie und ohne

Ü bereinstimmung mit objektiv- realer Tendenz ins L eere und bliebe abstrakte Utopie, Wolkenkuckucksheim ohne Ort in der Welt. Mir scheinen beidePositionen nicht un­vereinbar, weil auch nach Bloch die utopierelevanten Möglichkeiten echten Novums erst mit dem Menschen als auf Möglichkeiten reagierendes und Möglichkeiten hervor­bringendes Wesen in die Welt kommen - ,,Denken heißt überschreiten" . Deshalb ist der

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Frank Kannetzky

1 . Vom Betrug der Utopien

Ernst Bloch hat ein ganzes Universum des Utopischen ins Bewusstsein ge­rückt. Er hat v. a. mit Das Prinzip Hoffnung eine Enzyklopädie der Träume und Hoffnungen verfasst, die das Märchen mitsamt einem besseren Leben und Wunderdingen, also technischen Utopien, das Happy End ebenso um­fasst wie die Überwindung des Todes, die vom privaten Tagtraum des be­drückten Angestellten bis hin zur Antizipation echter Zukunft in Sozialuto­pien und Naturrecht reichen. Nun haben sich viele Utopien von ehemals we­nigstens teilweise erfüllt, aber dennoch bleibt die Erfüllung aus, man fühlt sich betrogen.

Maschinen arbeiten auf Kommando, aber die Ersetzung menschlicher Ar­beit befreit die Menschen nicht von ihrer Vernutzung als sprechende Werk­zeuge, denn sie enthebt sie nicht der Zwänge der marktförmigen Organisation der Produktion, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Steigerung der Ver­wertbarkeit der eigenen Person, was die Lebensführung immer umfassender und ,rigider normiert und beengt. Zwar haben wir Freiheiten der Lebensfüh­rung gewonnen, aber wir bezahlen dafür mit dem Zwang zur ständigen Neu­bewertung und Entscheidung. Der Widerspruch zwischen zunehmender Frei­heit und zunehmendem Zwang löst sich, wenn man sieht, dass die wichtigen Entscheidungen andernorts fallen und Freiheit sich tendenziell in einem "Hau­fen hüpfender Beliebigkeiten" (PH 1 954, Bd. II, S. 96) erschöpft. Wir kön­nen eine ungeheure Vielfalt von Gütern konsumieren, aber im Konsum wer­den weitergehende Hoffnungen stillgestellt, und selbst der Genuss bleibt häufig aus . In die Feme sehen zu können war ein technisches 'Wunschbild. Bekommen haben wir die Ferrisehwerbung und die industriemäßige Banali­sierung von Politik und Kultur. Die Medizin verlängert das Leben, aber wir erwarten nicht viel davon, weil wir den nicht unwahrscheinlichen Fall von Armut, Siechtum und Demenz fürchten müssen.

Mensch " das einzige Wesen [ ... ] das Zukunft nicht als falsche hat, nicht als eine, die aus dem bloßen Nachher dauernder Wiederholungen besteht, sondern weil er Zukunft als echtes Noch -Nicht[ ... ] haben kann." (AR, S. 108) Das ist der entscheidende Punkt.

Die ontologische Frage, ob man den Menschen als Teil einer Prozessmaterie betrachtet, ist mit Blick auf die Möglichkeit und Realisierbarkeit von Utopien ein eher term inolo­gisches Problem, insbesondere, weil man den Unterschied zwischen der Einbildung und dem tatsächlichen Vorliegen objektiver Bedingungen von Veränderung, die histo­rische Vermittlung der Utopie, im mer erst im Nachhinein beurteilen kann, was Bloch mit der Rede vom "Experimentum mundi" und· dem "Dunkel des gelebten Augen­blicks" ja auch anerkennt.

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Die Utopie des Reichs der Zwecke

Utopien scheinen sö an ihrer Erfüllung zu scheitern und ins Negative um­zuschlagen. Das macht nicht nur skeptisch gegen Bilder der Zukunft, viel­mehr schlägt die vermeintliche Unmöglichkeit utopischer Erfüllung auf die Wunschgehalte selbst durch. Diese erscheinen suspekt, erst recht, sobald sie aufs Ganze gehen und gegebene Formen überschreiten. Wie soll etwas, was schon im Kleinen scheitert, das große Ganze sinnvoll verändern können? Uto­pischem Denken wird nicht nur Unrealisierbarkeit vorgeworfen (was immer­hin eine Anerkennung' seines Gehaltes als an sich wünschenswert oder gut unterstellt), sondern eine andere Ordnung wird gar nicht mehr gewünscht. Im Gegenteil, utopisches Denken störe den Betrieb und sei daher destruktiv, es untergrabe die etablierte Ordnung, ohne dass sichere Aussicht auf eine besse­re neue bestünde. Der Schuster soll bei seinem Leisten bleiben. So erschöpft sich das Wünschen darin, eine bessere Position in der Ordnung oder über­haupt einen Platz bei der "Reise nach Jerusalem" zu ergattern, ohne dass de­ren Regeln in Frage gestellt würden, obwohl sie systematisch Verlierer pro­duzieren. Die Ordnung, nach deren Regeln man zu leben hat, wird dabei als solche gar nicht thematisch. Auf diese Weise wird der Teufelskreis aus fal­schem Bewusstsein und Perpetuierung der Verhältnisse, die falsches Be­wusstsein hervorbringen, geschlossen, und sofern verkehrtes Bewusstsein als richtiges Bewusstsein verkehrter Verhältnisse in diesen tatsächlich zu orien­tieren vermag, erhält es von daher sein Recht gegen utopisches Denken. Ent­sprechend erscheint jeder Versuch einer Veränderung, der nicht roheste, unmittelbare, v. a. aber regelkonforme Antriebe bedient, schon aus diesem Grunde als "reine Utopie" . Begünstigt wird dies durch den Umstand, dass uns (aufgrund ihrer anscheinenden Funktionslosigkeit) tendenziell die Spra­che abhandenkommt, öffentlich Vorstellungen eines guten, unentfremdeten Lebens zu artikulieren, die sich den Kriterien der Nützlichkeit und den tech­nischen Imperativen entziehen und daher unter Metaphysik- oder sogar Ideo­logieverdacht gestellt werden, ohne dass bemerkt würde, dass das vermeint­lich neutrale New-Speak der Utilität selbst hochideologisch ist.

Blochs bleibende Größe besteht darin, diese Blockierung und Resignation des Utopischen gelöst zu haben: Er besteht darauf, dass es wahres falsches Bewusstsein und folglich auch im Ideologischen und Illusionären, im Fal­schen etwas Richtiges, Überschießendes gibt. Selbst in seinen niederen An­trieben manifestiert sich beim Menschen ein Streben nach dem Besseren. Der Grund ist, dass "der Mensch ein ebenso wandelbares wie umfängliches Trieb­wesen [ist] , ein Haufen von wechselnden Wünschen und meist von schlecht geordneten" (PH 1 954, Bd. I, S. 62) . Er w1ll sein Glück machen, aber was das heißt, das ist gerade die Frage und führt zu immer neuen Wunschbildern und Versuchen ihrer Erfüllung. Denn der Hunger kann immer nur vorübergehend

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gestillt werden,. und wo er billig abgespeist wird, da stellen sich Überdruss und neue Wünsche ein, und s'ei es in Form der nach Mitteln und möglichen Gestaltungen unbestimmten Sehnsucht nach Überwindung der Langeweile des immer Mehr vom immer Gleichen. Dem Menschen ist die Antizipation der Wunscherfüllung und damit die Hoffnung auf das Bessere eingeschrie­ben, der Vorgriff aufs Noch-Nicht, das über das je Gegebene hinaustreibt, und das tendenziell schon in nach Inhalt und Form privaten Tagträumen. "Das Tier bezieht sich auf das Ziel in der Art seiner jeweiligen Begierde selbst, der Mensch malt es· sich auch noch aus." (PH 1 954, Bd. I, S. 58) Er hat eine Vorstellung des Begehrten, einen Wunsch, und weil Vorstellungen nicht vollständig durch ihren Gegenstand- festgelegt sind, gibt es die Vorstel­lung eines Besseren.

Mit der Betonung des appetitus wird zumindest auf den ersten Blick ein Spannungsverhältnis zur Kantschen Tradition aufgebaut, denn nach Bloch sind es gerade nicht die ,höheren' Vermögen, die den Menschen als Men­schen charakterisieren, sondern erst die Plastizität seiner Triebe treibt ihn über sich hinaus. Der Begriff des Tagtraums ist dabei der Schlüsselbegriff.2 In ihrp bleibt, im Gegensatz zum Nachttraum, das Ich als strebendes präsent, so dass Tagträume als Wunscherfüllungen Handlungen motivieren können. Der Tagtraum lässt sich vom Ich �teuern und ist ungehemmt, von Blockaden durch vermeintliche Gewissheiten und moralische Zensur befreit, in ihm kann Phantastisches, noch nicht Dagewesenes antizipiert werden - UI'ld zwar ohne den Umweg über Einkleidungen, Symbolisierungen, Verschiebungen etc. - "es wird in bar gesagt und gedacht und ausgemalt, was der Mensch sich wünscht" (TU, S. 44). Deshalb und wegen der Präsenz des Ichs ist der Tagtraum, im Unterschied zum Nachttraum, erinnerbar, kommunizierbar und damit belehrbar, zu Korrektur und Konkretion fähig, womit Planung lind Realisierung durch Arbeit, d. h. praktische Vernunft an ihn anschließen kann, die Hervorbringung und Weltveränderung aufgrund und nach einer Vorstel­lung. Der Tagtraum ist damit nicht mehr nur eine Manifestation von Neigun­gen, sondern ebenso eine der Vernunft, und steht auf diese Weise quer zur Unterscheidung von Vernunft und Sinnlichkeit.

Tagträume tendieren zu Weltverbesserungsträumen. Den Stoff dazu neh­men sie selbst bei privater Intention aus einem "ins Vollkommene geträum­ten Außen" (PH 1954, Bd. I, S. 1 05) . Die Erfüllungsgestalten solcher Tag­träume der Weltverbesserung reichen über gegebene Formen hinaus, sie be­ziehen sich auf echte Zukunft: Das Glück wohnt nicht schon fertig an einem Ort, nur ich bin noch nicht dort (das wäre unechte Schlaraffen-ZUkunft mit

2 Vgl. PH 1954, Bd. I, Kap. 14.

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Die Utopie des Reichs der Zwecke

gefüllten Affekten) - sondern die Glücksgestalt selbst ist noch nicht gewor­den.3 Und dieses "Besserhaben- und Besserwissenwollen" ist der Kern des utopischen, auf echtes Novum gerichteten Denkens - der Tagtraum "hat, im Unterschied vom Nachtspuk, ein Ziel und macht sich zu ihm nach vorwärts heraus" (PH 1 954, Bd. I, S. 113). Seine Zeit ist die echte Zukunft, auf die sich die Hoffnung, zumal als' belehrte, als menschlichster Affekt richten kann.

Zurück zum Betrug der Utopien. Bloch selbst diskutiert verschiedene For­men des Scheiterns, etwa dass Utopien die Fundierung in den realen Bedin­gungen fehlt oder die "Gestehungskosten von Luftschlössern" zu gering sind, aber auch die Melancholie und die Banalisierung der Erfüllung. Ich will darauf nicht weiter eingehen, weil Scheitern und Ungenügen noch kein Be­trug sind. Aber man kann eine Klasse von Utopien benennen, welche per se nicht zur gesuchten Erfüllung führen können. Es sind technische Utopien im weit�sten Sinn, die den utopischen Gehalt nicht nur verfehlen müssen, son­dern ihn vereiteln. Sie bringen das gesuchte Novum nicht hervor. Denn Tech­nik ist wesentlich Mittel gegebener Bedürfnisse und Wünsche. Sie mag die Art ihrer Erfüllung verändern, aber sie verfehlt den Endgehalt von Utopien, das Ultimum, welches nicht auf die Erfüllung je vorliegender Wünsche zielt, sondern auf ein "Überhaupt", auf den Topos der Utopie, welcher als "Hohl­form des höchsten Gutes" gar nicht mit konkreten Wunschgestalten gefüllt ist und daher auch technisch nicht hergestellt werden kann. Technische Utopien reagieren· auf "gefüllte" Wünsche, also auf solche, deren Erfüllungsbedin­gungen schon feststehen,4 und können eben deshalb das gesuchte Neue nicht hervorbringen. "Das Glück wohnt fertig an einem Ort, nur wir sind noch nicht dort". Die Technik soll uns hinhelfen, und das muss scheitern, weil wir den Ort utopischer Erfüllung noch gar nicht kennen.

In diesem Sinne betrügt die technische Utopie, weil sie Erfüllung ver­spricht, die sie nicht geben kann. Sie lässt z. B. das Problem der größten Gegenutopie, das Problem des Todes, ganz unberührt, welches auch nicht durch medizinische Fortschritte der endlosen Verlängerung des Lebens gelöst wäre. Das wäre nur eine schlechte Unendlichkeit, aber noch keine Erfüllung im gesuchten Sinne des erfüllten, guten Lebens, von dem man ohne Groll lebenssatt werden kann. Utopien, die von technischen Fortschritten Glück und Erfüllung erhoffen, suchen am/falschen Ort. Denn der richtige Ort ist zunächst nur negativ bestimmt, durch die unbestimmte Sehnsucht nach einem unentfremdeten, glücklichen Leben, wobei was Glück ist, selbst nur in Um­rissen sichtbar und wohl auch nicht vollständig positiv bestimmbar und erst

3 Vgl. TU, S. 45 ff. 4 Zur Unterscheidung von gefü llten un d Erwartungsaffekten vgl. PH 1954, Bd. I, S. 87 f.

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recht nicht technisch herstellbar ist, wenngleich technische Fortschritte wich­tige äußere Bedingungen eines guten Lebens bereitstellen können. Die hin­reichende Bedingung ist aber die Formveränderung des Sozialen. Daher ha­ben

"[ ... ]rein technische Fortschrittsbilder [ ... ]jederzeit den Fortschritt zu billig, zu geradlinig erscheinen lassen; so wie sie heute, isoliert dargeboten und mit weggelassener sozialer

Veränderung, Täuschungen oder Betrugsmittel sind." (PH 1954, Bd. II, S. 38)

Sofern im gegenwärtigen Weltzustand die Erfüllung durch (bspw. künstleri­sche, wissenschaftliche oder philosophische) Produktivität zwar grundsätz­lich jedermann, aber ebenso grundsätzlich nicht allen gleichermaßen möglich ist, setzt Erfüllung Weltverbesserung und Selbstverbesserung in einem vor­aus, aber eben keine technisch zu bewerkstelligende. Das gilt nun nicht nur für den naiven technischen Optimismus, sondern auch für Fortschrittsbilder, welche den Fortschritt der Sozialordnung auf sozialtechnische Weise dem technischen Fortschritt anähneln wollen und die dabei anfallenden Glücksko­sten nicht in Rechnung stellen. Das Gesuchte wird vielmehr in solchen Uto­pien �iner besseren Welt vorweggenommen, die sich primär auf die Formen des menschlichen Miteinander richten. Das ist das gesuchte Novum. Es ist_ deshalb im Folgenden etwas zu den Sozialutopien zu sagen, zum Verhältnis, genauer: zum Vorrang des Naturrechts vor den Staatsutopien.

2 . Der Vorrang des Naturrechts vor den Staatsutopien

Bloch nennt die klassischen Sozialutopien das Stammhaus des Utopischen. Der Urtyp der Sozialutopie, "das sinnfalligste utopische Modell" (PH 1 954, Bd. II, S . 3 3 ), ist das Schlaraffenland, in dem vor dem Hintergrund des Man­gels das angenehme Leben, ein Leben ohne Hunger ausgemalt wird. "Wäre der tägliche Bissen so sicher wie die Luft, dann gäbe es kein Elend." (Ebd.) Das Ausbleiben des täglichen Bissens wird in den alten Sozialutopien im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurückgeführt. Zum einen auf eine ungün­stige Natur, und entsprechend werden technische Fortschritte imaginiert, die den Hunger beheben sollen. Zum andem und wichtiger ist aber jederzeit bemerkt worden, dass ein opulenter Bissen bei manchen niemals ausbleibt, dass die Armut der einen Bedingung des Reichtums der anderen ist, indem der ausbleibende Bissen die Peitsche ist, die in die Fron zwingt. Abhilfe soll eine glückssichemde Ordnung des Gemeinwesens schaffen, nieist mit Güter­gleichheit und ohne Privateigentum und arbeitsloses Einkommen. Die Sozi-

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alutopie wird zum Staatsmärchen von der besten, d. h. glückssichemden ge­meinsamen Ordnung, vor deren Hintergrund das Auseinanderfallen der Ge­sellschaft in Arm und Reich, in Herren und Knechte und schließlich auch in "Unternehmer und Untemommene"5 als nicht hinzunehmende Unordnung erscheint:

"Denn normal, denkt man, ist es doch, oder müßte es sein, daß sich Millionen Menschen nicht durch Jahrtausende von einer Handvoll Oberschicht beherrschen, ausbeuten und ent­erben lassen. Normal ist, daß eine so ungeheure Mehrheit es sich nicht gefallen läßt, Ver­dammte dieser Erde zu sein. Statt dessen ist gerade das Erwachen dieser Mehrheit das ganz und gar Ungewöhnliche." (PH 1954, Bd. II, S. 36)

Eine andere Welt scheint jederzeit möglich und ist doch versperrt. Woran liegt das? Naheliegend ist es, die Ursache in Unwissen, Gewohnheiten, Träg­heit und Bosheit, oder wie man sagen könnte, im subjektiven Faktor zu su­chen. Die klassischen Staatsutopien verbinden die Idee einer glückssichem­den kollektiven Ordnung daher mit der Idee der Verbesserung des Menschen, sei dies als (Wieder-) Herstellung seines ursprünglich guten, durch die Ver­hältnisse entfremdeten, verzerrten Wesens, sei es durch Veredelung seiner Wünsche und Antriebe etc. Wer sich der Ordnung widersetzt, muss dann entweder verrückt oder böswillig sein. Die Kehrseite der Utopie der voll­kommenen Ordnung sind demnach Überwachung, Erziehung und Bestrafung. Das findet man positiv konnotiert bei Campanella, aber auch in Benthams Zwangsarbeits- und Arbeitshausutopien, als Schreckensbild der Wirklichkeit utopischer Ordnung bei Samjatin und später bei Orwell. In jedem Fall steht am Ende die eine oder andere Form der Erziehung zum guten Glied der neu­en Ordnung und damit das Problem der Erziehung der Erzieher und neuer Formen der Bedrückung. Es bleiben Herrschaft und Zwang, denn "in der Regel sind die Bedrücker mehr ausgewechselt als abgeschafft" (Bloch), so dass der Versuch, das Himmelreich auf Erden zu errichten, sich schließlich als gesteigerte Hölle erweist.

Ein Grund dafür ist, dass Staatsutopien letztlich technische Utopien sind, die auf "gefüllte" Wünsche zielen, wie sie von der zu überwindenden Ord­nung systematisch produziert werden. Sie verfehlen deshalb die Plastizität menschlichen Wünschens, welches früher oder später mit jeder starren Kon­struktion der Wunscherfüllung kollidieren muss . Erfüllte Wünsche werden schal, und die "tiefen Wünsche, die noch zu wünschen sind und deren Befrie­digung auf das so unabstumptbare Glück immer weiterer menschlicher Fülle­steigerung bringt" (PH 1954, Bd. II, S. 39), geraten aus dem Blick. Die utopi­sche Staatskonstruktion ist dem Gesamt des utopischen Wesens, der Vielfalt

5 Diesen Ausdruck übernimmt Bloch von Brecht.

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und Offenheit erst noch herauszuarbeitender Erfüllungsgestalten nicht ange­messen. Sie hat keine Antwort auf das grundsätzliche Wozu menschlichen Tuns, sobald dies über die Erfüllung derjenigen Bedürfuisse, um derentwillen die Glücksordnung etabliert werden soll, hinausgeht. Bloch selbst hält die Form der Sozialutopie i. S. der Staatsutopie deshalb für zu eng, um die Viel­falt, und wie man ergänzen muss, das Wesentliche, utopischer Gehalte zu erfassen, denn sie vergessen das Beste - Freiheit und Würde.6 Über die Enge hinaus muss auch die Möglichkeit pervertierter Wunscherfüllung ins Auge gefasst werden, die Wünsche dadurch realisiert, dass die soziale Ordnung, die Menschen und ihr Wunschhorizont nach Maßgabe der verfügbaren Mittel :ZUgerichtet und instrumentalisiert werden. Huxleys "Brave New World" ist ein Modell solch unmenschlicher Wunscherfüllung, und mir. scheint, dass Bloch falsch liegt, wenn er in Huxley einen Hoffnungsmörder siehe statt einen Kritiker verfehlter Staatsutopien.

Mehr noch als der Vorwurf der Konstruktion bloßer Luftschlösser erklärt die Deutung des Utopischen als Konstruktion einer idealen Ordnung, also als Staatsutopie, den schlechten Ruf der Utopie.8 Es ist die besondere Form der Staatsqtopie als einer technischen Utopie, die auch bei Intention auf das Glück aller ihr Gelingen vereitelt. Kant lehnt aus diesem Grund die Vorstel­lung ab, der Staat könne oder solle das Glück seiner Bürger bewirken, denn dies führe unvermeidlich in den Despotismus, in die Vernichtung von Frei­heit, Recht und Mündigkeit. Denn:

"[ ... ] eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium pater­nale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen walrrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despo­tismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt)." (TP, S. 145 f./A 236)9

6 Vgl. TU, S. 59. 7 Vgl. PH 1954, Bd. I, S. 470. 8 Diese Kritik trifft auch den Marxismus bzw. dessen Ableger zu Recht, wo dieser sich

als Staatsutopie aufführt und ökonomistisch argumentiert. Ich kann an dieser Stelle nicht diskutieren, ob dies eine Verfälschung des Marxismus oder, mit den Worten Blochs, seine "Entstellung zur Kenntlichkeit" darstellt.

9 Es ist Kant aufgrund dieser u. ä. Stellen oft unterstellt worden, dass er jede Form von Sozialstaatlichkeit ablehne. Das wäre aber nur dann plausibel, wenn Sozial- und Wohl­falrrtsstaat identisch wären. Für Kant ist die Herstellung von Bedingungen, unter denen jede Person autonom und in Würde leben kann, (ggf. kollektive) Pflicht, und zwar im

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Deshalb kann der Inhalt der Ordnung nicht das Glück sein, sondern die utopi­sche Ordnung ist nur als_ Form der Freiheit sinnvoll.

Datl).it sind nun d.i� Stichworte der naturrechtliehen Utopien gefallen: Freiheit, Recht und Mündigkeit. Der Zweck des naturrechtlich gedachten Staates ist die Freiheit, die Auflösung von Abhängigkeiten, die Ermöglichung des aufrechten Gangs, die Unterbindung der Willkür und des Unrechts des Stärkeren. Das Naturrecht, welches apriorische Geltung beansprucht, ist der Hebel, solches Unrecht zu beseitigen, auch wenn dieses durch Tradition und positiv gesetztes Recht geheiligt scheint. Es soll gleiches Recht für alle gel­ten, denn die Alternative ist, Menschen oder Menschengruppen so zu behan­deln, als besäßen sie bestimmte Merkmale nicht. Der Herr, auch der ,gute' i. S. des "sorgenden Hirten", behandelt den Knecht, als wäre der etwas ande­res, als er ist, nämlich als ein Wesen ohne eigenen Willen und ohne eigene Zwecke, zumindest ohne Recht darauf. Das widerspricht nicht nur dem Po­stulat der Gleichheit der Menschen, sondern betrifft sie in ihrer Identität und Würde als Vernunftwesen, die nach Maßgabe eigener Zwecke leben und selbstgegebenen Regeln folgen können. Es verletzt die Bedingung wechsel­seitiger Begründbarkeit von akzeptablen Normen, die als unbegründete letzt­lich nur mit Gewalt durchgesetzt werden können.10

Das Naturrecht zielt nun darauf, eine dieser Vernunft-Natur des Menschen gemäße Ordnung zu etablieren, was einschließt, dass jeder nach seiner Fas­son selig werden kann. Freiheit wird daher als Recht gegen andere aufgefasst, primär als Recht auf Unterlassung von Handlungen, welche die Freiheit der Verfolgung akzeptabler, vernünftiger Zwecke einschränken. Solche Freihei­ten können nicht asymmetrisch verteilt sein - die ·Existenz von erblichen Ständen, Gottesgnadentum oder auch die Anmaßung einer allgemeinverbind­lichen Definition des Glücks ist damit nicht vereinbar. Deshalb muss das Na­turrecht formal sein, niemandem darf vorgeschrieben werden, welchen Zwe­cken er zu folgen hat, es sei denn, er verletzt damit die Freiheit anderer. Ent­sprechend defmiert Kant das Recht als den "Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allge­meinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" (MS, S . 337/A 33) . Das ist ein scharfer Begriff gegen jede Form von Despotie, am Ende ist die menschengemäße Form der sozialen Ordnung die Republik, gedacht als "eine allen Menschen geschenkte Aristokratie" (PH 1 954, Bd. II, S. 1 05), als Verallgemeinerung der aristotelischen Polis qua Gemeinschaft

gleichen Maße, wie es Pflicht ist, vom Naturzustand in einen rechtlichen überzugehen. Vgl. dazu Steigleder 2002, Kap. 6.2.

10 Vgl. Tugendhat 1999, S. 182.

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Freier und Gleicher, abgeleitet aus schlechthin geltenden Normen. "Statt des Nirgendwo der Vernunft erscheint ihr ableitbares Überall." (Ebd.)

Auch dem Naturrecht geht es um Weltverbesserung durch Veränderung der menschlichen Gemeinschaft, um die Erfüllung von utopischen Gehalten, aber mit anderem Fokus :

"Die Sozialutopie ging auf menschliches Glück, das Naturrecht auf menschliche Würde. Die Sozialutopie malte Verhältnisse voraus, in denen die Mühseligen und Beladenen, das Naturrecht konstruierte Verhältnisse, in denen die Erniedrigten und Beleidigten aufhören." (NmW, S. i3)11

Genau wie im Falle der Sozialutopien gibt es aber pervertierte Erfiillungen der Rechtsutopien, insbesondere die der bloß formalen Geltung der Rechte und eines entsprechend formalen Würdebegriffs. Personale Abhängigkeiten können durch anonyme, scheinbar sachliche Zwänge ersetzt werden, die um­so bedrückender sind, je weniger sich ihr Ursprung adressieren lässt. So wird die Vertragsfreiheit unter der Bedingung ökonomischer Ungleichheit zum Mittel der Unterdrückung und Entrechtung, etwa wenn eine Partei nichts zu bietet). hat als ihre Arbeitskraft; so kann, naturrechtlich gesehen, eine Person in Würde verhungern, denn Armut schändet nicht, insbesondere schränkt sie die formale Freiheit von Personen nicht ein. Nicht zuletzt tendiert das Natur­recht zu einer rein koordinativen Auffassung der Gesellschaft, zu einem Atomismus voneinander isolierter und miteinander konkurrierender Indivi­duen unter negativen Rechten, zum Nachtwächterstaat ohne Gemeinschaft und Solidarität, der bei formaler Anerkennung jedes Menschen als Rechts­subjekt und Person systematisch faktische Exklusion produziert.12 Hier wird das Utopische naturrechtlich unterlaufen, und das Naturrecht dient dann nicht zum Kontrast schlechter Verhältnisse, sondern lügt diese mit dem guten Ge­wissen realisierter Freiheit schön. In diesem Sinne sind die Sozialutopien mit der Intention aufs Glück und aufs Glück (in) der Gemeinschaft, d. h. auf die Identität von Individuum und Gemeinschaft, ein notwendiges Korrektiv der Naturrechtslehren.

Dennoch könnte man in Anlehnung an Bloch von einem Prius der Glücks­utopie beim Primat des Naturrechts sprechen. Denn das Naturrecht weist über seine formalistische Engführung hinaus, sobald nach den materiellen Bedin­gungen gefragt wird, unter denen Freiheit und Würde der Person garantiert werden können. Hier ist der Ort von Menschenrechten, die über Bürgerrechte hinausgehen. Auch wenn deren Reichweite zunächst begrenzt ist und das In-

ll V gl. auch ebd. S. 234. 12 Vgl. GPR, § 243 f.

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teresse des Eigentümers im Naturrecht überall durchscheint,13 so steckt hierin das Potential, auch den Gehalt der alten Sozialutopien einzuholen, indem ge­prüft wird, welcher Bedingungen es bedarf, formale Rechte material geltend und aufrechten Gang möglich zu machen. Ein mit Blick auf seine sozialöko­nomischen Bedingungen aufgeklärtes Naturrecht weist über die bloß formale Freiheit und Gleichheit hinaus, es verweist auf eine kooperative, solidarische Ordnung, ohne das Individuum den Imperativen einer kollektiven Ordnung, die aufs Glück aller zielt, einfach zu unterwerfen und es damit zum Teil einer Herde zu machen. Das Naturrecht trägt so den Doppelcharakter der "heroi­schen Illusion" : Es war "illusionär, denn aus dem Citoyen kam der Bour­geois, es war antizipierend, denn der Bourgeois wird durch den Citoyen ge­richtet." (NmW, S. 8 1 )

Das bedeutet nach Bloch, dass das Naturrecht erst durch die Aufhebung des Rechts selbst verwirklicht werden kann, durch das Verschwinden der Verhältnisse von Herr und Knecht, deren Ausdruck der rechtliche Zwang ist. Erst in einer klassenlosen Gesellschaft, d. h. einer Gesellschaft ohne moder­nes, bürgerliches Privateigentum, 14 kann der Citoyen wirklich werden, frei­lich nicht, indem er Zuchtmeister des Privatbürgers wird, sondern indem die Herrschaft des Menschen über den Menschen vermittels einer entwickelteren Produktionsweise nicht nur überflüssig, sondern zum Hemmnis der Entfal­tung der menschlichen Kräfte wird, womit zugleich die Zwänge der anony­men Konkurrenz, der sozialen Arbeitsteilung und der in ihr wurzelnden Ent­fremdung und Entzweiung aufgehoben werden. Die Konkurrenz um Profit, die Verfolgung rein privater Zwecke, deren Bedingung es ist, durch Zwangs­recht im Zaum gehalten zu werden, wird in einer "Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist" ( ebd., S. 482), schlicht sinnlos. In Anschluss an Engels spricht B loch davon, dass Staat und Recht aufgrund eines radikalen Funktionswechsels absterben: aus einem Instrument der Regierung über Menschen wird der Staat zu einem der Ver­waltung von Sachen und der Leitung von Produktionsprozessen (PH 1 954, Bd. II, S . 94).15 Er muss so wenig "abgeschafft" werden wie das Kranzgeld. Damit löse sich auch die Spannung zwischen Naturrecht und Sozialutopie, erst hier finde man den Kern des utopischen Gehalts, der sich auf die Formen menschlichen Zusammenlebens richtet.

l3 Vgl. PH 1954, Bd. li, S 106; vgl. auch Marx 1843, S. 354 f. u. 364 f. 14 "Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums über­

haupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums." (Marx!Engels 1848, s. 475)

15 Vgl. Engels 1882, S. 224.

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Nun ist der Marxismus und mit ihm Bloch dafiir nicht zu Unrecht kriti­siert worden. Dass der Staat, wenn er als ein Herrschaftsinstrument definiert wird, abstirbt, wenn alle Herrschaftsverhältnisse beseitigt sind, ist tautolo­gisch. Die Frage nach der Ordnung, deren es bedarf, um die Freiheit aller zu sichern, ist damit aber nicht erledigt, und nach Kant ist dies nun gerade die Kernfrage des Rechts. So übersieht Bloch Zwänge, die nicht aus kapitalisti­schem Eigentum resultieren, sondern aus der Form von Ordnung bzw. Insti­tutionalisierung selbst. Institutionen entwickeln ein Eigenleben, eine eigene Rationalität mit eigenen Forderungen, und können damit in Konflikt mit den Personen geraten, die in ihnen leben. Freilich zeichnet sich die Person gerade dadurch aus, wie sie mit Institutionen umgeht, aber gleichviel : Es bleibt eine Differenz von Ordnung und Individuum, die zum Konflik� werden kann, selbst wenn die Ordnung eine selbstauferlegte ist. Die Fokussierung auf den Staat als Herrschaftsinstrument verbaut daher den Blick auf Konflikte, die wir uns z. Z. noch gar nicht vorstellen können.

Auch die bloße "Verwaltung von Sachen" erscheint nur unschuldig. Sie ist es nicht. Für Max Weber ist sie der Gehalt von Herrschaft, denn "Herr­schaft, ist im Alltag primär: Verwaltung" (Weber 1 922, S. 126). Es bleibt, selbst wenn man einen von sozialökonomischen Interessenkonflikten freien V er kehr der Individuen unterstellt, immer die Möglichkeit d�s Widerstreits zwischen Personen sowie die des Konflikts mit den gemeinsamen Institutio­nen. Der V erweis darauf, dass der Inhalt der eigentumsfreien Ordnung die Freiheit ist (PH 1 954, Bd. II, S. 97), bleibt dabei so formelhaft wie Rousseaus Antwort auf die Frage, wie ein Staat beschaffen sein müsse, worin es keinen einzigen Unfreien gäbe16• Um den Konflikt und damit auch die möglichen Bedrückungen durch die Freiheitsordnung überhaupt artikulieren zu können, bedarf es eines Begriffs des Unrechts und der Gerechtigkeit, und der verweist auf den des Rechts. Man wird das Recht nicht los, auch dann nicht, wenn der Staat als Klassenstaat aufgehoben ist, denn es gibt nicht nur ökonomische Interessengegensätze, und wo es Interessen gibt, die einander entgegenlaufen können, etwa um die rechte Art der Lebensfiihrung, muss es einen Modus der Entscheidung oder Vermittlung, m. a. W. : Recht geben.17

16 Vgl. PH 1954, Bd. II, S. 102. 17 Es liegt auf der Hand, dass in einer Gesellschaft, die den Einzelnen von materiellen

Nöten befreit und in der Anerkennung nicht prin!!ir über materielle Güter und Geld vermittelt ist, klassische Verteilungs- und Eigentumsfragen an rechtlicher Relevanz verlieren. Das bedeutet nicht, dass Eigentumsfragen generell obsolet würden, nur die Schärfe und Unversöhnlichkeit der ökonomischen Antagonismen wäre beseitigt. Auch eine meritokratische Ordnung kann Trittbrettfahrer hervorbringen.

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Damit steht man vor einem Dilemma: Recht ist nach Kant die Befugnis zu zwingen. Ist die Utopie einer herrschaftsfreien Ordnung also ohne wirklichen Gehalt, weil es entweder nur Freiheit oder nur Ordnung geben kann? Worum es gehen muss, ist eine Formbestimmung des Utopikum, die weder tautolo­gisch ist noch den Gehalt des Utopischen, wie ihn Bloch herausgearbeitet hat, verfehlt. Sie muss eine Sozialordnung der Freiheit und Würde vorstellen, die keine inhaltliphe Bestimmung des Glücks vornimmt - eine solche kollidierte aus oben genannten Gründen mit der Autonomie der Person -, ohne dieses jedoch aus den Augen zu verlieren. Sie muss, um einen Punkt nur kurz zu streifen, den ich bis jetzt noch nicht erwähnt habe, Erfiillungsmomente im Hier und Jetzt und nicht erst in ferner Zukunft ermöglichen und dennoch über "gefiillte" Wünsche hinausgehen, ein Novum sein, d. h. nicht nur auf eine "allmähliche Verbesserung der Gefangnisbetten" (AR, S. 1 1 1 ) zielen.

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3 . 'Ordnung ohne Zwang - Das Reich der Zwecke als Form des Utopischen

Worum es also geht, ist eine Formbestimmung der Ermöglichungsbedingun­gen menschlicher Erfiillung. Man kann Kants Kategorischen Imperativ als eine solche Bestimmung deuten. Er benennt, liest man ihn im Lichte der Blochsehen Utopiekonzeption, insbesondere mit der Formel vom "Reich det Zwecke" die Form des Zusammenfallens der Intentionen von Sozialutopien und Naturrecht. Nun ist klar, dass die Behauptung, der Kategorische Impera­tiv, mithin Moralität, sei die Formbedingung utopischer Erfiillung, mit Bezug auf Bloch möglicherweise nicht unkontrovers ist, zumal Bloch mit Blick auf Kants Moralphilosophie und die Moral selbst ambivalent ist. Er schätzt zwar das Unbedingte, auch die Härte der Karrtsehen Moralauffassung, ihr Festhal­ten am Leitbild des Citoyen und seiner Trikolore Freiheit, Gleichheit, Brü­derlichkeit, die aufgegeben, aber erst in einer klassenlosen Gesellschaft reali­sierbar seien.18 Das moralische Ideal Kants ist nach Bloch deshalb als Noch­Nicht, als Utopie aufzufassen, seine Verwirklichung setze die klassenlose Gesellschaft voraus - der kategorische Imperativ ist

"eine großartige moralische Formulierung, die an Ort und Stelle ein Unsinn ist; er kann nicht erfiillt werden. Aber dieser Unsinn ist zugleich tiefster Sinn, wenn er als antizipierend betrachtet wird[ ... ]" (Bloch 1968a, S. 96 f.)

18 Vgl. EM, S. 189 f. u. passim.

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Kant verkenne diesen Status der Moral und stelle daher dem Sein ein abstrak­tes, aber letztlich machtloses Sollen gegenüber. Denn in Verhältnissen von Herr und Knecht blamiert sich das Ideal vor dem Interesse, ein bloßes Ideal sei im günstigsten Falle kraftlos, im ungünstigen schöne es die Verhältnisse. Und umgekehrt: Indem dieses Sollen realisierbar wird, werde es gegen­standslos und hebe sich, ganz ähnlich dem Recht, genau aus diesem Grund auf. 19 Erfüllung ist Aufhebung der Entfremdung, Identität. In der Erfüllung gibt es keine Differenz, also auch kein Sollen, und wenn Erfüllung sein soll, dann darfkein Sollen sein.

Zudem sei das Kantsche Sollen leer: der Formalismus der Widerspruchs­freiheit sei mit beliebigen Inhalten füllbar, seine Gehalte seien vom Huma­nismus erborgt und könnten mit Kantschen Mitteln nicht begründet werden (vgl. EM, S. 1 9 1 ) . Da Kant die bürgerliche Form menschlicher Triebe und Wünsche, vulgo Eigennutz und Erwerbsstreben, hypostasiere, müsse er Mo­ralität als "Engel, der auf der gezähmten Bestie reitet" (EM, S. 1 92), konzi­pieren. Unter den Bedingungen der Klassengesellschaft bedeute das, einen Dualismus von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, von Neigung und Moralität zu unterstellen und die Neigung zu negieren. Im Folgenden soll deshalb zu allen drei Kritikpunkten - abstraktes Sollen, Inhaltsleere, Dualismus - Stellung genommen werden, und zwar indem Kants Formel vom "Reich der Zwecke" aus Blochscher, utopischer Perspektive rekapituliert wird.

Kant spricht von drei Arten der Vorstellung bzw. Veranschaulichung des Sittengesetzes, die "aber im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes" (GMS, A 436i0 seien, das da lautet: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Ge­setz werde." (GMS, A 42 1 ) Das Sittengesetz schreibt kein inhaltliches Sollen vor, sondern es ist zunächst ein Verfahren der moralischen Selbstprüfung und, falls man Kant nicht zu eng liest, auch eines der Prüfung von Praxen und Institutionen bzw. ihrer Regularien und Leitideen. Es wird in drei Hin-

19 V gl. hierzu auch Marx' Diskussion des Rechtsbegriffs und der Menschernechte in "Zur Judenfrage" sowie in der "Kritik des Gothaer Progranuns" . Politische und rechtliche Emanzipation (etwa in Form gleichen Rechts für alle) ist nach Marx unvollständige Emanzipation, sofern alles Recht notwendig ein Recht der Ungleichheit ist und gerade von der Besonderheit des Individuums abstrahieren muss. (Marx 187 5, S. 21) Eine be­sondere (politische) Sphäre des Allgerneinen (wie Staat und Recht) setze vielmehr reale

Unterschiede und Ungleichheiten (etwa ökonomischer Macht) voraus. Sofern diese Be­sonderheiten im Verhältnis der Menschen nicht mehr zu Asymmetrien fUhren, was der

Fall realer, vor allem ökonomischer, Emanzipation wäre, bedürfe es auch keiner be­sonderen Vermittlung mehr, deren Ausdruck die allgerneine Sphäre des Rechts und der

Politik darstelle. 20 V gl. dazu Geismann 2002.

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sichten veranschaulicht, d. h. einer Idee der Vernunft wird ein nach dieser gebildetes Ideal zur Seite gestellt, in welchem die Idee als Gegenstand exem­plifiziert wird, der von vernünftigen Wesen gewünscht wird bzw. werden kann.Z1 ,

Erstens in der sogenannten Naturgesetzformel mit Blick auf seine Form, nämlich Allgemeinheit. Maximen, die dem kategorischen Imperativ entspre­chen, müssen ohne Widerspruch als allgemeine Gesetze resp. als Naturgeset­ze gydacht werden können.Z2 Zweitens wird der Kategorische Imperativ in der sogenannten Selbstzwecliformel mit Blick auf seinen Inhalt, die Anerken­nung jedes vernünftigen Wesens als Selbstzweck und die Sicherung seiner Autonomie als letzte Quelle aller Zwecke, veranschaulicht:

"Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderenjederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." (GMS, A 429)

Hier wird der inhaltliche Kern des Kategorischen Imperativs ausgesprochen: negativ als Instrumentalisierungsverbot, positiv als Gebot, alles um des Men­schen (als Repräsentant der Menschheiti3 willen zu tun. Als freies Wesen ist er Quelle von Zwecken und kann sich daher nicht bloß als Mittel fremder Zwecke verstehen, er ist ein unbedingter Zweck, Selbstzweck. Der Kategori­sche Imperativ verpflichtet darauf, den anderen als Subjekt, nicht als bloßes Objekt zu behandeln. Das schließt die Sorge um sein Glück ein, denn als sinnlich-vernünftiges Wesen ist seine Glückseligkeit objektiver Zweck.Z4 Da

21 Vgl. Rawls 2004, S. 284 f. 22 Vgl. GMS, A 421.

23 Menschheit meint hier nicht die numerische Gesamtheit aller Menschen, sondern

bezieht sich auf die Autonomie, Moralfähigkeit und Kultivierbarkeit eines jeden Men­

schen als vernünftiges Wesen. 24 ,,Die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst. So stellt sich notwendig der

Mensch sein eigenes Dasein vor; sofern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zu­folge eben desselben V ernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus, als einem obersten praktischen Grunde, alle Gesetze des

Willens müssen abgleitet werden können." (GMS, A 429) Von Kritikern wird diese Stelle mitunter so verstanden, als erschliche sich Kant hier den Beweisgrund für sein Prinzip. Ich lese sie so, dass damit eine transzendentale oder Formbedingung der Ein­nahme einer praktischen (und praktisch alternativlosen) Perspektive benannt wird, nllm­lich andere Menschen als Personen zu betrachten, was einschließt, ilmen Zweckset­zungsautonornie zuzuschreiben und damit ihre Selbstzweckhaftigkeit anzuerkennen.

Das bedeutet nicht, dass diese in der konkreten Handlung oder Maxime nicht missach­tet werden könnte, dass also im konkreten Fall Personen nicht als Personen behandelt

werden könnten. Wir sind moralfähig , aber deshalb nicht auf moralisches Handeln festgelegt. Wir verfUgen über die praktische Urteilsdimension des Richtig und Falsch,

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es aber keine Gesetze der Glückseligkeit gibt (ich erinnere an die Schwierig­keiten technischer Utopien), kann dies nur heißen, die Freiheit eines jeden, d. h. sein Vermögen, sich Zwecke zu setzen und nach Maßgabe eigener Ma­ximen zu leben, zu achten, gleichgültig, ob man deren Gehalt befiirwortet oder nicht. Gerade das heißt es, seine Würde als autonomes und damit moral­fähiges Wesen zu achten: Ich achte ihn als Mensch bzw. als Person, unab­hängig von seinen sonstigen Eigenschaften und Fähigkeiten, dem Nutzen, den er mir bringen mag, meiner Zuneigung oder Abneigung, meiner Billi­gung seiner Zwecke etc.

Drittens müssen die Maximen moralischen Handeins vollständig bestimmt werden können (vgl. GMS, A 436), wobei Vollständigkeit meint, dass alle moralisch richtigen Maximen eine Einheit bilden können müssen, eine "sy­stematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemein­schaftliche Gesetze" (GMS, A 433) . Kant nennt diese Einheit das "Reich der Zwecke". Fruchtbar ist der Begriff in diesem Zusammenhang, soweit er das Sittengesetz veranschaulicht, d. h. soweit er dieses als einen idealen Gegen­stand (ein Ideal der Vernunft) darstellt, der es ohne Rücksicht auf konkrete Motiylagen erstrebenswert erscheinen lässt, sittlich zu handeln bzw. eine gute Person, d. h. hier: Mitglied einer moralischen Gemeinschaft zu sein. Die Reich-der-Zwecke-Forme/lautet:

"Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre." (GMS, A 438i5

Erstaunlicherweise wird diese Formel häufig als mehr oder weniger unselb­ständige Variante oder gar als bloß tautologische Zusammenfassung der an­deren Formeln betrachtet, obwohl sie die Forderung nach Entfaltung des Moralischen zu einer Ordnung analog dem Reich der Natur (GMS, A 436) und damit den nach den obigep Ausfiihrungen zentralen Gehalt des Utopi­schen, eine Ordnung der Freiheit und Würde mit Glücksmoment, eine noch nicht dagewesene Form des Zusammenlebens und damit nach Bloch ein echtes Novum darstellt. Sie fordert, nicht nur die einzelne Handlung fiir sich zu bewerten, sondern diese Bewertung ausdrücklich im Horizont einer (po-

aber das bedeutet nicht, dass wir nicht falsch urteilen könnten. Andernfalls handelte es sich genau aus diesem Grund nicht um Urteile.

25 Hier wird deutlich, dass und warum die Reich-der-Zwecke-Formel als Korrollar oder Äquivalent der Autonomie-Formel gedeutet wird: Das moralische Gesetz ist ein Ge­setz, welches wir uns selbst geben, und zwar derart, dass es zugleich zum allgemeinen Gesetz aller vernünftigen Subjekte dienen könnte, die eben dadurch eine moralische Gemeinschaft unter gemeinsamen Gesetzen bilden.

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tentiellen) Gemeinschaft Gleicher, Freier und Gutwilliger vorzunehmen (d. h. diesen Horizont nicht nur indirekt und vermittelt über das V erfahren der Prüfung der pragmatischen Widerspruchsfreiheit universalisierter Maximen herzustellen). Der autonome Wille als Gesetzgeber darf nicht nur unzulässige Handlungen verbieten,. indem solche (quasi naturhaft gegebenen) Zwecke und Mittel ausgeschlossen werden, die mit denen anderer nicht vereinbar sind (das leisten die vollkommenen bzw. Rechtspflichten), sondern darüber hinaus erfordert er positive Zwecksetzungen, also eine Bestimmung dessen, was getan werden soll. Denn die allgemeine Befolgung negativer Pflichten mag ohne Denk- und Wollenswidersprüche gedacht werden können, aber sie macht als solche noch keine moralische Gemeinschaft aus?6 Sie fUhrt zu einer Rechtsordnung, aber nicht notwendig auch zu einer sinnvollen und harmonischen gemeinsamen Ordnung zusammenstimmender Zwecke.

In einem möglichen Reiche der Zwecke müssen sich Maximen und Hand­lungen über den negativen Bezug der Rechtspflichten hinaus i. S. der Tu­gendpflichten positiv auf die Zwecke anderer beziehen. Als Glied des Reichs der Zwecke macht sich das Subjekt die Zwecke anderer, wenigstens partiell, zu eigen, so wie diese seine Zwecke zu den ihren machen - man achtet ande­re Personen und deren Zwecke nicht nur, sondern befördert sie?7 Die Freiheit und Zweckverfolgung anderer, und damit die Ordnung des Reichs der Zwec­ke unter gemeinsamen Gesetzen, wird nicht als Einschränkung je meiner Frei­heit gedacht, sondern als ihr wesentlicher Gehalt. 28 Die Idee dabei ist, dass in einer moralischen Gemeinschaft Handlungen und Beziehungen rational sind, die in einem "ethischen Naturzustand" (RGV, S. 753/A 123) außerhalb der

26 Tugendhat meint sogar, dass der Korpus der negativen Pflichten als solche nicht über eine "kontraktualistische Quasimoral" bzw. ein "Moralsubstitut" (Tugendhat 1993, S. 77; Tugendhat 1989, S. 324) hinausreicht, worin sicher ein Grund für kontraktualisti­sche Deutungen des Kategorischen Imperativs bzw. des zugehörigen PrüfVerfahrens liegt.

27 Bloch verweist auf das Erbe des Joachim von Fiore, der das "Reich des heiligen Gei­stes" als innerweltliche und innergeschichtliches Zukunft ohne Stände und ohne Kirche versteht, als kommendes Zeitalter der Erleuchtung aller und der Liebe i. S. der selbstlo­sen Anerkennung des anderen (vgl. PH 1954, Bd. II, S. 7 1 ff.).

28 F. Kambartel nennt dies Transsubjektivität, "Freiheit von sich selbst", d. h. Freiheit von der bloß faktisch gegebenen, auf sich selbst bezogenen Subjektivität (vgl. Kambartel 1978, S. 128 f.) i. S. der Möglichkeit, das eigene Leben zum Gegenstand von Handlun­gen zu machen, etwa indem man Freundschaften schließt, Verpflichtungen übernimmt, sich für bestimmte Dinge engagiert, "politisch wird" - d. h. seine Stellung in der sozia­len Welt und seine Selbstverhältnisse gestaltet und damit eine personale Identität aus­bildet, die über die Sunune faktischer Präferenzen, also die Betätigung der Willkürfrei­heit, hinausgeht. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Identität nicht einsam herausgebildet werden kann, der Bezug auf andere ist Bedingung ihrer Möglichkeit.

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Grenzen enger Gemeinschaften irrational wären, weil sie dem Risiko ausge­setzt sind, sich gegen die moralisch handelnde und moralischen Vorschuss gebende Person zu richten, wenn ihr Kooperationswille und ihr Vertrauen ausgenutzt werden, was bekanntlich auch legal möglich ist. Kann man dage­gen eine wechselseitige Haltung grundsätzlichen, auch selbstlosen Wohlwol­lens voraussetzen und erwarten, von anderen als freies und moralisches Sub­jekt mit seinen Zwecken geachtet und gef6rdert statt ausgenutzt oder hintergangen zu werden (obwohl dies immer möglich ist), und kann man auf Basis dieser wechselseitigen Erwartung agieren, dann ist es nicht nur ratio­nal, entsprechende Bindungen einzugehen, sondern es wäre irrational, dies nicht zu tun. Freilich ist dies keine instrumentelle, kalkulierende Rationalität, da sie auf der bloßen Erwartung von Gegenseitigkeit, auf der empirisch nicht einholbaren Unterstellung von Moralität, nicht auf ihrer Gewissheit beruht, oder, um ein Wort Blochs zu gebrauchen: auf Hoffnung, nicht auf gläubiger Zuversicht.

Auf diese Art und Weise bekommen auch unvollkommene Pflichten, etwa die Brüderlichkeit und das Gebot, das Glück anderer zu f6rdern, einen Stel­lenw,ert, den sie im Lichte einer Deutung des Kategorischen Imperativs, in deren Fokus die Universalisierung steht, nicht ohne weiteres haben.29 Man könnte sagen, dass mit der Reich-der-Zwecke-Formel die freie Kooperation einschließlich der gemeinsamen Bildung gemeinsam anerkannter Zwecke als innere Form einer guten Ordnung benannt wird. Die Wahl von Handlungs­maximen als gesetzgebendes Glied eines Reichs der Zwecke schließt daher die reflexive Orientierung am gemeinsamen Zweck eines Reichs der Zwecke ein, d. h. die Orientierung an einer gemeinsamen Vorstellung sinnvoller Ge­setze gelingenden Zusammenlebens moralischer Personen.30

29 Es wird häufi g darauf hingewiesen, dass Kants Begründung positiver, unvollkom mener Pfl ichten von , unzulässigen' empirischen Voraussetzu ngen Gebrauch mache. Diese Einwände lass en sich u. a. auch dadurch ausräum en, dass dem Ideal des Reichs der Zwecke ein größerer Stellenwert im Gefii ge der Kantschen Moralphilosophie einge­räumt wird, womit zugleich die Idee eines Interesses der reinen praktischen Vernunft und damit einer genuin moralischen Motivation plausibler wird, die von einer Vorstel­lung der Vern unft bzw. einem nach dieser gebildeten Ideal ausgeht und nicht von sub­limen Motiven der Selbstliebe.

3 0 An diesen Zug der Kantschen Moralphilosophie können diskurseth ische Ansätze an­schließen, aber auch i. S. des A ristoteles eudaimonistische, freilich mit dem Unter­schied, dass bei Kant kein vorgängiges Konzept des guten L ebens festlegt, was eine gu­te Ordnung ist, sondern umgekeh rt die vern ünftige bzw. gute Ordnung den Rah men möglicher Konze ptionen guter L ebensfiihrun g bestim mt. Siehe daz u Rawls' Ü berle­gungen zum Vorrang des Rechten vor dem Guten und zum moralphilosophisch en Kon­strukti vismus Kants. (Rawls 2004, Kap. V u. VI)

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Die Brisanz der Formel vom Reich der Zwecke und ihr utopisches Poten­tial ergibt sich daraus, dass mit der Anerkennung vernünftiger Subjekte als unbedingter Zwecke auch deren Privatzwecke als Teil des Reichs der Zwec­ke anerkannt werden, also auch ihr Glücksstreben. Da dieses aber unter ge­meinsame und wechselseitig begründbare Normen fallen muss, folgt, dass dies in einem Reich der Zwecke nicht auf Kosten anderer gehen kann. Bspw. wäre die Maxime, Reichtum dadurch aufzuhäufen, dass man andere für Lohn arbeiten lässt, keine Maxime, die mit Blick auf die geordnete Gesamtheit der positiven Zwecke aller Personen zulässig sein könnte (wie es nach der bloß "negativen" Deutung des Kategorischen Imperativs in den anderen Formeln zunächst möglich scheint) . Sie könnte als äquivalenter Tausch von Arbeit gegen Lohn zwar die Bedingungen äußerer Freiheit und Gleichheit erfiillen, also rechtlich zulässig ( d. h. pflichtgemäß) sein. Zu einer moralischen Ord­nung fiihrte sie als solche gleichwohl nicht, selbst im Falle fairer Verteilung, weil sie eine Ordnung wechselseitiger Instrumentalisierung schaffen würde, in der sich jeder selbst zum Mittel fremder Zwecke machte. Eine solche Ord­nung der Entfremdung kann kein Reich der Zwecke sein.

Unter dem Aspekt des Reichs der Zwecke verliert die Unterscheidung von Tun und Unterlassen, von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, un­benommen ihrer rechtlichen Relevanz, bei der Beurteilung von Handlungen an moralischer Bedeutsamkeit. Der Mitgesetzgeber einer moralischen Ord­nung hat nicht nur die isolierte Handlung, sondern auch die Handlung als Manifestation von Praxen und Institutionen im Blick. Etwa müssen Handlun­gen, die im Lichte gegebener, zunächst nicht problematischer Institutionen als moralisch neutral gelten, unter dem Aspekt des Reichs der Zwecke ggf. neu bewertet werden. Eine Warenwirtschaft vorausgesetzt, kann es bspw. für sich genommen moralisch neutral sein, so billig wie möglich einzukaufen. Mit Blick auf eine sinnvolle gemeinsame Ordnung, d. h. die Möglichkeit ei­nes Ganzen der möglichen Zwecke aller Personen und des positiven Bezugs darauf, muss man fragen, ob damit nicht die Entfaltungsmöglichkeiten ande­rer Personen eingeschränkt werden, deren Handeln dann nur als Mittel frem­der Zwecke zählt, nicht als Ausdruck personaler Identität. In diesem Falle wäre die Handlung Ausdruck einer dem Reich der Zwecke widersprechenden Praxis, die nun selbst in den Fokus der moralischen Bewertung rückt. Unter Bezug ' auf die Formel vom Reich der Zwecke kann auf die mit der Selbst­zweckformel notorische Frage nach den Grenzen der in arbeitsteiligen Ge­sellschaften unvermeidlichen Instrumentalisierung eine präzisere Antwort ge­geben werden: Es ist maßgeblich, ob Personen im Ganzen ihres Lebensvoll­zugs auf eine arbeitsteilige Rolle im Rahmen einer Praxis, auf ihre Tauglich­keit fiir fremde Zwecke reduziert werden (woran es nichts ändert, wenn man

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bloß sentimental Anteil an ihnen nimmt) oder ob ihre Handlungen im Lichte allgemeiner Denk- und Handlungsmöglichkeiten und verfügbarer Rollen und Positionen als Auscit:uck ihrer personalen Identität und Zwecksetzung gelten können?1

Die Reich-der-Zwecke-Formel verpflichtet darauf, dafür Sorge zu tragen, dass jede und jeder die Möglichkeit hat, eigene Zwecke zu setzen und zu verfolgen, und dabei auf Unterstützung rechnen kann. Sie verpflichtet darauf, auch die mittelbaren Folgen von Handlungen und Teilpraxen mit Blick auf das Ganze der sozialen Ordnung in deren Bewertung einzubeziehen. Sie ist deshalb brisant, weil sie durch den expliziten Bezug auf das Ganze möglicher Zwecke letztlich dazu verpflichtet, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtli­ches Wesen ist" (Marx 1 �44, S. 3 85), und das schließt die (kollektive) Pflicht ein, die notwendigen institutionellen Bedingungen dafür zu schaffen. Das moralische Gesetz drängt auf diese Weise zur Positivierung in rechtlichen Regeln und Institutionen. Das verwundert nicht, denn nach Kant haben Recht und Moral den gleichen normativen Gehalt: Freiheit, mit dem Unterschied, dass ,die Befolgung rechtlicher Regeln erzwungen werden kann, die morali­scher nicht.

Trotz Positivierungstendenz wird mit der Reich-der-Zwecke-Formel kein i. e. S. politisches Ideal formuliert oder das Bild eines idealen Staates ge-

3 1 Das schließt nicht aus (vielmehr gehört es wesentlich dazu) , dass Angehörige eines Reichs der Zwecke, die sich nach Voraussetzung die gemeinsame moralische Ordnung selbst zum Zweck machen, d. h. gemeinschaftsbezogene Gründe als überwiegende

Gründe anerkennen un d um dieser gemeinsam en Ordn ung willen sich selbst in deren Dienst stellen und damit sich selbst instrum entalisieren. Sofern damit nicht die Aufh e­bung de r Zweckautonomie und rationalen Handlungsfähigkeit verbunden ist, etwa per dauerhafter Festlegung auf eine arbeitsteilige Rolle, ist dies ohne Beschädigung de r

Autonomie der Person in einer gemeinsam en, kooperativen und fairen O rdnung mög­lich. Um es etwas anschaulicher zu machen: Arbeitsteilung und notwendige, aber unge­liebte oder lästige Tätigkeiten wird es inn ner geben. Aber dass sie irgendjemand über­neh men muss, heißt nicht, dass dies eine, etwa durch Eigentum oder Bildungsgrad, festgelegte Grup pe von Personen sein muss. Entwü rdigend sind sie nur dann, wenn sie

Personen q ua Rollenzuweisung aufgezwungen werden und deren Wert zur Funktion dieser Rollen und Tätigkeiten wird. Sie verlieren ihren Zwangscharakter, werm nicht bestimmte Personen oder Gruppen dauerhaft auf sie festgelegt sind, auch werm dies mit

Effi zienzverlusten verbunden sein sollte. Moral isch ist Effi zienz gegenüber der Auto­nomie und Würde der Person nachrangig. Sofern solche (poietischen) Tätigkeiten von den Angehörigen einer moralischen Gemeinschaft als Teil ihrer selbstzweckhaften Pra­xis frei anerkannt werden können, sprechen sie sowenig wie die Notwendigkeit einer sozialen Ordnung gegen die Möglich keit der Utopie des Reichs der Zwecke.

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zeichnet.32 Das bedeutet nicht, dass es nicht um eine realisierbare Ordnung ginge, sondern dass diese Ordnung keine politische ist. Sie existiert, wenn sie existiert, jenseits von Recht und Politik als Ordnung, die nicht erzwungen werden kann, weil und insofern die Ausübung von Tugendpflichten i. S . der Verfolgung von auf andere Personen bezogenen positiven Zwecken nicht erzwungen werden kann. Aber sie hat politische und rechtliche Vorausset­zungen, nämlich die erzwingbare Einschränkung der Mittelwahl i. S. der Rechtspflichten. Das Reich der Zwecke ist zwar ein Ideal, aber kein bloß jenseitiges, denn es "würde [ . . . ] wirklich zustande kommen, wenn [der kate­gorische Imperativ] allgemein befolgt würde." (GMS, A 43 8)

Kant weist dafür zwei Wege: Erstens betont er den Fortschritt durch Pu­blizität und Aufklärung. Diese setzen Standards des Rechts und der Mensch­lichkeit, die nicht mehr unterschritten werden dürfen. Freilich werden sie faktisch immerzu verletzt, aber nicht mehr ohne dass dies als unrecht gewusst wird (und daher schöngelogen werden muss: "Die Heuchelei ist der Tribut des Lasters an die Tugend."). Es gibt einen Fortschritt in der "Denkungsart", im moralischen Bewusstsein, der letztlich, und das ist Kants Überzeugung, bezogen auf die Gattung, auch in einem Fortschritt zum Besseren münden muss, ohne dass Kant hier eine Determination der Weltgeschichte annimmt.33 Dahinter steckt die Einsicht in die zentrale Rolle unserer Selbstbeschreibun­gen für unser Handeln, auch auf institutioneller Ebene: Sie wirken als selbst­erfüllende Prophezeiungen. Ich darf auf moralische Behandlung hoffen (wenngleich ich sie nicht im prognostischen Sinne erwarten kann), wenn ich unterstelle, andere seien freie und moralfähige Wesen wie ich. Betrachtet mim andere dagegen als Objekte (also nicht als frei und moralfähig), dann ist es unsinnig, ihnen gegenüber moralisch zu handeln, womit wiederum ein reziproker Grund für sie besteht, anzunehmen, ich könnte nicht anders, sei also selbst Objekt, nicht Subjekt.34 Ganz ähnlich scheint dies Bloch zu sehen, wenn er in der Artikulation von Utopien, welche er als Ans-Licht-Holen des Noch-Nicht-Bewussten deutet, einen ersten Schritt zur konkreten Utopie und Veränderung zum Besseren sieht.

Zweitens sieht Kant in der Verrechtlichung mit dem Ziel der Republik und dann eines weltbürgerlichen Zustands gesicherten Friedens eine notwen­dige Voraussetzung für die Entwicklung der moralischen Anlage des Men-

3 2 Vgl. Schönecker/Wood 2002, S. 160; vgl. dazu auch RGV, S. 7 54/A 125. 3 3 Vgl. SF, S. 3 57 f./A 142 f. ; vgl. auch TP, 168 f./A 27 7 . 3 4 Man kann sich den Mechanismus der selb sterfü llenden Prophezeiung, genauer: der

S elbstzerstörerischen Zuschreibung bzw. d er Negation der Subjektivität des anderen im rein instrumentellen Verhältnis anhand des Gefangenendilemmas klarmachen. V gl. da­zu auch Kannetzky 2004 b.

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sehen und damit für eine zwangsfreie Ordnung. Der rechtliche Zustand der Republik schafft per definitionem nicht die moralische Gemeinschaft, aber er sorgt als rechtlicher dafür, dass moralisches nicht notwendig auch unkluges Handeln ist. Es genügt schon die Erwartung, dass andere ihrem Handeln ge­mäß Recht und Gesetz Einschränkungen auferlegen, "wodurch dann ein gro­ßer Schritt zur Moralität (obgleich noch nicht ein moralischer Schritt) getan wird, diesem Pflichtbegriff auch um seiner selbst willen, ohne Rücksicht auf Erwiderung, anhänglich zu sein" (ZeF, S. 23 8, Anm. A 80). Die Republik schafft die äußere Form zum Reich der Zwecke, das die innere Form der Republik ist. Denn die Republik ist ohne Vorgriff auf diese innere Form nicht zu begreifen. Ohne die implizite Norm einer moralischen Gemeinschaft blie­be unverständlich, welchen Sinn die normativen Pfeiler der Republik, Frei­heit, Gleichheit und Selbständigkeit (Unabhängigkeit) der Bürger (TP, S . 145/A 235 u. S . 1 50/A 244), haben sollten. Es bräuchte keine Republik, wenn es nur um Wohlfahrtsmaximierung oder um die Vorteile rechtlicher gegen­über vorrechtliehen Zuständen ginge. Nun mag man einwenden, dass Kant diese Bedingungen zu formal fasst, etwa als Gleichheit vor dem Gesetz, aber insb�sondere aus dem Konzept des Reichs der Zwecke als einer Formulie­rung des Kategorischen Imperativs ergibt sich die Pflicht, eine Ordnung herzustellen, in der es weder Herr noch Knecht gibt. 35 Insofern ist die Kritik, dass Kant ein abstraktes Sollen gegen das Sein setze, überzogen. Denn das tut er ja nicht: das Reich der Zwecke ist auch bei Kant eine Antizipation

35 Es irritiert angesichts des apriorischen Geltungsanspruchs der Kantschen Moral- und Rechtsphilosophie, dass Kant Frauen und ökonomisch Abhängigen den Bürgerstatus abspricht (die aufgrund ihrer Abhängigkeit "Schutzgenossen", aber nicht Mitgesetzge­ber sein können, weil man nicht zwei Herren dienen kann (vgl. TP, 1 50f./A 244 ff.) . Kant muss hier gegen den Strich gelesen werden: Wenn eine republikanische Verfas­sung auf Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit gründet, dann müssen Verhältnisse hergestellt werden, in denen jeder diese Art von Selbständigkeit hat und Formen des Eigentums, die Personen durch ökonomische Abhängigkeiten von der hier relevanten Selbstständigkeit ausschließen, keine Rolle mehr spielen. Rousseau sieht dies sehr klar, wenn er in der "übergroßen Ungleichheit der Vermögen" die wichtigste Quelle aller Übel, insbesondere aber von Unfreiheit sieht. Ökonomische Ungleichheit ist zulässig, aber sie darf nicht in Machtasymmetrien umschlagen, es dürfe "kein Bürger derart vermögend sei[n], sich einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, daß er ge­zwungen wiire, sich zu verkaufen." (Rousseau 1 762, Buch Il, Kap. 1 1 , S. 57). Daher darf die Gesetzgebung nicht nur die rechtliche Gleichheit schützen, sie muss auch ein Mindestmaß an ökonomischer Gleichheit herstellen, sie darf "weder Überreiche noch Bettler" dulden, denn beide Stände gefährden die Stabilität und Freiheit der Republik -"aus dem einen kommen die Helfershelfer der Tyrannei, aus dem anderen die Tyran­nen; der Handel mit der öffentlichen Freiheit fmdet immer zwischen diesen statt; der eine kauft, der andere verkauft sie." (Ebd.)

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dessen, was real möglich ist, gegeben einen republikanischen, tendenziell weltbürgerlichen Zustand.

Kants praktische Philosophie ist aufgrund ihrer latent politischen Dimen­sion auch in ihren i. e. S. moralphilosophischen Teilen keinesfalls so verhim­melt, wie ihr oft, auch von Bloch, nachgesagt wird.36 Kant meint es ernst, und er ist dabei durchaus militanter Optimist mit konkreter Hoffnung ins Dies­seits, wie sein Enthusiasmus angesichts der französischen Revolution zeigt, auch dann noch, als schon die Köpfe rollten (SF, S. 3 58/A 144f.) . Das Reich der Zwecke kann wirklich werden, das hängt von uns ab, aber wir können und dürfen nicht darauf vertrauen, dass es sich von selbst einstellt. Die For­mel vom Reich der Zwecke manifestiert damit die praktisch notwendige Überzeugur{g von der Möglichkeit und der Fähigkeit zur Gestaltung eines humanen, freien Gemeinwesens, die Überzeugung, dass die Gesellschaft bewusst, d. h. "nach der Vorstellung des Gesetzes", gestaltet werden kann und sich nicht als quasi natürlicher Prozess vollzieht, dem man ausgeliefert ist und dessen Imperativen man sich beugen muss, auch davon, dass es Her­ren und Knechte nicht von Natur gibt. Sie repräsentiert die Einsicht, dass Zwangsverhältnisse von Menschen gemacht sind, um Interessen durchzuset­zen, auch wenn dies ohne Absicht vermittels allgemeiner und im allgemeinen Interesse stehender rechtlicher Formen geschieht. Denn das (positive) Recht perpetuiert Herrschaftsverhältnisse und bevorzugt auf systematische Weise Partikularinteressen (z. B. die der Eigentümer), womit ein Teil der Menschen privilegiert, der andere, der diese Rechte (bspw. mangels Eigentum) nicht wahrnehmen kann, diskriminiert oder exkludiert wird.37 Im Reich der Zwec­ke kann es aber weder eine Privilegierung noch dne Diskriminierung von

36 Sie ist es zumindest dann nicht, wenn man sich auf Kants radikalen Entwurf der Mo­ralphilosophie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bezieht, in der Moralität ganz diesseitig von der Autonomie des Subjekts her gedacht wird. In der Kritik der praktischen Vernunft nimmt Kant diese Diesseitigkeit und damit auch die Ausstrahlung der Moralphilosophie ins Politische mindestens teilweise zurück. Das "Reich der Zwecke", welches grundsätzlich im Bereich menschlichen Handeins steht, wird folge­richtig durch das bloße Ideal eines "Reichs Gottes" als Verkörperung des höchsten Guts abgelöst, welches sich menschlichem Handeln weitgehend entzieht - man kann es nicht herstellen, sondern sich seiner allenfalls als würdig erweisen. Die Diskussion die­ser Differenzen in Kants Moralphilosophie muss einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben.

3 7 V gl. dazu Hegel zur unvermeidlichen Spaltung der bürgerlichen Gesellschaft durch die Hervorbringung von Armut, Exklusion, Entrechtung und dann auch des ,,Pöbels" als Bedingung "unverhältnismäßiger Reichtümer in wenigen Händen" (vgl. GPR, §§ 237 ff., insbes. § § 243/244), vgl. auch Kant, der die Legitimität der Ungleichverteilung von

Eigentum und damit den faktischen Ausschluss der Eigentumslosen aus der Gemein­schaft der Mitgesetzgeber in Frage stellt (vgl. TP, S. 1 5 1 /A 247).

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Personen geben. Aber selbst im Falle einer idealen Rechtsordnung, d. h. einer Übereinstimmung positiven Rechts mit dem Begriff des Rechts, behielte das Recht Zwangscharakter. Die Bindung der Person an eine autonome Moral ist jedoch immer deren Selbstbindung aus Gründen und lässt sich als solche nicht erzwingen.

Aus diesem Grund ist das Reich der Zwecke als "ethisches Gemeinwe­sen", d. h. als "Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen" (RGV, S. 75 1 /A 122) nicht als erzwingbare Rechtsordnung i. S. eines Staates aufzufassen, wenngleich es mit dieser als einer äußeren Bedingung vereinbar sein muss.38 Die Utopie des Reichs der Zwecke ist als Utopie einer freien, um die Entfaltung der Person zentrierten Assoziation daher Staatsmärchen mit totalitärer Tendenz entgegengesetzt, welche die Unterwerfung des Indivi­duums unter das Allgemeine der Gesellschaft, unter "die Sache" oder das Kollektiv, fordern.

4 . Reine Hirngespinste? - Freie Kooperation als Modell des Reichs

der Zwecke

Modelle einer solchen Ordnung liefern Praxen, die nicht anders als in freier Kooperation möglich sind. 39 Dazu zählen (meritokratische) Praxen wie Wis­senschaft und Kunst, Philosophie und Religion, aber auch Sprache und, mit Einschränkungen, auch Familie und Freundschaft, im Grunde jede Praxis, sofern die zugehörigen Tätigkeiten nicht unter externe Maßstäbe gestellt wer­den. Solche Praxen können nur gelingen, wenn andere Personen nicht die Grenze, sondern die Bedingung möglicher Handlungen sind. Was ist das Be­sondere solcher Praxen? Sie erfiillen die Bedingung der autonomen, zwang­losen Anerkennung sowohl gemeinsamer Zwecke als auch der zugehörigen Arbeitsteilungen und Rollenübernahmen, weil weder die Zwecksetzung noch die Realisierung entsprechender (gemeinsamer) Handlungsformen und Teil­handlungen erzwungen werden können. Die Anerkennung von wissenschaft­lichen Argumenten oder von Kunstwerken oder auch nur das wechselseitige sprachliche Verstehen sind fiir solche Praxen konstitutiv, sind aber nur im freien Urteilen und Tun möglich. So bliebe die erzwungene Anerkennung eines Wissensanspruchs diesem notwendig äußerlich und würde den Sinn der

38 Vgl. RGV, S . 754/A 1 25 - Entscheidend ist dabei, dass positive Rechtsnormen nur dann als äußere Bedingung einer Tugendordnung gelten können, wenn sie dem Begriff des Rechts entsprechen, d. h. asymmetrische Verhältnisse ausgeschlossen sind.

39 Zum Problem der freien Kooperation vgl. auch Kannetzky 2004a.

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Praxen des Wissens nicht nur unterlaufen, sondern diese tendenziell zerstö­ren.

Entsprechend gehört in freien Kooperationen die Gemeinsamkeit des Handeins und der Zwecke selbst zu den Zwecken der Beteiligten. Diese kön­nen sich daher nicht bloß instrumentell als kalkulierbare und manipulierbare "Objekte", als Randbedingung oder Mittel je eigenen Handelns, aufeinander beziehen, sondern sie verhalten sich zueinander notwendig als Selbstzwecke bzw. Personen. In diesem Sinne ist kooperatives Handeln nicht-instrumen­telles Handeln, die individuelle Zweckrationalität ist in der Kooperation und mit Blick auf die Teilnehmer der Kooperation außer Kraft gesetzt. Die Zwe­cke und Handlungen anderer bilden nicht nur eine äußere Beschränkung eigenen Tuns, sondern werden als dessen Ermöglichungsbedingungen zum Gegenstand des Strebens aller, denn unter den Bedingungen freier Koopera­tion sind eigene Zwecke und die anderer nur gemeinsam zu verwirklichen. Freie Kooperationen schließen daher wechselseitige Hilfe und die Sorge um den anderen ein.

Freie Kooperationen erstrecken sich schon auf deren Zwecksetzung selbst. Gemeinsame Zwecke müssen, im Unterschied zu (zufällig, etwa durch Erfor­dernisse der Arbeitsteilung) geteilten Zwecken, als gemeinsame auch gemein­sam gebildet werden. Sie können nicht durch vermeintliche Sachzwänge oder Autoritäten vorgegeben werden, weil es sonst aus diesem Grund gerade nicht die Zwecke der Beteiligten wären. Im Gegensatz zur bloß instrumentellen, erzwungenen Kooperation setzt freie Kooperation daher nicht nur eine ge­meinsame Vorstellung gelingender Praxis voraus, sondern diese bezieht im­mer auch die bewusste Herstellung ihrer notwendigen Voraussetzungen als deren Teil ein. Freie Kooperationen sind reflexive und transparente Praxen unter Freien und Gleichen, und sie misslingen, wenn deren Subjektivität über­gangen wird. Der Zweck und Gegenstand von freien Kooperationen ist daher immer auch der andere Mensch. Daraus ergeben sich unmittelbar normative Einschränkungen des Beabsichtigens und Handelns, aber auch positive Zwe­cke, die mittels des Kategorischen Imperativs als Rechts- und Tugendpflich­ten explizit gemacht werden, etwa mit B lick auf die Fairness der Verteilung arbeitsteiliger Rollen auf die Personen, des Maßes zulässiger Ungleichheiten, aber auch des Maßes notwendiger Unterstützung. In diesem Sinne sind freie Kooperationen "moralische Praxen" gemäß der Formel vom Reich der Zwe­cke, deren Träger Personen guten Willens sind, also gute Kooperationswe­sen, die nicht nur symmetrische, sondern auch solidarische Beziehungen an-

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streben. Die Alternative wären unsymmetrische Beziehungen, letztlich bloß instrumentelle Verhältnisse zu anderen und damit am Ende zu sich selbst.40

Das bedeutet nicht, dass freie Kooperationen ohne Institutionen, ohne Re­geln und Formen der Organisation auskämen. Der entscheidende Punkt ist, dass dies keine Institutionen der Herrschaft und des (legitimen) Zwangs sein können. Zwänge ergeben sich hier allenfalls i. S . hypothetischer Imperative, also relativ zu selbstgewählten, gemeinsamen Zwecken. Wenn wir ein Duett spielen wollen, müssen wir dasselbe Stück mit verteilten Stimmen spielen, gerade das bedeutet es, ein Duett zu spielen. Wir sind "gezwungen", die In­strumente gleich zu stimmen, dieselben Noten zu benutzen, das Tempo zu halten, insbesondere aber auch dazu, die Mitspieler als prima facie Gleichbe­rechtigte anzuerkennen, d. h. deren Absichten und Überzeugungen zu achten und sich ihre Zwecke in der Weise zu eigen machen, dass man sie fördert. Von Zwang im Sinne der Ausübung von Herrschaft kann dabei aber offen­sichtlich nicht die Rede sein.

Deutet man Kants "Reich der Zwecke" als Utopie der Entfaltung der nichtinstrumentellen Rationalität der freien Kooperation und ihrer Normen zu einer Totalität, zur allgemeinen Form sozialer Beziehungen, dann kann der Vorstellung vom Reich der Zwecke einiges von ihrer vermeintlichen Naivität genommen werden. Sie kann sich auf die Idee einer Verallgemeinerung längst gängiger, freilich nicht dominierender Praxen stützen, die ihrem Prinzip nach nur als freie Kooperation unter Freien und Gleichen möglich sind, etwa Be­reiche der freien "Produktivität" wie Kunst, Wissenschaft und Philosophie, Freundschaft, oder die, wie die sprachliche Verständigung, wesentlicher Be­standteil jeder Praxis sind und deshalb · zum Paradigma der Utopie dienen können. Der Begriff der freien Kooperation und damit der moralischen Praxis ist nicht leer, sie ist kein Hirngespinst. Mehr noch: Auch "erzwungene Ko­operationen" wie die der kapitalistischen Arbeitsteilung zehren von Praxen freier Kooperation, sofern sie die Geltung von Kooperationsnormen und Hal­tungen voraussetzen, die sie ihrem Prinzip nach nicht reproduzieren können. In diesem Sinne ist die freie Kooperation in unserem Leben tatsächlich allge­genwärtig, und insofern bildet die kontrafaktische Unterstellung eines Reichs der Zwecke eine Sinnbedingung menschlicher Lebensvollzüge,41 was freilich

40 Vgl. Tugendhat 1999, S. 1 82 f. ; vgl. auch Tugendhat 1 993, S. 21 f. ; vgl. auch Kant zur Heteronomie des Willens (GMS, A 44 1 ff.).

41 Hieran knüpft die Transzendentalpragmatik an, die, insofern sie die kontrafaktische Unterstellung der Geltung von Normen freier Kooperation als definierendes Moment jeglicher Kooperation auffasst, zwischen Kant und Hegel vermittelt. Hegel spricht vom "absoluten Trieb" des freien Geistes, dem seine Freiheit Gegenstand sei, von der Idee eines freien Willens, der sich selbst will, und zwar objektiv als das vernünftige System seiner selbst als unmittelbare Wirklichkeit (GPR, § 27), d. h. in Form der Praxen und

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nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass freie Kooperationen immer Gefahr laufen, erst ausgehöhlt und dann zerstört zu werden, wenn ihre Subjekte sich nicht unter deren interne Normen stellen, sondern sie unter externen Ge­sichtspunkten, etwa der Nützlichkeit oder Profitabilität, vollziehen.

Falls die vorgetragene Deutung des Reichs der Zwecke stimmig ist, dann ist auch klar, dass das Reich der Zwecke nicht das "ganz andere" je gegebe­ner sozialer Realität darstellt. Als solches wäre es unverständlich. Hier ergibt sich eine gewisse Spannung zu (und auch in) Blochs Utopiebegriff, der ja auf "echte Zukunft" zielt, also auf ein "wirkliches Noch-Nicht-Sein", auf ein Novum, "das noch in keines Menschen Auge gekommen, noch keines Men­schen Ohr gehört, keines Menschen Sinn erfahren hat, [ . . . ] das noch nicht entsprungen ist, obwohl es latent sein mag." (TU, S. 46) Diese Spannung kann gelöst werden, wenn man sich an die Form des Utopischen hält. Tat­sächlich sind auch Praxen freier Kooperation gemessen an ihrem Sinn und ihrer Form immer privativ realisiert, sofern sie immer auch unter externen, praxisfremden Normen stehen. Wer heute bspw. Wissenschaft betreibt, tut dies gewöhnlich auch zum Broterwerb, mit allen Folgen, die dies hat, etwa

fustitutionen, die ihn manifestieren. Im Unterschied zu Kant sieht Hegel diesen ver­nünftigen Willen als konkrete Sittlichkeit in den faktischen Institutionen und Praxen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates (immer) schon am Werk (vgl. etwa GPR, Vorrede, S . VII) und hält deshalb die Bestimmung eines dem fudivi­duum "äußerlichen" Sollens bzw. einer besonderen moralischen Pflicht zur Beschrei­bung eines Systems der Sittlichkeit (qua System der Freiheit) für obsolet, am Ende so­gar für schädlich. Tugend ist Rechtschaffenheit, d. h. die Erfüllung der institutionellen Rollen, in die man gestellt ist. Vermittels dieser Einbindung in eine Ordnung, als Akzi­denz der Substanz, "befreit das fudividuum sich zur substantiellen Freiheit" (GPR, §§ 147-1 50). Kant hält diese Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit (wie die Aus­führungen zur Realisierbarkeit eines Reichs der Zwecke zeigen) zwar für möglich, aber er hält mit dem Kategorischen Imperativ als einem moralischen Prüfverfahren die Fra­ge grundsätzlich offen, ob das, was gut und vernünftig erscheint und was wir für gut und vernünftig befinden, auch wirklich gut und vernünftig ist. Deshalb nennt er das Reich der Zwecke ein Ideal, allerdings ist dies kein bloß j enseitiges, sondern eines von innerweltlicher Transzendenz: Es ist "eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß, zustande zu bringen." (GMS, A 436 Fn.) Die Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit begreift Kant daher als Arbeit (vgl. laG), die nicht zur Ruhe kommen kann, nicht als einen vernünftig eingerichteten (finalen) Zustand, in dem der freie Wille zu sich selbst gekommen ist oder sein wird. Diesen Gedanken Kants gibt aber auch Hegel nicht auf, wenn man ihm keine vorschnelle und konservativ"afflrmative Identifi­kation je gegebener fustitutionen und Praxen mit dem vollendeten System der Sittlich­keit unterstellen will. Es wäre daher zu untersuchen, ob und wie weit Hegels Begriff des Staates als "selbstbewusste sittliche Substanz" (im Kontrast zur bürgerlichen Ge­sellschaft und als deren Aufhebung) mit Kants Reich der Zwecke zusammenfallt.

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einem sachlich oft kaum zu rechtfertigenden Distinktionsstreben in der Kon­kurrenz um knappe Mittel. Insofern wäre eine volle Entfaltung der internen Normen der Praxis Wissenschaft, ihre Befreiung von externen Zwängen, ein echtes Novum. Aber auch wenn interne und externe Normen der Tätigkeit im Rahmen einer Praxis auseinanderfallen, die Praxis gewissermaßen nur priva­tiv betrieben wird, ist sie als diese Praxis nur unter ihrer Form (und entspre­chenden internen Normen) verständlich, die gegenüber dem faktischen Be­trieb ein Novum und nicht-empirisches Strebensziel darstellt. So wäre die Praxis der Wissenschaft unbegreiflich, wenn wir sie, wie es uns das Ökono­mistische Weltbild weismachen will, nicht nach dem Maß der Wahrheit und des Wissens, sondern nach dem des Erfolgs in der Konkurrenz um Förder­mittel, Stellen und Zitationsquoten beschreiben wollten.

Das Novum und das utopische Moment des Noch-Nicht besteht nun, so meine Deutung, weniger darin, das noch nie Gewesene auszumalen, als dar­in, zur Totalität entfaltete externe Imperative, etwa des Ökonomischen, zu überschreiten und ihre Geltungssphäre zu begrenzen. Der Kern des Utopi­schen besteht darin, die Dominanz der poiesis, des Handeins um tätigkeitsex­tern�r Ziele willen, über die praxis, d. h. das selbstzweckhafte Handeln, zu brechen (ohne dass vorab schon feststünde, was positiv als Selbstzweckhaft zu gelten hat oder gelten darf, was nicht). Insofern ist ein ethisches Gemein­wesen als besondere Gemeinschaft auch partiell, lokal und temporär möglich, im Hier und Jetzt - es "kann mitten in einem politischen gemeinen Wesen und sogar aus allen Gliedern desselben bestehen" (RGV, S. 752/A 122), wenngleich es "immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen" ist. (RGV, S. 754 f./A 125) Es kann in diesem Sinne jederzeit realisiert wer­den, es bedarf dazu nicht notwendig des gewaltsamen politischen Umsturzes aller Verhältnisse, vielmehr ist es in noch zu bestimmender Weise der Um­sturz: "Der siebente Tag, das werden wir selbst sein."42 Wir können das Reich der Zwecke wahrmachen, indem wir uns als Wesen auffassen und handeln, die in symmetrischen und solidarischen Verhältnissen, unter den internen Normen unsere Praxen, leben wollen, indem wir den "aufrechten Gang" einüben oder als ,Pioniere ' neue Formen des Miteinander initiieren, die einfach deshalb noch nicht in Existenz treten, weil niemand beginnt, und damit die Logik externer Zwänge gewissermaßen ins Leere laufen lassen. Wenngleich dies immer dem Risiko des Scheiteros ausgesetzt ist, bildet es wegen der Möglichkeit lokaler und partieller Realisierungen zugleich aber eine Quelle von Hoffnung und ein Modell des Utopischen. Die Realität freier Kooperationen verbürgt die Möglichkeit des Utopischen.

42 Bloch zitiert diesen Satz des Augustmus an verschiedenen Stellen (u. a. in PH 1 954, Bd. II, S . 70 u. 438 ; TU, S. 63; Bloch 1 968b, S. 137) .

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Die Deutung des Reichs der Zwecke als Form des Utopischen scheint da­mit auch das Problem der konkreten Utopie zu lösen, nämlich dass die Utopie einerseits nicht im bloßen "Praktizismus" einer "stufenweisen Verbesserung der Gefängnisbetten" stecken bleiben darf, die echte Zukunft verfehlt, ande­rerseits aber als bloße Fern-Utopie dazu tendiert, die Heutigen im Namen der Künftigen zu instrumentalisieren. Sowohl der Praktizismus als auch der Zug ins Totalitäre werden von Kants Ideal ausgeschlossen. Denn die Utopie des Reichs der Zwecke malt keine fixe Ordnung aus, der die Individuen unter­worfen werden, sondern sie gibt lediglich "die Invarianz der Richtung und ihres allemal kritischen Maßes, also eines utopischen Totums ohne alle le­bensvernichtende, gerade auch Utopie vernichtende Totalität" (AR, S . 1 12) vor, so wie Bloch dies von einer Nah- und Fernziele vermittelnden konkreten Utopie fordert. Sie setzt im Hier und Heute an, etwa bei der Verwirklichung von Menschenrechten, indem die Bedingungen zur Wahrnehmung längst gel­tenden Rechts eingefordert werden, durch Beseitigung offensichtlicher Unge­rechtigkeiten, und sie setzt beim Individuum an: Die Herstellung von Würde beginnt mit der Verweigerung von Unrecht und Entwürdigung, sie beginnt auch mit der Einübung in die Selbstbeschreibung des Menschen als freies Wesen. Sofern freie Kooperationen und damit das Reich der Zwecke reflexi­ve Ordnungen darstellen, gehört ihre Herstellung schon dazu. In diesem Sin­ne ist Utopie kein Fixum, sondern sie lässt sich als Bewegung denken, als Bemühung um symmetrische, herrschaftsfreie und solidarische Beziehungen. Schon darin liegt nicht bloß gedachte Emanzipation, Überschreitung - "Uto­pie in diesem nicht mehr abstraktem Sinn ist derart das gleiche wie realisti­sche Antizipation des Guten" (PH 1 954, Bd. II, S. 1 92).

Mir scheint, dass Bloch und Kant hierin große Nähe aufweisen: Dass wir uns als Teil der intelligiblen Welt und darüber hinaus als Angehörige eines möglichen Reichs der Zwecke betrachten, ist eine entscheidende Vorbedin­gung realer Veränderungen; ohne utopisches Bewusstsein gibt es keine Hoff­nung. In beiden Fällen greift die Struktur der selbsterfüllenden Prophezeiung: Für Wesen, die nicht von Natur auf eine Lebensweise festgelegt sind und nach Vorstellungen handeln müssen, nach einem Bild, dass sie sich von sich und ihrer Welt machen, d. h. die in praktischen Verhältnissen stehen, spielt die Art ihrer Selbstbeschreibungen für das Handeln und damit die mögliche Verän'derung ihrer Beziehungen eine zentrale Rolle. Praxen sind keine not­wendigen Abläufe, sie müssen erst zu Praxen werden, ihre Subjekte müssen sie als ihre Tätigkeit begreifen. Das Reich der Zwecke bedeutet deshalb, un­sere Praxen als Praxen, d. h. als auf gemeinsamen Prinzipien und Vorstellun­gen gegründetes Handeln, und nicht als uns bestimmende Abläufe und Ge­schehnisse anzuerkennen. Jedes Handeln setzt eine Vorstellung von Zweck

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und Ziel voraus oder lässt sich wenigstens unter bestimmten Zwecken be­schreiben. Hoffnungslosigkeit und Resignation, die (Selbst-)Beschreibung des Menschen als unvernünftiges, auf egoistische Neigungen festgelegtes Wesen oder auch die Blickverengung aufs empirisch Nachweisbare, die Überzeu­gung, dass wir den Gegebenheiten ausgeliefert sind oder in der besten aller möglichen Welten schon leben, beschränken den Bereich sinnvoller Zwecke. Denn betrachtet man diese Vorstellungen als adäquat, dann ist die V erände­rung sozialer Beziehungen durch das Subjekt, etwa mit dem Ziel freier Ko­operation als deren allgemeiner Form, per se kein vernünftiger Zweck, womit der Mechanismus der selbsterfüllenden, eigentlich: der selbstzerstörenden Prophezeiung in Gang gesetzt ist. Hoffnung und Resignation stehen daher in einem asymmetrischen Verhältnis : Ob Hoffnung verwirklicht werden kann, ist ungewiss, denn sie legt darauf fest, "auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe" (RGV, S. 757/A 129). Ergeben wir uns dagegen der Resignation, dann ist das Reich der Zwecke verstellt.

Ist das nicht plattester (Zweck-)Optimismus und "idealistischer'' Über­schw;ang? Genügt nicht der Verweis auf die Verhältnisse, die Mechanismen der gesellschaftlichen Reproduktion und deren Zwänge, um diesen Optimis­mus zu widerlegen? So richtig der Hinweis darauf ist, so wenig sticht er. Denn Menschen sind durch die Bedingungen ihres Lebens nicht auf be­stimmte Vorstellungen und Handlungsweisen festgelegt, sie können und müssen sich sowohl zu diesen Bedingungen als auch zu sich selbst denkend und handelnd ins Verhältnis setzen. Daher ist nicht nur die Affirmation, son­dern auch Gleichgültigkeit oder Resignation eine Form der Stellungnahme und dann auch der Selbstbindung an gegebene Verhältnisse. Es gibt keine bloß äußeren Zwänge, sie haben notwendig einen Ankerpunkt im Subjekt -keine äußere ohne innere Obligation (MS, S. 549 f./A 64). Dies gilt insbe­sondere unter der Bedingung, dass die Erfüllung von Elementarbedürfnissen in modernen Gesellschaften aufgrund entwickelter Produktivkräfte in den Hintergrund rückt. Vermeintliche Zwänge und Notwendigkeiten gibt es aus dieser Sicht nur relativ zu bestimmten Interessen, Bewertungen und Über­zeugungen, die aus der Sicht derer, die unter ihnen leben, freilich alternativ­los erscheinen können, es aber grundsätzlich nicht sind.

Vor diesem Hintergrund wird einsichtig, warum Bloch im utopischen Bewusstsein und der Hoffnung ein Erkenntnismittel sieht: "Es gibt keinen Realismus, der einer wäre, wenn er von diesem stärksten Element in der Wirk­lichkeit, als einer unfertigen, abstrahiert" (PH 1 954, Bd. II, S. 1 93), und dies hängt mit der Struktur selbsterfüllender Prophezeiungen zusammen. Ein vollständiger Mangel an utopischem Bewusstsein ist verdinglichtes �ewusst-

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sein. Er verhindert, die Rolle der Akteure für den Bestand und die Verände­rung der Formen des Sozialen zu sehen, so als seien diese eine von den Sub­jekten unabhängige Seinssphäre, auf die es allenfalls prognostischen, aber keinen handelnden Zugriff gäbe. Insofern ist der Mangel an Utopie eine Form der Entfremdung, und umgekehrt sind utopische� Bewusstsein und Hoffnung ein erster Schritt zu deren Überwindung, sie erhellen das "Dunkel des gelebten Augenblicks". Denn im Lichte der Utopie erscheinen die Zwän­ge, die uns bedrücken, als das, was sie sind: selbstauferlegt. Utopisches Be­wusstsein ist daher das Bewusstsein der Freiheit: Die Welt kann von vernünf­tigen Wesen verändert werden, der Gang der Geschichte und die Form der Verhältnisse sind keine Notwendigkeiten jenseits menschlicher Einflussmög­lichkeiten. Das utopische Bewusstsein verflüssigt Verhältnisse und Praktiken, indem es Alternativen entwirft und uns damit zur Stellungnahme nötigt: Man kann sich bspw. fragen, ob bestimmte Formen der Verteilung von Verfü­gungsgewalt (bzw. Eigentum) oder der Arbeitsteilung tatsächlich als frei und gemeinsam gewählte denkbar sind. In diesem Sinne haben auch der Katego­rische Imperativ und das nach ihm gebildete Ideal der Vernunft Erkenntnis­funktion: Wo er Selbstverleugnung fordert, wo man sich nicht als Glied eines Reiches der Zwecke begreifen kann, da sind die Verhältnisse unmoralisch. Im Lichte der Utopie können wir daher erkennen, was das Wesentliche an unseren Praxen ist, was sie als Praxen unter selbstauferlegten Gesetzen von bloßen Abläufen i. S . objektiver Prozesse unterscheidet. In diesem Sinne kann eine Utopie gar nicht genügend Distanz zu den Formen der kritisierten Wirklichkeit halten. Sie muss als Utopie radikal sein, indem sie alternative Selbstbeschreibungen jenseits des homo oeconomicus ermöglicht, etwa als homo communis oder homo culturalis. Sie macht damit den "objektiven Schein" transparent und relativiert Zwänge auf selbstauferlegte Zwänge der Verfolgung bestimmter Interessen.

Damit erscheint auch die folgende Differenz zwischen Kant und Bloch nicht unüberbrückbar: Bloch kritisiert sowohl an Sozial- als auch an Rechts­utopien einen grundsätzlichen Mangel an ökonomischer Analyse, die erst Marx geleistet habe. So denke sich Kant die notwendigen Veränderungen v. a. als Haltungsänderung, als "Revolution der Denkungsart", und das sei nicht genug. Vielmehr müsse die gesamte Produktionsweise umgewälzt wer­den, in:sbesondere sei das Privateigentum an Produktionsmitteln zu beseitigen und letztlich die Warenform selbst. Denn es sind die von der Warenform ge­prägten Lebensbedingungen, die bestimmte Bewusstseinsformen und Haltun­gen systematisch reproduzieren und deshalb die Kantsche Moralauffassung als unerfüllbaren Rigorismus erscheinen lassen. Man könnte umgekehrt aber auch sagen, dass die Forderungen der Moral anspruchsvoll und keinesfalls

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billig zu erfüllen sind: Ihre Erfüllung impliziert gerade die von Bloch einge­forderte Formveränderung des Sozialen, und diese ist ohne überschreitende Antizipation und "militanten Optimismus" nicht möglich. Bloch hat darin recht, dass Haltungsänderungen ohne Änderungen der grundlegenden Praxen und ihrer Institutionen nicht auf Dauer gestellt werden können, und das wür­de auch Kant nicht bestreiten. Aber ohne Selbstveränderung beginnt auch keine Weltveränderung i. S. eines Novum, und das bestreitet wiederum Bloch nicht: Die Zukunft kommt auf uns zu, wenn wir uns auf sie hin bewegen. Kant lässt uns dabei nicht aus den Augen verlieren, dass der letzte Grund allen Sollens unser Wollen ist. Deshalb bekommen wir am Ende, soweit es von unserem Tun abhängt, auch die Welt, die wir verdienen: Wir müssen uns als glückswürdig erweisen, sonst bleibt uns das höchste Gut verwehrt.

Dabei erkennen sowohl Kant als auch Bloch die Möglichkeit reiner Nega­tivität ohne dialektische Aufhebung an. Geschichtsdeterminismus ist beiden fremd, es gibt tote Äste der Geschichte. Die Kreuzigung ist zwar Bedingung der Auferstehung, aber sie endet nicht notwendig in einem Osterfest.43 Die Saat kann zertreten, Hoffnung kann enttäuscht werden. In diesem Bewusst­sein unterscheidet sie sich von Optimismus und gläubiger Zuversicht. Der Prozess, in dem die Welt steht, ist noch nichtgewonnen, er ist aber auch noch nicht verloren44 - und die Hoffnung darauf hat ihren Grund in der Einsicht, dass es die Menschen selbst sind, die ihre Geschichte machen, dass die Ver­hältnisse Menschenwerk sind. Hierin liegt nun auch eine Historisierung des Wesens des Menschen, welches sich erst auf Gattungsebene entfaltet und daher nicht fertig vorliegt, sondern erst herausprozessiert werden muss.45 Damit kann auch einem Argument, welches gegen jeden Versuch einer Ver­änderung der Verhältnisse hin zu einer humaneren Ordnung standardmäßig vorgebracht wird, begegnet werden: Die Natur des Menschen sei . festgelegt, und das lasse jede Utopie hinfällig werden. Kant erledigt dieses Argument präzise: Die sogenannten Realisten meinen, "man muß [ . . . ] die Menschen nehmen wie sie sind, nicht wie der Welt unkundige Pedanten oder gutmütige Phantasten träumen, daß sie sein sollten. Das wie sie sind aber sollte heißen: wozu wir sie durch ungerechten Zwang [ . . . ] gemacht haben" (SF, S . 3 52/A 1 34).

Zwar spricht Kant aufgrund der Bedürftigkeit des Menschen vom "radikal Bösen" (RGV, S. 655/A 3), aber dies fällt nicht zusammen mit Bosheit oder reiner Negativität. Kants radikal Böses ist das rationale Böse des Egoismus ­es verhindert die Heiligkeit des Menschen, aber nicht seine Moralfähigkeit

43 Vgl. Bloch 1 995, S. 21 f. 44 Vgl. AR, S . 1 1 3 f.

45 Vgl. laG; vgl. PH 1 954, Bd. I, Kap. 1 9 über Marx' Feuerbachthesen.

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Dennoch bleibt dies ein starkes Argument gegen die Möglichkeit eines Reichs der Zwecke, und Bloch hat hierin Recht gegen Kant: Entweder bleibt das Reich der Zwecke bloßes Sollen, weil Pflicht und Neigung in Dauerop­position stehen, oder es ist möglich, die Bedürftigkeit des Einzelnen so zu wenden, dass sie nicht zwangsläufig asozial i . S. eines rationalen Egoismus bleibt und aufgrund der Warenförmigkeit, d. h. der Vermittlung der Bedürf­nisbefriedigung über Verwertungsprozesse und dem damit systematisch pro­duzierten "Erwerbstrieb", in Konkurrenz zu der anderer steht. Bloch bejaht diese Möglichkeit. Sie hängt negativ von der Struktur der Gesellschaft ab, insbesondere der Organisation ihrer materiellen Reproduktion, deren kapita­listische Form tendenziell alles und jeden zum bloßen Mittel der Kapitalver­wertung macht und damit dem Reich der Zwecke diametral entgegensteht, positiv von der Entwicklung vernünftiger menschlicher Bedürfnisse, d. h. der Ausbildung und Kultivierung selbstbewusster Bedürfnisse, durchaus auch i. S. einer Überwindung des Konsumismus der "hüpfenden Beliebigkeit" (Bloch) . Entsprechend werden Bedürfnisse als kulturell produzierte aufge­fasst und rücken damit selbst in den Bereich vernünftigen Handelns .46 Inso­fern das "radikal Böse" der Bedürftigkeit bei Kant v. a. darin besteht, dass diese als natürliche, kontingente Quelle von Neigungen keinem vernünftigem Prinzip folgt, kann dieser Konzeption der unvernünftigen Bedürfnisse eine der kultivierten entgegengesetzt werden.47

46 Die Möglichkeit eines harmonisch ausgebildeten Ganzen von Vernunft und Sinnlich­keit vertritt in Anschluss an Kant Schiller in Anmut und Würde; ähnlich findet man bei Marx, etwa in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten, Überlegungen zur Ent­wicklung menschlicher Genussfahigkeit und ästhetischer Produktion; zum Zusammen­hang von Bedürfnisstruktur, Charakter und Produktionsweise s. auch E. Fromms Ha­ben oder Sein.

47 Die Idee dass wir unseren Neigungen nicht einfach ausgesetzt sind oder sie bestenfalls zügeln kÖnnen, sondern dass sie durch Einübung in bestimmte Verhaltensweisen �lti­vierbar sind, arbeitet schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik heraus. Kant sieht dies ganz ähnlich, etwa schätzt er die Selbsterziehung zu einem freundlichen Charakter, der sich Moralität zur zweiten Natur gemacht hat und sich nicht dazu überwinden muss, im "Triebfederukapitel" der Kritik der praktischen Vernunft verweist er darauf, dass wir am anderen dessen Fähigkeiten als Indikator seiner Selbstkultivierung nicht nur schätzen, sondern darin immer auch seine moralische Natur achten; in der Anthro­pologie betont er die Rolle der Erziehung, und er benennt in Die Metaphysik der Sitten (S . 530 ff.) "ästhetische Vorbegriffe" fiir moralische Empfänglichkeit. Verdeckt wird das dadurch, dass Kant ein anderes systematisches Interesse verfolgt, n�lich den Be­griff einer autonomen Moral. (V gl. dazu auch Höffe 2006. Zur Frage der Uberwindung des Dualismus Natur-Vernunft und seiner naturphilosophischeil Implikationen sowie ZUll1 Begriff einer "sittlichen Natur" s . auch Riedel 1 967 .)

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Die Utopie des Reichs der Zwecke kann an diese Plastizität der Wünsche und Bedürfnisse anknüpfen. Sie erfordert keinen "neuen Menschen", sondern unterstellt, dass sich Bedürfnisse und Interessen mit ihren Bedingungen ver­ändern können. Der Standpunkt des homo oeconomicus ist daher nicht der einzig mögliche, um die Idee und Institutionen eines Reichs der Zwecke zu beurteilen. Vielmehr ist dieser Standpunkt inadäquat, denn er stellt das Reich der Zwecke unter bloß instrumentellem Interesse vor. Die Kritik an der Uto­pie ist dogmatisch, sofern und weil sie eine historische Gestalt oder Bewusst­seinsform zum einzig möglichen Standpunkt der Bewertung hypostasiert. Womöglich wird ein Analphabet ein Buch zum Feuermachen brauchen, aber das spricht nicht dagegen, dass er lesen lernen kann, und erst recht nicht spricht es gegen den Buchdruck, dessen Sinn sich eben erst unter Vorausset­zung einer Schriftkultur und der ihr entsprechenden Fähigkeiten und Bedürf­nisse erschließt. Die Utopie kann nur vom Standpunkt ihrer Verwirklichung adäquat bewertet werden, d. h. im Falle des Reichs der Zwecke vom Stand­punkt der moralischen Gemeinschaft und der ihr eigenen, von ihren Angehö­rigen geteilten Vorstellung einer guten und vernünftigen Ordnung. Von ei­nem ,externen Standpunkt muss sie absurd und unrealistisch erscheinen. Der Sinn und die Möglichkeit einer solchen Ordnung erschließt sich nicht unter den Klugheitsgesichtspunkten des rationalen Egoisten. Aus der Sicht unfrei­er, extern motivierter Kooperationen erscheint die freie Kooperation als bloß utopisch, allenfalls als Gelegenheit, die auszunutzen klug ist. Aus Sicht der Utopie erscheint sie als selbstverständliche Form vernünftigen Miteinan­ders .48 Insofern Selbstbeschreibungen, auch die als rationaler Egoist, zur Selbsterfüllung tendieren, spricht das Erziehungsprogramm der Staatsutopien ein reales Problem utopischen Denkens an, aber unter der falschen Prämisse, dass Erziehung in der Konditionierung auf die "richtigen Regeln", auf Anso­zialisierung und Internalisierung vernünftiger Orientierungen bestünde. Da­gegen setzt Kant die Einsicht, dass jede Bindung an Normen letztlich auf freies Urteilen und Selbstbindung zurückgeht. Bloch schließt daran an, wenn er Philosophie wesentlich als ein Projekt der systematischen Erkundung von Alternativen und des Auslotens selbst von phantastischen Möglichkeiten auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit versteht, denn sie ebnet damit das

48 Dass diese Form des Miteinander am Ende auch unter instrumentellen Aspekten über­legen ist, zeigt die Blüte und die ökonomische Macht der christlichen Klöster in bene­diktinischer Tradition mit Gleichheit, Brüderlichkeit, Eigentumslosigkeit resp. Gemein­eigentum ("Alles sei allen gemeinsam"), unbedingter Sorge um jeden Einzelnen und Selbstbindung ihrer Angehörigen an die klösterliche Gemeinschaft.

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Terrain der freien Beurteilung verschiedener Möglichkeiten sozialer Ord­nung.49

5 . Moralische und utopische Motivation

In diesem Zusammenhang ist noch auf eine Konsequenz einzugehen, die sich aus der Reich-der-Zwecke-Formel in ihrer utopischen Deutung für das noto­rische Problem der moralischen Motivation bei Kant ergibt. 5° Mit der Reich­der-Zwecke-Formel spricht Kant eine sonst kaum beachtete Dimension mo­ralischer Motivation an, die mit der "Achtung fürs Gesetz" (GMS, A 400) insofern verwandt ist, als sie ein von der Vernunft hervorgebrachter Affekt, aber nicht mit dieser identisch ist. Was ich tue, ist relevant mit Blick auf die Realisierung einer besseren Ordnung, obwohl ich nicht darauf rechnen kann, diese durch mein Handeln hervorzubringen, und folglich auch nicht darauf, daraus Vorteile zu ziehen. Ich kann nur hoffen, dass mein Handeln in Ge-

49 Neben der Frage der Möglichkeit eines Reichs der Zwecke wäre auch über seine Not­wendigkeit zu sprechen, weil eine sinnvolle Sozialordnung notwendige Bedingung fiir ein sinnvolles und harmonisches Verhältnis zur Natur darstellt. Bloch sieht das sehr deutlich, und das Reich der Zwecke bietet auch hier Ansatzpunkte: Die Natur nicht als "Feindesland" (Bloch) anzusehen bedeutet, die Dinge der Natur nach ihrem eigenen Maß und Zweck gelten zu lassen, nicht nur als verwertbare Ressource. Die Notwendig­keit utopischen Überschreitens fiirs Überleben liegt �sehen auf der Hand, denn die Fortsetzung und Verallgemeinerung unserer Lebensweise vernichtet die natürlichen Grundlagen humaner Zukunft. Dies macht das Dringende utopischen Denkens deutlich: Es kann so nicht weitergehen, aber der notwendige Umbau betrifft zuerst unsere Le­bensweise und die Formen des Sozialen, und dies stellt uns vor die Frage, ob wir rich­tig leben und wie wir zusarumenleben wollen. Hier fallen objektive mit subjektiven Imperativen zusarumen, denn die Bewahrung der Lebensgrundlagen, die Vermittlung mit der Natur, wird ohne gerechtere Ordnung und eine Neubestimmung dessen, was als Reichtum gelten kann, nicht gelingen können (vgl. dazu auch PH 1 954, Bd. Il, S. 194).

Das Argument, der utopische Mensch entzöge unserer Wirtschaftsweise den Boden, weil diese ohne "Wachstum" zusarumenbräche, ist unsinnig, denn offenkundig fUhrt

gerade eine Produktionsweise, die auf unbegrenztem Wachstum und extensiver Aus­beutung aller verfügbaren Ressourcen beruht, unvermeidlich zum Zusarumenbruch.

50 Vgl. zur Kritik etwa Schopenhauers Einwand, dass der Begriff eines objektiven Zwecks und damit auch nicht auf vorgängige Neigungen bezogene Handlungsmotive unverständlich seien, der auf Humes Konzeption der instrumentellen Vernunft zurück­geht: Die Vernunft selbst vermag nicht zu motivieren, der Glaube an eine Motivation durch (reine praktische) Vernunft beruhe auf ihrer Verwechslung mit "ruhigen Affek­ten". Neuere Vertreter dieser Position sind Williams, Tugendhat und sämtliche natura­listischen Motivationstheorien, Gegenpositionen vertreten bspw. Nagel und Korsgaard.

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meinschaft mit anderen etwas bewirkt. Insofern handelt es sich nicht um neigungsbasierte Motive der "Selbstliebe", denn sie richten sich darauf, ei­nem nach einer Vernunftidee gebildeten Gegenstand zur Realität zu verhel­fen. Die Möglichkeit des Scheiteros besteht dabei immer, aber sie wird p1r Gewissheit, wenn man selbst nicht unter den Imperativen eines möglichen Reichs der Zwecke handelt. Gerade wegen dieser Asymmetrie ist es nicht sinnlos oder gleichgültig, als Glied eines möglichen Reichs der Zwecke zu handeln: Man kann es zwar nicht bewirken, aber versperren, wie man sich am Modell der freien Kooperation leicht deutlich macht. Insofern beginnt Weltveränderung mit Selbstveränderung. Neben der Achtung fürs Gesetz scheint daher die Möglichkeit einer ins Diesseits gerichteten, vernünftigen utopischen Motivation auf, die Bloch Hoffuung nennt. Umgekehrt liegt es damit nahe, die Hoffuung, sofern sie über den privaten Tagtraum hinaus auf Weltverbesserung zielt, als moralischen Affekt zu deuten. Denn sofern sie nicht von "gefiillten Wünschen", d. h. von instrumentellen Praktiken her verständlich zu machen ist, geht sie von einer moralischen Idee der reinen praktischen Vernunft aus . Kant hat diese genuin moralische Motivation tat­sächljch selbst ins Auge gefasst, als "Hoffnung besserer Zeiten", und sie ausdrücklich auf die Formen des Zusammenlebens bezogen:

"Bei dem traurigen Anblick, nicht so wohl der Übel, die das menschliche Geschlecht aus Naturursachen drücken, als vielmehr derjenigen, welche die Menschen sich unter einander selbst antun, erheitert sich doch das Gemüt durch die Aussicht, es könne künftig besser werden: und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein, und die Früchte, die wir zum Teil selbst gesäet haben, nicht einernten werden. Empirische Be­weisgründe wider das Gelingen dieser aufHoffiiung genommenen Entschließungen richten hier nichts aus. Denn: daß dasjenige, was bisher noch nicht gelungen ist, darum auch nie gelingen werde, berechtigt nicht einmal, eine pragmatische oder technische Absicht [ . . . ] aufZugeben; noch welliger aber eine moralische, welche, wenn ihre Bewirkung nur nicht demonstrativ-unmöglich ist, Pflicht wird." (TP, S. 1 68/A 277 f.)

An der Hoffnung als utopischer Motivation der Moral wird deutlicher, was es heißt, ein Interesse an Handlungen zu nehmen oder auszubilden, ohne durch ein vorgängiges Interesse getrieben zu sein (GMS, A 449 u. passim), d. h. eine praktische Perspektive einzunehmen und durch praktische Vernunft motiviert zu werden. Kant behauptet nicht, dass moralische Handlungen zwecklose Handlungen sind und die Folgen des Handeins keine Rolle spie­len. Es wäre absurd, bspw. Hilfe zur Pflicht zu erklären, wenn Handlungsfol­gen keine Rolle spielten und nicht absehbar wäre, was man bewirkt. Wovon nach Kant im Falle der moralischen Bewertung von Handlungen, genauer: ihrer Maximen, aber abgesehen werden muss, sind je subjektive Zweckset­zungen, nicht aber objektive Zwecke, die jedes Vernunftwesen als solches

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hat. Denn ohne Zwecke gibt es keine Handlung (MS, S. 5 1 9/A 1 9). Der Ge­gensatz zum gängigen Rumeschen Motivationsmodell besteht nicht darin, dass Kant zweckfreie Handlungen postuliert, sondern dass er meint, Hand­lungen könnten auch in anderer als instrumenteller Weise motiviert sein, nämlich durch die Vernunft. Als Beschränkung der sonst unbeschränkten Verfolgung subjektiver Zwecke, als Rücksichtnahme, wird diese Motivation allerdings nur negativ charakterisiert, nämlich dadurch, dass im Zentrum der Bewertung von Handlungen nicht nur je meine Bedürfnisse und Privatzwec­ke stehen. Die Utopie des Reichs der Zwecke fiillt diese Lücke: Der gute Wille zeichnet sich positiv dadurch aus, dass er eine Ordnung als möglich vorstellt, welche die Zwecke aller Personen als mögliche Glieder dieser Ord­nung zur Geltung bringt, und für diese Ordnung Partei ergreift. Die positive genuin moralische Motivation ist die utopische Hoffnung.

Dabei darf nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern es muss - und das zu betonen wird Bloch nicht müde: mit Blick auf seine realen, v. a. sozialöko­nomischen Bedingungen - fiir glaubhaft gehalten, d. h. begründet werden können, dass unser Handeln in guter Absicht letztendlich und auf lange Sicht auch gute Folgen haben wird. Würde jede gute Absicht in ihr Gegenteil ver­kehrt, wäre mithin das Ergebnis jeder guten Handlung etwas Schlechtes, dann wäre moralisches Handeln nicht möglich, denn wir wüssten nicht, was es bedeuten könnte, gut zu handeln bzw. guten Willens zu sein. Das bedeutet nicht, dass die unmittelbaren Handlungsfolgen bestimmen, ob eine Handlung oder Absicht gut ist, sondern nur, dass Absicht und Resultat der Handlung nicht grundsätzlich auseinanderfallen können, weil man sonst gar nicht wüss­te, was eine Handlung ist, und folglich auch nicht; was eine gute Handlung ist. Insofern verkörpert die Utopie des Reichs der Zwecke die praktisch not­wendige Idee, dass etwas von unserem Tun abhängt. Sie ist deshalb sinnge­bend. Die Alternative wäre der Nihilismus, nämlich dass gar nichts davon abhängt, was ich tue, dass mein Tun, die Art und Weise meiner Lebensfiih­rung ohne jede mein gegenwärtiges Befinden und meine Existenz überschrei­tende Bedeutung ist. Der Tod wäre am Ende so gut wie das Leben.

Bloch nennt den Tod, den Abbruch der Verfolgung aller individuellen Zweckreihen, die stärkste Anti-Utopie.51 Dagegen ist kein Kraut gewachsen, der Nihilismus scheint daher unvermeidlich. Deshalb meint Bloch, dass die Utopie ein Moment der Überwindung des Todes als Ende jeder Zweckset­zung und Zweckverfolgung enthalten muss. Die Utopie des Reichs der Zwecke kann dies wenigstens grundsätzlich leisten und daher auch mit Blick auf den Tod als Gegenstand von Hoffnung gelten. Denn der Begriffder indi-

5 1 Vgl. PH 1 954, Bd. III, Kap. 52.

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viduellen Zweckreihe ist doppeldeutig. Zum einen benennt er eine Reihe individueller, privater Zwecke, 'und diese endet mit dem Tod. Zum anderen kann er sich aber auf eine Reihe zwar individuell verfolgter, aber dennoch überindividueller, transsubjektiver Zwecke beziehen, die in gemeinsamen Praxen der freien Kooperation, d. h. im Reich der Zwecke, zur Geltung ge­bracht werden und nicht von der personalen Fortexistenz des Individuums abhängen. Ein solcher Zweck ist z. B . das Reich der Zwecke selbst, es gibt eine das Individuum transzendierende Antwort auf die Frage nach dem Wo­zu. Angehörige des Reichs der Zwecke bilden eine Identität aus, die über die zufälligen Neigungen und Zwecke des Selbst hinausgeht und dieses damit überwindet. Kant thematisiert dieses Problem in der Postulatenlehre unter dem Titel der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes als Garanten der Realisierbarkeit eines höchsten Gutes, aber mit der Idee des Reichs der Zwecke kann dies auch innerweltlich thematisiert werden. Letztlich können wir uns als Personen gar nicht anders verständlich werden als unter Bezug auf ein Allgemeines, ein die bloße Aggregation von individuellen Zweckrei­hen überschreitendes Wir der moralischen Gemeinschaft. 52

6 . Kants Formalismus und die anthropologische Grundlegung des

Naturrechts

Ein letztes Wort zur Kritik Blochs an Kants Formalismus, weil diese m.E. Ausdruck eines tieferen Missverständnisses des Status des Kategorischen Im­perativs als Formbestimmung moralisch wertvollen und gelingenden Lebens und damit auch der Form des Utopischen ist.

Bloch konstatiert eine erstaunliche Gleichgültigkeit des Naturrechts ge­genüber seinen materialen Voraussetzungen - gleichgültig, ob man von einer Wolfsnatur oder von · einem sozialen Wesen des Menschen ausgehe, seine Ableitungen liefen wesentlich aufs Gleiche hinaus (PH 1 954, Bd. II, S . 1 00). Das bedeutet, dass das Naturrecht nicht von diesen anthropologischen An­nahmen abhängt. Positiv gewendet heißt es, dass das Naturrecht keine fixe

52 Kant geht diesen Weg nicht, vielmehr expliziert er "Gemeinschaftsbegriffe" vermittels subjektiv realisierter, in ihrem Gehalt aber objektiv bestimmter allgemeiner Vermögen, in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verweist er auf die Freiheit, in der Kritik der praktischen Vernunft auf das Faktum der Vernunft, d. h. auf die Präsenz des Kate­gorischen Imperativ als unhintergehbare Voraussetzung jedes praktischen Weltverhält­nisses. Solche Vermögen verweisen letztlich auf Begriffe von Kooperation und Ge­meinschaft. (V gl. dazu Kannetzky 2005 und 2007)

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Die Utopie des Reichs der Zwecke

Natur. des Menschen i. S. inhaltlicher Bestimmungen unterstellt, etwa derart, dass der Mensch von Natur gut oder böse sei. Was dagegen unterstellt wird, sind formale Bestimmungen wie Freiheit und Vernunftvermögen oder wenig­stens elementare Rationalität, wobei dies zunächst nicht mehr meint, als dass menschliches V erhalten nicht naturgesetzlich, etwa instinkthaft, festgelegt ist, sondern dass Menschen sich nicht nur zu den äußeren Gegenständen als möglichen Zwecken, sondern auch zum eigenen Begehren und Verhalten ins Verhältnis setzen können und müssen.53 (Herder nennt diese Distanz Beson­nenheit, Kant Vernunft, Gehlen Weltoffenheit, Plessner spricht von der ex­zentrischen Positionsform des Menschen). Vernunft in diesem Sinne hat keine Grade: Entweder ein Wesen ist fähig zu dieser Art Distanz, zur Bewertung, Stellungnahme und Urteilsbildung, oder es ist es nicht. Sie benennt daher eine Kategorie, die den Bereich des Praktischen definiert, und nicht etwa eine kontingente Eigenschaft von Individuen wie den Besitz von Hufen oder Reißzähnen.

Wie die konkreten Stellungnahmen ausfallen, unterliegt verschiedenen Einflussgrößen, bspw. soziologischen und ideologischen. Aber auch zu die­sen können sich Menschen verhalten, der Prozess ist offen. Der Mensch ist daher ein Möglichkeitswesen -'- er muss mit Möglichkeiten umgehen und bringt neue hervor und verändert sich dabei. Aus diesem Grund muss es immer auch ein Sollen geben, denn dieses ist die Form endlicher Vernunft­wesen, mit Möglichkeiten umzugehen. Möglichkeiten gibt es nur im Plural, eine ist keine. Dann aber stellt sich die Frage: Welche Möglichkeit soll man ergreifen? Diese Frage käme erst zum Stillstand, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft wären, mithin am Ende der Geschichte. Die Kritik an der Form des Sollens, wie sie, im Anschluss an Regel, auch Bloch übt, hieße demnach zu fordern, die Geschichte solle an ein Ende kommen, der Mensch solle kein Möglichkeitswesen, also kein Mensch mehr sein.

Der wesentliche Punkt daran ist: Vernunft im genannten Sinne ist kein in­haltlicher Begriff, der besondere Merkmale des Menschen benennt, sondern eine Formbedingung dessen, was im Unterschied zum Tier überhaupt als Mensch gelten kann.54 Kant macht den formalen Charakter dieser Bestim-

53 Erst damit gibt es überhaupt einen Begriff des Praktischen, den Kant ausbuchstabiert als Vermögen, nach und aufgrund der Vorstellung eines Gesetzes handeln zu können (vgl. etwa GMS, A 4 1 2 u. 427; KpV, S. 1 7 1/A 96). Der Kontrast dazu ist neigungsba­siertes Handeln, welches zwar Regelm!ißigkeiten aufweist, aber nicht nach und auf­grund von Regeln vollzogen wird und dem deshalb die normativen Dimension fehlt, die dem Begriff des Praktischen eingeschrieben ist.

54 Deshalb ist es nach Kant auch vergeblich, menschliche Individuen zum Besseren er­ziehen zu wollen, um die Welt zu verbessern. Was dagegen sinnvoll erstrebt werden kann (und von Vernunftwesen erstrebt werden muss), ist es, die gesellschaftliche Ord-

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mungen nur explizit, wenn er jede "empirische Beimischung" zu tilgen sucht und "Reinheit" der Grundsätze einfordert. Der Witz an Kants Kategorischem Imperativ ist nun, dass er diese Formbestimmung des Menschen (in Kants Terminologie: die Menschheit) zum wesentlichen Inhalt der Moral macht: Er läuft auf die Wahrung der Freiheit als Grund menschlicher Würde hinaus. 55 Weil Menschen immer neue Möglichkeiten hervorbringen, sind diese jedes Mal neu zu bewerten, weshalb kein vollkommener Idealzustand des erfüllten Lebens ausgemalt werden kann. Die Orientierung an einem solchen wäre ebenso heteronom wie die an empirischen Neigungen. Stattdessen nennt Kant mit dem Kategorischen Imperativ ein Prinzip, nach dem beurteilt werden kann, ob eine konkrete Handlung bzw. deren Maxime, und dann auch, ob eine Ordnung und ihr Prinzip, dem Menschen gemäß sind, d. h . : ob sie die Form des Menschlichen nicht verfehlen (die, um Missverständnisse zu ver­meiden, kein kontingentes Strebensziel, sondern Voraussetzung menschli­chen Strebens überhaupt ist) .

Bloch deutet diese Reinheit als bloßen Formalismus mit Beliebigkeit der Gehalte, und schließt sich der Kritik Hegels an: Zwar gehöre es zum Wesen des figentums, nicht herrenlos zu sein - aber welcher Widerspruch läge darin, dass es kein Eigentum gäbe?56 Darüber ließe sich sicher streiten. Mit Blick auf den zentralen Gehalt der Karrtsehen Moralphilosophie, die Siche­rung der Autonomie vernünftiger Subjekte, zieht das Argument aber nicht, weil die Frage, welcher Widerspruch darin läge, dass es keine vernünftigen Subjekte gäbe, unsinnig bzw. ein performativer Widerspruch ist, wenn man sie vernünftigen Subjekten stellt. Denn die eigene Nichtexistenz ist fiir ver­nünftige Wesen schlechthin nicht vorstellbar (im Unterschied bspw. zur Nicht-Existenz von Einhörnern), weil jede Vorstellung jemandes Vorstellung sein muss. Dieses Postulat, also die praktische Realität vernünftiger Subjekte, muss auch Bloch unterstellen, wenn Tagträume über das Gegebene hinaus­greifen sollen, denn der Tagträumer wäre kein Tagträumer, wenn er sich die bessere Welt ohne sich und seinesgleichen vorstellte.

Vor diesem Hintergrund ließe sich nun auch der Widerspruch lösen, dass Bloch einerseits eine ahistorische Natur des Menschen verneint, andererseits

nung so einzurichten, dass die Imperfektion des Menschen keinen Schaden mehr an­richten und seine Bedürftrisse kultiviert werden können. Fortschritt zum Besseren gibt es auf der Ebene der Gattung, nicht auf der Ebene des Individuums. (vgl. laG sowie SF, S. 357/A 143).

55 Diese markiert hier eine ontische Differenz, nämlich zum unvernünftigen, naturgesetz­lieh determinierten Reich der Natur. Nur als Teil des "mundus intelligibilis" kann der Mensch Angehöriger eines Reichs der Zwecke sein.

56 Vgl. NmW, S. 85 ; s. GPR, § 135 ("[ . . . ] ein Widerspruch kann sich nur mit etwas erge­ben, das ist, mit einem Inhalt, der als festes Prinzip zum voraus zugrunde liegt.")

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aber darauf besteht, dass der Mensch ein utopisches Wesen sei mit Intention auf Freiheit als Konstante. Gegeben eine Form des Humanum, kann dies als Intention auf Verwirklichung seiner Form als Grundlage aller anderen Wün­sche und Zwecksetzungen, mithin als Intention auf die Entfaltung menschli­cher Fülle begriffen werden. Das wäre ein der Geschichte immanentes Ulti­mum, nicht ihre eschatologische Grenze .

Der vermeintlich leere Formalismus Kants erweist sich damit am Ende sogar als geeignet, die fatale Leerstelle an konkreter Utopie zu füllen, die im Werk Blochs klafft. Denn malt man das Utopikum nicht als Idealzustand, sondern bestimmt seine Form, dann kann man diese Form als unzeitliehe jederzeit kritisch gegen das Hier und Jetzt wenden und bspw. institutionelle Änderungen in Angriff nehmen, die tatsächlich Weltverbesserungen darstel­len. Mir scheint, dass die hegelianisch inspirierte Kritik Blochs an Kants Moralauffassung gerade diese äußere Seite übersieht, d. h. die Bewertung konkreter Institutionen in einem historischen Horizont. Das wäre gewisser­maßen die äußere, politische Seite der Utopie Kants, ihre Konkretion durch (rechtliche) Positivierung an der Front des Geschichtsprozesses ohne Verstoß gegen das Bilderverbot

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Volker Caysa

Kann man Hoffnung lernen? Zum Verhältnis von Hoffnung

und Lebenskunst in der Philosophie Ernst Blochs

Was ist überhaupt Hoffuung? Was verstehen wir unter Hoffnung?

Hoffuung ist die Er-Innerung im Sinne des Eingedenkens des Zukünftigen. Diese positive Form der Erinnerung des Zukünftigen ist mit dem Erwarten des möglichen Guten verbunden. 1 Hoffnung beruht auf der Gewissheit, dass es im "Wurzeldunkel des gelebten Augenblicks" ein zukünftiges "urgutes Sein" gibt.2 Aber ob das mögliche Ur-Gute, das Heilende, das Heilbringende verwirklicht wird, ist immer in gewissem Grade ungewiss. Diese Ungewiss­heit kann sich über den Zweifel bis hin zur Angst ins Unerträgliche und Un­aushaltbare steigern, was Menschen dazu verfUhren kann, fiir ihren Wunsch nach Sicherheit selbst die eigene Freiheit aufzugeben und, statt sich selbst zu bestimmen, sich von anderen fremd bestimmen zu lassen.

Das Mögliche ist Bedingung der Hoffnung; Hoffen gründet sich in der Of­fenheit des Möglichen. Mit der Offenheit des Möglichen ist die Erwartung zukünftiger Möglichkeiten verbunden: "Was erwarten wir? Was erwartet uns?"3 In der Hoffnung der positiven Utopie wird das in der Erwartung Er­wartete als positiv bewertete Möglichkeit bestimmt, als gute Möglichkeit und Möglichkeit des Guten, die fiir Bloch im Spannungsfeld von Ereignis und Plan erzeugbar ist. Aber nicht jede Erwartung von zukünftigem Guten macht schon Hoffuung, sondern nur ein solche, die auch Erfiillung verspricht, die ein Telos hat:

"Hoffnung erwacht im Menschen nur dann, wenn irgendein zukünftiges Gut in den Bereich der Möglichkeit, es zu erlangen, tritt. Weil aber Möglichkeit noch lange nicht Wirklichkeit besagt und Möglichkeit eben die Unentschiedenheit zwischen Erreichen und Verfehlen eines Zielgutes meint, gehört zur Hoffnung wesentlich der Unsicherheitsfaktor. "4

Bloch versucht über den Begriff des Eingedenkens den positiven Gehalt der Regel­sehen Anamnesis zu retten. Dabei überzieht er polemisch. Zur Kritik der Blochsehen Kritik am Anamnesisbegriffvgl. : Caysa 1 992.

2 PH, S . 347. 3 Ebd., S . 1 . 4 Vgl. Edmaier 1 968, S . 1 44.

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