Glossar - BELTZ · 2015. 2. 26. · ein Verstndnis von Straftaten und fr ihre Prvention sind auch...

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Glossar A AggressivitȨt (aggressivity). Disposition zu aggressivem Verhalten gegen Menschen oder Sachen (Vandalismus). Die individuellen AusprȨgungsunterschiede sind von der Kindheit bis ins frɒhe Erwachsenenalter als relativ stabil nachgewiesen, besonders beim mȨnnlichen Ge- schlecht. Aggressionen kçnnen sehr viele Formen ha- ben, z. B. physische Gewaltanwendung (hȨufiger bei Jungen), Beleidigungen, Einschɒchterung, Ausschluss aus der sozialen Gruppe. Die Motivation aggressiven Verhaltens reicht von der Durchsetzung von Interessen ɒber die Verteidigung von Ansprɒchen bis zur Vergel- tung erlebter Ungerechtigkeiten und Verletzungen. Ag- gressivitȨt entwickelt sich als Reaktion auf selbst erlit- tene Aggression und Feindseligkeit. In den Õ Settings Schule und Berufswelt wird heute Õ Mobbing als Son- derform der AggressivitȨt diskutiert. Akkommodation. Siehe Assimilation – Akkommoda- tion. Akkulturation (acculturation). Wandel ursprɒnglicher kultureller, durch Õ Enkulturation entstandener Ent- wicklungsmuster infolge dauerhafter Kontakte mit neuen kulturellen Gruppen. Akkulturation kann als sekundȨre Enkulturation verstanden werden. Antisoziales Verhalten. Siehe prosoziales – antisoziales Verhalten. Assimilation – Akkommodation (assimilation – accom- modation). Das Begriffspaar wurde von Piaget einge- fɒhrt, um die Entwicklung menschlicher Erkenntnis und Informationsverarbeitung zu erklȨren. Assimilation ist die Integration von Neuem in bestehende mentale (und Handlungs-)Strukturen, Akkommodation die Anpas- sung bestehender mentaler (und Handlungs-)Strukturen an Umweltanforderungen. Durch das Wechselspiel bei- der Prozesse werden nach Piaget die gesamte mensch- liche Erkenntnis und das mit ihr verbundene Wissen aufgebaut. Assimilation und Akkommodation sind zugleich die basalen Prozesse der mentalen Kons- truktionsleistungen beim Aufbau von Õ Schemata und Õ Strukturen. Das Begriffspaar wird auch zur Beschrei- bung von zwei Formen der Õ BewȨltigung von Ver- lusten im Erwachsenenalter verwendet. Attribution (attribution). Zuschreibung. Personen wer- den Merkmale, Motive, Verantwortlichkeit fɒr Leistun- gen, Misserfolge, Erkrankungen, UnfȨlle und andere ver- lustreiche Ereignisse zugeschrieben. Man spricht auch bei subjektiven ErklȨrungen von Leistungen oder Versagen von Attribution. Leistungen werden z. B. auf Begabung, Anstrengung, Zufall, soziale Unterstɒtzung oder andere Faktoren »attribuiert«. Diese Attributionen haben Fol- gen, z. B. fɒr die Leistungsmotivation oder das Leistungs- selbstbild. Der Attributionsstil bezeichnet die Tendenz von Personen, bestimmte Attributionen anderen vor- zuziehen. Zugeschriebene positive oder negative Merk- male kçnnen in das Selbstbild aufgenommen werden. Aufmerksamkeit (attention). Leistung der Selektion aus Wahrnehmungs- und Vorstellungsakten. Aufmerksam- keit konzentriert, fixiert und fokussiert angesichts der Fɒlle von unentwegt auf den Organismus auftreffenden Reizen und der Menge innerer Vorstellungen und Re- prȨsentationen. Aufmerksamkeit wird durch das auf- steigende retikulȨre Aktivierungs-System (ARAS) ge- steuert, das vor allem den Wachheitsgrad (Vigilanz) bestimmt. Darɒber hinaus sind aber je nach Aufgabe eine Reihe anderer Gehirnzentren beteiligt. B Begabung (talent). Wird als kausale Voraussetzung jedweder Leistung in einer Õ DomȨne, aber auch als Voraussetzung fɒr besondere Leistungen angesehen. Im letzteren Falle spricht man auch von Begabtheit (gifted- ness) oder Talent. Von Hochbegabung wird allgemein dann ausgegangen, wenn in einem Intelligenztest ein IQ-Wert von 130 erreicht oder ɒberschritten wird. Bereichsspezifische Entwicklung (domain-specific deve- lopment). Kennzeichnet den Sachverhalt, dass Entwick- lungs- und Lernfortschritte nicht in allen oder vielen Bereichen, gleichzeitig oder parallel verlaufen, sondern auf einen eng umgrenzten Bereich (Õ DomȨne) be- schrȨnkt bleiben. Dies gilt insbesondere fɒr Hochleistun- gen und Õ Expertise. BewȨltigung (Coping). AktivitȨten des Individuums, Verluste und GefȨhrdungen wichtiger Anliegen oder ei- nes positiven Selbstbildes durch SchicksalsschlȨge, Ver- sagen, Konflikte, unerwartete Barrieren u. a. zu meistern und/oder die dadurch ausgelçsten belastenden Gefɒhle zu dȨmpfen. Assimilative BewȨltigung bedeutet problem- orientiertes Handeln zur Sicherung oder Realisierung der © Schneider • Lindenberger: Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz, 2012

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  • Glossar

    AAggressivitYt (aggressivity). Disposition zu aggressivemVerhalten gegenMenschen oder Sachen (Vandalismus).Die individuellen Ausprogungsunterschiede sind vonder Kindheit bis ins frnhe Erwachsenenalter als relativstabil nachgewiesen, besonders beim monnlichen Ge-schlecht. Aggressionen kçnnen sehr viele Formen ha-ben, z. B. physische Gewaltanwendung (houfiger beiJungen), Beleidigungen, Einschnchterung, Ausschlussaus der sozialen Gruppe. Die Motivation aggressivenVerhaltens reicht von der Durchsetzung von Interessennber die Verteidigung von Ansprnchen bis zur Vergel-tung erlebter Ungerechtigkeiten und Verletzungen. Ag-gressivitot entwickelt sich als Reaktion auf selbst erlit-tene Aggression und Feindseligkeit. In den ! SettingsSchule und Berufswelt wird heute ! Mobbing als Son-derform der Aggressivitot diskutiert.Akkommodation. Siehe Assimilation – Akkommoda-tion.Akkulturation (acculturation). Wandel ursprnnglicherkultureller, durch ! Enkulturation entstandener Ent-wicklungsmuster infolge dauerhafter Kontakte mitneuen kulturellen Gruppen. Akkulturation kann alssekundore Enkulturation verstanden werden.Antisoziales Verhalten. Siehe prosoziales – antisozialesVerhalten.Assimilation – Akkommodation (assimilation – accom-modation). Das Begriffspaar wurde von Piaget einge-fnhrt, um die Entwicklung menschlicher Erkenntnis undInformationsverarbeitung zu erkloren. Assimilation istdie Integration von Neuem in bestehende mentale (undHandlungs-)Strukturen, Akkommodation die Anpas-sung bestehendermentaler (undHandlungs-)Strukturenan Umweltanforderungen. Durch das Wechselspiel bei-der Prozesse werden nach Piaget die gesamte mensch-liche Erkenntnis und das mit ihr verbundene Wissenaufgebaut. Assimilation und Akkommodation sindzugleich die basalen Prozesse der mentalen Kons-truktionsleistungen beim Aufbau von! Schemata und! Strukturen. Das Begriffspaar wird auch zur Beschrei-bung von zwei Formen der ! Bewoltigung von Ver-lusten im Erwachsenenalter verwendet.Attribution (attribution). Zuschreibung. Personen wer-den Merkmale, Motive, Verantwortlichkeit fnr Leistun-

    gen, Misserfolge, Erkrankungen, Unfolle und andere ver-lustreiche Ereignisse zugeschrieben.Man spricht auch beisubjektiven Erklorungen von Leistungen oder Versagenvon Attribution. Leistungen werden z. B. auf Begabung,Anstrengung, Zufall, soziale Unterstntzung oder andereFaktoren »attribuiert«. Diese Attributionen haben Fol-gen, z. B. fnr die Leistungsmotivation oder das Leistungs-selbstbild. Der Attributionsstil bezeichnet die Tendenzvon Personen, bestimmte Attributionen anderen vor-zuziehen. Zugeschriebene positive oder negative Merk-male kçnnen in das Selbstbild aufgenommen werden.Aufmerksamkeit (attention). Leistung der Selektion ausWahrnehmungs- und Vorstellungsakten. Aufmerksam-keit konzentriert, fixiert und fokussiert angesichts derFnlle von unentwegt auf den Organismus auftreffendenReizen und der Menge innerer Vorstellungen und Re-prosentationen. Aufmerksamkeit wird durch das auf-steigende retikulore Aktivierungs-System (ARAS) ge-steuert, das vor allem den Wachheitsgrad (Vigilanz)bestimmt. Darnber hinaus sind aber je nach Aufgabeeine Reihe anderer Gehirnzentren beteiligt.

    BBegabung (talent). Wird als kausale Voraussetzungjedweder Leistung in einer ! Domone, aber auch alsVoraussetzung fnr besondere Leistungen angesehen. Imletzteren Falle spricht man auch von Begabtheit (gifted-ness) oder Talent. Von Hochbegabung wird allgemeindann ausgegangen, wenn in einem Intelligenztest einIQ-Wert von 130 erreicht oder nberschritten wird.Bereichsspezifische Entwicklung (domain-specific deve-lopment). Kennzeichnet den Sachverhalt, dass Entwick-lungs- und Lernfortschritte nicht in allen oder vielenBereichen, gleichzeitig oder parallel verlaufen, sondernauf einen eng umgrenzten Bereich (! Domone) be-schronkt bleiben. Dies gilt insbesondere fnr Hochleistun-gen und! Expertise.BewYltigung (Coping). Aktivitoten des Individuums,Verluste und Gefohrdungen wichtiger Anliegen oder ei-nes positiven Selbstbildes durch Schicksalsschloge, Ver-sagen, Konflikte, unerwartete Barrieren u. a. zu meisternund/oder die dadurch ausgelçsten belastenden Gefnhlezu dompfen.AssimilativeBewoltigung bedeutet problem-orientiertes Handeln zur Sicherung oder Realisierung der

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  • bedrohten Anliegen, akkommodative Bewoltigung dasAufgeben oderAbwerten nicht (mehr) erreichbarer sowiedie positivere Neubewertung erreichbarer Anliegen undZiele (! Assimilation – Akkommodation). Weitere Ein-teilungen unterscheiden zwischen defensiver Bewoltigung(Verleugnen, Verdrongen) und aktiver Bewoltigung (Co-ping) sowie zwischen problemzentriertem Coping (Aus-einandersetzung mit anstehenden Problemen) und emo-tionszentriertem Coping (Versuche der Verminderungbelastender Gefnhle wie Angst, Empçrung, Bitterkeit,Schuldgefnhle, Scham, Eifersucht, Trauer). Das! SOK-Modell thematisiert Bewoltigung als Voraussetzung er-folgreicher Entwicklung.Big Five. Mit ! Faktorenanalysen gefundene Persçn-lichkeitsfaktoren: Neurotizismus, Extraversion, Offen-heit fnr Neues, Vertroglichkeit und Gewissenhaftigkeit.Die ersten drei Faktoren zeigen bei llteren geringereWerte, die letzten beiden hçhere Werte als bei jnngerenGruppen. Die Big Five weisen hohe intraindividuelleStabilitot auf und finden sich in ohnlicher Weise invielen Kulturen.Bindungstheorie (attachment theory). Beschreibt denAufbau der Beziehung zwischen Kleinkind und Bezugs-person als Bindungssystem, das mit dem Erkundungs-system (! Exploration) dergestalt inWechselbeziehungsteht, dass sichere Bindung Erkundungsverhalten anregtund das Kind bei angsteinflçßenden Reizen ins Bin-dungssystem zurnckkehren kann. Bindung baut sicherst gegen Ende des 1. und im Laufe des 2. Lebensjahresauf und scheint eine Universalie zu sein. Als Bindungs-stile werden unterschieden: sicher gebunden (Typ B),unsicher vermeidend (Typ A), unsicher ambivalent(TypC) unddesorganisiert/desorientiert (TypD).DieseBindungsstile bleiben auch spoter in der Entwicklung biszu einem gewissen Grad bestimmend und wirken sichauf die Qualitot des Sozialverhaltens aus.Bullying. Siehe unter Mobbing.

    CCoping. Siehe Bewoltigung.

    DDeliberate Practice. Gezieltes, intensives, hoch konzen-triertes qben, das zur Erzielung von Hochleistungenbençtigt wird. Das Ausmaß korreliert mit dem erreichtenLeistungsniveau, weshalb manche Autoren auf das Kon-zept der! Begabung in Musik, Tanz und Sport verzich-ten zu kçnnen glauben. Dies wore aber voreilig, da nicht

    alle Menschen bei gleichem qbungsaufwand die gleicheLeistung erreichen und die Dunkelziffer der Abbrecherunbekannt ist. Vielmehr scheint es eine Wechselwirkungvon Begabung und Deliberate Practice dergestalt zu ge-ben, dass der relativ rasch erzielbare Fortschritt zu wei-terer, noch intensiverer qbung motiviert.Delinquenz (delinquency). Straffolliges Verhalten. EineStraftat liegt vor, wenn eine Tat oder eine Unterlassungeinem rechtlich definierten Straftatbestand entsprechenund dem Toter die Verantwortung fnr die Tat zuge-schrieben wird. Erklort werden Straftaten mit persona-len und situationalen Bedingungen. Erstere resultierenauch aus der Entwicklungsgeschichte einer Person. Fnrein Verstondnis von Straftaten und fnr ihre Proventionsind auch ihre Motive zu erkunden, die sehr unter-schiedlich sein kçnnen.Bei Delikten von Jugendlichen ist houfig die Verteidi-

    gung oder Gewinnung von Sozialstatus das Motiv. Ne-ben dieser Jugenddelinquenz gibt es eine persistenteDelinquenz, die sich schon wohrend der Kindheit inVerhaltensstçrungen, oft aggressiver Art, anknndigtund im Erwachsenenalter erhalten bleibt.Denken (thinking). Mentale Totigkeiten oder!Operationen, z. B. zumLçsen von Problemen.Man-che Probleme lassen sich durch die Vorstellung einerSequenz vonHandlungen lçsen, ohne dass dieseHand-lungen ausgefnhrt werden mnssten. In anderen Follensind andere mentale Operationen erforderlich. Analo-ges Denken nutzt Wissen, das bei anderen Problemen,die in einer bestimmten Hinsicht ohnlich sind, zumZiel fnhrt. Als allgemeine Formel des analogen Den-kens gilt: A : B = C : D. Deduktives Denken zieht ausPromissen einen logisch zwingenden Schluss. Prototypdes deduktivenDenkens ist der Syllogismus. InduktivesDenken verallgemeinert einen Fall als gnltig fnr andereunbekannte Folle (wird bei Hypothesenbildung benç-tigt). Kausales Denken fnhrt ein beobachtetes Ereignisauf Ursachen zurnck, eine Fohigkeit, die schon beiSouglingen zu finden ist. Wissenschaftliches Denkenbezeichnet das in den Naturwissenschaften nblicheVorgehen der empirischen Prnfung einer Hypothesedurch kontrollierte Variation und Kombination vonVariablen.Devianz (deviancy). Von der Norm abweichendes Ver-halten. ! Delinquenz ist eine Form der Devianz. AuchSnchte, Verhaltens- und Persçnlichkeitsstçrungen oderpsychopathologische Erkrankungen wie Schizophreniefnhren zu deviantem Verhalten. Verhaltensmuster, die

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  • in einer Kultur nblich sind, kçnnen in einer anderenKultur als deviant gelten.Differenzierung (differentiation). Ausgliederung vonTeilen aus einem ungegliederten Ganzen. Differenzie-rung wird als generelles Entwicklungsgesetz angesehenund zeigt sich vor allem in der Kindheit und Jugend alsAusfocherung von Teilleistungen, die aber ihrerseitskoordiniert sind und hierarchisch reguliert werden(! Integration).Im schulischen Bereich steht Leistungsdifferenzie-

    rung im Vordergrund. Die Qußere Differenzierungtrennt Leistungsgruppen nach Schularten, die innereDifferenzierung versucht, die Lernenden innerhalb dergleichen Gruppe (z. B. Schulklasse) entsprechend ihremLeistungsniveau zu fçrdern (individualisierender Un-terricht).DomYnen (domains). Lern- und Entwicklungsbereiche,in denen sich Leistungen entwickeln. Die Entwicklungs-psychologie grenzt den Begriff der Domone auf Bereicheein, die eine biologische Basis zu haben scheinen, wie dieintuitive Mathematik, Physik und Biologie. Die Poda-gogische Psychologie definiert Domonen meist durchdie Schul- bzw. Wissenschaftsfocher (einschließlich dermusischen Bereiche) und gelangt zu einer nach obenoffenen Anzahl von Domonen.DSM-IV. Siehe unter Klassifikationssysteme psychischerStçrungen.

    EEffektstYrke (effect size). Die Effektstorke gibt an, wiegroß (oder bedeutsam) der Effekt z. B. einer Maßnahmeoder einer anderen mutmaßlichen Entwicklungsbedin-gung, etwa bestimmter Kontextmerkmale, ist. Sie wirdauch als praktische Signifikanz bezeichnet. Damit dieEffektstorke mehrerer Untersuchungen (z. B. in Meta-analysen), verschiedener Maßnahmen, Variablen undihren Skalierungen verglichen werden kann, wird sie instandardisierterQuantifizierung als Anteil an derVarianzder interessierendenMessvariablen erfasst.Egozentrismus (egocentrism).DieUnfohigkeit, eine vonder eigenen Perspektive abweichende Perspektive eineranderen Person einzunehmen.Man spricht von Egozen-trismus, wenn nicht erkannt wird, dass und was eineandere Person von einer anderen Position im Raum auswahrnimmt, oder wenn angenommen wird, eine anderePerson habe dieselben Informationen und Erkenntnissewie man selbst.

    Emotionen (emotions). Emotionen sind Erlebnisquali-toten, die »einen Anlass« haben. Sie sind zum grçßtenTeil Ausdruck spezifischer ! Kognitionen und Bewer-tungen dieses »Anlasses«. So drnckt z. B. Angst eineerlebte Bedrohung durch den Anlass aus, Empçrungden Vorwurf einer Normverletzung, Trauer einen Ver-lust, Schuld ein moralisches Versagen, Scham einenEhrverlust, Stolz einen Gewinn an Selbstwert, Neid eineerlebte Minderwertigkeit im Vergleich zu einer anderenPerson.Enkulturation (enculturation). Aneignung von Hand-lungskompetenzen, die fnr das Leben in der Kultur, inder das Individuumaufwochst, erforderlich sind. Enkul-turation kann als Prozess der qbernahme der Kulturbzw. des Hineinwachsens in die Kultur verstanden wer-den.Entwicklung (development). Nachhaltige und nachhal-tig wirkende psychologische Veronderungen einer Per-son bzw. ihrer Merkmale, z. B. Dispositionen, Wissen,Fohigkeiten. Diese Veronderungen kçnnen universell,differenziell oder individuell sein.Entwicklungsaufgaben (developmental tasks). Ergebensich aus entwicklungsabhongigen Fohigkeiten und Mçg-lichkeiten, aus somatischen Reifungs- und Abbauprozes-sen und altersnormierten gesellschaftlichen Erwartungenund Anforderungen, die kulturspezifisch sein kçnnen.Idealerweise liegt eine ! Passung zwischen den Ent-wicklungsgegebenheiten und den altersnormierten ge-sellschaftlichen Erwartungen vor, z. B. beznglich Blasen-kontrolle, Schuleintritt, Eheschließung, Ausscheidenaus dem Berufsleben. Von Entwicklungsaufgaben sind! kritische Lebensereignisse zu unterscheiden.Entwicklungsgenetik (developmental genetics). Erfor-schung des Einflusses der Erbanlagen (! Gene) auf dieEntwicklung. Entwicklung beruht nicht linear-kausalauf einem genetischen Programm, sondern auf derWechselwirkung zwischenGenaktivitot, neuronaler Ak-tivitot, Verhalten und Umwelt. Die Genaktivitot variiertim Verlauf der Entwicklung.Entwicklungsmodelle (developmental models). Mo-delle sind Versuche, eine komplexe Wirklichkeit dar-zustellen. Sie kçnnen die Wirklichkeit mehr oder weni-ger richtig, mehr oder weniger vollstondig darstellen; esbleiben immer Lncken. Modelle sind fruchtbar, wennsie ein angemessenes Verstondnis der Wirklichkeit er-mçglichen, wenn aus oder mit ihnen Vorhersagen oderEinflussnahmen abgeleitet werden kçnnen.

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  • Es gibt unterschiedlicheModelle, mit denen spezifischeSichten auf Veronderungen und Stabilitoten in derEntwicklung mçglich sind: Entwicklung als quantitati-ves Wachstum, Entwicklung als qualitative Veronde-rung (z. B. als Differenzierung und Integration, alsStufenfolge, als Abfolge von Phasen, als qberschich-tung).

    Werden die Einflussfaktoren in die Modellbildungeinbezogen, sind Reifungsmodelle von Modellen derInteraktion von Anlagen und Umwelteinflnssen zu un-terscheiden. Ein spezifisches Modell ist hierbei dasaktionale Entwicklungsmodell mit der Annahme, dassMenschen einen aktiv gestaltenden Einfluss auf ihreeigene Entwicklung nehmen, indem sie Ziele und An-liegen verfolgen, sich ihre eigene Lebensumwelt aus-suchen und gestalten.

    Systemische Entwicklungsmodelle (! Systemtheorie)differenzieren die Faktoren Anlage, Umwelt, die sichentwickelnde Person sowie die Mçglichkeiten ihres Zu-sammenspiels weiter auf. Grundsotzlich haben alle Ele-mente des ! Systems Beznge zueinander. Es ist Aufgabeder Modellbildung, einflussreiche Beznge zu ermittelnund das grundsotzlich offene System in Ausschnittendarzustellen, die individuelle und differenzielle Entwick-lungen erkloren und Ansatzpunkte fnr fçrderliches undproventives Handeln bieten.Entwicklungsnormen (developmental norms). Empi-risch ermittelte Altersangaben fnr bestimmte Entwick-lungsmerkmale wie Intelligenz, Motorik, Sprache undSozialverhalten. Diemit Entwicklungstests gewonnenenNormen reichen nur bis etwa zum 16. Lebensjahr, weilEntwicklungsveronderungen im weiteren Lebensverlaufnicht mehr allgemein, sondern differenziell sind, wes-halb Jahrgangsnormen keine brauchbare Orientierungliefern. Entwicklungsnormen beziehen sich aber auchauf Entwicklungsstrukturen, ! Entwicklungsaufgaben,Entwicklungsnbergonge und -krisen in einzelnen Le-bensabschnitten wie Einschulung, Schulabschlnsse,Aufnahme und Ende der Berufstotigkeit, Partnerschaft,Elternschaft und deren adoquate! Bewoltigung.Werden Strukturniveaus (Stufen oder Stadien) er-

    fasst, sind diese Niveaus in den Testitems abzubilden.Die Skalen dienen dann nicht nur der Diagnostik deserreichten Entwicklungsniveaus, sondern auch derqberprnfung entwicklungstheoretischer Hypothesen,etwa der These Piagets, dass ein neues Strukturniveauin verschiedenen Domonen zur gleichen Zeit erreichtwird und dass Regressionen auf ein frnheres Stadium

    kaum vorkommen, weil mit dem hçheren Struktur-niveau Widersprnchlichkeiten nberwunden und ver-mieden werden, die auf dem vorhergehenden als solcheerkannt, aber noch nicht gelçst wurden.Entwicklungsstçrungen (disorders of psychological de-velopment). Darunter werden im ICD-10 unterF80–F89 die Beeintrochtigungen zusammengefasst, diedrei Merkmale aufweisen: (1) einen Beginn, der imKleinkindalter oder in der Kindheit liegt; (2) eine Ein-schronkung oder Verzçgerung in der Entwicklung vonFunktionen, die eng mit der biologischen Reifung desZentralnervensystems verknnpft sind; (3) einen stetigenVerlauf, der nicht die fnr viele psychischen Stçrungentypischen Remissionen und Rezidive zeigt. Der Termi-nus »Entwicklungsstçrungen« wird darnber hinaus oftfnr eine Vielfalt von Stçrungen verwendet, die in Kind-heit und Jugend auftreten (z. B. fnr ! Lernstçrungen).Fnr das Erwachsenenalter verwendetman denTerminuskaum.Erblichkeitskoeffizient. Siehe Heritabilitot.Erhebungsmethoden (assessment methods). Wie in derPsychologie generell werden auch in der Entwicklungs-psychologie die theoriengeleitete Verhaltensbeobach-tung, Fragebçgen, Leistungstests und standardisiertebzw. semistrukturierte Interviews verwendet. In derfrnhen Kindheit sind die wichtigsten Erhebungsmetho-den die Erfassung des orientierenden Reflexes und derdarauffolgenden Habituierung, die Proferenzreaktionbei Darbietung zweier (visueller oder akustischer) Reiz-muster undBewegungsmessungen (z. B. Blickbewegungbeim Abtasten eines Reizmusters, Fnhren der Greifbe-wegung nach einem bewegten Objekt). In den erstenLebenswochen steht als Indikator das Saugverhalten zurVerfngung.Bei theoriengeleiteter Beobachtung bevorzugt man

    standardisierte Situationen (z. B. den Fremde-Situa-tions-Test zur Erfassung des Bindungsverhaltens oderkontrollierte Darbietungen zur Erfassung der Objekt-permanenz), analysiert aber auch (videografierte) freieSituationen, wie beim Spielverhalten und beim Verhal-ten in der Peergruppe sowie generell beim Sozialver-halten im natnrlichen Umfeld. Solche Beobachtungenwerden heute nicht mehr ohne videografierte Doku-mentationen durchgefnhrt, die danach theoriengeleitetauswertbar sind. VonBedeutung fnr die emotionale undmotivationale Entwicklung ist die standardisierte Ana-lyse des emotionalen Ausdrucks (z. B. ab wann er inAbwesenheit von sozialen Partnern ausbleibt).

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  • Aufgabenstellungen zur Ermittlung des Entwicklungs-standes erfolgen entweder innerhalb vorgegebener Si-tuationen oder in Form von Leistungstests; bei diesenkann man unterscheiden zwischen Intelligenz- und Fo-higkeitstests (z. B. fnr musikalische Fohigkeiten), Ent-wicklungstests (fnr das generelle Entwicklungsniveau)und Leistungstests (v. a. fnr schulbezogene Leistungen).Befragungen existieren in Form von Exploration

    (offene Befragung nach dem Lebenslauf), standardi-sierten und semistrukturierten Interviews sowie Fra-gebçgen, die entweder bereits standardisiert sind oderbei neuen Fragestellungen speziell entwickelt werden.Dabei richten sich die Items auf die Gesamtpersçnlich-keit, auf Teilkomponenten der Persçnlichkeit (z. B.Selbstkonzept, Kçrperkonzept, Motivation), auf Ent-wicklungsaufgaben und -ziele oder auf kritische Le-bensereignisse. Zur raschen Erfassung von Entwick-lungsniveaus bzw. -stçrungen nutzt man Screening-verfahren, die ebenfalls meist standardisiert sind. Alsfruchtbar hat sich die Bearbeitung von Dilemmataerwiesen (z. B. fnr die Einschotzung des Niveaus derPerspektivennbernahme, des moralischen Urteilensund des dialektischen Denkens).

    Spezielle Verfahren, die heute eine wichtige Rolle inder Entwicklungspsychologie spielen, sind bildgebendeVerfahren zur Erfassung des neurologischen Status imGehirn (z. B. EEG, Magnetresonanztomografie, Posi-tronenemissionstomografie), Messungen des Hor-monspiegels (z. B. Cortisol im Mundspeichel, Melato-nin, rstrogen und Testosteron), der Pulsfrequenz unddes Hautwiderstands sowie Reaktionszeitmessungen.Erkundung. Siehe Exploration.Erziehung (education, parenting). Einwirkung von El-tern und Podagogen auf Kinder und Jugendliche in derAbsicht, deren Entwicklung auf spezifische Ziele hin zusteuern. Was dabei angestrebt wird, liegt in der Ent-scheidungsmacht der Erzieher. Absichtsvolle Versuche,bei anderen Menschen Entwicklungen zu bestimmtenZielen zu erreichen, gibt es selbstverstondlich auch invielen anderen sozialen Beziehungen. Auch Versucheder Kinder und Jugendlichen, Eltern und Podagogen zuerziehen, dnrfen nicht nbersehen werden.Erziehungsziele sind nicht in erster Linie Wissen und

    Kompetenzen, sondern Werthaltungen, Normorientie-rungen, Einstellungen und andere Persçnlichkeitsmerk-male. AberWissen und Kompetenzen kçnnen erforder-lich sein, um die Entwicklungsziele zu erreichen undderen Umsetzung in Handeln zu ermçglichen. Die mo-

    ralische Erziehung mag primor das Ziel haben, dieAkzeptanz bestimmter moralischer Normen zu errei-chen. Deren Umsetzung in Handeln mag jedoch Kom-petenzen der Selbstkontrolle bei Versuchungen zurqbertretung oder Kompetenzen der Normbegrnndunggegennber Andersdenkenden erfordern, die dann eben-falls erzieherisch vermittelt werden kçnnen. Wenn dasErziehungsziel das eigenverantwortliche Treffen vonEntscheidungen in Normendilemmata ist, mnssenKompetenzen der Reflexion und des Diskurses nbersolche Dilemmata vermittelt werden. Wenn das Erzie-hungsziel ein positives Leistungsselbstbild ist, sindKompetenzen zum Erzielen guter Leistungen gefragt.Erziehung ist ein Sonderfall der! Sozialisation, wo-

    mit alle Einflnsse auf die Persçnlichkeitsentwicklunggemeint sind, auch solche, die nicht absichtsvoll aus-genbt werden. In der entwicklungspsychologischen For-schung sind neben Erziehungszielen auch Erziehungs-stile und erzieherische Kompetenzen als einflussreichfnr die Persçnlichkeitsentwicklung nachgewiesen.Evaluation (evaluation). qberprnfung der Wirksamkeitvon Maßnahmen der Entwicklungsfçrderung oder derProvention von Entwicklungsstçrungen. Hierfnr sindUntersuchungsplone erforderlich, mit denen sicher-gestellt wird, dass die beobachteten Effekte auf dieMaß-nahmen und nicht auf andere Einflnsse zurnckzufnhrensind, z. B. auf Reifung oder gnnstige Umwelteinflnsse.Erforderlich ist zumindest eine Interventionsgruppe(IG) und eine in Bezug auf relevante Variablen paralle-lisierte Kontrollgruppe (KG). Es sollte auch sicher-gestellt werden, dass die KG nicht indirekt von denMaßnahmen profitiert, etwa durch Kontakte mit Mit-gliedern der IG.qblicherweise gibt es mindestens drei Messzeitpunk-

    te: (1) einen Protest vor Beginn derMaßnahme,mit demauch kontrolliert wird, dass die Ausgangswerte der IGund KG gleich sind; (2) einen Posttest bald nach Been-digung der Maßnahme und (3) eine Follow-up-Messung einige Zeit spoter, umdie Stabilitot der Effekte,evtl. auch ihre spontaneWeiterentwicklung, zu kontrol-lieren, aber auch um zu prnfen, ob ein erzielter Ent-wicklungsvorsprung der IG erhalten bleibt und die KGnicht spontan aufholt.Neben dieser Prnfung der Gesamtwirksamkeit (sum-

    mative Evaluation) gibt es eine formative Evaluationmitdem Ziel, die Maßnahme und ihre Durchfnhrung aufder Grundlage der empirischen Erprobung von Vari-anten der Konzeption, der Vermittlungsverfahren und

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  • des Trainings von Personen, die das Programm durch-fnhren sollen, zu optimieren. InMetaevaluationen wer-den mçglichst viele Evaluationen der gleichen Maß-nahme zusammengefasst. Dies erlaubt eine Aussagedarnber, wie wirksam sie generell ist und ob ihre Wirk-samkeit moderiert wird (! Moderatorvariable), z. B.durchMerkmale der Adressaten (etwa der Freiwilligkeitder Teilnahme oder der Motivation), durch Merkmaleihres Umfeldes (etwa der Bildung der Eltern), durchunterschiedliche Formen der Realisierung (etwa Ein-bezug der Eltern oder nicht), oder ob die Wirkungenmehr auf die Kompetenzen der Vermittler als auf dasinhaltliche Programm der Maßnahme zurnckzufnhrensind.Expertise (expertise). Spezialisiertes, aber tiefes! Wissen in spezifischen Bereichen (Domonen). FnrExpertisen mit Hochleistung scheint die 10-Jahres-Regel zu gelten: Man bençtigt ca. 10 Jahre, um in einerDomone zum Experten zu werden. Das Konzept derExpertise ersetzt bis zu einem gewissen Grad das Kon-zept der ! Begabung, da die entscheidende Bedingungin einer intensiven langfristigen Beschoftigung mit denGegenstonden des Bereichs zu suchen ist (! DeliberatePractice). Die Entwicklung des Kindes, das als univer-seller Novize anzusehen ist, besteht unter dieser Per-spektive in einemAufbau von Expertisen, selbst bis zumNiveau von Erwachsenen. Abhongig von der Intensitotder Beschoftigung mit bestimmten Gegenstonden oderThemen kçnnen Kinder Experten und Erwachsene No-vizen sein (z. B. bei der Beherrschung eines Musik-instruments, bei sportlichen Hochleistungen oder beiComputerwissen).Exploration, Erkundung (exploration). Ein in der frn-hen Kindheit einsetzendes Verhalten, das der Erfor-schung derUmwelt dient und fnr die kognitive Entwick-lung daher zentrale Bedeutung besitzt. Sicher gebun-dene Kinder zeigen mehr explorative Aktivitoten alsandere (! Bindungstheorie,!Neugierverhalten).

    FFYhigkeiten (abilities). Merkmale der! Persçnlichkeit,die relativ stabil sind und als innere Ursachen fnr Ver-halten, Ausdruck und Leistung angesehen werden. Un-ter Leistungsaspekten lassen sich Fohigkeiten bestimm-ten ! Domonen zuordnen und gelten dort als dasResultat von Lernprozessen. Wohrend man frnher Fo-higkeiten storker als angeborene Merkmale ansah, wer-den sie heute als Produkt der Wechselwirkung von

    genetischen Voraussetzungen, Umweltbedingungenund eigener konstruktiver Aktivitot gesehen.Faktorenanalyse (factor analysis). Ein mathematischesVerfahren zur Reduktion von Matrizen, die lineareZusammenhonge zwischen Variablen abbilden (Korre-lationen oder Kovarianzen). Die Faktorenanalyse ermit-telt lhnlichkeiten zwischen Variablen und gruppiert sienach Faktoren, auf denen bestimmte Variablen hoch,die nbrigen jedoch niedrig laden; damit ist gemeint, dassbestimmte Variablen fnr bestimmte Faktoren hohesGewicht haben und diese Faktoren inhaltlich definieren,die anderen ein niedriges Gewicht und von daher eherbedeutungslos sind. Auf diese Weise erholt man eineFaktorenstruktur. Bei der konfirmatorischen Faktoren-analyse werden theoretisch abgeleitete Faktorenstruktu-ren vorgegeben, bei der exploratorischen Faktorenana-lyse nicht.Familie (family). Im engeren Sinn biologisch-sozialeGruppe von Eltern mit ihren ledigen, leiblichen und/oder adoptierten Kindern. Die Kernfamilie umfasst nurzwei Generationen, die Großfamilie drei oder vier Ge-nerationen (und in anderen Kulturen auch nohere Ver-wandte). Familien sind offene, sich entwickelnde undsich partiell selbst regulierende! Systeme mit Bezngenzwischen ihren Elementen und Teilsystemen und ande-ren Systemen (andere Familien, Nachbarn, Schulen,Berufswelt, Rechts- undWirtschaftsordnung, kulturelleWert- und Normsysteme).

    Ihre Entwicklung ist imKontext materieller und sozia-ler! Ressourcen und Restriktionen, einschließlich Auf-gaben und Anforderungen (! Entwicklungsaufgaben),zu sehen. Familiore Lebensformen zeigen gegenwortigeine Pluralisierung, wobei die traditionelle Kernfamilienur eine von mehreren Mçglichkeiten darstellt. Einerelativ houfige Form bilden Patchworkfamilien, bei derPartner nach Ehescheidung und Auflçsung der bisheri-gen Familie neue Partnerschaften eingehen und Kinderaus erster Ehe (oder nachfolgenden Ehen)mit in die neueLebensgemeinschaft bringen.Forschungsdesigns (study designs). Das einfachste For-schungsdesign zur Erfassung von Entwicklungsver-onderungen ist das Vorher-Nachher-Design (Mini-malforderung: Versuchs- und Kontrollgruppe), beidem geprnft wird, ob ein Treatment (z. B. eineentwicklungsfçrdernde Maßnahme) wirksam war(! Evaluation). Die ! Longsschnittuntersuchung be-nçtigt demgegennber eine grçßere Anzahl von Mess-wiederholungen. Die!Querschnittuntersuchung, die

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  • verschiedene Altersstufen (und damit ! Kohorten)zum gleichen Zeitpunkt erfasst, kann nur dann zu vali-den Ergebnissen fnhren, wenn die gefundenen Entwick-lungsunterschiede generell (nomothetisch) und nichtdifferenziell gelten. Zu den Vor- und Nachteilen beiderDesigns siehe unter den beiden Stichwçrtern.Das Kohortensequenzdesign verbindet beide Verfahrenund fongt bei mehrfacher Wiederholung systematischeFehler auf. Follow-up-Studien verfolgen ein Entwick-lungsergebnis oder Fçrdermaßnahmen durch eine odermehrere Erhebungen nach einem longeren Zeitraum.Eine Sonderstellung nimmt das Single-Subject-Designein, bei dem nur eine Versuchsperson, dafnr aber zusehr vielen Zeitpunkten untersucht wird. Ein verall-gemeinerbarer Erkenntnisgewinn ergibt sich nur dann,wenn die Befunde Hinweise auf allgemeine Gesetz-moßigkeiten von Entwicklung liefern, die dann gezieltergeprnft werden kçnnen. Retrospektive Untersuchun-gen, die Probanden in der Rnckschau nber vergangeneEreignisse und Erfahrungen befragen, sind problema-tisch, sofern sie auf tatsochliche Ereignisse abzielen,hingegen interessant, wenn sie die integrativen Kons-truktionsleistungen der Einzelnen erfassen, die ihr Le-ben in der Rnckschau zu einem stimmigen Ganzengestalten.

    In der Erforschung der kindlichen Entwicklung spieltnach wie vor das experimentelle Forschungsdesign eineHauptrolle. Hier wird unter Kontrolle aller erfassbarenVariablen nur eine variiert, um zu prnfen, ob der theo-retisch zu erwartende Entwicklungseffekt tatsochlich aufdie angenommene Wirkgrçße zurnckzufnhren ist. DerHauptnachteil dieser Formdes Experimentes liegt in dergeringen çkologischen! Validitot, was man durch sog.çkologische Experimente, die in der sozialen Realitotmçglichst wirklichkeitsnah und zugleich kontrolliertkonzipiert werden, auffangen kann.

    GGedYchtnis (memory). Die Fohigkeit, Information zuspeichern und zu nutzen.Wiedererkennen (vonGeburtan vorhanden) identifiziert externe Reizmuster mitzuvor gespeicherten Mustern, Reproduzieren (tritt abdem 2. Lebensjahr auf) vermag gespeicherte Informa-tion ohne externe Hilfen abzurufen und zu produzie-ren. Beznglich der Dauer des Behaltenen unterscheidetman zwischen Ultrakurzzeit- (Bruchteile von Sekun-den), Kurzzeit- (Sekunden bis Minuten) und Langzeit-gedQchtnis (zeitlich unbegrenzt); das Ultrakurzzeitge-

    dochtnis wird auch houfig »sensorisches Register« ge-nannt, das Kurzzeitgedochtnis als ArbeitsgedQchtnisbezeichnet. Beim Langzeitgedochtnis unterscheidetman das explizite oder deklarative (bewusst verfngbareInformation) und das implizite oder nicht-deklarativeGedochtnis (nicht bewusst verfngbares prozeduralesWissen, das mit der Nutzung von Strategien und demEinsatz von Fertigkeiten zu tun hat; ! Lernen,! Priming). Das explizite Gedochtnis gliedert sich indas episodische (Speicherung von Erfahrenem) und dassemantische Gedochtnis (fachlich und logisch geglie-derte Wissensinhalte). Das autobiografische Gedochtnisist Teil des episodischen Gedochtnisses, in dem Erinne-rungen mit starkem Selbstbezug reprosentiert sind.Weiter werden Gedochtniskapazitot (Umfang des ver-fngbaren Speichers) und Gedochtnisstrategien (fnr dasEinprogen und das Abrufen aus dem Speicher) unter-schieden. DasMetagedQchtnis bezieht sich auf das Wis-sen nber das Gedochtnis; dabei unterscheidet man eindeklaratives (verfngbares, mitteilbares Wissen nber Ge-dochtnisvorgonge) und ein prozedurales Metagedocht-nis (Fohigkeit zur Kontrolle und Regulierung gedocht-nisbezogener Aktivitoten). Das Gedochtnis ist alsokeine einheitliche Funktion, sondern besteht aus vielen»Gedochtnissen«, deren Leistungsfohigkeit auch in-traindividuell sehr unterschiedlich sein kann.Gene (genes). Beim Menschen die Segmente auf den23 Chromosomenpaaren, die die Erbinformation inForm von DNA enthalten. Jedes Gen auf den 22 homo-logen Chromosomenpaaren hat zwei parallele Allele,eines von der Mutter, eines vom Vater (beim Mann istein Paar nicht homolog, das X- und das Y-Chromo-som). Das menschliche Genom (die gesamte Erbinfor-mation) schotzt man heute auf 35.000–40.000 Gene(etwa so viel wie bei einer Graspflanze). 98,5 % derGene haben wir mit unseren nochsten Verwandten, denSchimpansen, gemeinsam. Die Menschen unterschei-den sich untereinander praktisch nicht hinsichtlich derGene (99,9 % sind gemeinsam), sondern nur hinsicht-lich der Allele. Aufgrund der großen lhnlichkeit zwi-schen verschiedenenmenschlichen Populationen gibt esentgegen der Alltagsmeinung keine verschiedenenmenschlichen Rassen.

    HHabituation – Dishabituation (habituation – dishabi-tuation). Man gibt Kindern in einem ersten Schritt dieMçglichkeit, ein »Objekt« (z. B. Spieltier oder ein Bild

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  • davon) durch Betrachten oder Manipulieren zu erkun-den, bis ihr Interesse daran absinkt, was als Indikator fnrHabituation gilt. Im zweiten Schritt gibt man ihnenanschließend entweder wieder dasselbe Objekt oder einanderes, das in verschiedener Hinsicht mehr oder weni-ger verschieden ist, oder beide Objekte gleichzeitig (zurAuswahl) zum Betrachten oder Manipulieren. Meistwird das neue Objekt longer betrachtet oder houfigerausgewohlt. Das Paradigma ermçglicht schon bei Kin-dern im vorsprachlichen Alter festzustellen, was sie alsohnlich oder verschieden sehen. Ein interessanter Be-fund ist, dass schon sehr frnh Kategorien gebildet wer-den. Wenn im zweiten Schritt das neue Objekt wiederein Tier ist, wird es weniger lange die Aufmerksamkeitbinden als ein Objekt aus einer anderen Kategorie (z. B.ein Fahrzeug oder eine Frucht). So losst sich ermitteln,nber welche Kategorien Kinder wann verfngen.Handlung (action). Verhalten, das willentlich und ziel-orientiert ausgefnhrt wird. Verhalten kann auch durchBedingungen determiniert sein, nber die das Subjektzumindest in der aktuellen Situation keine Kontrollehat: externe Bedingungen wie Naturgewalten, internewie Unvermçgen oder psychopathologische Stçrungen.Fnr ihre Handlungen sindMenschen verantwortlich undverantwortlich zu machen, fnr determiniertes Verhaltennicht. Die Verantwortlichkeit ist auszuschließen, wennMenschen nicht hotten anders handeln kçnnen. Die Ver-antwortlichkeit fnr Handlungsfolgen ist auszuschließen,wenn die Folgen nicht vorhersehbar waren. Die Auswei-tung der Handlungsfohigkeit ist ein wichtiges Entwick-lungs- und Erziehungsziel, ebenso die Fçrderung desBewusstseins, entscheidungs- und handlungsfohig zusein, das sich in internalen Kontrollnberzeugungen(! Kontrolle) und erlebter! Selbstwirksamkeit nieder-schlogt.HeritabilitYt, Erblichkeitskoeffizient (heritability, heri-tability coefficient). Der Erblichkeitskoeffizient gibt denAnteil der genetisch bedingten Varianz eines Merkmalsan der ermittelten Gesamtvarianz dieses Merkmals inder untersuchten Population an. Er kann zwischen 0und 1.0 variieren. Ein Erblichkeitskoeffizient von .50besagt, dass 50 % der beobachteten Varianz in dieserPopulation auf genetische Unterschiede zurnckgehen,aber nicht, dass die Merkmalsausprogung bei einzelnenIndividuen zu 50% genetisch bedingt sei. Der Erblich-keitskoeffizient fnr ein Merkmal wird umso geringerwerden, je grçßer die Unterschiede der relevanten Um-weltbedingungen in der untersuchten Population wer-

    den. Wnrde die gesamte Population in denselben Um-weltbedingungen leben, wnrde der Erblichkeitskoeffi-zient auf 1.0 steigen, weil alle Unterschiede – vonMessfehlern abgesehen – auf genetische Unterschiedezurnckgefnhrt werden mnssten.

    IICD-10. Siehe unter Klassifikationssysteme psychischerStçrungen.IdentitYt (identity). Psychologisch ist persçnliche Iden-titot die einzigartige Kombination persçnlicher Merk-male, derenman sich selbst bewusst ist undmit der mansich selbst anderen darstellen kann. Dieses Bild von dereigenen Identitot wird auch davon beeinflusst, wie an-dere einen wahrnehmen. Selbsterkenntnis und Selbst-gestaltung formen die Identitot (Wer bin ich? Was willich?).GeschlechtsidentitQt bildet den Anteil der Identitot,

    der die Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition derGeschlechtsrolle und deren Integration in die Gesamt-identitot umfasst. Die kulturelle Identitot definiert dieZugehçrigkeit zu undOrientierung an der Kultur, in derman aufwochst (! Enkulturation), was bei Migrantenund beruflich erforderlichen Auslandsaufenthalten zuKonflikten zwischen ursprnnglicher und neu geforder-ter kultureller Identitot fnhrt (!Akkulturation). SozialeIdentitot ist die Identifikation mit sozialen Gruppen undsozialen Systemen (Familie, Freundschaften, Cliquen,Berufsgruppen, Altersgruppen, Volksgruppen, Religi-onsgemeinschaften, Schichten u. v. a. m.), jeweils in Ab-hebung zu Außengruppen.Integration (integration). Entwicklungspsychologischbezieht sich Integration auf Prozesse der Koordinationund Hierarchisierung bei sich ausdifferenzierendenLeistungen (Fohigkeiten und Fertigkeiten). Sie bildetdas Gegenstnck zur ! Differenzierung. Ein Beispielbietet die Entwicklung des gezielten Greifens im 1.Lebensjahr vom Grapschen zur integrierten Koordina-tion der Einzelmuskel des Armes und der Hand beimAnfassen eines Gegenstandes.Intelligenz (intelligence). Oberbegriff fnr verschieden-artige kognitive Leistungsfohigkeiten, die mit Testsgemessen werden. Intelligenz ist ein brauchbarer! Prodiktor fnr viele Leistungen und Lernfortschrittein neuenProblemsituationen und Stoffgebieten.Mit derZunahme von Wissen und ! Expertise in spezifischen! Domonen sinkt die Korrelation zwischen Leistungenund Intelligenz; das Vorwissen ist dann der bessere

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  • Prodiktor. Die Positionsstabilitot der Intelligenz(! Stabilitot) ist schon von der Kindheit an hoch, wennkeine signifikanten lnderungen im Anregungs- undAnforderungsgehalt der Entwicklungsumwelt eintreten.Unterschiedliche Intelligenzfaktoren haben unter-

    schiedliche Entwicklungsverloufe. Zweikomponenten-modelle unterschieden zwischen fluider Intelligenz(oder »Mechanik« der Intelligenz; z. B. induktives unddeduktives Denken) und kristalliner Intelligenz (oder»Pragmatik« der Intelligenz; z. B. sprachliches Wissen).Die fluide Intelligenz nimmt in der Kindheit frnher zuund im Erwachsenenalter frnher und storker ab als diekristalline Intelligenz.Interesse (interest). Longerfristiger oder dauerhafter Be-zug einer Person zu einem Gegenstand oder Gegen-standsbereich. Die kognitiveKomponente des Interessesbezieht sich auf Wissensinhalte des Gegenstands-bereichs und deren Aneignung. Die affektive Kom-ponente beinhaltet die Valenz (Wertigkeit) des Gegen-standsbereiches. Die Handlungskomponente kenn-zeichnet den Umgang mit dem Gegenstand, derentweder eigentliches Ziel des Interesses ist (z. B. einbegehrtes Sammelobjekt) oder Mittel zum Zweck (z. B.das Sammeln selbst, das Sammelobjekt wird Neben-sache).Internalisierung (internalization). Die qbernahme vonWertnberzeugungen, sozialen Normen, Kognitionenund Verhaltensweisen in der Weise, dass sie zum Be-standteil der eigenen psychischen Struktur oder des! Selbst werden. Bei Werten und Normen impliziertdies die eigene Verpflichtung zur Einhaltung.Intervention (intervention). Eingriff in die Entwicklung,z. B. in Form einer Trainingsstudie. Interventionen sindein wichtiges Instrument der entwicklungspsychologi-schen Grundlagenforschung, weil sie Entwicklungspro-zesse teilweise unter experimentelle Kontrolle bringenund deswegen eher als rein beobachtende MethodenRnckschlnsse auf die Ursachen von Entwicklungsver-onderungen ermçglichen (! Plastizitot). Zugleich sindInterventionen fnr die angewandte Entwicklungsfor-schung von zentraler Bedeutung, wenn sie darauf abzie-len, ungnnstige Entwicklungsverloufe zu vermeidenoder zu korrigieren (! Provention).Intuitive Theorien (intuitive theories). Schon kleineKinder haben Theorien nber die Welt. Sie werden alsintuitiv bezeichnet, weil sie sich ohne formale Bildungoder andere Formen der Unterrichtung entwickeln.Vielleicht wurzeln sie in biologisch grundgelegten Mo-

    dulen. Intuitive Theorien gibt es beispielsweise fnr diePhysik, die Biologie und die Psychologie (! Theory ofMind). Außerdem werden alle wissenschaftlich unbe-legten oder auch widerlegten »subjektiven« Theorienvielfach als intuitiv bezeichnet.

    KKausalitYt (causality). Ursache-Wirkungs-Zusammen-hang. In der Entwicklungspsychologie sind die Wirk-ursachen von Entwicklungsphonomenen (Veronderun-gen und Stabilitoten) zu erforschen. Da die Wirkursa-che ihrer Folge immer vorausgeht, ist der Nachweiseiner zeitlichen Abfolge zwischen mutmaßlicher Ursa-che und ihren Entwicklungsfolgen nachzuweisen. Das istin experimentellen ! Forschungsdesigns durch die Ma-nipulation der experimentellen Bedingung(en) und in! Longsschnittuntersuchungen etwa nber die Effektevon Interventionsprogrammen mçglich. TheoretischeUrsachen-Wirkungs-Hypothesen versucht man korre-lationsanalytisch aus dem Korrelationsbild zeitversetzterhobener Variablen zu belegen (»Cross-lagged-Panel-Analysen«). Fnr einen großen Teil entwicklungspsy-chologischer Ursachenhypothesen liegen allerdingsnur Korrelationen zeitgleich erhobener Variablen vor.Ursachen undWirkungen sind zwar korreliert, aber beiweitem nicht jede Korrelation bildet einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ab.Wird dieWirkung einerVariablen durch eine andere mitbestimmt, etwa ver-storkt oder vermindert oder in der Richtung umgekehrt,liegt ein Moderatoreffekt vor (!Moderatorvariable).Die Entwicklung des Kausalitotsverstondnisses setzt

    so frnh ein (im 1. Lebensjahr), dass man ein biologischvorgeformtesModul dafnr annimmt. Dabei unterschei-den Kinder auch frnhzeitig zwischen mechanischerKausalitot (anfangs nur, wenn sich zwei Kçrper beimAuslçsen eines Effekts bernhren) und durch einen Ak-teur verursachtenWirkungen. Letztere Art der Kausali-tot scheint so grundlegend fnr menschliche Deutungs-muster zu sein, dass Naturereignisse in allen Kulturenbis hin zur Neuzeit als durch Akteure verursacht ange-sehen wurden.Klassifikationssysteme psychischer Stçrungen (classifi-cation systems for psychological disorders). In der kli-nischen Forschung und Praxis werden heute vorwie-gend DSM-IV und ICD-10 verwendet, um psychischeStçrungen zu klassifizieren. Beim DSM-IV handelt essich um das Diagnostische und Statistische Manualpsychischer Stçrungen, vierte Version, das von der

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  • American Psychiatric Association herausgegeben wird.Die ICD-10, Internationale Klassifikation der Krank-heiten (International Classification of Diseases), zehnteRevision, wird von der Weltgesundheitsorganisationherausgegeben und umfasst neben anderenKrankheitenauch psychische Stçrungen (in Kapitel V). Das DSM-IVist feinkçrniger als die fnr den internationalen Einsatzvorgesehene ICD-10, weshalb es houfiger in der psycho-logischen und psychiatrischen Forschung eingesetztwird.Kognition (cognition). Sammelbegriff fnr alle Prozesseund Ergebnisse des Erkennens und der Informationsver-arbeitung, wie ! Wahrnehmung, ! Reprosentation,! Denken, ! Gedochtnis, ! Wissen, Welt- und Selbst-erkenntnis. Soziale Kognition hat eine spezifische Bedeu-tung: Sie umfasst sowohl das bleibende Wissen nberpsychische Vorgonge von Menschen und die Welt sozia-ler Geschehnisse als auch die aktuellen Prozesse des Ver-stehens von Menschen, sozialen Beziehungen, Gruppenund Institutionen. In der Entwicklungspsychologie hatdie ! Perspektivennbernahme, das Verstehen der Sich-ten, des Wissens, der qberzeugungen, der Bednrfnisseanderer Menschen, besondere Aufmerksamkeit gefun-den.Kohorte (cohort). Stichprobe aus einer Population, dieeinem bestimmten historischen Zeitabschnitt angehçrt.! Querschnittuntersuchungen arbeiten mit verschiede-nen Kohorten, da die jeweils oltere Gruppe in einemanderen historischen Kontext lebte, als sie das Alter dererfassten jnngeren Gruppe hatte.KomorbiditYt (comorbidity). Gleichzeitiges Auftretenvon diagnostisch voneinander abgrenzbaren Erkrankun-gen oder Stçrungen bei einer Person. Dass bei einerPerson verschiedene Erkrankungen oder Stçrungen auf-treten, kann Zufall sein; houfig ist Komorbiditot jedochauf eine gemeinsame Ursache zurnckzufnhren. So tretenim Kindes- und Jugendalter beispielsweise Lese-/Recht-schreibstçrungen gehouft zusammen mit Rechenstçrun-gen auf, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitots-stçrung (ADHS) mit anderen psychischen Stçrungen.Am anderen Ende der Lebensspanne treten Demenz undDepression nberzufollig houfig zusammen auf.Kompetenzen (competence). Bnndelungen von ! Fo-higkeiten und Fertigkeiten, die fnr bestimmte Anforde-rungsbereiche der Umwelt erforderlich sind.Man sprichtvon kognitiven, emotionalen und sozialenKompetenzen,die sich fnr jeweils korrespondierende Bewoltigungs- undLeistungsbereiche der Kultur entwickeln und daher kul-

    turspezifisch sind. In den meisten Follen wird wenigzwischen Fohigkeiten und Kompetenzen getrennt. Fnrden Erwerb komplexer fachgebundener Kompetenzenist Unterricht an Schulen eine notwendige Vorausset-zung. Mithilfe von Schulleistungstests lassen sich schu-lische Kompetenzniveaus erfassen, die zwischen Schwie-rigkeitsgrad und individueller Fohigkeit trennen.Konditionierung (conditioning). Erlernen von Reiz-Reaktions-Mustern. Bei der klassischen Konditionie-rung wird ein neutraler Stimulus mit einem »unbeding-ten Reiz« verknnpft, der eine Reaktion (z. B. einenReflex) auslçst. Nach einigen Wiederholungen kannder neutrale Reiz allein (im Falle des PawlowschenHundes der Klang einer Glocke) die Reaktion (denSpeichelfluss) auslçsen. Bei der operanten Konditionie-rung wird eine Reaktion mit einem positiven odernegativen Verstorker gekoppelt, sodass dieWahrschein-lichkeit des Auftretens der Reaktion in gleichen oderohnlichen Situationen steigt bzw. sinkt.Konstruktivismus (constructivism). Erkenntnistheo-retisch die Position, dass alle Erkenntnis subjektiveKonstruktionen darstellt, die keinen Schluss auf dieRealitot und auf ontologische Sachverhalte zulassen. Inder Entwicklungspsychologie bezieht sich Kons-truktivismus auf die individuelle Erkenntnis durchKonstruktionsprozesse, die sich in einer Abfolge vonStadien vollziehen; maßgeblich hierfnr ist Piagets Theo-rie der geistigen Entwicklung.Kontrolle (control). Einfluss des Selbst auf seine Um-welt. PrimQre Kontrolle zielt darauf ab, die Umwelt inRichtung auf die eigenen Wnnsche zu beeinflussen(»changing the world«), sekundQre Kontrolle bemnhtsich darum, das Selbst in Einklang mit der Umwelt zubringen (»changing the self«). Beide Formen kçnnenwirklichkeitsbezogen oder illusionor sein und kçnnensich als funktional oder dysfunktional erweisen. Kon-trollnberzeugung bedeutet die subjektive Einschotzung,in welchem Ausmaß das Selbst die Ereignisse bewusstbeeinflusst oder ob es ihnen hilflos ausgeliefert ist. DasKontrollkonzept ist fnr die Entwicklungspsychologieein fruchtbares und fnr alle Altersstufen genutztes Kon-zept.Kortex (cortex). Großhirnrinde; die oberflochlicheSchicht des Gehirns, die besonders reich an geschichte-ten Nervenzellen (Neuronen) ist und einen wesentli-chen Anteil der grauen Substanz ausmacht. Die Fort-sotze der kortikalen Neurone verlaufen in der weißenSubstanz unterhalb des stark gefoltelten Kortex. Die

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  • verschiedenen kortikale Areale sind anatomisch undfunktionell unterscheidbar. Beispiele besonders wichti-ger Regionen sind der profrontale Kortex, der im Stirn-lappen des Gehirns liegt und fnr Handlungsplanungund -steuerung maßgeblich ist, und das Sehzentrum imHinterhauptlappen.KreativitYt (creativity). Prozesse und Ergebnisse, die alsneu und wertvoll eingeschotzt werden und vornber-gehend oder dauernd zum Bestandteil der Kultur wer-den. Mit Kreativitot verbindet man also einen Bewer-tungsmaßstab und Vergegenstondlichungseffekte in derKultur. Zur Kreativitot gehçren neben der Leistung desIndividuums die Domone, in der die kreative Leistungerbracht wurde (z. B. Naturwissenschaft, Kunst, Musik)und die durch! Expertise gekennzeichnet ist, sowie dasFeld (Personen und Institutionen, die den Zugang zurDomone nberwachen). Kreativitot in der Kindheit wirddurch die Bemnhung um das Ausfnllen von Wissens-lncken evoziert, wohrend Kreativitot im Erwachsenen-alter gewçhnlich erst durch langjohrigen Erwerb vonExpertise mçglich wird.Kritische Lebensereignisse (critical life events). Belas-tende Ereignisse immenschlichen Lebenslauf, die Bewol-tigungsstrategien erfordern. Man unterscheidet norma-tive kritische Lebensereignisse, die im Lebenslauf regel-haft eintreten und zugleich ! Entwicklungsaufgabensind, und nicht-normative kritische Lebensereignisse,die unerwartet eintreten und daher besonders belastendsind (z. B. Unfall, Krankheit, Tod eines Angehçrigen).Bei der! Bewoltigung kritischer Lebensereignisse lassensich Phasen unterscheiden, die analog zu denen dergenerellen Stressbewoltigung gesehen werden. KritischeLebensereignisse haben nicht nur negative Auswirkun-gen, sondern steigern im Falle erfolgreicher BewoltigungKompetenzen und Selbstwert.Kultur (culture). Der vom Menschen gemachte Anteildes rkosystems. Kultur wird zum Bindeglied zwischenMensch und Umwelt, denn diese ist immer gesellschaft-lich geformte Umwelt, gegliedert in kulturelle Gegen-stonde, auf die sich Handeln bezieht und die in Formsozialer Verhaltensregeln und -richtlinien sowie alsideelle Objekte (z. B. wissenschaftliche Erkenntnisse,Kunst, Literatur und Musik) das Zusammenleben derIndividuen bestimmen.

    LLYngsschnittuntersuchung (longitudinal study). ImGe-gensatz zu!Querschnittuntersuchungen wird dieselbe

    Stichprobe zwei- oder mehrfach im Abstand von Mo-naten bis zu Jahrzehnten, also in unterschiedlichemAlter, untersucht. Auf diese Weise lassen sich intraindi-viduelle Entwicklungsveronderungen und Stabilitotenerfassen. Mit Longsschnittuntersuchungen lassen sichauch theoretisch interessante Hypothesen nber denZusammenhang zwischen verschiedenen Variablen inunterschiedlichemAlter prnfen, z. B. zwischen derQua-litot der Bindung an Betreuungspersonen in frnherKindheit und der Leistungsfohigkeit im Schulalter oderzwischenVernachlossigung imKindesalter und spoterenVerhaltens- und Persçnlichkeitsproblemen.Vor allem zwei methodische Probleme der Longs-

    schnittuntersuchungen sind zu beachten: (1) DurchAusscheiden von Personen aus der Stichprobe kçnnensog.! Selektionseffekte (»selektives Drop-out«) auftre-ten. Wenn z. B. in einer Untersuchung nber die In-telligenz im Alter die Leistungsschwocheren frnher undvermehrt ausscheiden, geben die ermittelten Durch-schnittswerte ein falsches Bild vom Verlauf der In-telligenzentwicklung, weil die Leistungsstorkeren denDurchschnittswert hoch halten, obwohl auch diese ei-nen Leistungsabfall aufweisen. (2) Wiederholte Leis-tungsmessungen kçnnen den Altersverlauf beschçnigtwiedergeben, weil Messungen einen qbungseffekt ha-ben: Die Art der Aufgaben sowie Lçsungen und Lç-sungsstrategien sind bei wiederholterMessung bekannt,weshalb die Aufgaben schneller gelçst werden (Tes-tungseffekte).Lernen (learning). Allgemein: Verhaltensonderungdurch Erfahrung und qbung. Wichtige und zugleichvielfach untersuchte Formen des Lernens sind: klassi-sche und operante ! Konditionierung, motorischesLernen (Erwerbmotorischer Fertigkeiten durch qbung,z. B. Radfahren, Klavierspielen, Schreibmaschineschrei-ben), Erwerb von Wçrtern und Zahlen, Erwerb von!Wissen (v. a. schulischemWissen), Erwerb von Stra-tegien (prozedurales Wissen), Nachahmungslernenoder Modelllernen (qbernahme von Verhaltensweisenvon Modellen, wobei die Reproduktion der beobachte-ten Verhaltensweise zeitverzçgert auftreten kann).

    Entwicklungspsychologisch wird Lernen erst dann in-teressant, wenn seine Ergebnisse erhalten bleiben (nach-haltiges Lernen). In vielen Follen, vor allem beim Wis-senserwerb, verwandelt sich das zunochst als Ober-flochenstruktur Erworbene in eine Tiefenstruktur(! Struktur). Der gnnstigste Zeitpunkt fnr Lernen imEntwicklungsverlauf liegt unmittelbar nach der Reifung

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  • der fnr das Lernen erforderlichen Funktionen. Die frn-here scharfe Trennung von Lernen und ! Reifung istkaum aufrechtzuerhalten, da bei allen Lernvorgongengenetische Voraussetzungen notwendig sind und Rei-fungsvorgonge ohne Umweltanregung nicht in Gangkommen.Lernstçrungen (learning disorders). Entwicklungsstç-rungen schulischer Fertigkeiten in Teilleistungsberei-chen, die vom Altersdurchschnitt abweichen, nichtdem allgemeinen Intelligenzniveau der Betroffenen ent-sprechen und mit nblichen Formen schulischer Fçr-derung nicht aufgefangen werden. Dazu gehçren nachICD-10 v. a. die Lese-/Rechtschreibstçrung, die Re-chenstçrung und die kombinierte Stçrung schulischerFertigkeiten.Lerntheorien (theories of learning). Eine Lerntheorie istein Satz (Set) von deduktiv abgeleiteten Aussagen nberLernen mit dem Ziel, Lernprozesse zu erkloren sowieLernverloufe und -ergebnisse vorherzusagen. Historischwurden als Erstes die behavioristischen Lerntheorien ent-wickelt, die nur Stimulus und Reaktion (Antwortverhal-ten) systematisch verbanden, ohne die dazwischen lie-genden Prozesse (»Blackbox«) erfassen zu wollen. Sozial-kognitive Lerntheorien konzentrierten sich ebenfalls aufSituation und Antwortverhalten. Kognitive Lerntheorienbeschoftigen sich demgegennber vor allem mit den men-talen Prozessen, die zwischen Reiz und Reaktion vermit-teln, und versuchen sowohl die Leistung dieser Prozessebeim Lernen zu erkloren als auch die Lernergebnisse inForm von kognitiven Strukturen zu beschreiben.

    MMobbing (mobbing, bullying). Schikanieren und andereFormen von Aggression (! Aggressivitot). In den! Set-tings Kindergarten, Schule und Spielplatz wird auch vonBullying gesprochen. Fnr die Analyse und die Proventionvon Mobbing sind nicht nur Toter und Opfer relevant,sondern auch die Haltung und das Handeln von Zu-schauern undMitwissern.Moderatorvariable (moderating variable). Variable, de-ren unterschiedliche Ausprogungen unterschiedlicheEffekte auf den Zusammenhang zwischen zwei anderenVariablen haben. So ist z. B. die Korrelation zwischenErziehungszielen der Eltern und entsprechendem Ver-halten der Kinder positiv, wenn der Erziehungsstil derEltern unterstntzend ist, und negativ, wenn die Elterneinen »machtausnbenden« Stil praktizieren. Auch derEffekt einer mutmaßlichen Bedingung auf eine abhon-

    gige Variable kann von moderierenden Variablen ab-hongen. So werden z. B. alle Risikofaktoren fnr Delin-quenzentwicklung durch die jeweiligen ! protektivenFaktoren in ihrer Wirkung gedompft oder gar aufgeho-ben. Auch die Wirksamkeit einer Maßnahme kann vonModeratorvariablen abhongen. So sind z. B. die Erfolgevieler Fçrdermaßnahmen in der Kindheit davon abhon-gig, ob die Eltern einbezogen werden.Moral (moral, morality). Eine spezifische Kategorie nor-mativer qberzeugungen, die das eigene Erleben,Wertenund Handeln leiten. Rechtsnormen, Konventionen,Spielregeln sind andere Kategorien, kçnnen aber auchmoralische Qualitot haben. Moral wird mit Indikatorenerfasst: Wissen nber geltende Normen, Urteile nbermoralisch gebotenes Verhalten, normentsprechendesund normabweichendes Verhalten sowie moralischeGefnhle (Befriedigung nber moralisches Verhalten,Schuld bei eigenen qbertretungen und Empçrung beiNormverletzungen anderer). Moral wird durch ! In-ternalisierung kultureller Normen oder selbst gewon-nene Einsichten aufgebaut. Sie bleibt heteronom, wenndie Normen nicht persçnlich akzeptiert und Bestandteileines moralischen ! Selbst werden. Kinder unterschei-den schon frnh zwischen Konventionen, die man auchondern kann, und moralischen Normen, die sie alsuniversell gnltig ansehen. Die Zuschreibung von Ver-antwortlichkeit fnr ! Handlungen ist konstitutiv fnrdas Erleben moralischer Gefnhle. Sie setzt die Annahmevon Entscheidungsfreiheit voraus. Ausgiebig untersuchtwurde die Entwicklung des moralischen Urteilens, dassich von egozentrischen zu universalistischen Begrnn-dungen normativer Urteile wandelt.Motivation (motivation). Prozesse und Effekte, aufgrundderen ein Individuum sein Verhalten um der erwartetenFolgen willen auswohlt und hinsichtlich Richtung undEnergieaufwand steuert. Motivation resultiert aus derInteraktion von Person und Situation. Neben den Anre-gungsbedingungen der Situation, die z. B. in der Wahr-nehmung von Gelegenheiten zur Erreichung bestimmterZiele bestehen, spielen die damit angeregten ! Motivefnr die Ausbildung der Anreizwerte der vorweggenom-menen Handlungsfolgen eine Rolle. Generell losst sichMotivation aus der Verknnpfung von Erwartung malWert (Anreiz) vorhersagen. In der Entwicklungspsycho-logie ist vor allem die Entwicklung der Leistungsmotiva-tion ausgiebig untersucht worden.Motive (motives). Allgemeine Inhaltsklassen von wert-geladenen – im positiven Falle angestrebten – Folgen

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  • eigenen Handelns. Zu basalen Motiven zohlen das Leis-tungs-, Macht- und (soziale) Anschlussmotiv sowie! Aggressivitot. Das Leistungsmotiv etwa wird mit derInhaltsklasse aller Handlungsziele umschrieben, fnr de-ren Bewertung dem Handelnden ein Maßstab der Tnch-tigkeit verbindlich ist. In der Entwicklungspsychologiesind soziale Motive, Aggressivitot, Leistungsmotiv undNeugier/Interesse besonders houfig untersucht worden.Motorik (motor system). Alle Formen der Kçrperbewe-gung.Grobmotorik (auch: Großmotorik) bezeichnet Be-wegungen des gesamten Kçrpers, vor allem der Armeund Beine, wie Gehen und Laufen, Skifahren, Radfah-ren, Geroteturnen und Gymnastik. Feinmotorik beziehtsich auf Leistungen der Honde, wie Schreiben, Stricken,Zeichnen, ein Musikinstrument spielen. Sensomotorik(auch: Sensumotorik) kennzeichnet das Zusammen-spiel von ! Sensorik und Motorik, wobei man eineninneren Regelkreis (Regulation der Motorik durch kin-osthetische Rnckmeldung) und einen oußeren Regel-kreis (Regulation der Motorik vorwiegend durch visu-elle Wahrnehmung) unterscheidet.Myelinisierung (myelinization). Markscheidenbildung.Ein Vorgang, der im 1. Lebensjahr einsetzt und dieFunktionstnchtigkeit des Gehirns entscheidend begnns-tigt. Dieser Prozess beeinflusst erneut auch in der spotenKindheit und im Jugendalter die Gehirnentwicklung.

    NNeugierverhalten (curiosity). Aktuelle Zuwendung zueinem Gegenstand oder einer Situation mit Anreizcha-rakter.Neugierverhalten geht ontogenetisch der Interes-senentwicklung voraus, in frnher Kindheit ist es ent-scheidend fnr die Exploration der Umwelt.Neurotransmitter (neurotransmitter). Botenstoffe, diean den Verknnpfungen zwischen Nervenzellen, denSynapsen, die Signalnbertragung vermitteln. Dabeiwird der elektrische Impuls in einer Nervenzelle durchAusschnttung des Neurotransmitters an der prosynap-tischen Membran in den synaptischen Spalt in ein che-misches Signal umgewandelt. Auf der Gegenseite wirdder Botenstoff von hochspezifischen Rezeptoren auf-genommen, die zur Veronderung des Potenzials derpostsynaptischen Membran fnhren. Die wesentlichenexzitatorischen (erregenden) Neurotransmitter sindGlutamat, Acetycholin, Noradrenalin, Dopamin undSerotonin. Gamma-Aminobuttersoure (GABA) ist derwichtigste inhibitorische (hemmende) Neurotransmit-ter.

    Normierung (standardization, normalization). Wie an-dere Messinstrumente werden psychologische Testver-fahren normiert. Dafnr werden Verteilungen und Mit-telwerte in umschriebenen Populationen ermittelt, diedann als Vergleichswerte fnr die Beurteilung der Test-ergebnisse von einzelnen Personen oder spezifischenStichproben herangezogen werden, z. B. durch den Ab-stand vomMittelwert der Population oder den Prozent-rang. Entwicklungstests im Kindes- und Jugendalterwerden an reprosentativen Altersstichproben normiert.

    OObjektpermanenz (object permanence). Die Erkenntnisdes Souglings, dass Objekte weiter existieren, auch wennsie nicht wahrnehmbar sind. Wohrend Objektper-manenz nach Piaget erst mit ca. 10 Monaten auftrittund dann bestimmte Etappen durchlouft, zeigt dieneuere Forschung, dass bestimmte ihrer Teilleistungenviel frnher auftreten.Ontogenese – Phylogenese (ontogeny – phylogeny).Ontogenese bezeichnet die Entwicklung von Individu-en, Phylogenese die stammesgeschichtliche Entwick-lung der Tierreihe bis hin zum Menschen. Die Annah-me, dass die Ontogenese die Phylogenese wiederholt,stimmt nicht; wohl aber zeigen sich in dermenschlichenvorgeburtlichen Entwicklung Stadien der frnhen Onto-genese in der Tierreihe (z. B. ohneln menschliche Em-bryonen in einer gewissen Phase Fisch-Embryonen).Operation (operation). Nach Piaget eine internalisierteHandlung, die es ermçglicht, mentale Reprosentationenzu bearbeiten, neu zu kombinieren und zu verondern.Beim ! Denken unterscheidet Piaget die konkret-logischen und die formal-logischen Operationen. qberdie Operationen sind hierarchisch die! Handlung unddie Totigkeit gelagert.

    PPartnerschaft (partnership). Intime Beziehung zwi-schen verschiedengeschlechtlichen oder gleich-geschlechtlichen Partnern. Als Phasen der Partner-schaftsentwicklung fandman:Wahrnehmung von lhn-lichkeiten bzw. wechselseitiger Attraktivitot, die zurSympathie fnhrt und longerfristig zur gegenseitigen Rol-lenanpassung und -ergonzung mit wachsendem Enga-gement. Schließlich kann es aufgrund anhaltenden En-gagements und zunehmender Bindung zur Kristallisie-rung der Dyade kommen, die mit Erleben vonPaaridentitot einhergeht. Die Dauer von Partnerschaf-

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  • ten verknrzt sich im historischen Vergleich. Allerdingslosst sich die Qualitot frnherer Partnerschaften kaummit heutigen vergleichen, da Partnerschaften mit nied-riger Beziehungsqualitot frnher longer als heute auf-rechterhalten wurden.Passung (fit). Bedeutet zunochst das optimale Zusam-menspiel von Anlage und Umwelt, aktuellen Persçn-lichkeitsbedingungen und Umweltangebot fnr Erfah-rung und Lernen. Ausgeweitet umfasst Passung darnberhinaus Ziele und Potenziale des Individuums (intrain-dividuelle Passung) sowie die Anforderungen im fami-lioren, schulischen und subkulturellen Umfeld. Ent-wicklungsprobleme kçnnen in diesem Sinne durch For-men mangelnder Passung gekennzeichnet werden. Einausgearbeitetes Modell zur Passung zwischen Entwick-lungsstand undUmweltanregung ist das Stage-Environ-ment-Fit-Modell von Eccles, das die unerwnnschtenEntwicklungsverloufe als Folge fehlender Passung vonindividuellen Bednrfnissen in der Pubertot und schu-lischen Rahmenbedingungen zu konzipieren versucht.Peergruppe (peer group). Die Gruppe Gleichaltrigerund Gleichgesinnter (Peers). Peergruppen sind bereitsin der Kindheit ein wichtiger Faktor, haben aber vorallem wohrend der Adoleszenz große Bedeutung. AlsFunktionen schreibt man ihnen zu: Orientierung, Sta-bilisierung, emotionaleGeborgenheit, sozialer Freiraumfnr Erprobung neuer Mçglichkeiten, Unterstntzung beider Ablçsung vom Elternhaus und Beitrag zur Identi-totsbildung. Peergruppen entwickeln im JugendalterLebensstile und Subkulturen. Verwandte Begriffe sind»Clique« und! »soziales Netzwerk«.Persçnlichkeit (personality). Die dynamische Ordnungderjenigen psychophysischen Eigenschaftsbnndel oderSubsysteme im Individuum, die seine einzigartige An-passung an seine Umwelt bestimmen. Persçnlichkeitwird einerseits als Struktur von Eigenschaften erforscht,andererseits als ! System mit Subsystemen konzipiert.Am bekanntesten und houfigsten verwendet sind die! Big Five. Dynamische Systemmodelle beschreibenund erkloren Persçnlichkeit in Interaktion mit der so-zialen und physikalischen Umwelt sowie intern alsWechselwirkung zwischen Subsystemen.Persçnlichkeitsentwicklung (personality development).Die differenzielle Veronderung von Personen im intrain-dividuellen und interindividuellen Vergleich. In der Ent-wicklung tauchen als Erstes ! Temperamentsmerkmaleauf, die hohe intraindividuelle ! Stabilitot aufweisen.Auch die spoter in Kindheit und Jugend sich ausdifferen-

    zierenden Eigenschaften (erfasst durch Persçnlichkeits-tests) bleiben relativ und intraindividuell verholtnis-moßig stabil. Veronderungen ergeben sich jedoch hin-sichtlich der Selbstbeschreibung (! Selbst) und demVerstondnis der eigenen ! Identitot. Wohrend jnngereKinder kçrperliche und geografische Merkmale bei derSelbstbeschreibung in den Vordergrund stellen, findensich bei olteren Kindern soziale Rollen- und Statusbegrif-fe, aber auch psychische Eigenschaften und im Jugend-alter Aspekte des Lebensstils, Konzeptionen einer auto-nomen und auf andere bezogenen Identitot sowie Ent-wnrfe zu Lebensplonen.PerspektivenZbernahme (perspective-taking). Das Ver-stehen psychischer Zustonde und Prozesse (des Den-kens, Fnhlens, Wollens) einer anderen Person, wobeideren Perspektive erkannt wird und entsprechendeSchlussfolgerungen gezogen werden kçnnen. Emotio-nale Perspektivennbernahme bezeichnet das Verstehenvon Emotionen aufgrund der Erkenntnis der emotiona-len Lage des anderen. Diese Fohigkeiten sind engmit der! Theory of Mind verwandt.Phylogenese. Siehe Ontogenese – Phylogenese.PlastizitYt (plasticity). Formbarkeit. Sie ist im Bereichder Entwicklungspsychologie erkennbar an differenziel-len Entwicklungen, die als Folge veronderter AktivitotenundAnforderungen erklorbar sind. Plastizitot wurde fnrviele Leistungen in allen Lebensphasen, auch noch imhçheren Alter, beobachtet. Dies besagt, dass auf jedemerreichten Entwicklungsniveau sowohl Gewinne wieVerluste mçglich sind. Es gilt, Erkenntnisse nber dieFaktoren zu gewinnen, auf die Anstiege und Verlustezurnckzufnhren sind. Plastizitot manifestiert sich inVeronderungen des Verhaltens und des Gehirns, derenArt und Ausmaß von Reifung, Alterung, frnheren Lern-erfahrungen und individuellen Voraussetzungen ab-hongen und altersvergleichend untersucht werden.PrYdiktor (predictor). Ein in der Statistik gebrouchlicherAusdruck fnr die zur Vorhersage einesMerkmals heran-gezogene unabhongige Variable. In der Entwicklungs-psychologie wird beispielsweise das chronologische Al-ter oft als Prodiktor betrachtet, der Unterschiede inMerkmalsausprogungen erkloren kann. Hinter dem Al-ter verbergen sich aber oft andere Prodiktoren, sodass esauch selbst zu einer abhongigen Variable werden kann.PrYvalenz (prevalence). Aus der Epidemiologie nber-nommener Begriff; er bezeichnet den Anteil an einerPopulation, der ein spezifisches Merkmal, meist eineStçrung (z. B.Delinquenz, Schulversagen,Magersucht),

    Glossar

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  • aufweist. Die Population kann spezifiziert werden, etwanach Alter, Geschlecht, Bildung, Familienstand oderethnischemHintergrund; so kann z. B. beznglich Delin-quenz ausgesagt werden, dass sie im Jugendalter beson-ders hoch, beimonnlichen Jugendlichen hçher ist als beiweiblichen usw. Wenn solche Aussagen valide theo-retisch erklorbar sind, sollten aus denErklorungen spezi-fische proventive Maßnahmen ableitbar sein.PrYvention (prevention). Maßnahmen zur Vermeidungvon (weiteren) Fehlentwicklungen. PrimQre Proventionbeinhaltet Maßnahmen, die Leistungsdefizite, das Auf-treten von psychischen und Verhaltensstçrungen sowieGesundheitsgefohrdungen verhindern sollen; sekundQreProvention Maßnahmen, mit denen aufgetretene Stç-rungen kompensiert oder korrigiert werden sollen, umweitere Fehlentwicklungen zu verhindern (wird gewçhn-lich als ! Intervention bezeichnet); tertiQre ProventionRehabilitationsmaßnahmen, mit denen weitere negativeFolgen begrenzt oder behoben werden sollen.Priming. In der Entwicklungspsychologie das Phono-men, dassman einenReiz dann besser erkennen oder beider Darbietung eines Reizteils besser erschließen kann,wennman auf diesen Reiz zuvor aufmerksam (gemacht)wurde.ProduktivitYt (productivity). Alle materiellen, geistigen,emotionalen und motivationalen Wirkungen, die einePerson durch ihr Handeln, Denken, Fnhlen undWollenbei sich selbst oder in einem bestimmten gesellschaftli-chen Umfeld absichtlich oder unabsichtlich hervorruftund die sich als nntzlich erweisen. Das Konzept derProduktivitot wird in der Entwicklungspsychologie vor-wiegend fnr Leistungen im Alter verwendet.Prosoziales – antisoziales Verhalten (prosocial – antiso-cial behavior). Prosoziales Verhalten bedeutet aufandere gerichtetes Verhalten, das mit Begriffen wieUnterstntzung, Hilfe, Pflege, Zuwendung und Wormeumschrieben wird. Antisoziales Verhalten ist dem-gegennber ein andere Personen schodigendes oder ver-nachlossigendes Verhalten und umfasst etwa Aggressi-on, Rncksichtslosigkeit, lrgern, Schodigung. ObwohlAntipoden, sind beide Verhaltensweisen bei ein undderselben Person vorzufinden.Protektive Faktoren (protective factors). Schutzfak-toren, die psychische oder kçrperliche Gefohrdungenverhindern und Belastungen oder Verluste abfedern.Das sind einmal externale! Ressourcen wie Unterstnt-zung im sozialen Umfeld, materielle Ressourcen undSicherheiten. Internale Ressourcen kçnnen Kompeten-

    zen, inklusive Bewoltigungskompetenzen, sein, ein po-sitives Selbstbild (z. B. beznglich Leistungsfohigkeit,Selbstwirksamkeit, sozialer Akzeptanz und Anerken-nung), ein positives Bild von anderen, von der Weltund der Zukunft. Vgl. auch Resilienz.PubertYt (puberty). Zeit der Geschlechtsreife im Ju-gendalter, die beimweiblichen Geschlecht ca. zwei Jahrefrnher als beimmonnlichen einsetzt.

    QQuasi-experimentelle Designs (quasi-experimental de-signs). Experimentelle Versuchsplone, die die Vorteiledes Experiments mit einer hçheren Validitot in dersozialen Realitot verbinden (hohe externe, aber gerin-gere interne Validitot). Quasi-experimentelle Designswerden bei einer Vielfalt von Fragestellungen genutzt,etwa bei der Prnfung von Schulmodellen, Therapie- undInterventionsverfahren, Erziehungsstilen verschiedenerethnischer Gruppen und Fçrderprogrammen fnr ent-wicklungsgestçrte Kinder.Querschnittuntersuchung (cross-sectional study). Er-fasst Personengruppen verschiedenen Alters zum glei-chen Messzeitpunkt. Das methodische Problem bestehtdarin, dass in Querschnittuntersuchungen zweiVariablen konfundiert sind: das Lebensalter und dieZugehçrigkeit zu einer Geburtskohorte (! Kohorte).Unterschiedliche Geburtskohorten haben meist unter-schiedliche Entwicklungs- und Lebensbedingungen,z. B. hinsichtlich Bildungsmçglichkeiten und -anforde-rungen, geltenden kulturellen Werten und Rollenbil-dern sowie allgemeinen Wohlstands. Das kann sich aufverschiedene Entwicklungsvariablen auswirken. Dahersind ! Longsschnittuntersuchungen unerlosslich. Fnrdie Einschotzung von Entwicklungsverloufen sindQuerschnittuntersuchungen nur hilfreich, wenn es umden Nachweis allgemeingnltiger universeller Entwick-lungsgesetze geht. In diesem Falle kçnnen Querschnitt-untersuchungen den Longsschnittuntersuchungennberlegen sein, weil dort Lern- bzw. Interventionseffekteauftreten kçnnen.

    RReifung (maturation). Gengesteuerte Entfaltung biolo-gischer Strukturen und Funktionen. In der Entwick-lungspsychologie negativ definiert als Entwicklungspro-zess, der anzunehmen ist, wenn der beobachtbare Fort-schritt nicht auf Erfahrung und qbung beruht. Greifenund Gehen beruhen weitgehend auf Reifungsvorgon-

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  • gen. Das Konzept der Reifung wird heute als problema-tisch angesehen, da auch die hierunter subsumiertenVorgonge nicht ohne Umweltanregung auskommen.ReliabilitYt (reliability). Statistische Zuverlossigkeit ei-nes Messverfahrens. Sie wird durch mehrfache Wieder-holung einer Messung nachgewiesen, die bei einemstabilen Merkmal zu einem immer wieder gleichen Er-gebnis fnhren sollte. Reliabilitot und ! Validitot einerMethode sind entscheidende statistische Kenngrçßenfnr die Aussagekraft eines Messverfahrens.ReligiositYt (religiosity). Religion ist ein System vonOffenbarungen. Religiositot ist auf Religion gerichteteEinstellung und Praxis und rekurriert auf ein Letztgnlti-ges, wie immer es beschaffen sein mag. Religiositot istnicht identisch mit! Spiritualitot.ReprYsentation (representation). Sammelbegriff fnrLeistungen der Vergegenwortigung von Erfahrungs-inhalten und Informationseinheiten zum Zweck derInformationsverarbeitung. Jerome Bruner hat drei Ar-ten der Reprosentation unterschieden: die symbolischeReprosentation, z. B. durch Begriffe, andere sprachlicheVergegenwortigung eines Gegenstandes, Sachverhaltesoder Prozesses, die ikonische Reprosentation, die inbildlichen Vorstellungen besteht, und die enaktiveReprosentation, die Bewegungsabloufe in der Vorstel-lung umfasst. Mit diesen drei Formen ist jedoch dasSpektrum von Reprosentation nicht erschçpfend be-schrieben. Letztlich geht es um die Frage, wie oder inwelchen »Codierungen« Erfahrungen, kommunizierteInformationen, Ergebnisse von Denken gespeichertwerden, um in allen unterschiedlichen intentionalenund nicht-intentionalen Verwendungen verfngbarzu sein (! Denken, ! Gedochtnis, ! Operationen,! Aufmerksamkeit). Auch die Modellbildungen inden Wissenschaften sind Reprosentationen. Reprosen-tationen entwickeln sich bereits im Laufe der erstenbeiden Lebensjahre undwerden schon im2. Lebensjahreffizient eingesetzt. Die gesamte weitere Entwicklungerfordert Reprosentationen.ReprYsentativitYt (von Stichproben; [sample] represen-tativity). Eine Stichprobe kann fnr die Population, nberdie Aussagen getroffen werden sollen, mehr oder weni-ger reprosentativ sein. Ist die Stichprobe hinsichtlichallerMerkmale reprosentativ fnr die Population, sprichtman von globaler Reprosentativitot. Ist die Stichprobehinsichtlich bestimmter Merkmale reprosentativ fnr diePopulation, spricht man von spezifischer Reprosentati-vitot.

    Resilienz (resilience). Widerstandsfohigkeit gegennberStressoren und! Risikofaktoren. In der Entwicklungs-psychologie versteht man darunter die Fohigkeit, inter-nale und externale! Ressourcen erfolgreich zur Bewol-tigung von Entwicklungsanliegen zu nutzen. Resilienzbewirkt eine gnnstige bzw. erfolgreiche Entwicklungtrotz gefohrdender Bedingungen; der Begriff wird auchnur im Zusammenhang mit der Widerstandsfohigkeitangesichts eines Risikopotenzials verwendet, das in an-deren Follen zu Entwicklungsstçrungen und Krankheitfnhrt.Ressourcen (resources).Mçglichkeiten, die fnr die Bewol-tigung von Entwicklungsproblemen und -gefohrdungengenutzt werden kçnnen. InternaleRessourcen, auf die dasIndividuum zugreifen kann, bilden vorausgegangeneErfahrungen, Persçnlichkeitsfaktoren, erworbene Be-woltigungsstrategien und positive Selbsteinschotzung(! Selbstwirksamkeit, ! Kontrolle). Externale Ressour-cen sind alle unterstntzenden Umweltfaktoren, wie Fami-lie, Freunde, gnnstige Arbeitsbedingungen, Erholungs-mçglichkeiten etc. Ressourcen mnssen aber vom Indivi-duum erkannt und genutzt werden; daher ist das Konzeptmit der subjektiven Einschotzung von Zugriffsmçglich-keiten verbunden.Risikofaktoren (risk factors). Bedingungen, die einepositive Entwicklung gefohrden kçnnen. Dazu zohlenRahmenbedingungen wie Armut, Wohnen in sozialenBrennpunkten, Zugehçrigkeit zu Randgruppen, Ver-nachlossigung, Misshandlung und Verwahrlosung in derFamilie, Konflikte zwischen den Eltern, ungnnstige Ei-genschaften, Wertvorstellungen und Aktivitoten von Be-zugspersonen und -gruppen, ungnnstige Temperaments-und Persçnlichkeitsmerkmale, Traumatisierungen undwiederholte negative Erfahrungen, Verlusterfahrungendurch kritische Lebensereignisse wie Tod geliebter Per-sonen, Scheidungsfolgen, Krankheiten, physische Gebre-chen und Behinderungen etc. Die abtroglichen Wirkun-gen von Risikofaktoren kçnnen durch ! protektiveFaktoren und ! Resilienz vermindert oder vermiedenwerden.

    SSchemata (schemas). VerallgemeinerteWissensstruktu-ren, in denen typische Zusammenhonge reprosentiertsind. Bei Piaget bilden Schemata die Grundlage fnr! Assimilation und Akkommodation. Im sensomoto-rischen Stadium beinhalten Schemata das Wiederhol-bare und Generalisierbare einer Handlung. Handlungs-

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  • schemata reprosentieren wesentliche und allgemeineMerkmale von Handlung (wie Akteur, Totigkeit undObjekt der Totigkeit).Selbst – Selbstkonzept (Selbstbild) (self – self-concept,self-image). Als Selbst bezeichnetman die kognitiv-affek-tive Struktur des Wissens um die eigene Person, dieregulierende Instanz fnr die Bewertung von Situationen,das eigene Verhalten, das Verhalten anderer und dieMotivierung eigenen Handelns. Das Wissen und Bewer-ten des Selbst wird als Selbstkonzept (Selbstbild), oder –wenn eine komplexere hierarchische Struktur vorliegt –als Selbsttheorie bezeichnet.Im Selbstkonzept sind objektives Wissen nber sich

    selbst und die sozialen Beznge (wie Familienzugehçrig-keit) und subjektive qberzeugungen (z. B. nber Fohig-keiten oder Eigenschaften) zu unterscheiden. Letzterekçnnen objektiv zutreffen oder falsch sein. Von Inte-resse sind auch Konsistenzen und Diskrepanzen zwi-schen demSelbstkonzept und denqberzeugungen, wieman von wichtigen anderen Personen gesehen wird.Diese perzipierten Fremdbilder vom Selbst sind ein-flussreich: Sie kçnnen in das Selbstkonzept nbernom-men werden und kçnnen stabilisierend oder auchstigmatisierend wirken. Umgekehrt gibt es Versucheder Selbstdarstellung gegennber anderen, um derenBild von einem positiv(er) zu gestalten.

    Verschiedene Teilsysteme des Selbst sind mehr oderweniger konsistent. Vor allem im Jugendalter stehen dasaktuelle Selbst (das Bild, wie man gegenwortig ist), dasIdeal-Selbst (wie man sein oder werden mçchte) und dasSollen-Selbst (die Verpflichtungen gegennber anderenund grçßeren Gemeinschaften) in einem Spannungsver-holtnis. Das Kçrperselbstbild besitzt vor allem auch imJugendalter große Bedeutung und ist oft negativ einge-forbt, houfiger bei Modchen. Bezogen auf Leistungenunterscheidet man das Fohigkeitsselbstkonzept undSelbstkonzepte in einzelnen ! Domonen, wie z. B. Ma-thematik oder Fremdsprachen. Spoter wird das berufli-che Selbstkonzept bedeutsam.Selbstwirksamkeit (self-efficacy). Bewusstsein des Men-schen, selbst Urheber vonWirkungen in der Umwelt zusein. Dieses Konzept beschreibt also das Zutrauen, dasPersonen haben, etwas erreichen zu kçnnen. Dies kannverschiedenste Bereiche wie Schulleistungen oder so-ziale Beziehungen betreffen und hat vielfoltige Kon-sequenzen fnr den Umgang mit Misserfolgen und dieErfnllung seines eigenen Potenzials.

    Selektionseffekt (selection effect). Verzerrung einerStichprobe. Wenn bei der Zusammenstellung einerStichprobe schon Merkmale, die von Interesse sind,sich auf die Teilnahmewahrscheinlichkeit auswir-ken, spricht man von einem Selektionseffekt. Bei! Longsschnittuntersuchungen spielt die Selektivitoteine wesentliche Rolle, weil man damit rechnen muss,dass die Nichtteilnahme von Personen an spoterenMesszeitpunkten nicht zufollig ist, sondern beispiels-weise bei sehr alten Stichproben auf Morbiditot(Krankheit) und/oder Mortalitot (Sterblichkeit) zu-rnckzufnhren ist. Gerade diese Eigenschaften sindaber in gerontologischen Longsschnittstudien von In-teresse.Sensible Perioden/Phasen (sensitive periods/phases).Entwicklungsabschnitte, in denen spezifische Erfahrun-gen im Vergleich zu frnheren und spoteren Periodenmaximale positive oder negative Wirkungen zeitigen.Beim Spracherwerb sind beispielsweise die ersten sechsLebensjahre eine solche sensible Phase, weil hier derangeborene Spracherwerbsmechanismus das Erlernenvon Sprachen erleichtert.SensitivitYt (sensitivity). Die Fohigkeit, prompt undangemessen auf das Verhalten anderer zu reagieren.Eine hohe Sensitivitot der Eltern gegennber ihren Kin-dern (insbesondere Souglingen und Kleinkindern) wirdals entwicklungsfçrderlich angesehen.Sensorik (sensory system). Das Gesamtsystem der! Wahrnehmung. Die Sensorik ist das Eingangssystemfnr Informationsverarbeitung. Man unterscheidet Nah-sinne (Geruch, Geschmack, Tastsinn) und Fernsinne(Gesichtssinn, Gehçr).Sensomotorik. Siehe unter Motorik.Setting (setting). Lebensroume mit spezifischen rrt-lichkeiten fnr spezifische, oft rollengebundene Aktivito-ten und Interaktionenmit spezifischen Bezugspersonen.Entwicklungsrelevante Settings sind neben Familien-wohnung, Kindergarten, Schulen und Arbeitsplatz z. B.auch Einrichtungen der Religionsgemeinschaften oderFreizeiteinrichtungen.Skripts (scripts). Schematisierte »Drehbncher« fnr wie-derkehrende Handlungs- und Interaktionsabloufe. Sol-che Skripts sind fnr Kinder z. B. die Morgentoilette, dasZubettgehen, gemeinsame Mahlzeiten, Spielabloufe,Feiern (Geburtstage, Weihnachten) und Ausflnge.Durch die schematische Vorstrukturierung erleichternSkripts Handlungsabloufe und Interaktionen. Sie sindauch hilfreich in schwierigen Problemsituationen, etwa

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  • bei der Mitteilung belastender Informationen oder beider Bereinigung von Konflikten. Wenn verschiedeneAkteure unterschiedliche Skripts haben, kann es auchzu Irritationen kommen.SOK-Modell (SOC model). SOK ist die Abknrzung fnrdas von Baltes und Baltes vorgeschlageneModell erfolg-reicher Entwicklung als Zusammenspiel von Selektion,Optimierung und Kompensation. Mit Selektion ist dieKonzentration der begrenzten Ressourcen auf eine Aus-wahl von Funktionsbereichen gemeint. Optimierungzielt auf Entwicklungsgewinne und umfasst den Erwerb,die Verfeinerung und die Anwendung von Ressourcenzum Erreichen von Entwicklungszielen. Kompensationdient der Aufrechterhaltung des Funktionsniveaus beiVerlusten und nutzt Ressourcen, um den Verlustenentgegenzuwirken. Das SOK-Modell wurde ursprnng-lich entwickelt, um produktive Lebensgestaltungen inhçherem Alter zu beschreiben, es ist aber auf die Ent-wicklung wohrend des gesamten Lebens anwendbar.Soziales Netzwerk (social network). Beschreibung einersozialen Struktur von verschiedenartigen Beziehungeneines Menschen. Kenngrçßen sind u. a. die Grçße undAlterszusammensetzung des sozialen Netzwerks, Merk-malsausprogungen seiner Mitglieder, Beschreibungender Art und Qualitot der sozialen Beziehungen sowieder Netzwerkveronderungen nber die Zeit.Sozialisation (socialization). Der aus der Soziologiestammende Begriff der Sozialisation bezeichnet die Pro-zesse, aufgrund deren Menschen Mitglieder der Gesell-schaft werden, in die sie hineingeboren sind. Verschie-dene Instanzen wie Familie, Schule, Beruf und Medienvermitteln kulturelle Bedeutungen, Sinnzusammen-honge und Werthaltungen. Es spielen sich vielfoltigeLernprozesse ab, wobei auch die Spannung zwischengesellschaftlichenVorgabenundderHerausbildung einerpersçnlichen Identitot von grundlegendem Einfluss ist.Spiel (play). Zweckfreie, meist auf Objekte bezogene,ritualisierte oder ritualisierendeHandlungen, die in eineimaginierte fiktive Realitot eingebettet und houfigenWiederholungen unterzogen sind. Formen des Spielssind in der Entwicklungsreihenfolge: sensomotorischesSpiel, Als-ob-Spiel, Rollenspiel und Regelspiel. Das ausder ! Exploration erwachsende Konstruktionsspiel(Bauen, Kneten, Malen, Singen, Tanzen) setzt frnh einund stellt eine eigene Entwicklungslinie dar. Der Sinndes Spiels wird in der Einnbung von spoter nçtigenFunktionen gesehen, generell aber hat Spiel die Funk-tion der Lebensbewoltigung in Form von imaginativer

    Bednrfnisbefriedigung sonst unerreichbarer Ziele (z. B.groß und stark sein), der Reaktion gegen den starkenSozialisationsdruck, der reinigenden Wirkung (Kathar-sis) und der Bearbeitung traumatischer Ereignisse (z. B.Krankheit) sowie der Vorbereitung auf ! Entwick-lungsaufgaben (z. B. Schule spielen). Im Erwachsenen-alter scheint Spiel neben der Regression in frnhere Ent-wicklungsstadien der Kompensation sowohl von gesell-schaftlichen Konflikten (Wettspiele als ritualisierteKriege) als auch von privaten Problemen (z. B. Miss-erfolg im Beruf oder in der Partnerschaft) zu dienen.Eine besondere Stellung nehmenGlncksspiele ein, die inSuchtform eine pathologische Entwicklung nehmen.SpiritualitYt (spirituality). Verinnerlichung (sich nachinnen wenden) und Transzendieren (nber sich und dieWelt »hinausblicken«). Empirisch operationalisiert z. B.als »awareness of sensing«, »mystery sensing«, »valuesensing«, »community sensing«.Sprache (language). Die nur beim Menschen anzutref-fende Fohigkeit, mittels vereinbarter Zeichen Bedeu-tungen auszudrncken, Sachverhalte darzustellen undmit anderen nber Bedeutungen zu kommunizieren.Neben dieser Darstellungs- und Mitteilungsfunktionhat die Sprache auch noch eine handlungsregulierendeFunktion (!Wille). Komponenten der Sprache sindPhonologie (Organisation von Sprachlauten), Mor-phologie (Wortbildung), Syntax (Satzbildung), Se-mantik (Wort- und Satzbedeutung) und Pragmatik(Sprechakte) sowie suprasegmentale Komponenten(z. B. Intonationskontur). Alle Komponenten weisentypische Entwicklungsverloufe auf, die imDurchschnittauch bestimmten Altersabschnitten zuzuweisen sind.

    Der Spracherwerb gelingt nur in Interaktion mitkompetenten Sprachpartnern, wobei der mntterlicheSprechstil sich von der »Ammensprache« zur stntzen-den Sprache (»Scaffolding«) und schließlich zur lehren-den Sprache (»Motherese«) wandelt. Fnr den Sprach-erwerb gibt es eine ! sensible Periode (Zeitfenster),wobei eine vollstondige Sprachdeprivation wohrendder Kindheit etwa ab der Pubertot nach heutiger Kennt-nis nicht mehr aufgefangen werden kann. Fnr dieErklorung des Spracherwerbs gibt es zwei Theo-rienfamilien: »Outside-in«-Theorien (Annahme ge-nereller Lernmechanismen, keine angeborenen spezi-fischen Voraussetzungen) und »Inside-out«-Theorien(Sprachlernen unterscheidet sich von anderen Lern-prozessen, das Kind ist mit angeborenen sprachspezi-fischen Fohigkeiten ausgestattet). Im letzteren Fall losst

    Glossar

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  • sich zwischen Kompetenz (Potenzial zumErwerb somt-licher menschlicher Sprachen: prinzipielles Sprachver-mçgen) und Performanz (Fohigkeit, eine bestimmteSprache zu sprechen: aktuelles Sprachvermçgen) un-terscheiden.StabilitYt (stability). Neben Veronderung im Lebenslaufist Nichtveronderung bzw. Stabilitot von Interesse.Mehrere Konzepte der Stabilitot sind zu unterscheiden.Absolute Stabilitot auf einer Dimension besteht, wennkeine Veronderung beobachtbar ist. Relative oder Posi-tionsstabilitot besagt, dass bestimmte Positionen desIndividuums in einer Bezugsgruppe erhalten bleiben.Mit struktureller Stabilitot (bisweilen auch als Profilsta-bilitot bezeichnet) ist gemeint, dass sich das Muster derFaktoren oder Dimensionen mit dem Alter nicht ver-ondert. Wohrend der Kindheit wurde eine Differenzie-rung der! Intelligenz in mehrere Faktoren festgestellt.Die Persçnlichkeitsentwicklung hat nber longere Stre-cken des Lebenslaufes eine relativ hohe Stabilitot derFaktorenstruktur der! Big Five.Standardabweichung (standard deviation, SD). Statis-tischesMaß fnr die Streuung desWertes einer Variablenum ihrenMittelwert.Stress (stress). Belastung, die aktuell oder langfristig dieEntwicklung beeinflussen kann. Eustress oder positiverStress ist eine positiv erlebte Belastung, z. B. eine sport-liche Herausforderung, die man meistert, oder ein Fest,das man ausrichtet. Disstress oder negativer Stress isteine negativ erlebte Belastung, z. B. durch Streit, schwie-rige Entscheidungen von großer Tragweite, Arbeits-nberlastung, eine bedrohliche Erkrankung, Verlusteoder drohende Verluste durch! kritische Lebensereig-nisse. Der Einfluss auf die Entwicklung kann variieren.Werden die Belastungen nicht bewoltigt und gemeistert,hat das negative Wirkungen (z. B. auf das Selbstbild,das Bild von der Welt, den Blick in die Zukunft),wohrend bewoltigte und gemeisterte Belastungen posi-tiveWirkungen haben, z. B. einen objektivenGewinn an! Kompetenz, Storkung des Vertrauens in die eigenen! Fohigkeiten. Die Stressfaktoren werden kurz als Stres-soren bezeichnet.Struktur (structure). Die Menge und die Art der Bezie-hungen zwischen Elementen. In der Psychologie wird derBegriff Struktur verwendet fnr die Ordnung von Wis-sensinhalten (Wissensstrukturen) bzw. von Gedochtnis-inhalten (Gedochtnisstrukturen; ! Gedochtnis), dieHierarchie kognitiver Prozesse (Denkstrukturen, pro-zedurale Wissensstrukturen), die Ordnung der Kom-

    ponenten der ! Persçnlichkeit (Persçnlichkeitsstruk-tur), Etappen der Gesamtentwicklung (Strukturniveaus,v. a. Piagets Einteilung der kognitiven Entwicklung) oderderen Teilkomponenten (z. B. moralische Urteilsstruk-turen, Strukturniveaus der sozialen Kognition oder desMenschenbildes), die Ordnung sozialer Gruppen (z. B.Familienstruktur, Klassenstruktur) und soziale Inter-aktionen (Interaktions-, Kommunikationsstruktur). Inder Sprachforschung und teilweise auch beim Wissens-erwerb unterscheidet man Oberflochen- und Tiefen-strukturen (! Sprache,! Lernen). Strukturtheorien bil-den eine Klasse von Aussagen nber die Entstehung undNutzung von Strukturen. Am bekanntesten in der Ent-wicklungspsychologie sind die genetische Strukturtheo-rie von Piaget und die Stufen desmoralischenUrteils vonKohlberg geworden.Strukturgleichungsmodelle (structural equation mo-dels). Wichtiges und vielfoltig einsetzbares statistischesVerfahren zur qberprnfung von Hypot