Genuine Epilepsie und Hirnprozess

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4. JUNI 1929 I<LINISCHE WOCHENSCHRIFT. 8. JAHRGANG. Nr. 23 io8 7 Insgesamt beobachtete ich in 4 Jahren unter 4ooo auf- genommenen Patienten 58 Kranke mit Strictura recti und 48 mit Ulcera recti. Die Zahl der letzteren Patienten ist relativ klein, da diese grol3enteils poliklinisch behandelt wur- den und ich nut yon den klinisch Behandelten zuverl~ssige Krankengeschichten besitze. Bubonen operierte ich bei 79 m~Lnnlichen und 26 weiblichen Personen, oft d0ppelseitig. Ich sah sehr viele Patienten mit alten Narben yon Bubonen, kann aber nicht sagen, bei wie vieten. Ich habe die Bubonen ausgeschnitten, ausgekratzt, incidiert, punktiert und mit Jodoform61 eingespritzt, auch wohl Milch intramuskuliir injiziert. Jedenfalls halte ich das Ulcus molle ftir ein ernstes Leiden, und was die Bubonen betrifft, hat sich mir gezeigt, dab man diese zwar auf vielerlei Weise bessern kann, abet dab ]ede Methode yon Zeit zu Zeit versagt. REFERATENTEIL. GENUINE EPILEPSIE UND HIRNPROZESS*. ~?on Privatdozent Dr. W. SCHOLZ, Oberarzt der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universit~t Leipzig (Direktor: Prof. Dr. SCHRODER). Die alte Streitfrage, ob es sich bei der sog. genminen Epilepsie um eine Gehirnkrankheit handelt, eine Frage, die schon entgegen O. ]~INSWANGERS Auffassung zugunsten des Hirnprozesses ent- schieden erschien, ist in den letzten Jahren ernent aufgelebt. Was yon anderer als anatomischer Seite Itir und wider diese Annahme vorgebracht worden ist, soil hier nicht erSrtert werden. Es soil vielmehr kurz dargelegt werden, wie die Frage heute vom Stand- punkt der Histopathologie beantwortet werden kann, yon der man ja in der Frage ,,HirnprozeB oder nicht" ft~glich den letzten Auf- schlug erwarten sollte. Wie bekannt ist, feMen in Fallen fort- geschrittener Epilepsie yon der Norm abweichende Befunde am Gehirn niemals. Es ist bekannt, welche Deutung sie zu verschiede- nen Zeiten erfahren haben. Einen wesentlichen EinfluB auf die immer allgemeinere Anerkennung der Epilepsie als IKrankheit des Oehirns hatte die Entdeckung CI~ASLIXS 1889 gehabt. Seine Auf- iassung, dab die yon ihm entdeckte Randsklerose zusammen mit der l~ingst bekannten Ammonshornsklerose der Ausdruck einer prim~ren EntwieMungsst6rung sei und die eigentliche Ursache der Epilepsie darstelle, hat sich freilich nicht lange halten k6nnen. ALZHEI.~IER bewies 1897 den sekund~iren Charakter dieser, den markantesten Befund bildenden, gliSsen Wuchernngen und konnte als ihre Ursache mancherlei Ausf~ile am nervSsen Parenchym, so insbesondere Lich- tung des eorticalen Markfasergeflechtes und disseminierte Ganglien- zellausf~tlle in der Rinde nachweisen. ALZHEIM~R hat sich zun~chst wohl mehr yon klinischen Gesichtspunkten (Progredienz der Krank- heit) als yon eindeutigen anatomischen Beiunden leiten lassen, wenn er die IIervSsen Ausf~Ite und die konsekutive Gliawucherung auI einen chronischen ,,epileptischen" HirnprozeB zurflckfiihrte. Er hatte freilieh an einem Falle, der in anfalIsfreier Zeit gestorben war, anscheinend frische Ganglienzellver~inderungen gesehen, die ihm auf einen fortschreitenden Prozeg hinzuweisen schienen. DaB er aber diesem Einzelbefund keine allzu groBe Bedeutulig bei- gelegt hat, geht daraus hervor, dab er spXter nicht mehr darauf zuriickgekommen ist, sondern die ihrem Wesen nach als narbig zu bezeichnenden Hirnbefnnde im wesentlichen als Folge akuter Hirnver~inderungen nach Zustanden yon Steigerung epileptiseher Krankheitserscheinungen, Mso nach Anf~.llen, epileptischenl Status, deliri6sen Zust~nden betrachtet hat. Allerdings sah ALZ~tmHER in diesen akuten Ver~inderungen, die sich in der Hauptsache als Nervenzelldegenerationen und amSboide Umwandlung der Glia- zellen darstellen, immer noch den siehtbaren Ausdruck eines in seiner Intensit~tt gesteigerten epileptischen Krankheitsprozesses. Eins hat ALZHEIHER aber sofort und immer wieder betont, nXmlich, dab diese akuten Hirnver~nderungen ihrer Art naeh fiir Epilepsie weder konstant noch spezifisch sind, sondern sich ebensowohl nach anderen akuten Zust~nden, wie katatonen Erregungen u. a. linden. In der klaren ~rkenntnis, dab eine weitere F6rderung unseres Wissens aus dem Studium der recht uneharakteristischen ttirn- veri~nderungen nach akuten epileptischen Znst~nden zun~chst nicht zu erwarten sei, hat sich nach ALZI~EIMER als erster und, soviel ich sehe einziger, VOLL~D an gr0Berem, klinisch gesichtetem Material illit der Frage befaBt, ob denn wirMich Zeichen eines progredienten Hirnprozesses aueh in intervall~ren Zeiten v0rhanden sind. Epilep- * AIs Vortrag gehalten auf der 30. Jahresversammlung der mitteldeutschen Psychiater uad Neurologen am 4- Nov. 1928 in Halle. tische Selbstm6rder und verungliickte -- leider zum grol?en Tell im Anfall verungli~ckte -- Epileptiker stellen den wichtigsten Tell seines Materiales dar. Leider hat VOLLAND in der Darstellung seiller Be- funde das Hauptgewicht zu sehr auf bestimmte Gewebsbestandteile, so vor allem auf das Verhalten des protoplasmatischen gIi6sen Ge- webes geIegt, so daft seine Befunde nicht unbeschr~inkt verwertbar sind. Wenn er auf Grund seiner Befunde zu der Annahme gelangt, dab auch in intervall~ren Zeiten ein st~indiger Zerfall am Nerven- gewebe stattfinde, und darauf die Behauptung eines progredienten Rindenprozesses grfindet, so h~lt dies bei einer kritischen Nach- prflfung der yon ibm mitgeteilten Befunde nicht stand. Sein Haupt- argument, das Vorkommen gewisser am6boider Zellen in anfalls- freier Zeit, widerlegt sich schon durch ALZHEIHEES Befunde, der solche noch nicht einmal in allen F~ilIen feststellen konnte, wo ein Anfall oder gar Status vorausgegangen war. Zudem well3 man heute, dab die Am6boidose eine Nekrobiose darstellt, ein Verhalten, das sich nur bei sehr schweren Sch~digungen einstellt, die nicht nur das Nervengewebe zum Zerfall bringen, sondern auch das viel widerstandsf~ihigere Gliagewebe reaktionsunfXhig machen und zu- grunde richten. Oder abet die Am6boidose ist gar ein postmortaler Efiekt. Jedenfalls ist es unm6glich, bei einem Minisch erscheinungs- freien Epileptiker im Leben eine Am6boidose im Gehirn anzuneh- men. Der einzige wirMiche stichhaltige ]3efund VOLLANDS sind einzelne im subcorticalen i'VIark gefundene frische Degenerations- erscheinungen an Markfasern. Aber gerade in diesen F~i!len waren ein- oder mehrmalige Anf~lle in Tagen oder \Vochen vor dem Tode aufgetreten. Trotz dieser im wesentlichen negativen Ergebnisse, denen auch spgter yon SPIEL~MEYER U. a. beschriebene akute Ver- anderungen nach Status epiiepticus in pathogenetischer Beziehung nichts Neues hinzufi~gen konnten, erhielt sich die Hypothese eines epileptischen Gehirnprozesses auch in anatomischen Kreisen bis in die neueste Zeit. Noch I923 wurde sie auf der Jahresversammlung Bayriseher Psychiater yon SPIELMEYtgR vertreten. Doch bereits 3 Jahre spgter versetzte derselbe Forscher dieser Hypothese einen gewaltigen Stog. Es braueht bier nicht im einzelnen ausgefiihrt zu werden, auf welchen ~Vegen ihm der Nachweis gelungen ist, dab gerade die markantesten und konstantesten Vergnderungen bei der Epilepsie, ngmlich die AmmonshornsMerose und die fleck- f6rmigen KleinhirnsMerosen mit einem chronischen HirnprozeB nichts zn tun haben, sondern dab sie auf funktionellen GefiiBst6run- gen, anf prgparoxysmalen angiospastischen Ischgmien beruhen. Man muB sich angesichts dieses i~berraschenden Ergebnisses fragen, ob denn dann die anderen Vergnderungen, die im wesentlichen in der CnAszi~schen Randsklerose nnd den dazugeh6rigen, yon ALZHEIMER, g. WEBER, O. BINSWANGER n. a. n~iher beschriebeneli nervSsen Ausf~illen besteherr, und die im Vergleich zu anderen destruktiven Hirnprozessen ein ziemlich bescheidenes Ausmag besitzeli, nicht auch auf den gleichen lechaliismus zuriickgefi~hrt werden k6nnen. So viel steht ja fest, dab wit bei Anlegung eines strengen kritischen MaBstabes nichts vorlegen kOnnen, womit wir die Existenz eines selbst~indigen Hirnprozesses beweisen k6nnen. Es fragt sich jetzt nut : Verbietet es die Anordnung oder die geweb- liche Struktur der ihrer Art IIach als narbig aufzufassenden chro- nischen oder der akuten Ver~nderungen, eine vascul~ire Entstehung anzuliehmen? Materielle Ver~nderungen an den Gef~iBen finden sich bekalintlich nur in geringem Umfange nnd spielen auch bei dem Zustandekommen der Ammonsver~inderungen keine Rolle. Das sicherste Merkmal w~iren perivasculXre Ver6dungen, wie sie z. t3. bei der Arteries!derose auftreten, oder an ein bestimmtes GefaBgebiet gekn~pfte Ausfalle, wie sie die AmmonshornsMerose und die neuerdings yon LIEBERS mitgeteilten L~ppchenatrophien

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4. JUNI 1929 I < L I N I S C H E W O C H E N S C H R I F T . 8. J A H R G A N G . N r . 23 io8 7

I n s g e s a m t b e o b a c h t e t e ich in 4 J a h r e n u n t e r 4ooo auf- g e n o m m e n e n P a t i e n t e n 58 K r a n k e mi t S t r i c tu ra rec t i und 48 m i t Ulcera rect i . Die Zahl der l e tz te ren P a t i e n t e n is t re la t iv klein, da diese grol3enteils pol ikl inisch b e h a n d e l t wur- den und ich n u t yon den kl inisch B e h a n d e l t e n zuverl~ssige K r a n k e n g e s c h i c h t e n besi tze .

B u b o n e n oper ier te ich bei 79 m~Lnnlichen und 26 weibl ichen Personen , of t d0ppelsei t ig . I ch sah sehr viele P a t i e n t e n m i t

a l ten N a r b e n yon Bubonen , kann aber n i ch t sagen, bei wie vieten. I ch h a b e die B u b o n e n ausgeschni t t en , ausgekra tz t , incidiert , p u n k t i e r t u n d m i t Jodoform61 eingespr i tz t , auch wohl Milch in t ramuskul i i r inj iziert . Jedenfa l l s ha l te ich das Ulcus molle ftir ein e rns tes Leiden, und was die Bubonen bet r i f f t , h a t sich mi r gezeigt, dab m a n diese zwar auf vielerlei Weise bessern kann, abe t dab ]ede Methode yon Zeit zu Zei t ve r sag t .

REFERATENTEIL. GENUINE EPILEPSIE UND HIRNPROZESS*.

~?on

Privatdozent Dr. W. SCHOLZ, Oberarzt der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universit~t Leipzig

(Direktor: Prof. Dr. SCHRODER).

Die alte Streitfrage, ob es sich bei der sog. genminen Epilepsie um eine Gehirnkrankheit handelt, eine Frage, die schon entgegen O. ]~INSWANGERS Auffassung zugunsten des Hirnprozesses ent- schieden erschien, ist in den letzten Jahren ernent aufgelebt. Was yon anderer als anatomischer Seite Itir und wider diese Annahme vorgebracht worden ist, soil hier nicht erSrtert werden. Es soil vielmehr kurz dargelegt werden, wie die Frage heute vom Stand- punkt der Histopathologie beantwortet werden kann, yon der man ja in der Frage ,,HirnprozeB oder nicht" ft~glich den letzten Auf- schlug erwarten sollte. Wie bekannt ist, feMen in Fallen fort- geschrittener Epilepsie yon der Norm abweichende Befunde am Gehirn niemals. Es ist bekannt, welche Deutung sie zu verschiede- nen Zeiten erfahren haben. Einen wesentlichen EinfluB auf die immer allgemeinere Anerkennung der Epilepsie als IKrankheit des Oehirns hat te die Entdeckung CI~ASLIXS 1889 gehabt. Seine Auf- iassung, dab die yon ihm entdeckte Randsklerose zusammen mit der l~ingst bekannten Ammonshornsklerose der Ausdruck einer prim~ren EntwieMungsst6rung sei und die eigentliche Ursache der Epilepsie darstelle, ha t sich freilich nicht lange halten k6nnen. ALZHEI.~IER bewies 1897 den sekund~iren Charakter dieser, den markantesten Befund bildenden, gliSsen Wuchernngen und konnte als ihre Ursache mancherlei Ausf~ile am nervSsen Parenchym, so insbesondere Lich- tung des eorticalen Markfasergeflechtes und disseminierte Ganglien- zellausf~tlle in der Rinde nachweisen. ALZHEIM~R hat sich zun~chst wohl mehr yon klinischen Gesichtspunkten (Progredienz der Krank- heit) als yon eindeutigen anatomischen Beiunden leiten lassen, wenn er die IIervSsen Ausf~Ite und die konsekutive Gliawucherung auI einen chronischen ,,epileptischen" HirnprozeB zurflckfiihrte. Er hat te freilieh an einem Falle, der in anfalIsfreier Zeit gestorben war, anscheinend frische Ganglienzellver~inderungen gesehen, die ihm auf einen fortschreitenden Prozeg hinzuweisen schienen. DaB er aber diesem Einzelbefund keine allzu groBe Bedeutulig bei- gelegt hat, geht daraus hervor, dab er spXter nicht mehr darauf zuriickgekommen ist, sondern die ihrem Wesen nach als narbig zu bezeichnenden Hirnbefnnde im wesentlichen als Folge akuter Hirnver~inderungen nach Zustanden yon Steigerung epileptiseher Krankheitserscheinungen, Mso nach Anf~.llen, epileptischenl Status, deliri6sen Zust~nden betrachtet hat. Allerdings sah ALZ~tmHER in diesen akuten Ver~inderungen, die sich in der Hauptsache als Nervenzelldegenerationen und amSboide Umwandlung der Glia- zellen darstellen, immer noch den siehtbaren Ausdruck eines in seiner Intensit~tt gesteigerten epileptischen Krankheitsprozesses. Eins hat ALZHEIHER aber sofort und immer wieder betont, nXmlich, dab diese akuten Hirnver~nderungen ihrer Art naeh fiir Epilepsie weder konstant noch spezifisch sind, sondern sich ebensowohl nach anderen akuten Zust~nden, wie katatonen Erregungen u. a. linden. In der klaren ~rkenntnis, dab eine weitere F6rderung unseres Wissens aus dem Studium der recht uneharakteristischen t t i rn- veri~nderungen nach akuten epileptischen Znst~nden zun~chst nicht zu erwarten sei, hat sich nach ALZI~EIMER als erster und, soviel ich sehe einziger, VOLL~D an gr0Berem, klinisch gesichtetem Material illit der Frage befaBt, ob denn wirMich Zeichen eines progredienten Hirnprozesses aueh in intervall~ren Zeiten v0rhanden sind. Epilep-

* AIs Vortrag gehalten auf der 30. Jahresversammlung der mitteldeutschen Psychiater uad Neurologen am 4- Nov. 1928 in Halle.

tische Selbstm6rder und verungliickte -- leider zum grol?en Tell im Anfall verungli~ckte -- Epileptiker stellen den wichtigsten Tell seines Materiales dar. Leider ha t VOLLAND in der Darstellung seiller Be- funde das Hauptgewicht zu sehr auf bestimmte Gewebsbestandteile, so vor allem auf das Verhalten des protoplasmatischen gIi6sen Ge- webes geIegt, so daft seine Befunde nicht unbeschr~inkt verwertbar sind. Wenn er auf Grund seiner Befunde zu der Annahme gelangt, dab auch in intervall~ren Zeiten ein st~indiger Zerfall am Nerven- gewebe stattfinde, und darauf die Behauptung eines progredienten Rindenprozesses grfindet, so h~lt dies bei einer kritischen Nach- prflfung der yon ibm mitgeteilten Befunde nicht stand. Sein Haupt- argument, das Vorkommen gewisser am6boider Zellen in anfalls- freier Zeit, widerlegt sich schon durch ALZHEIHEES Befunde, der solche noch nicht einmal in allen F~ilIen feststellen konnte, wo ein Anfall oder gar Status vorausgegangen war. Zudem well3 man heute, dab die Am6boidose eine Nekrobiose darstellt, ein Verhalten, das sich nur bei sehr schweren Sch~digungen einstellt, die nicht nur das Nervengewebe zum Zerfall bringen, sondern auch das viel widerstandsf~ihigere Gliagewebe reaktionsunfXhig machen und zu- grunde richten. Oder abet die Am6boidose ist gar ein postmortaler Efiekt. Jedenfalls ist es unm6glich, bei einem Minisch erscheinungs- freien Epileptiker im Leben eine Am6boidose im Gehirn anzuneh- men. Der einzige wirMiche stichhaltige ]3efund VOLLANDS sind einzelne im subcorticalen i'VIark gefundene frische Degenerations- erscheinungen an Markfasern. Aber gerade in diesen F~i!len waren ein- oder mehrmalige Anf~lle in Tagen oder \Vochen vor dem Tode aufgetreten. Trotz dieser im wesentlichen negativen Ergebnisse, denen auch spgter yon SPIEL~MEYER U. a. beschriebene akute Ver- anderungen nach Status epiiepticus in pathogenetischer Beziehung nichts Neues hinzufi~gen konnten, erhielt sich die Hypothese eines epileptischen Gehirnprozesses auch in anatomischen Kreisen bis in die neueste Zeit. Noch I923 wurde sie auf der Jahresversammlung Bayriseher Psychiater yon SPIELMEYtgR vertreten. Doch bereits 3 Jahre spgter versetzte derselbe Forscher dieser Hypothese einen gewaltigen Stog. Es braueht bier nicht im einzelnen ausgefiihrt zu werden, auf welchen ~Vegen ihm der Nachweis gelungen ist, dab gerade die markantesten und konstantesten Vergnderungen bei der Epilepsie, ngmlich die AmmonshornsMerose und die fleck- f6rmigen KleinhirnsMerosen mit einem chronischen HirnprozeB nichts zn tun haben, sondern dab sie auf funktionellen GefiiBst6run- gen, anf prgparoxysmalen angiospastischen Ischgmien beruhen. Man muB sich angesichts dieses i~berraschenden Ergebnisses fragen, ob denn dann die anderen Vergnderungen, die im wesentlichen in der CnAszi~schen Randsklerose nnd den dazugeh6rigen, yon ALZHEIMER, g . WEBER, O. BINSWANGER n. a . n~iher beschriebeneli nervSsen Ausf~illen besteherr, und die im Vergleich zu anderen destruktiven Hirnprozessen ein ziemlich bescheidenes Ausmag besitzeli, nicht auch auf den gleichen lechal i i smus zuriickgefi~hrt werden k6nnen. So viel s teht ja fest, dab wit bei Anlegung eines strengen kritischen MaBstabes nichts vorlegen kOnnen, womit wir die Existenz eines selbst~indigen Hirnprozesses beweisen k6nnen. Es fragt sich jetzt nut : Verbietet es die Anordnung oder die geweb- liche Struktur der ihrer Art IIach als narbig aufzufassenden chro- nischen oder der akuten Ver~nderungen, eine vascul~ire Ents tehung anzuliehmen? Materielle Ver~nderungen an den Gef~iBen finden sich bekalintlich nur in geringem Umfange nnd spielen auch bei dem Zustandekommen der Ammonsver~inderungen keine Rolle. Das sicherste Merkmal w~iren perivasculXre Ver6dungen, wie sie z. t3. bei der Arteries!derose auftreten, oder an ein bestimmtes GefaBgebiet gekn~pfte Ausfalle, wie sie die AmmonshornsMerose und die neuerdings yon LIEBERS mitgeteilten L~ppchenatrophien

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im Kle inh i rn sind. I n der Orol3hirnriude spielen derar t ige Be funde jedoch, ill der Regel wenigs tens , keine Rolle. DaB sic abe t vor- k o m m e n , habe ich in e inem eigenen Fal le yon Epi lepsie gesehen, und ich k a n n mic h hierbei au f e iuen so unve rd f i ch t igen Zeugen wie ALZHEIMER se lbs t berufen , d er bei genu ine r Epi lepsie a u c h hau f ige r zel larme Zonen u m die GefaBe u n d d i s semin ie r t e H e r d e gesehen ha t . Sic s ind aber a u c h keineswegs Er fordern is ffir die A n n a h m e einer z i rku la to r i schen Genese. Jeder H i s t opa t ho l oge weifi, d a b eine so ausgesp rochene Gefa l3erkrankung wie die Ar ter iosklerose aus- schlieBlich dif fuse Ausfal le in der H i rn r i nde oder gar, was noch sonde rba re r a n m u t e t , s ch ich t f6 rmige AusfXlle m a c h e n kann , Ver- a n d e r u n g e n also, denen ihre vascu la re Genese n i ch t ohne wei teres a n z u s e h e n ist. A u c h diffuse D e g e n e r a t i o n s e r s c h e i n u n g e n im Grog- h i r n m a r k , de ren R e s u l t a t m a n bei der Epi lepsie in einer Verd ieh- t u n g des Gl ia faserne tzes s ieht , s ind aus v a s c u l a r e n U r s a c h e n m6gl ich, wie die yon O. BINSWANGER Encepha l i t i s subcor t ica l i s g e n a n n t e d i f fuse a r te r iosMerot i sche E n t m a r k u n g zeigt. Z u d e m l i nden s ich bei l anger D a u e r der Epi lepsie m i t h a u f i g e n Anf~l len schlieBlich doch a u c h mater ie l le V e r ~ n d e r u n g e n an den HirngefaBen, au f die s chon die Xlteren Auto ren , wie SCHRODER V. D. I~OLK U.a . , a m Beg inn des J a h r h u n d e r t s WEBER und spa te r wieder ALZHEI~tER h ingewiesen haben . Besonders WEBER h e b t die e rhebl iche ~Tuche- r u n g der Wandze l l en der kle inen R i n d e n a r t e r i e n n n d Pr~capi l la ren in den Geh i rnen jugend l icher Epi lep t iker hervor . Es h a n d e l t s ich dabei , was mir s u c h eigene FXlle gezeigt haben , in der H a u p t s a c h e u m eine W u c h e r u n g der adven t i t i e l l en Zellen, die a n sigh keineswegs sogleich e rkennba re Herdaus f~ l l e zu m a c h e n b r auch t , wie es endar t e r i i t i s che %Vucherungen bald zu t u n pf legen Man k 6 n n t e sie au f f a s sen als eine Ar t H y p e r t r o p h i c der Gef~tBwand au f o f tmal ige s t a rke Iunkt ione l le Be la s tung , wie sic als S p a s m u s u n d nachhe r ige Di Ia ta t ion mi t den ep i lep t i schen P a r o x y s m e n v e r b u n d e n ist. Ob diese GefaBe m i t i h r en morpho log i schen V e r a n d e r u n g e n s u c h eine e r h g h t e N e i g u n g zu F u n k t i o n s s t O r u n g e n erwerben, w o r a n n a c h den E r f a h r u n g e n RICKERS jedenfa l ls zu d e n k e n ist, u n d ob ein solches v o r d e r h a n d noch d u r c h a u s h y p o t h e t i s c h e s morpho log i sch - funk t io - nelles Wechse l se i t i gke i t sve rha l tn i s ein Glied in der K a u s a l k e t t e fa r die of t b e o b a c h t e t e H~iufung und V e r s c h l i m m e r u n g der Minischen E r s c h e i n u n g e n sein kann , muB v o r d e r h a n d dah inges te l l t bleiben. Zugeben muB m a n die Mhglichkei t , dab s u c h die d i f fusen Hi rn - ve r~nde rungen , die i ibrigens in gleicher Qual i t~ t wie in der R inde s u c h in 5Iit tel- u n d N a c h M r n nachwe i sba r s ind, an f dense lben p rXpa roxysma len M e c h a n i s m u s zurf ickzuf i ihren sind, d e m A m m o n s - hornsk le rose u n d 141einhirnverai iderungen ihre E n t s t e h u n g ver- danken , Der Wahr sche i n l i chke i t e rhebl ich n~her gerf lckt wird dies d u r c h B e f u n d e wie den yon VOLLAND, der bei e igem traumatischen Epi lep t ike r eben a n c h eine a l lgemeine, fiber die ganze H i r n r i n d e ve rb re i t e t e Randgl iose g e f u n d e n ha t . N i ch t u n e r w ~ h n t soll bleiben, dab a u c h die vasod i l a t a to r i s chen VorgXnge im epi lep t i schen AnfalI selbst , w e n n a u c h in besche idenem ~al3e, d u r c h d iapede t i sche Blu- t ungen , pe r ivascu la res 0 d e m u. a. zu den b le ibenden H i r n v e r ~ n d e - r u n g e n der Epi leps ie be i t ragen. Ob die in neuere r Zeit u. a. yon POLLAK wieder s t a rke r be ton ten , an s ich ger ingff igigen Zeichen ges t6 r t e r H i r n e n t w i c k l u n g (Cajalsche Zellen, a r ch i t ek ton i sche S t 0 r u n g e n usw.) i rgendwelche B e z i e h u n g e a zu den a n d e r s a r t i g e n H i r n v e r a n d e r u n g e n der genu ineu Epi lepsie h a b e n u n d welcher A r t sic sind, lal3t s ich h e u t e n i ch t sagen. Abgesehen yon se l tenen, z. B. d e n yon A. J&KOB u n d BI~LSCI~OWSKY mi tge te i l t en F~llen, die s ich in i h r en h i s to log i schen B e f n n d e n anderen , in s ich a b g e r u n d e t e n K r a n k h e i t s b i l d e r n ( tuberhse SkIerose, Wes tpha l -S t r f impe l l s che Pseudoskterose) a n n a h e r n , is t bei d e m Gros der als genu in aufgefaB-

R I F T . 8. J A H R G A N G . N r . 23 4. JUNII929

t en FXlle eine i rgendwie nahe r begr f lndbare Verkn i ip fung n ich t ers icht l ich.

W e n n der S tand der F rage kurz skizzier t we rden sol1, so ware fes tzuste l len, dab bei der sog. genu inen Epi lepsie a n a t o m i s c h e VerXnderungen im Gehi rn bei l~ngerer D a u e r der lKrankhei t n iemals v e r m i g t werden . E ine Spezi f i ta t bes i tzen sic n icht , u n d sic s t e h e n s u c h ke ineswegs in allen Fa l l en in e n t s p r e c h e n d e m Verh~l tn is zur Schwere der ] i r a n k h e i t s e r s c h e i n u n g e n , iusbesondere au ch n i ch t zu d e m als D e m e n z impon ie renden Z u s t a n d Tro tz ihrer Unspezif i tXt e rmbg l i ch t es die G e s a m t h e i t der ch ron i schen H i r n v e r X r d e r u n g e n u u t e r gf ins t igen U m s t ~ n d e n , eine a n a t o m i s c h e Wahr sche in l i chke i t s - d iagnose zu stel len. Es ist aber b i sher n i ch t ge luugen, e inen selb- s t~nd igen H i rnp rozeg bei der genu inen Epi leps ie nachzuweisen . Die m a r k a n t e s t e n u n d k o n s t a n t e s t e n V e r ~ n d e r u n g e n v e r d a n k e n ih re E n t s t e h u n g ang iospas t i s ch bed ing t en I sch~mien , u n d ftir die i ibr igen a n a t o m i s c h e n B e f u n d e gewinn t eine ahn l i ch e E n t s t e h u n g s - u r s ache m e h r und m e h r an Wahrsche in l i chke i t . Welches die Ie tz ten U r s a c h e n der in der morpho log i schen S t r u k t u r der GefaBe n ich t begr i inde ten funk t ione l l en GefaBs t6rung sind, is t a n a t o m i s c h vor- l~ufig n i ch t zu kl~ren; die A n a t o m i e e r l aub t s u c h ke ine En t sche i - d u n g darf iber , ob sie innerhaIb oder a u g e r h a l b des Gehi rns liegen. Die une inhe i t l i chen u n d v ie ldeu t igen a n a t o m i s c h e n B e f u n d e a m endok r inen S y s t e m geben ke inen Hinweis . E ine a n a t o m i s c h e Grund lage der genu inen Epi leps ie is t eine A n n a h m e , die h e u t e n i ch t beweisbar ist, u n d O. BISWANGERS A u f f a s s u n g yon der , , funkt ionel l - d y n a m i s c h e n " N a t u r der Epi leps ie is t a n a t o m i s c h his j e t z t n ich t wieder legbar . Die Brficke zwischen den g e n u i n e n u n d den s y m p t o - m a t i s c h e n Epi leps ien is t in a n a t o m i s c h e r Bez i eh u n g gesch lagen d u r c h die Ver~tnderungen im A m m o n s h o r n und Kle inh i rn , die be iden A r t e n yon Epi leps ien g e m e i n s a m sind. Sic s ind s u c h bei d en s y m p t o m a t i s c h e n Epi leps ien n i ch t die Folge der v e r s ch i ed en en Hirnprozesse , sonde rn v e r d a n k e n , wie SPIELMEYER gezeigt h a t , ihre E n t s t e h u n g d e m gle ichen v a s o m o t o r i s c h e n M e c h a n i s m u s wie bei der genu inen Epilepsie.

E ine wei tere K l a r u n g der F r age d'es ep i tep t i schen Hi rnprozesses ware besonders aus a n a t o m i s c h e n U n t e r s u c h u n g e n an d e m re ichen Mater ia l der E p i l e p t i k e r a n s t a l t e n zu e rwar ten . Mehr zur K l a r u n g der F r age wi i rde es da meines E r a c h t e n s be i t ragen , vor lauf ig n ich t d e n diffizi len End in den m e i s t e n Fa l l en anzwei fe lbaren Nachweis eines p rog red ien ten Prozesses in i i i terval l~ren Zei ten zu versuchei i , s onde rn aItere Fal le t r a u m a t i s c h e r Epi lepsie m i t d a u e r n d e n psych i - s chen V e r a n d e r u n g e n d a r a u f h i n zu u n t e r s u c h e n , ob bei i h n e n n i ch t die g le ichen a k u t e n u n d ch ron i schen Ver t i nde rungen zu I inden sind, wie bei der g e n u i n e n Epilepsie.

L i t e r a t ur: ALZHEIMER, Ein Beitrag zur pathologisehen Anatomic der Epilepsie. Mschr. Psychiatr. 4 (1898). - - ALZHEIMER, Die Gruppierung der Epi- lepsie. Referat Jahresversamm]ung des Deutschen Vereins f. Psychiatric 19o 7. Allg. Z. PsycMatr. 64 (19o7). - - ALZHEIMER, Bcitrfige zur IZenntnls der pathologischen Neuroglia usw. NissI-Alzheimersche Arbeiten 3 (191o). -- ALZHEIMER, Briefliche Mitteilung an O. BINSWANGER in Binswanger, Die Epilepsie, S. 348, Ful3note. -- BIELSCH OWSKY, EpiIepsie und Gliomatose. J. Psychol. u. Nenr. 21 (z915). - - O. BINS WANGER, Die Epilepsie. e. Aufl. Wien nnd Leipzig: AIfred Hblder 1913. CHASLIN, Contlibution ~ l'6tude de la sclgrose c~r4bral~. Arch. M4d. exp6r, et anaiom pathoI. Paris ~89i. - - A. JAKOB, Zur Pathologie der Epilepsie. Z. Neur. 23 (I914). - - LIEBERS, Uber Kleinhirnatrophien hei Epilepsie nach epileptischen Krampfanfallen. Z. Neur. I9oo. - - POLLAK, Anlage und Epilepsie. Arb. neut. Inst. Wien 23 (i922). - - SPIELMEYER, Der gegenwfirtige Stand der Epilepsieforschung. III. TeiI: Anatomisches. Z. Neur. 89 (I924). - - SPIELMEYER, gut Pathogenese 6rtlieher elektiver Gehirnver~nderung. Z. Neur. 99 (1925). - - SPIELMEYER, Die Pathogenese des epileptisehen Krampfes. Z. Neut. 109 (z927). - - VOLLAND, Histo- logische Untersuchungen bei epileptisehen Krankheitsbildern. Z. Neur. 21 (1914). - - VOLLAND, Kasuistiseher Beitrag zu den traumatisehen Rindendefekten. Arch. f. Psyehiatr. 44 (19o8). - - L. W. WEBER, Beitr~ge zur Pathogenese und pathologisehen Anatomic der Epilepsie. Jena: Georg Fischer IgoL

EINZELREFERATE UND

ALLGEMEINES.

O Ein le i tung in die physiologische Zoologie. (Phys ika l i sche u n d c h e m i s c h e F u n k t i o n e n des Tierkhrpers .) Von K. P R Z I B R A M . VI, 182 S, Leipzig u. W i e n : F r anz Deu t i cke 1928. Io Re i chsmark .

Das B u c h will e in Para l le lwerk zu der vor gerade e inem Viertel- j a h r h u n d e r t e r sch ienenen b e k a n n t e n , ,E in le i tung in die exper i - mente l l e Morphologie der T ie re" des g le ichen Verf. sein, Mso Mile knrzgefaBte E i n f i i h r u n g in das S t u d i u m der phys ika l i s chen u n d c h e m i s c h e n F n n k t i o n e n des Tierk6rpers . I n 15 I tap i te ln ; de ren

BUCHBESPRECHUNGEN.

jedes in ein m e h r phys ika l i s ch u n d ein m e h r che m isch ger ichte tes Un te rkap i t e l zerf~llt, wird der Stoff abgehande l t , wobei f ibrigens die in der Inha l t s f lbe r s i eh t g e b r a u c h t e n v e r d e u t s c h e n d e n Kapi te l - i iberschr i f ten in m e h r e r e n FMlen h h c h s t ungl t ickl ich g e n a n n t werden miissen. Das kleine B u c h ist, wie es bei PRZlBRAM n ich t ande r s zu e rwar t en ist, fltissig, Mug u n d m i t e iner groBen L i t e r a tu r - k e n n t n i s geschr ieben. I n bezug auf S t o f f a n o r d n u n g u n d Stoff- a u s w a h l mi i ssen bei e inem so j u n g e n u n d v ieKach ers t l f ickenhaf t bea rbe i t e t en Gebiete, wie es die verg le ichende Tierphysio logie ist, die Ansichte i i der A u t o r e n n a t u r g e m a g s t a rk d ivergieren . Auf