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Fütter- und Essstörungen Alexander von Gontard Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Universitätsklinikum des Saarlandes Homburg

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Fütter- und Essstörungen

Alexander von GontardKlinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie,

Psychosomatik und PsychotherapieUniversitätsklinikum des Saarlandes

Homburg

Übersicht

• Fütter- und Essstörungen:

• Für Vorschulkinder:– 6 verschiedene Subtypen

• Für Schulkinder:– atypische Essstörungen:

EDNOS• Für ältere Schulkinder und

Jugendliche: – klassische Essstörungen

Definitionen

• Fütterstörungen• Essstörungen

• Schwere Störungen mit Tendenz zur Persistenz

Definitionen

• Fütterstörungen:• Essen nicht

unabhängig möglich, Nahrungsaufnahme in dyadischen Beziehungen

Definitionen

• Essstörungen:• Essen unabhängig

von Bezugspersonen möglich

Prävalenz

• Manifeste Ess- und Fütterstörungen: selten• 1-2 %

• Ess- und Fütterprobleme: häufig• bis zu 25 % aller Kinder mit normaler typischer

Entwicklung• bis zu 80 % der Kinder mit Behinderungen und

Entwicklungsstörungen

• Chatoor (2009)

PrävalenzWright, Pediatrics 2007

• 20 % (N=89) von 455 Kindern (Alter 2½ Jahre) hatten nach Elternangaben eine Essprobleme:

• 49 % aßen eingeschränkte Zahl von Nahrungsmitteln

• 39 % bevorzugten Getränke gegenüber fester Nahrung

• 4% tranken nur Flüssigkeiten• 23 % aßen zu langsam• 18 % waren nicht an Essen interessiert

PrävalenzWright, Pediatrics 2007

• Elterliche Strategien:• 85 % boten neue Nahrungsmittel an• 67 % ließen Fernsehen oder Video beim Esssen laufen• 74 % spielten Spiele mit ihren Kindern

• Strafende Maßnahmen: • 55 % gaben ihren Kindern keinen Nachtisch• 28 % nahmen das Essen weg• 19 % zwangen ihre Kinder zum Essen• 12 % drohten• 3 % schlugen ihre Kinder

Klassifikation ICD-10

• Fütterstörung im frühen Kindesalter (F98.2):– Eine für das frühe Kindesalter spezifisch Störung

beim Gefüttertwerden mit unterschiedlicher Symptomatik

– Nahrungsverweigerung, wählerisches Essverhalten, Rumination, Gewichtsstörung, Ausschluss organischer Erkrankung

• Pica (F98.3):– Verzehr nicht essbarer Substanzen, ab Alter von zwei

Jahren, zweimal pro Woche, mindestens ein Monat

Klassifikation Fütterstörungen

• ICD-10: • Zu allgemein, zu selten,

klinisch nicht relevant

• Neue Klassifikationsvorschläge der DC: 0-3R:

• Sechs verschiedene Subtypen• sehr viel differenzierteres

diagnostisches und therapeutisches Vorgehen

• Hohe Praxisrelevanz

ZERO TO THREE: Diagnostic classification of mental healthand developmental disorders of infancy and childhood.

Leitlinien

• Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind und Vorschulalter (S2k)

• AWMF Nr.: 028/041

KlassifikationDC:0-3R 2005

• Regulations-Fütterstörung:• Schwierigkeit beim Füttern, einen ausgeglichenen

Zustand beim Füttern zu erreichen und beizubehalten (zu schläfrig, agitiert oder belastet/gequält)

• Fütterstörung der reziproken Interaktion:• nicht alterstypischer reziproker Austausch mit seiner

Bezugsperson während der Füttersituation (nicht adäquaten Blickkontakt, Lächeln, Reden)

KlassifikationDC:0-3R 2005

• Frühkindliche Anorexie:• verweigern adäquate Essensmengen• teilen Hungergefühl nicht mit, zeigen kein Interesse am

Essen, aber an Exploration und Interaktion mit ihren Bezugspersonen

• Sensorische Nahrungsverweigerung:• verweigern Nahrungsmittel mit speziellem Geschmack,

Struktur oder Geruch• Essensverweigerung tritt beim Übergang zu neuen

Nahrungsmitteln auf• bevorzugte Nahrung wird problemlos gegessen

KlassifikationDC:0-3R 2005

• Fütterstörung assoziiert mit medizinischen Erkrankungen:

• Wegen körperlicher Erkrankung beginnt das Kind zu essen, zeigt aber Schwierigkeiten, die Fütterung aufrechtzuerhalten

• Fütterstörung assoziiert mit Insulten des gastrointestinalen Traktes:

• Nahrungsverweigerung nach aversiven Reizen des oberen gastrointestinalen Trakts (wie Würgen, Erbrechen, Reflux, Sondierung, Absaugen)

• Erinnerungen an das traumatische Ereignis zeigen sich in antizipatorischen Reaktionen; Weigerung, Nahrung herunter zu schlucken

Spezifische Ätiologie

Regulations-Fütterstörung Homöostase, Vigilanz

Fütterstörung der reziproken Interaktion

Interaktion, psychische Störung der Eltern

Frühkindliche Anorexie Hyperarousal

Sensorische Nahrungsverweigerung

Sensorische Störung

Fütterstörung assoziiert mit medizinischen Erkrankungen

Medizinische Grunderkrankung

Fütterstörung assoziiert mit Insulten des gastrointestinalen Traktes

Konditionierter Reflex

Therapie

• Beratung, Psychoedukation• Ernährungsberatung• Logopädie: Training der oralen Sensibilität und der

Mundmotorik• Pädiatrische Therapie• Graduelles Essenstraining durch Pflegepersonal• Kontrollierte Hungerversuche mit

Nahrungseinschränkung, um Hungergefühl zu aktivieren• Videogestützte Eltern-Kind-Psychotherapien in

Essenssituationen• Elterntrainings• Individuelle psychotherapeutische Behandlung nach

Indikation (Mutter, Paar und Kind)• Jugendhilfemaßnahmen nach Entlassung

Therapie: Allgemeine Essensregeln Bernard-Bonnin 2006

• Feste Mahlzeiten, nur geplante Zwischenmahlzeiten• Außer Wasser und Tee (ungesüßt), kein Nahrungsangebot zwischen

den Mahlzeiten• Dauer der Mahlzeiten maximal 30 Minuten• Neutrale Atmosphäre, kein Essen unter Zwang• Kein Spielen während der Mahlzeiten• Essen nie als Belohnung oder Geschenk• Kleine Portionen• Feste Nahrung zuerst, Flüssigkeiten später• Unterstützung von aktivem Essen der Kinder• Der Mund wird nur abgewischt nach Ende der Mahlzeiten • Wegräumen des Essens nach 5-10 Minuten, falls das Kind ohne

Essen spielt• Beendigung der Mahlzeiten, wenn das Kind Essen in Wut

umherschmeißt

Spezielle Therapie bei spezifischen Fütterstörungen

Regulations-Fütterstörung Regulation der Stimulationsmenge während der EssenszeitenSteigerung der elterliche FeinfühligkeitOptimierung der Beruhigungs- und Fütterstrategien

Fütterstörung der reziproken Interaktion

Eltern-Kind-Therapien bei InteraktionsstörungenTherapie der Mütter bei psychischen StörungenBei Vernachlässigung und Deprivation: stationäre Aufnahme, Bezugspflege mit wenigen PersonenJugendhilfemaßnahmen, z. T. Fremdplatzierung

Frühkindliche Anorexie Beratung und Psychoedukation: Temperament des KindesStrukturierungen und GrenzsetzungenGeregelte Mahlzeiten, dazwischen nur WasserKleine Portionen, Sitzenbleiben bis zum Ende der MahlzeitKein Spielen wird während der MahlzeitenVerhaltenstherapie, Time-out

Spezielle Therapie bei spezifischen Fütterstörungen

Sensorische Nahrungsverweigerung

Entspannte Essensatmosphäre, Abbau dysfunktionaler InteraktionenEltern: ModelllernenAllmähliche Desensibilisierung: neue NahrungsmittelProbieren auch kleiner MengenVerhaltenstherapie mit positiven Verstärkern

Fütterstörung assoziiert mit medizinischen Erkrankungen

Behandlung der medizinischen ErkrankungModifikation der Fütteranläufe nach Stress und Belastung des Kindes Vermittlung von BeruhigungsstrategienEventuell Zufütterung per Sonde

Fütterstörung assoziiert mit Insulten des gastrointestinalen Traktes

Systematische und graduelle Desensibilisierung: Der Sonde, der gefürchteten Objekte (Hochstuhl, Lätzchen, Fläschchen, Löffel) und NahrungWeniger gefürchtete Nahrung zuerst, dann die stärker abgewehrteVerhaltenstherapie mit positiver VerstärkungTherapie Angst- und depressiver Symptome

Spezialambulanz für Säuglinge und KleinkinderKlinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychosomatikund PsychotherapieUniversitätsklinikum des Saarlandes

Ambulante Therapie

Schulalter: weitere EssstörungenLask und Bryant-Waugh, 2000

Atypische Essstörungen

Emotionale Störung mitNahrungsvermeidung

Nahrungsvermeidung, GewichtsverlustEmotionale Störung (Depression, Angst)

Selektive Ess-Störung Eingeschränkte Auswahl von NahrungsmittelnAngst- und Autismus-Spektrum- Störungen

Nahrungsphobie Phobie assoziiert mit EssenAngst- und Zwangsstörungen

Funktionelle Dysphagie NahrungsvermeidungSchwierigkeiten beim SchluckenAngststörungen

Nahrungsverweigerung Aktive NahrungsverweigerungStörung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (ODD)

Durchgängiges Verweigerungssyndrom

Schwerwiegende Verweigerung von Essen, Trinken, Laufen, Sprechen, Hygiene

16,17

Emotionale Störung mit Nahrungsvermeidung

• Nahrungsvermeidung• Gewichtsverlust• Emotionale Störung• Keine abnorme Beschäftigung mit Gewicht

und Körperschema• Keine Erkrankung des ZNS, Psychose

oder Medikamentenabusus

Funktionelle Dysphagie

• Nahrungsvermeidung• Angst vor Schlucken, Würgen oder

Erbrechen• Keine abnorme Beschäftigung mit Gewicht

und Körperschema

Jugendalter

• Klassische Essstörungen:

• Abnorme Beschäftigung mit Gewicht, Körperschema-störung

Klassische Essstörungen

Nicholls und Bryant-Waugh 2008

• Anorexia nervosa (F50.0):• Fühestens ab 7 Jahren

• Bulimia nervosa (F50.2): • Ein Fall unter 10 Jahren

• Binge Eating Disorder (DSM-5):

• Ab 6 Jahren

Anorexia nervosa nach ICD-10

• Körpergwicht mindestens 15% unter der Norm, Bzw. BMI <= 17,5

• Selbstherbeigeführter Gewichtsverlust• Köperschemastörung• Endokrine Störungen• Bei Erkrankungsbeginn vor Pubertät

Störung der pubertären Entwicklung und Wachstum (oft reversibel)

Anorexia nervosa

• Prävalenz: 0,3-1,0%, Zunahme• Altersgipfel 14 Jahre• 90% weiblich, 10% männlich

• Kindliche Anorexie (10-14 Jahre) 5% aller Formen, deutliche Zunahme

Anorexia nervosa: Altersspezifisch beginnende Störung

Anorexia nervosa

• Komorbidität:– Zwangssymptome 40-50%– Angstsymptome 40-80%– Depressive Symptome 20-70%

Anorexia nervosa: Ursachen

• Genetische Faktoren (gemeinsames Risiko für Anorexia nervosa und Bulimia nervosa):– erhöhte familiäre Belastung

• Perinatale Risiken:– u. a. Frühgeburtlichkeit

Anorexia nervosa

• Temperament und Persönlichkeit:– Berharrlich und zäh– Rigide– Introvertiert, Perfektionismus– Gute Intelligenz

• Familie:– Behütend, einengend, ängstlich, harmonie-orientiert– Keine anorexie-typischen Interaktionen

Anorexia nervosa

• Soziokulturelle Risikofaktoren:– Höhere Prävalenz bei Models, Sportler– Schlankheitsideal– Rollenerwartungen

Behandlung

Ziele:1. Normalisierung des Essverhaltens:

– Diätberatung; 3 Haupt-, 3 Zwischenmahlzeiten

2. Gewichtszunahme bis Endgewicht:– Zunahme von 500g (-1000g)/Woche

3. Bearbeitung der Grundproblematik:– Einzelpsychotherapie unter Einbeziehung der

Familie

Prognose: Anorexie

• Günstiger geworden:– Heilerfolg: 70-80% (früher 40-50%)– Mortalität: 2% (früher 6-10%)

• Jugendliche > Kinder• Kinder/Jugendliche >> Erwachsene• Andere Faktoren wie Krankheitsdauer,

Ausmaß des Gewichtsverlustes wichtig

Bulimia nervosa nach ICD-10

• Andauernde Beschäftigung mit Essen und Heisshungerattacken, bei denen grosse Mengen Nahrung in kurzer Zeit konsumiert werden

• Kompensatorische Verhaltensweisen, z.B. induziertes Erbrechen, Laxantienabusus, etc.

• Körperschemastörung• Häufig Anorexia nervosa in der Vorgeschichte

Bulimia nervosa

• Prävalenz: – 1-2%– Überwiegend weiblich– Gipfel: 16-19 Jahre

Bulimia nervosa

• Temperament und Persönlichkeit:– Weniger kontrolliert– Frustrationstoleranz geringer– Sexuell aktiver– Extrovertierter

• Komorbidität:– Zwangssymptome 8-33%– Angstsymptome 30-70%– Depressive Symptome 20-70%

Behandlung

Ziele:1. Normalisierung des Essverhaltens2. Unterbrechung des Teufelkreises von

Essen und Erbrechen3. Bearbeitung der Grundproblematik:

Einzelpsychotherapie unter Einbeziehung der Familie

4. Pharmakotherapie: SSRI

Prognose: Bulimie

• Heilerfolg: 30-60%• Mortalität: 0,5-1%

Binge Eating Disorder

• Diagnose nur nach DSM-5 (nicht ICD-10)• Wiederholte Episoden von Essanfällen• Kontrollverlust und Völlegefühl• 2 Tage/Woche über 6 Monate• Kompensatorische Verhaltensweisen wie

Erbrechen, Fasten oder körperliche Aktivität fehlen

• 1% der erwachsenen Frauen, keine exakten Daten bei Jugendlcihen

• Kann mit Adipositas assoziiert sein

Fazit für die Praxis

• Fütter- und Essstörungen:– Spezifische Diagnostik

ermöglicht spezifische Therapie

• Für Vorschulkinder:– 6 verschiedene Subtypen

• Für Schulkinder:– atypische Essstörungen:

EDNOS• Für ältere Schulkinder und

Jugendliche: – klassische Essstörungen -

Beschäftigung mit Gewicht, Körperschemastörung