FRANKFURTERALLGEMEINESONNTAGSZEITUNG, …...2018/12/23  ·...

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52 wohnen FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 23. DEZEMBER 2018, NR. 51 T ritt man im Hause Specht ein, überrascht als Erstes das Tageslicht, das dank Plastikkuppel im Spitzdach den ganzen Raum durchflu- tet. Dann wandert der Blick vom herr- lich duftenden Fichtenholzfußboden über die Holzgitterkonstruktion des Baus und die Mandala-Tagesdecke auf dem Bett zu Heizungsrohren und gro- ßem Apple-Computer. Willkommen in der Jurte! Komfortabler könnte das imi- tierte Nomadenleben kaum sein: 30 Quadratmeter Eigentum mit Heizung und Breitbandanschluss, Küche und Bad über den Hof inklusive. „Die Jurte ist to- tal genial. Egal, wo ich stehe, in fünf Schritten bin ich draußen“, sagt Simone Specht. Die Filmemacherin genießt die Nähe zur Natur, auch wenn das bedeu- tet, bei Nieselregen und Minusgraden vor die Tür zu müssen, wenn die Blase drückt. „Ich bin in einer Mittelstandsfa- milie aufgewachsen, habe aber früh be- merkt, dass ich zum Leben nicht so viel Materielles brauche“, erzählt sie. Das Leben in der Jurte – für die Vierzigjähri- ge fühlt es sich richtig an. Damit ist sie nicht allein. Achtzehn Mitstreiter wohnen wie sie in Nomaden- zelten, Bauwagen oder Pavillons. Die sind kreisförmig um einen Gemein- schaftsbau angeordnet, in dem sich Bade- zimmer und eine große Wohnküche be- finden. Ihr Zuhause nennen die Bewoh- ner Tempelfeld, denn zum einen ist ihre kleine Siedlung auf dem Feld Teil der Dorfgemeinschaft Tempelhof in der Nähe von Schwäbisch Hall. Zum ande- ren ist der Kreis der Neunzehn ganz Tempelhof in potenzierter Form: ein ex- perimenteller Forschungsraum für ein neues Wohnen, das den Menschen als so- ziales Wesen in den Mittelpunkt stellt. Das ist nun mal ein weites Feld. Angefangen hat alles 2010, als zwanzig Gleichgesinnte das Dorf Tempelhof mit dem Stichwort „Dorf kaufen“ auf Google aufgespürt und für 1,5 Millionen Euro er- worben haben. Auf dem zweiunddreißig Hektar großen Areal mit Lustschlösschen waren zuvor verschiedene diakonische Einrichtungen wie ein Altersheim oder eine Behinderteneinrichtung unterge- bracht. Denen sei Dank, gibt es in Tem- pelhof viele Gemeinschaftsflächen, zahl- reiche Wohnungen in den alten Wirt- schaftsgebäuden des Schlosses und zwei ehemalige Schwesternhäuser mit Wohn- block-Charme am Waldrand. Seit der Ge- meinschaftsgründung renovieren die neu- en Dorfbewohner vor allem die alten Ge- bäude, die Wohn- und Nutzfläche auf 13 000 Quadratmetern bieten. Im großen Stil neu zu bauen kommt für die mittler- weile einhundert Erwachsenen und fünf- zig Kinder nicht in Frage. Denn Neubau heißt Flächenversieglung, und die Tem- pelhofer möchten der Umwelt möglichst wenig zur Last fallen. Das sieht man auch an Tempelfeld, der Siedlung aus Jurten und Bauwagen. Die sind, wo möglich, aus ökologischen Bau- stoffen gefertigt. Das Gemeinschaftshaus ist zwar ein Neubau. Es zeigt jedoch, wie man alternativ bauen kann: Mit Wänden aus Autoreifen oder Glasfassaden aus Fla- schen besteht der Bau weitestgehend aus Müll. Weil er zudem von einem Erdhü- gel umgeben ist, verbraucht er dank Son- nenwärme statt Heizung, Solaranlagen und Regenwasserzisterne auch langfristig kaum Ressourcen. Trotzdem muss nie- mand auf eine heiße Dusche verzichten. Das Müll-Haus nennen die Tempelhofer Earthship. Wie ein Raumschiff ferne Ga- laxien erkundet, so wollen die Dörfler an- dere Formen des Wohnens ausloten. Die Tempelhofer eint die Überzeu- gung, dass Menschen in einem engen Be- ziehungsnetz zueinander leben sollten. Nur dadurch könne man die Herausfor- derungen einer immer komplexeren Welt meistern, sagen sie. Und räsonierte nicht schon Aristoteles, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile? Auch in Tempelhof ist das zentrale Philoso- phie. „Unsere Gesellschaft ist fragmen- tiert, und viele Milieus sprechen nicht einmal miteinander. Die führen wir hier wieder zusammen“, sagt Rainer Kalten- ecker. Der Unternehmer spricht von der Vielfalt im Dorf: Ärzte treffen auf Hand- werker, Buddhisten auf Atheisten oder Amazon-Kunden auf Konsumverweige- rer. Dogmatisch sind die Tempelhofer nicht. Nur der Wille, Zukunftswerkstatt zu sein, eint sie. Mit ihrem Dorf, das den Anspruch hat, alte und festgefahrene Strukturen zu überwinden, möchten sie Antworten für andere liefern: Wie müs- sen Menschen Wohnen und Leben orga- nisieren, damit eine Gemeinschaft ent- steht, von der alle profitieren? Um das rauszufinden, sind die Bewoh- ner aus der Komfortzone gerückt, die man sich üblicherweise in der eigenen Wohnung einrichtet. Die ist in Tempel- hof nicht mehr Schalt-und-walt-Zentrale des Privatlebens, sondern umgekehrt. Nur im Ausnahmefall wird in Tempelhof das Zuhause zur Burg, in der man sich verschanzt. Ansonsten steht es den Dorf- bewohnern offen. Oberste Regel in der Dorfgemeinschaft: Schuhe aus. Man macht es sich heimelig beim anderen. Das ganze Dorf wird zur Wohnung. En- det jede gute Feier in der Küche und ist sie Mittelpunkt einer Wohnung, haben die Tempelhofer dafür eine Kantine, in der sie mittags gemeinsam essen. Auch hier streifen viele das Schuhwerk ab, ein Regal mit persönlichen Hausschuhen steht eigens im Foyer. Frühstücken und zu Abend essen können die Dorfbewoh- ner dort auch, bezahlt ist alles mit einem Solidarbetrag. Wer mag, nimmt zum Aus- klingen des Tages noch an einer der zahl- reichen Gruppenaktivitäten wie Yoga oder Singen teil oder lädt andere spontan per E-Mail-Dorf-Verteiler zu einem Um- trunk ein. Eine kuschelige neue Welt? Leider nein. „Das Gemeinschaftsleben ist anstren- gend. Man muss sich stetig mit anderen auseinandersetzen“, stellt Unternehmer Rainer Kaltenecker klar. Dank WG: Trotz Trennung wohnt Alexandra Schwarzer mit ihrer Familie zusammen. Selbstversorger sind die Tempelhöfer nicht, geackert wird trotzdem (links). Im Hof vor dem Schloss kommen die Bewohner auf einen Plausch zusammen. Das „Earthship“ (rechts) dient den Bewohnern als Gemeinschaftshaus. Nah an der Natur: Filmemacherin Simone Specht schätzt das Leben in der Jurte. In Tempelhof leben 150 Bewohner in enger Gemeinschaft. Ärzte treffen hier auf Handwerker, Buddhisten auf Atheisten und Amazon-Kunden auf Konsumverweigerer. Zusammen loten sie andere Formen des Wohnens aus. Von Leon Igel (Text) und Verena Müller (Fotos) Gemeinschaftserprobt: Agnes Schuster hat das Wohnprojekt Tempelhof mitgegründet. Ein jeder wohne, wie er mag

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Page 1: FRANKFURTERALLGEMEINESONNTAGSZEITUNG, …...2018/12/23  · Earthship.WieeinRaumschiffferneGa-laxienerkundet,sowollendieDörfleran-dereFormendesWohnensausloten. Die Tempelhofer eint

52 wohnen F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N TAG S Z E I T U N G , 2 3 . D E Z E M B E R 2 0 1 8 , N R . 5 1

Tritt man im Hause Spechtein, überrascht als Erstesdas Tageslicht, das dankPlastikkuppel im Spitzdachden ganzen Raum durchflu-

tet. Dann wandert der Blick vom herr-lich duftenden Fichtenholzfußbodenüber die Holzgitterkonstruktion desBaus und die Mandala-Tagesdecke aufdem Bett zu Heizungsrohren und gro-ßem Apple-Computer. Willkommen inder Jurte! Komfortabler könnte das imi-tierte Nomadenleben kaum sein: 30Quadratmeter Eigentum mit Heizungund Breitbandanschluss, Küche und Badüber den Hof inklusive. „Die Jurte ist to-tal genial. Egal, wo ich stehe, in fünfSchritten bin ich draußen“, sagt SimoneSpecht. Die Filmemacherin genießt dieNähe zur Natur, auch wenn das bedeu-tet, bei Nieselregen und Minusgradenvor die Tür zu müssen, wenn die Blasedrückt. „Ich bin in einer Mittelstandsfa-milie aufgewachsen, habe aber früh be-merkt, dass ich zum Leben nicht so vielMaterielles brauche“, erzählt sie. DasLeben in der Jurte – für die Vierzigjähri-ge fühlt es sich richtig an.

Damit ist sie nicht allein. AchtzehnMitstreiter wohnen wie sie in Nomaden-zelten, Bauwagen oder Pavillons. Diesind kreisförmig um einen Gemein-schaftsbau angeordnet, in dem sich Bade-zimmer und eine große Wohnküche be-finden. Ihr Zuhause nennen die Bewoh-ner Tempelfeld, denn zum einen ist ihrekleine Siedlung auf dem Feld Teil derDorfgemeinschaft Tempelhof in derNähe von Schwäbisch Hall. Zum ande-ren ist der Kreis der Neunzehn ganzTempelhof in potenzierter Form: ein ex-perimenteller Forschungsraum für einneues Wohnen, das den Menschen als so-ziales Wesen in den Mittelpunkt stellt.Das ist nun mal ein weites Feld.

Angefangen hat alles 2010, als zwanzigGleichgesinnte das Dorf Tempelhof mitdem Stichwort „Dorf kaufen“ auf Googleaufgespürt und für 1,5 Millionen Euro er-worben haben. Auf dem zweiunddreißigHektar großen Areal mit Lustschlösschenwaren zuvor verschiedene diakonischeEinrichtungen wie ein Altersheim odereine Behinderteneinrichtung unterge-bracht. Denen sei Dank, gibt es in Tem-pelhof viele Gemeinschaftsflächen, zahl-

reiche Wohnungen in den alten Wirt-schaftsgebäuden des Schlosses und zweiehemalige Schwesternhäuser mit Wohn-block-Charme am Waldrand. Seit der Ge-meinschaftsgründung renovieren die neu-en Dorfbewohner vor allem die alten Ge-bäude, die Wohn- und Nutzfläche auf13 000 Quadratmetern bieten. Im großenStil neu zu bauen kommt für die mittler-weile einhundert Erwachsenen und fünf-zig Kinder nicht in Frage. Denn Neubauheißt Flächenversieglung, und die Tem-pelhofer möchten der Umwelt möglichstwenig zur Last fallen.

Das sieht man auch an Tempelfeld, derSiedlung aus Jurten und Bauwagen. Diesind, wo möglich, aus ökologischen Bau-stoffen gefertigt. Das Gemeinschaftshausist zwar ein Neubau. Es zeigt jedoch, wieman alternativ bauen kann: Mit Wändenaus Autoreifen oder Glasfassaden aus Fla-schen besteht der Bau weitestgehend ausMüll. Weil er zudem von einem Erdhü-gel umgeben ist, verbraucht er dank Son-nenwärme statt Heizung, Solaranlagenund Regenwasserzisterne auch langfristigkaum Ressourcen. Trotzdem muss nie-mand auf eine heiße Dusche verzichten.Das Müll-Haus nennen die TempelhoferEarthship. Wie ein Raumschiff ferne Ga-laxien erkundet, so wollen die Dörfler an-dere Formen des Wohnens ausloten.

Die Tempelhofer eint die Überzeu-gung, dass Menschen in einem engen Be-ziehungsnetz zueinander leben sollten.Nur dadurch könne man die Herausfor-derungen einer immer komplexerenWelt meistern, sagen sie. Und räsoniertenicht schon Aristoteles, das Ganze seimehr als die Summe seiner Teile? Auchin Tempelhof ist das zentrale Philoso-phie. „Unsere Gesellschaft ist fragmen-tiert, und viele Milieus sprechen nichteinmal miteinander. Die führen wir hierwieder zusammen“, sagt Rainer Kalten-ecker. Der Unternehmer spricht von derVielfalt im Dorf: Ärzte treffen auf Hand-werker, Buddhisten auf Atheisten oderAmazon-Kunden auf Konsumverweige-rer. Dogmatisch sind die Tempelhofernicht. Nur der Wille, Zukunftswerkstattzu sein, eint sie. Mit ihrem Dorf, das denAnspruch hat, alte und festgefahreneStrukturen zu überwinden, möchten sieAntworten für andere liefern: Wie müs-sen Menschen Wohnen und Leben orga-

nisieren, damit eine Gemeinschaft ent-steht, von der alle profitieren?

Um das rauszufinden, sind die Bewoh-ner aus der Komfortzone gerückt, dieman sich üblicherweise in der eigenenWohnung einrichtet. Die ist in Tempel-hof nicht mehr Schalt-und-walt-Zentraledes Privatlebens, sondern umgekehrt.Nur im Ausnahmefall wird in Tempelhof

das Zuhause zur Burg, in der man sichverschanzt. Ansonsten steht es den Dorf-bewohnern offen. Oberste Regel in derDorfgemeinschaft: Schuhe aus. Manmacht es sich heimelig beim anderen.Das ganze Dorf wird zur Wohnung. En-det jede gute Feier in der Küche und istsie Mittelpunkt einer Wohnung, habendie Tempelhofer dafür eine Kantine, in

der sie mittags gemeinsam essen. Auchhier streifen viele das Schuhwerk ab, einRegal mit persönlichen Hausschuhensteht eigens im Foyer. Frühstücken undzu Abend essen können die Dorfbewoh-ner dort auch, bezahlt ist alles mit einemSolidarbetrag. Wer mag, nimmt zum Aus-klingen des Tages noch an einer der zahl-reichen Gruppenaktivitäten wie Yoga

oder Singen teil oder lädt andere spontanper E-Mail-Dorf-Verteiler zu einem Um-trunk ein.

Eine kuschelige neue Welt? Leidernein.

„Das Gemeinschaftsleben ist anstren-gend. Man muss sich stetig mit anderenauseinandersetzen“, stellt UnternehmerRainer Kaltenecker klar.

Dank WG: Trotz Trennung wohnt Alexandra Schwarzer mit ihrer Familie zusammen.

Selbstversorger sind dieTempelhöfer nicht, geackertwird trotzdem (links).Im Hof vor dem Schlosskommen die Bewohnerauf einen Plausch zusammen.Das „Earthship“ (rechts)dient den Bewohnernals Gemeinschaftshaus.

Nah an der Natur: Filmemacherin Simone Specht schätzt das Leben in der Jurte.

In Tempelhof leben 150 Bewohner in engerGemeinschaft. Ärzte treffen hier auf Handwerker,Buddhisten auf Atheisten und Amazon-Kundenauf Konsumverweigerer. Zusammenloten sie andere Formen des Wohnens aus.

Von Leon Igel (Text) und Verena Müller (Fotos)

Gemeinschaftserprobt: Agnes Schuster hat das Wohnprojekt Tempelhof mitgegründet.

Ein jederwohne,wie er mag

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F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N TAG S Z E I T U N G , 2 3 . D E Z E M B E R 2 0 1 8 , N R . 5 1 wohnen 53

Von meinem Vaterweiß ich nicht viel.Ich war sechzehn,als er starb. Er warachtzehn, als derZweite Weltkrieg be-gann. Die Jugendhat er im Krieg ver-

bracht. Sein Vater war wie er Kfz-Schlosser, wohl mit den allererstenAutos. Dessen Vater wiederum hat-te Spieluhren gebaut, ebenfalls eineSache der Mechanik. Robert hießensie alle drei. Von all den Spieluhren,die mein Urgroßvater herstellte, hateine einzige die Bomben auf Ha-gen/Westfalen überlebt. Meine Mut-ter hat sie mir eines Tages mitgege-ben. Seitdem ist sie das wahrschein-lich wertvollste Stück in meinerWohnung – ich habe sie nie schät-zen lassen. Mich fasziniert es, wiediese Spieluhr immer noch glocken-klar zehn Musikstücke spielt. Duziehst die Walze auf, und los gehtes. Meine Enkel lieben sie. Und ichstaune: Welche Präzision steckt indieser Mechanik!

Ich habe gute Erinnerungen anmeinen Vater. Aber heute würde ichihn gern mehr fragen, wie das wardamals. Von der Geschichte unsererMutter und ihrer Heimat in Pom-mern wissen meine Schwestern undich so viel mehr. Doch ab und an,wenn ich die Spieluhr ihre Liederklingen lasse, dann fühle ich michverbunden mit der Väterseite mei-ner Familie. Und sie spielt laut aufzum Tanz! Da sehe ich die Men-schen, wie sie sich vergnügt im Krei-se drehen . . .

Margot Käßmann ist eine evangelisch-lutherischeTheologin und Pfarrerin.

„Mein Lieblingsstück“ erscheint im Wechselmit „Was für ein Ding!“.

DIESPIELUHRVON MARGOT KÄßMANN

Es muss nicht unbedingt dasklassische Einfamilienhaus sein.In Tempelhof wird auch inJurte und Bauwagen gewohnt.Die Mehrheit der Dörflerhat ihr Zuhause jedoch in einemder Bestandsgebäudegefunden. Neubau ist für dieGemeinschaft keine Option.

MEIN LIEBLINGSSTÜCK

Selbstverständlich kommt es dabei zuKonflikten. Aber davor schreckt in Tem-pelhof niemand zurück. Im Gegenteil.„Unsere Gemeinschaft ist wie ein Sauer-teig: Indem wir Konflikte ehrlich anspre-chen und nicht ausklammern, wird sieimmer vertrauensvoller und kraftvoller“,ist Agnes Schuster überzeugt. Sie hat voracht Jahren die Gemeinschaft mitgegrün-

det. Erst indem sich Menschen mit ihrenAnliegen gegenseitig ernst nehmen, kön-ne eine Gemeinschaft wachsen. „Konflik-te auszuhalten und zu lösen müssen wirals Mensch erst lernen“, sagt Kalten-ecker. Auch in Tempelhof ist das so. Nurweil man in einem Dorfprojekt lebe, seiman kein besserer Mensch. „In den ers-ten Jahren haben sich die Bewohner hier

auch kräftig gestritten“, erzählt der ge-bürtige Münchner lachend.

Schuster und Kaltenecker sind beideMitglieder im Dorf-Vorstand und lebenim gleichen Mehrparteienhaus am Wald-rand. Doch könnten sie den Vielfaltsan-spruch Tempelhofs nicht besser verkör-pern. Sie ist die linke Buchhändlerin undSozialpädagogin aus der bayerischen Klein-stadt, die ihr gesamtes Leben in Gemein-schaften gewohnt hat. Er ist der erfolgrei-che, kapitalstarke Eigentümer eines Verla-ges, der in Tempelhof zum ersten Mal inseinem Leben nicht allein wohnt. IhreWohnung ist ein warmes Kuddelmuddel,in dem man Grüntee bei Kerzenscheintrinkt. Bei dem Neunundvierzigjährigendominieren minimalistische, kubische Mö-bel und ein Weinkühlschrank, der kühl,aber willkommenheißend leuchtet.

So unterschiedlich die zwei sind, hat siebeide das Gefühl nach Tempelhof ge-bracht, dass Leben mehr als Einfamilien-haus, Garten und Vollzeitstelle bedeutet.Und so unterschiedlich ihre Wohnungenals Hort des Privaten gestaltet sind, habenbeide etwas gemeinsam: Über viel Platzverfügen sie nicht. Schuster lebt allein ineiner Einzimmerwohnung, Kalteneckermit Freundin und ihren zwei Kindern ineiner kleinen Wohnung. In Tempelhofhat jeder Bewohner eine durchschnittlicheprivate Wohnfläche von 24 Quadratme-tern, auf Bundesebene sind es 47.

Eine enge neue Welt? Ansichtssache.„Mir gehört hier nichts und doch al-

les“, sagt Schuster. Eine Wohnung sei im-mer ein begrenzter Raum. Teile mansich öffentlich Raum, habe so jedermehr. „Wenn wir teilen, sind wir ökono-misch und sozial unglaublich reich“,meint die Vierundsechzigjährige.

Die Tempelhofer reduzieren die Woh-nung daher auf ein Minimum, ohne zuverkennen, wie wichtig der Raum für dasPrivate ist. Jeder hat in Tempelhof einAnrecht auf ein eigenes Zimmer. So gibtes bei Kaltenecker und seiner Freundin –untypisch für die normierte Familien-wohnung – zwei Schlafzimmer. Die bür-gerliche Kleinfamilie stört das nicht. InZeiten von Scheidung und Patchwork istdie ohnehin ein fluides Gebilde gewor-den. Das beantworten die Tempelhofermit einem Wohnkonzept, mit dem sieschnell auf sich verändernde Lebenssitua-tionen reagieren können.

Da gibt es etwa Alexandra Schwarzer,die mit ihrem Mann, dem elfjährigenSohn, der dreizehnjährigen Tochter undvier weiteren Erwachsenen in einerWohngemeinschaft im Schloss lebt. 2012zog das Paar mit den Kindern ein, mitt-lerweile sind die Eltern getrennt. Wichti-ger Akt dazwischen: Schwarzer zog inein Zimmer an das andere Ende derWohnung um. „Trotz unserer Trennungwollen wir den Alltag mit den Kindernzusammen teilen“, erzählt Schwarzer, diewie ihr Mann wieder in einer neuen Be-ziehung ist. Das Leben in der Wohnge-meinschaft, das als Provisorium geplantwar, erwies sich als Glücksfall. „Das Zu-sammenleben mit anderen Erwachsenenentspannt die Situation mit dem Ex-Part-ner. Konflikte werden so abgepuffert“,sagt die gebürtige Kölnerin. Als Mutterfrage sie sich oft, wie man trotz Tren-nung ein Vorbild für die Kinder seinkann. „Wir ermöglichen unseren Kin-dern einen gemeinsamen Alltag mit ih-ren Eltern“, sagt sie und lächelt. DieWG hat das Familienleben gerettet.

Wenn die eigenen vier Wände keineguten Voraussetzungen für Veränderun-gen bieten, stehen die Tempelhofer für-einander ein. Bald zieht in SchwarzersWG ein Dorfbewohner ein, der sich vonseiner Frau getrennt hat. So ermöglichensie ihm, in seinem Umfeld weiter lebenzu können. „Wir ziehen hier an einemStrang. Daher gibt es hier wenig ,Mein‘und ,Dein‘“, erklärt Schwarzer. PrivatesWohneigentum gibt es in Tempelhof inder Tat nicht. Das genossenschaftlich or-ganisierte Dorf tritt als alleiniger Vermie-ter auf. Wer nach Tempelhof zieht, zahlteine Einlage von 32 000 Euro, dafür hater ein lebenslanges Wohnrecht. Die Mie-ten sind festgesetzt und variieren je nachQualität der Wohnung. Ein Umzug in-nerhalb des Dorfes ist daher ohne finan-zielle Einbuße leicht möglich. Besitzlosig-keit, feste Mieten und Hilfsbereitschaftdank Wir-Gefühl, all das ermöglicht dieschnelle Reaktionsfähigkeit dieses Anti-Wohnungsmarktes.

Eine vollkommen neue Welt? Nein.Wohnen funktioniert in Tempelhof

auch ganz klassisch als Familienwohnungmit elterlichem Ehebett, Kinderzimmernund Sofalandschaft in einem Haus mit Sat-teldach. Für Meike Selig und ihren Mann

war von Anfang an klar, dass sie mit ihrendrei Kindern zu Hause keine Experimen-te machen möchten. „Ein Leben in einerWG kam für uns nicht in Frage. Wir ha-ben gespürt, dass die Familie einen Schutz-raum braucht“, sagt Selig. Auch getrennteSchlafzimmer wollten sie nicht. In Tempel-hof stört sich daran niemand. Warumauch? Gemeinschaft ist in Tempelhof dasZiel, die besteht aus Individuen. Sind diezufrieden, geht es allen gut.

So richten die einen ihre Anstrengun-gen auf die Kinder, wie die Mütter Alex-andra Schwarzer und Meike Selig. Dieanderen nutzen ihr unternehmerischesWissen und verwalten das Dorf als Be-trieb, wie Vorstand Rainer Kaltenecker.Dorf-Mitgründerin Agnes Schusterbringt ihre Erfahrung aus dem Gemein-schaftsleben mit, und Filmemacherin Si-mone Specht zeigt mit ihrem Leben inder Jurte, dass man auch anders als zwi-schen festen Wänden wohnen kann.

„Das Leben hier ist ein Experiment“,sagt Simone Specht. Bei starkem Windzittert die Jurte, und das Dach mit Kup-pelblick auf die Wolken bebt leicht. „Ineiner Jurte, lebt man in starker Verbun-denheit mit Himmel und Erde“, erzähltdie gebürtige Allgäuerin. Für sie ist daseine spirituelle Erfahrung, aus der sieschöpft. Das Leben sei in Tempelhof in-tensiv. Viele tiefe Gespräche mit den an-deren, wenig Plaudereien. Man lerne vielüber sich. Bei dem Trubel dürfe mansich jedoch in der Gemeinschaft nichtverlieren. Specht sieht sich selbst an ei-nem solchen Punkt: „Impulse entstehenauf dem Weg. Für meine künstlerischeArbeit brauche ich nun einen ruhigerenOrt.“ Im kommenden Jahr möchte sie da-her das Dorf auf Zeit verlassen.

Die Filmemacherin schaut auf dieUhr. Sie muss los. Zwei Dorfsitzungenwarten an diesem Abend noch auf sie,und morgen in der Frühe backt sie Brotfür die Gemeinschaft. Den Computerfährt sie herunter. „Adé!“ Sie läuft los,stoppt und dreht um. „Mein Leben isthier so, wie ich es mir früher erträumthabe. Es ist wichtig, was in Tempelhof ge-schieht“, sagt sie lächelnd, bevor sie inder Dunkelheit verschwindet.

Deutsche träumen vom WC

Alle Jahre wieder ist Weihnachten,und alle Jahre wieder erscheint auchdie sogenannte „Wohntraumstudie“des Kreditvermittlers Interhyp. Undso wenig Weihnachten für vieleMenschen „die Zeit der Besinnlich-keit“ ist, von der die Interhyp fabu-liert, handelt es sich bei den „Wohn-träumen“ um Sehnsüchte. Indoor-Pool, Jacuzzi oder im Boden ver-senkbare Hausbar? Weit gefehlt. Zu-allererst wünschen sich die Deut-schen eine Einbauküche, dann einGäste-WC und als Drittes einenGarten – und zwar in dieser Reihen-folge. „Die Ausstattungswünscheder Deutschen sind eher am Alltagorientiert als an Status oder Luxus“,schreibt die Interhyp. Sehr vernünf-tig. Aber ein WC als „Wohntraum“zu bezeichnen ist selbst in der ver-träumten Weihnachtszeit etwas zuviel des Guten. jul.

Apropos Wohntraum Küche

Deren Aussehen hat sich im Laufedes vergangenen Jahrhunderts ge-waltig verändert – nicht nur durchdie technischen Neuerungen, son-dern auch durch die veränderten An-sprüche. Küche heute, das ist ein„polyfunktionaler Ort“, schreibt Ki-lian Stauss in dem Buch „Die Kü-che zum Leben – Perspektiven fürden Lebensraum“ (DVA). Längstwird im nahen Umfeld von Herdund Kühlschrank nicht mehr nur ge-kocht, gebacken und gegessen. Vorallem im Neubau wird sie zuneh-mend Teil des Wohnraums. Und da-mit sie in Nachbarschaft zu Sofa,Klavier und Perserteppich nichtpragmatisch-plump daherkommt,werden die Oberflächen immerleichter und feiner. Einerseits. Ande-rerseits dringt nun auch der „Indus-trial Look“, der sich in Restaurantsund Cafés durchgesetzt hat, ins pri-vate Heim vor. Das passt zum Farb-trend. Die Mehrheit der Deutschensetzt zwar bei der Küchen- wie derVorhangwahl auf die Farbe Weiß,doch zunehmend zeigen Herstellerauch Oberflächen in Anthrazit undSchwarz. Dass sich die vom amerika-nischen Farbenhersteller Pantonefür 2019 ausgerufene Trendfarbe„Living Coral“ auf den Frontendurchsetzt, muss man zum Glücknicht fürchten. bir.

Steht für Minimalismus: Unternehmer und Dorf-Vorstandsmitglied Rainer Kaltenecker

WAS GIBT’S NEUES?

Zieht Grenzen: Für Meike Selig und ihre Familie ist Privatsphäre wichtig.

Fotos Obs; privat

Mehr dazu im Video unter

faz.net/tempelhof