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edition ebersbach
Annemarie Schwarzenbach
ORIENTREISEN
Reportagen aus der Fremde
Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Walter Fähnders
Bibliografi sche Information der Deutschen National bibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publi ka tion in der Deutschen Nationalbibliografi e;
detaillierte bibliogra fi sche Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Aufl age 2010
© edition ebersbach
Horstweg 34, 14059 Berlin
www.edition-ebersbach.de
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Umschlaggestaltung: Birgit Cirksena, Berlin
Druck und Bindung: Impress d. d., Slowenien
ISBN 978-3-86915-019-2
»Unser Leben gleicht der Reise … und so scheint mir
die Reise weniger ein Abenteuer und Ausfl ug in
un gewöhnliche Bereiche zu sein, als vielmehr ein
konzentriertes Abbild unserer Existenz.«
Annemarie Schwarzenbach
16
Neben dem Orient-Expreß
Wohlmeinende Stimmen hatten uns gewarnt: wir sollen
den Wagen lieber auf ein Schiff verladen, oder auf den
O rient-Expreß, dann würden wir heil und mit unverbrauch-
ten Kräften von Istanbul aus starten können. Der Orient-
Expreß, gewiß! – Als Kind schon hatte er mich entzückt,
als ich ihn durch das Wallis dem Simplon zurollen sah: da
brauchte man nur einzusteigen, und würde, unfehlbar, ei-
nes Morgens erwachen am Bosporus, an der Küste Asiens!
Jahre später wurde der Zauber zur Wirklichkeit, und ich
sah am Ende langer gelber Hügelketten Stambul aus dem
Meer auftauchen – der herbstliche Balkan war hinter mir
geblieben wie eine ungeborene Welt, traurig, arm, unter
graubraunen Wolken düster verhüllt.
Es gibt Träume, die wiederkehren, man erwartet das
vertraute Bild mit klopfendem Herzen. So ging es mir, als
wir uns, bald hinter Treviso, der italienisch-jugoslawischen
Grenze näherten: würde ich die Melancholie, den bangen
Rhythmus der verschlossenen Wagenreihe wiederfi nden,
den kargen Gruß ärmlicher Bahnstationen? – »660 Kilo-
meter bis Beograd« lasen wir auf dem Wegweiser hinter
der Grenze, – wieviel bis Sofi a, bis Plovdiv, Adrianopel, bis
zum Goldenen Horn? – Die Fremde begann, wir würden
keine Autostradas mehr haben, die Sprache der Bauern
nicht mehr verstehen, – eben noch, so schien es, hatten wir
17
beim Bäcker in Simplon-Dorf ein schwarzes Roggenbrot
gekauft, und mit dem Geisbuben schweizerdeutsch ge-
redet, eben noch die duftenden Gärten am Lago Maggiore,
die Fischerboote am Gardasee begrüßt, und den sanften
Hauch des pastellfarbigen Mittelmeers in der Bucht von
Triest … jetzt: die Fremde, – trauen wir uns hinaus, die
Straße ist schlecht, windet sich durch erste Hügel. Und
Zigeuner lagern am Wegrand, – welches Nomadenlager!
Planwagen und magere Pferde, Körbe und Lumpen, ein
Feuer, ein Blasebalg, Mütter und Kinder schlafen zwi-
schen den Wagenrädern im Schatten ausgestreckt; die
Männer mit olivenfarbigem Teint und länglichen Augen,
tragen die schwarzen Locken bis auf die Schultern. Wir
werden diesem seltsamen Volk wiederbegegnen bis hin-
ein nach Persien, – in einem bulgarischen Dorf führen die
Burschen traurige, von der Hitze ermattete Tanzbären mit
sich, – und überall lieben die schönen Mädchen blitzende
Armreifen und bunte Halsketten. Dieses erste Zusam-
mentreffen mit den unsteten Nomaden der Landstraße
läßt einen Augenblick lang das Panorama sich auftun, das
vor uns liegt, noch verschlossen in Wirklichkeit durch viele
Hindernisse, bekannte und unbekannte – aber es ist eine
Welt, ihre Wege kreuzen sich und setzen sich fort, und ihre
tausendfältigen Schicksale verknüpfen sich tausendfach.
Aber der Alb und die Begierde der Ferne lösen sich,
d ieses Land Jugoslawien mutet heimatlich an mit seinen
Hügeln, Wäldern und Feldern, seinen schönen Dörfern,
Höfen und weißen Barockkirchen, seinen Laubbäumen
an freundlichen Flußläufen. – Der Orient-Expreß, da-
mals, fuhr zu schnell, machte nicht Halt bei einem länd-
lichen Gasthof, im Dorfe »Landstraß«, wo einst Maria
18
Theresia in ihrem Schloß Münze schlagen ließ, bis die
Türken kamen und es zerstörten: ein verwilderter Park
ist übriggeblieben, und das Dorf heißt heute Costanjavica.
Die Deutsch sprachigen aber – erinnern sich des habsbur-
gischen Klanges, der Offi zierskasinos, des Militärdienstes,
wo die Burschen »feine Manieren« lernten – sie erinnern
sich, daß sie zu einem großen Reich gehört haben, wenn
sie auch heute nicht ä rmer sind als damals, an Brot und Ei-
ern, Milch und Mais. Es wird viel von Hitler geredet in den
deutschen Dörfern, man grüßt unseren ausländischen Wa-
gen sogar schon mit erhobenem Arm, – oder man fragt uns
sorgenvoll, ob jener »Führer« wohl auch Slowenien nehmen
werde wie er es mit Deutschböhmen getan habe …
Wir erreichen die Donau, da wird das Land fl ach und
die Getreidefelder setzen sich fort bis zum Horizont, bis
zur Hauptstadt Beograd. Ueberall auf den Wegen in leich-
tem Trab die Gespanne schöner, ungarischer Pferde, und
die Bauern in kleidsamer, weißer Tracht – der Anblick von
soviel ländlichem Reichtum ist eine unentwegte Freude!
Als wir uns, nach drei Tagen, der Grenze Bulgariens nä-
hern, fragen wir uns: was wird anders sein? Es gibt echte
Zufalls-Grenzen, im Orient-Expreß merkte man nicht viel
davon, man schmeckte das Brot nicht, hörte keinen Gesang
und Sensenklang. Aber wir, gleich nachdem wir das win-
zige Tal, den steinigen Weg zwischen den zwei von staubi-
gen Soldaten bewachten Grenzstationen hinter uns haben,
wissen, wir sind »in einem anderen Land«. Es ist wilder,
gebirgiger, unzugänglicher – es ist romantischer, vielleicht
schöner, vielleicht ärmer – es begrüßt uns mit leuchtenden
Abendfarben, roter Erde, einem frischen Gebirgswasser,
Frauen in weißen Kopftüchern und schwarzen Röcken
19
winken uns zu – und als das Tal sich öffnet, der Weg in
großen Kurven in die Ferne hinab steigt, empfi nden wir
zum ersten Mal die Nähe Asiens.
An was es liegt? Vielleicht ist es das schier erdrückend
große Panorama einer weiten Hochebene, hinter der sich
Kette an Kette reiht, bräunliche Berge, schon kahl auf der
Sonnenseite, und in den wasserreichen Schluchten sam-
melt sich das Grün zu Oasen, worin die Dörfer sich bergen.
Vielleicht sind es die Schafherden und bald die Bauern in
türkischer Tracht, in Turban und weiter Hose, die Frauen
verschleiert und scheu. – Sofi a ist eine reizende und fast
dörfliche Hauptstadt, Moscheen stehen neben orthodoxen
Kirchen. Hier, wie in den Provinzstädten, weiß man nicht,
fühlt man sich mehr an den Orient oder an Rußland erin-
nert, und schon tauchen neben dem vertrauten russischen
Alphabet alte arabische Inschriften auf. – Bulgarenzaren,
Fürstenherrschaft, Kämpfe um Philippopel an der Mariza,
byzantinische Intriguen, List und Heldenmut fränkischer
Kreuzritter – wir hören es mit dem Klang der Namen,
aber wir sehen: die gleichen Bauern, die gleichen Dörfer,
die gleichen Felder, die gleichen Herden. Es ist Erntezeit in
Bulgarien, neben weißen Rindern begegnen wir den ersten
schwarzen Wasserbüffeln, diesen glatthäutigen Ungetü-
men mit fl achen Hörnern und leidend gebeugtem Nacken,
bis zum Hals im warmen Schlamm liegend wie Krokodile.
Wir fahren durch das »Tal der Rosen«, Kinder strecken
uns die letzten rosa Blüten entgegen, dafür sind die Laven-
delfelder noch ein violettes, sanft betäubendes Meer, und
in den Erdbeerfeldern hinter Plovdiv-Philippopel pfl ücken
Mohammedanerinnen, armselige Frauen, barfuß und in
langen Hosen, unter der herrischen Aufsicht eines Besit-
20
zers, der uns ein Kistchen von etwa zwei Kilo für vierzig
Rappen verkauft. Wir begreifen: hier in Bulgarien ist mehr
von der alten Türkei lebendig geblieben als drüben in Ana-
tolien. Wohl begegnen wir Flugplätzen, sehen viel exerzie-
rende Soldaten – aber Fabrikschlote sind selten, es gibt nur
die Schornsteine der Rosenöl-Raffi nerien in den Dörfern,
und den Bauern läßt man gewähren, in arbeitsamer Armut,
ob Christ oder Mohammedaner, nach alter Weise.
Die Grenze der europäischen Türkei, einige Kilometer
hinter dem bulgarischen Städtchen Svilengrad: da liegt
rechts, jenseits der breit dahinströmenden Mariza, Grie-
chenland – die gleichen Hügel, von kleinen Feldern be-
deckt. Viel umkämpfte Dreiländerecke …
Dann taucht, hinter einer Biegung des steinigen Weg-
leins, in einem wunderbar hellen Abendhimmel, ein
Traumbild auf: über Hügelrand und Dächergewirr steigen
leicht wie Rauch Minaretts empor, so zart, so wie an die
Wolken rührend, daß man glauben möchte, sie seien aus
keiner irdischen Materie: die Moschee Sultan Selim auf
der Höhe von Adrianopel, erbaut von Sinan, dem Archi-
tekten der Suleymaniye in Stambul. Wir machen Halt, an
uns vorüber eilen türkische Bäuerinnen, in ihre schwarzen
Schleier gehüllt, zwei schwere Wassereimer an wippender
Stange über der Schulter tragend. Es wird Nacht, die Welt
atmet auf, und wir mit ihr – noch versunken in den ersten
Anblick eines neuen, uralten Landes.
[1939]
61
Nachtfl ug über die Wüste
Man weckte mich in meinem Hotel in Damaskus um halb
drei Uhr. Es war eine helle Nacht, und ich glaubte zuerst,
es sei schon die Dämmerung, welche die Straßen weiß
macht e. Ich wurde von zwei Leuten der »French Air Line«
im Auto abgeholt, ein Kellner trug mein Gepäck hinaus,
alles vollzog sich in Eile – und schon befanden wir uns auf
der großen Straße, die zwischen lauter Hügeln zum Flug-
platz hinaus führt. Wir begegneten einer Kamelkarawane,
die Treiber saßen zwischen den hohen Säcken, wiegten sich
hin und her und sangen. Dazu hörte man das Geläut der
kleinen Glocken am Hals der langsam schreitenden Tiere.
Wir überholten sie und sahen von weitem die roten
Lichter des Flugplatzes. Eine kleine Straße zweigte von der
großen ab, wir fuhren zwischen den Schuppen und Flug-
zeughallen hindurch und blieben neben dem großen drei-
motorigen Flugzeug stehen, dessen Propeller schon liefen
und blaue Funkengarben aussandten.
Mechaniker liefen hin und her, es war sehr kalt, die
beiden Piloten standen in ihrem dicken Lederzeug war-
tend und betrachteten den großen, zitternden Leib der
Maschine. Dann stiegen wir ein. Decken und Fußsäcke
wurden gebracht, die Türe schloß sich, das Licht erlosch,
und wir rollten zwischen den roten Lampen hindurch über
das Feld, schwebten schon über den Lichtern der Stadt
62
und sahen gleich darauf die Gärten von Damaskus unter
uns liegen – Oelbäume und Palmen, reiche, große Haine,
ummauerte Vierecke, Brunnen, dunkle Flecken bebauter
Erde – alles in weiches, milchiges Licht getaucht. Dann die
Straße, ein geschlängeltes Band, die aus der Wüste kommt
und in diesen mit Wasser und Fruchtbarkeit gesegneten
Landstreifen führt am Ende aller Mühen – daher auch die
Stadt Damaskus ihre poetischen Beinamen in der phanta-
sievollen Sprache der Araber erhalten hat.
Aber bald wurde die Nacht wieder dunkel und der
Glanz erlosch. Es waren nur noch die Hügel, die sich wie
der Faltenwurf eines Kleides nach allen Seiten hin verlie-
fen. Manchmal erkannte man ein Dorf: einen festen Platz,
umwehrt von den geschlossenen, fenster- und lückenlosen
Mauern der äußerlichen Häuser. Innen reihte sich Hof an
Hof, Gasse an Gasse, und am Ost- und Westende verließ
eine Spur das Dorf und verlor sich in der Nacht.
Bald hörten auch die Dörfer auf. Wir fl ogen in tiefer
Dunkelheit über die ungeborene Welt: die Wüste. Erst nach zwei Stunden begann die Dämmerung. Bis-
her hatten wir nur die kreisenden blauen Garben der Pro-
peller neben uns gehabt. Jetzt blieb hinter uns der Him-
mel pastellblau, vor uns wurde er schwarz und brach sich
in vio lett und stahlblau an der roten Wand im Osten. Die
Feuer räder erloschen, unten befreite sich die Wüste aus
dem Schlaf, und tauchte aus der Urnacht, und wir waren
die ersten Menschen, vom ersten bleichen Licht getroffen.
Dann ging die Sonne auf, und es war wie der Ausbruch
eines großen Feuers und man sah lange Zeit nichts mehr.
Der Pilot öffnete die Türe zum Passagierraum und
winkte mir, nach vorne zu kommen. Schwarze Vorhänge
63
schützten den Blick vor den Sonnenstrahlen. Durch die
Spalten sah ich, wie unter uns das Licht sich ausbreitete,
wie die Sandhügel Reihe um Reihe erglänzten, sich in eine
Schatten- und Lichtseite teilten und Gestalt annahmen.
Nach allen Richtungen vollzog sich dieses Spiel wie eine
zarte Wellenbewegung, und die Wüste, eben noch tot und
von stumpfer Farblosigkeit, verwandelte sich nun in einen
breiten fl ießenden Strom mit goldener Oberfl äche.
Der Pilot zeigte mir Schakale und gleich darauf Gazel-
len, die niedrig und weiß, von ihren Schatten begleitet, un-
ter uns hinwegfl ohen. Bald hörten die Hügel auf und es gab
nur noch Sand und große Flächen und manchmal verwehte
Stellen, wo sich eine winzige Erhebung gebildet hatte und
Ringe sich wie die Niveaulinien einer Landkarte im Sand
abzeichneten. Da und dort ein Wadi, ein ausgetrocknetes
Bachbett, und manchmal auch Wasser, in tiefen länglichen
Brunnen schwarze Spiegel.
Als es schon völlig Tag geworden war, sahen wir die
»Wüstenstraße« – die Route der Karawanen, und heute
der großen Automobile, welche von Damaskus kommend,
die Wüste in zwei Tagen durchqueren. Eine Reihe von
Wagenspuren, breit nebeneinander gelagert, lief von un-
sichtbarem Anfang und führte zu dem Fort Rutbah, des-
sen Wasserturm schon von weitem sichtbar war.
Und eine halbe Stunde später zeigte mir der Pilot im
Osten, noch weit entfernt, den schimmernden Euphrat.
Gleich veränderte sich das Bild. Die Hügel begannen
wieder, zahlreiche Einschnitte von Wasser, welches in der
Tiefe lag und wie ein Kristall sprühendes Licht sammelte.
An ihren Rändern gab es kleine, bald auch größere Fel-
der, schwarze Erde, sorgfältig gezogene Ackerfurchen. Es
64
gab Nomadenzelte, von einem Wall aus Dornsträuchern
eingefaßt. Kamele standen zwischen den Anwesen und
reckten die Hälse. Wir sahen eine Karawane im Aufbruch
begriffen. Vorne ritt schon der Leiter auf der Kruppe eines
Esels in die Wüste voraus, einige Kamele lagen noch in den
Knien und warteten auf Last, einige gingen schon, folgten
dem Esel und einer dünnen Spur im Sand, die ostwärts
zum Ufer eines großen Sees lief. Seine blaue Fläche glänzte
wie eines Messers Schneide und ich hielt sie zuerst für eine
Fata Morgana.
Es gab Fellachen, die hinter dem Pfl ug hergingen, und
Büffel, die geduldig über das Feld zogen. Palmen erhoben
sich, schwarze Silhouetten, am breiten Euphrat. Ueberall
regte sich Leben, längliche Tätigkeit, die Kultur der Eben e.
Ich dachte daran, daß seit fünftausend Jahren sich dem, der
aus der Wüste kommt, der gleiche friedliche Anblick bie-
tet. Ein gelber zerbröckelnder Block, Rest eins der uralten
Tempeltürme des Landes, stand am Ufer und beschwor
einsam die Vergangenheit.
Plötzlich strich der Schatten unseres Flugzeuges wie
der eines riesigen Vogels darüber hinweg.
Statt der raschen Gazellen waren es nun Schafherden,
die auf den ersten, noch kargen Grasfl ächen weideten. Wir
sahen Grün, angelegte Gärten, einen großen Palmenhain
am segenspendenden Ufer. Eine Brücke, eine kleine ara-
bische Stadt. Rauch über den fl achen Dächern. Menschen
winzig in den tiefen Höfen, hoben die Köpfe, legten die
Hand vor die geblendeten Augen und sahen zu uns em-
por.
Dann berührte der Pilot meine Schulter, sagte etwas
Unverständliches durch das Brausen der Motoren. Schon
65
neigte sich das Flugzeug, ich sah neben mir den Fluß und
die Palmenhaine an Stelle des Himmels, und die Moschee,
mit den goldenen Minaretten warf sich uns schwindelnd
entgegen. Das Häusermeer Bagdads kreiste um uns, war
ganz nahe, fast über uns, entfernte sich wieder, die Ord-
nung stellte sich wieder her, und wir rollten schon über das
Flugfeld und landeten.
[1934]
161
Walter FähndersAnnemarie Schwarzenbachs Orientreisen
Nachwort
1.
Annemarie Schwarzenbach (1908 – 1942) war gerade 24
Jahr e alt, als sie ihre erste Orientreise plante. 1931 hatte sie
mit Bravour ihre Doktorprüfung an der Universität Zürich
bestanden, gleichzeitig war ihre erste größere literarische
Arbeit, der Roman Freunde um Bernhard, erschienen. An-
schließend siedelte sie nach Berlin über, nicht zuletzt, um
von den massiven familiären Konfl ikten, denen sie wegen
ihres selbständigen Lebenswandels zeitlebens ausgesetzt
war, zumindest räumlichen Abstand zu gewinnen. Zusam-
men mit Erika und Klaus Mann, die sie seit ihrer Zürcher
Studienzeit kannte, und dem Maler und Illustrator Ricki
Hallgarten, einem Jugendfreund der Geschwister Mann,
nahm sie sich für das Frühjahr 1932 eine Orientreise vor
– eine Reise bis nach Persien (wie der Iran sich bis 1934
nannte). Darüber, dass diese Fahrt nicht zustande kam,
berichtete sie am Pfi ngstsonntag 1932 an ihren vertrauten
akademischen Lehrer und Mentor Carl Jakob Burckhardt:
»Die Expedition war eigentlich in jeder Hinsicht gut vorbe-
reitet, wir wollten durch Klein Asien bis Persien u. durch
Russland zurückfahren, u. hatten zu diesem Zweck zwei
sehr gute neue Fordwagen gestellt bekommen. Wir waren
zu viert. Am Tag vor dem Start hat sich unser Freund R icki
162
Hallgarten, der vierte Teilnehmer, erschossen. Ich habe den
Tod noch nie so aus der Nähe erlebt, u. ich hatte mir auch
nie klargemacht, dass ein solches Ereignis eine sofortige Ge-
walt über uns ausüben könne – innerlich wie äusserlich. Wir
haben die Reise aufgegeben u. wollen morgen für einige Zeit
nach Venedig fahren.«1 Aber dies war nur ein Aufschub –
insgesamt viermal sollte Annemarie Schwarzenbach in den
Orient reisen, und dies jeweils für mehrere Monate.
Zur ersten Orientreise brach sie bereits 1933 auf, nach-
dem sie, die Wahlberlinerin, am 30. Januar die Machtüber-
gabe an Hitler miterlebt hatte. Durch Fachlektüre und den
Besuch einschlägiger Berliner Museen vorbereitet, reiste sie
vom Oktober 1933 bis April 1934, nun ohne die Geschwis-
ter Mann, in den Nahen Osten. Die Route verlief über
die Türkei, Syrien, Libanon, Palästina, Irak bis nach Per-
sien, von wo aus sie über Baku nach Europa zurückkehrte.
Ihre zweite Orientreise führte sie 1934 erneut nach Persien
und erfolgte im Anschluss an ihren Moskau-Besuch vom
August desselben Jahres. In Moskau hatte Annemarie
Schwarzenbach zusammen mit Klaus Mann am sowje-
tischen Schriftstellerkongress teilgenommen, alleine reiste
sie für drei Monate weiter nach Teheran. Von April bis Ok-
tober 1935 reiste sie erneut nach Persien. Anlass war ihre
Eheschließung mit dem Diplomaten Claude Clarac, der
als Zweiter Sekretär in der französischen Gesandtschaft
in Teheran tätig war und mit dem sie sich bereits während
ihrer zweiten Persienreise verlobt hatte. Im Oktober kehrte
sie in die Schweiz zurück, die folgenden Jahre lebte sie in
Europa und den USA.
Ihre letzte und spektakulärste Orientreise unternahm
Schwarzenbach zusammen mit der damals schon renom-
163
mierten Schweizer Reiseschriftstellerin Ella Maillart. In
einem nagelneuen 18 PS-starken Ford Roadster starteten
die beiden Frauen am 6. Juni 1939 von Genf aus und er-
reichten Ende August Kabul. Die Reisenden trennten sich
später in Afghanistan. Ella Maillart war enttäuscht von
ihrer Reisepartnerin, die den Drogenkonsum nicht lassen
konnte. Annemarie Schwarzenbach verließ das Land Ende
1939, nicht zuletzt unter dem Eindruck des Beginns des
Zweiten Weltkrieges. Denn jetzt seien, schrieb sie, »die
Zeiten friedlich-abseitigen Lebens […] vorbei. Ich möchte
in die Schweiz zurückkommen, nicht, um mich zu vergra-
ben, sondern um teilzunehmen an dem, was unser Leben
ist.«2 Über Indien, Aden und durch den Suez-Kanal fuhr
sie zurück nach Europa, um alsbald in die USA und zu-
letzt nach Afrika und Portugal zu reisen. Den Orient hat
sie (abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Marokko)
in den wenigen Jahren bis zu ihrem frühen Tod 1942 nicht
mehr besucht.
2.
Annemarie Schwarzenbach gehört einer Generation an,
für die das Reisen längst etwas Selbstverständliches war,
jedenfalls in jenen privilegierten Kreisen, zu denen sie
zählte. »Jene Gesellschaft, die man die bürgerliche nennt«,
registrierte 1927 hellsichtig der Soziologe Siegfried Kracau-
er, »frönt heute der Lust am Reisen und Tanzen mit einer
Hingabe, wie keine frühere Epoche.«3 Für Schwarzenbach
und ihre Generationsgefährten wie Erika und Klaus Mann
oder Ruth Landshoff-Yorck bedeutete Reisen, das anhal-
164
tende Unterwegssein eine völlig normale Existenzweise.
Klaus Mann schrieb von den »Zwangsideen unserer Ge-
neration: immer fort zu müssen«4, und selbst Annemarie
Schwarzenbachs Romanfi guren haben nichts anderes zu
tun als »von Reisen« zu schwärmen, »von endlos weiten
Reisen«, so bereits in ihrem schon erwähnten Debütroman
Freunde um Bernhard.5 Insofern ist man, um erneut Kracau-
er zu zitieren, »heimisch sowohl zuhause wie anderwärts
oder auch nirgends zuhause«, und weiter: »Woher es denn
rührt, daß […] die Reise à la mode nicht eigentlich mehr
dazu dient, die Sensation fremder Räume zu genießen –
ein Hotel gleicht dem andern und die Natur dahinter ist
den Lesern der illustrierten Zeitschriften bekannt – son-
dern um ihrer selbst willen unternommen wird«.
Dies gilt gewiss für die mobilen Existenzen der Boheme,
die sich zwischen Venedig und Cannes, Paris und St. Mo-
ritz bewegten – im dortigen Palace-Hotel lernten sich üb-
rigens Ruth Landshoff-Yorck und Annemarie Schwarzen-
bach kennen.6 Reiseziele schienen beliebig abrufbar, in der
Lyrischen Novelle (1933) lässt Annemarie Schwarzenbach eine
ihrer Figuren sagen: »Jetzt stellte ich mir vor, dass ich mit
Sybille reisen könnte, und vor mir erstanden Hafenstädte,
breite Flüsse mit schaukelnd getriebenen Booten, Steppen,
wandernden Tierherden, Flugplätze mit frischen Holzba-
racken, Lastautomobile auf weißen Strassen und glühende
Sonne über gedeckten Veranden. ›Am besten würden wir
dann gar nicht mehr zurückkommen‹, sagte ich.«7
Mit derartigen Imaginationen ist angedeutet, dass es
Schwarzenbach dann doch nicht oder nicht mehr um die
geradezu ›normal‹ gewordene, snobistische Mobilität der
Boheme ging, die sie in ihrem das globalisierte Reisen vor-
165
wegnehmenden Artikel »Plaza Hotel« kritisiert und der
hier auch deshalb den Reigen der abgedruckten Orient-
texte eröffnet. Noch in einem wenige Monate vor ihrem
Tod in der Basler National-Zeitung erschienenen Artikel
über Marokko setzte sie sich von jener Spezies von »Wel-
tenbummler« ab, die es verstünden, »ein Land mühelos
mit dem nächsten zu vertauschen, römische Ruinen mit
griechischen, die Sphinx mit mexikanischen Pyramiden,
die persischen Totentürme mit nordischen Heldengräbern
und den Tag im Osten mit der Nacht im Westen. Diese
Touristen pfl egten leicht die Meinung zu verbreiten, die
Welt sei am Ende ein nicht allzu grosser Tummelplatz
und in langweilige und weniger langweilige Länder einge-
teilt, nach Massgabe des Reizvollen, Neuen und Seltenen,
das sie zu bieten hätten, und ohne dass doch der Unter-
schied zwischen den Kulis in Siam und denen auf Jamaika
schliesslich nennenswert sei.«8
Eben weil der Unterschied zwischen den Kulis in Siam
auf Jamaika durchaus »nennenswert« scheint, sucht Anne-
marie Schwarzenbach eine Philosophie – und Poetik – des
Reisens zu entwerfen, die dem globalisierten Reisen wider-
steht und widerspricht, die auf Differenz achtet und dabei
das Reisen selbst zu einer Kategorie des Existenziellen er-
hebt. Dies ist ein Prozess, der sich seit ihren großen Reisen
in den Osten beobachten lässt, wobei sie nicht müde wird,
das so verstandene Reisen als Arbeit, als Herausforderung
zu beschreiben. In »Die Steppe«, einem Schlüsseltext für
ihre orientalischen Erfahrungen ›on the road‹, schreibt sie:
»Die Reise aber, die vielen als ein leichter Traum, als ein ver-
lockendes Spiel, als die Befreiung vom Alltag, als Freiheit
schlechthin erscheinen mag, ist in Wirklichkeit gnadenlos,
166
eine Schule, dazu geeignet, uns an den unvermeidlichen
Ablauf zu gewöhnen, an Begegnen und Verlieren, hart
auf hart.« Reisen wird zum Synonym für die menschliche
Existenz überhaupt: »›Unser Leben gleicht der Reise …‹,
und so scheint mir die Reise weniger ein Abenteuer und
Ausfl ug in ungewöhnliche Bereiche zu sein, als vielmehr ein
konzentriertes Abbild unserer Existenz.« Schwarzenbach
zitiert hier aus dem in der Schweiz berühmten »Beresina-
Lied«, das den Untergang der in Napoleons Diensten ste-
henden Schweizer Truppen 1812 zum Thema macht, lädt
den Text also durch seinen Bezug auf eine geschichtliche
Katastrophe zusätzlich mit Bedeutung auf.
›Reisen‹ und mit ihm ›Schreiben‹ wird zu einer Grund-
form menschlichen Daseins überhaupt aufgewertet. An-
nemarie Schwarzenbach outet sich selbst als manische
Schreiberin – »Wirklich, ich lebe nur wenn ich schreibe«,
notiert sie am 30.8.1939 in ihrem Kabuler Tagebuch.9 In
einem unveröffentlicht gebliebenen Afghanistan-Artikel
thematisiert sie genauer die Nähe von Schreiben und Rei-
sen: »Heute über ein fernes, asiatisches Land zu schreiben,
bedeutet für mich immer eine Versuchung, – die Versu-
chung, mich selbst innerlich weit weg zu begeben von der
Welt der uns täglich umgebenden Tatsachen und Pro-
bleme, – genau wie ich beim Antritt einer grossen Reise
von allen Gewohnheiten des Alltags Abschied nahm, und
glaubte, ich würde jenseits einer mir noch unbekannten
Grenze auf meinem Wege ein ganz anderes, ganz neues
Leben fi nden, ein Leben ohne Traditionen, Konventionen
und Gesetze, – eine Form der Freiheit, eine absolute Form.
Und dieser Wunsch, die Sehnsucht nach dem Absoluten,
ist ja wohl der eigentliche Antrieb jedes echten Reisenden.
167
Vermutlich bin ich ein solcher unheilbarer Reisender.«10
In dieser Selbsteinschätzung ist ein hoher Anspruch an
das Reisen wie an das Schreiben formuliert, der mit den
äußeren auch innere Grenzüberschreitungen einrechnet
und programmatisch auch als notwendig erachtet. Das
Plaza-Hotel-Reisen ist verabschiedet, das Reisen erhält
seine ursprüngliche Funktion zurück, in Ungewisses zu
führen, aber auch seine utopische Bedeutung, nämlich der
Ichfi ndung durch die Erfahrung des Fremden, des und der
Anderen. Die Topographie des Reisens fällt mit der des
Schreibens zusammen, für beides ließe sich anführen, was
Annemarie Schwarzenbach in Tod in Persien für den Ori-
ent, für die Fremde überhaupt notiert: »hier gelten unsere
Massstäbe und Erklärungen nicht mehr«.11
3.
Auch wenn Annemarie Schwarzenbach für sich des Öfte-
ren in Anspruch nahm, »das gewohnte Leben willkürlich
an einer Stelle abzubrechen, ohne dafür einen vernünftigen
Grund anzugeben«12, so verweisen ihre ausgedehnten Rei-
sen gerade in den Orient und die umfangreiche Reise- und
Reportageliteratur, die sie nun verfassen wird, auf eine mar-
kante biographische Konstellation. Nach der geplatzten
Reise von 1932 jedenfalls realisierte sie energisch ihr Vor-
haben. Dabei spielte der Versuch, nach den Berliner Jahren
eine festere Lebens- und Arbeitsperspektive zu gewinnen,
ebenso eine Rolle wie die Verstörung über das, was seit 1933
politisch über »Europa wie eine Welle der Finsternis, be-
stürzend und ungewiss«, hereinbrach, wie sie aus Bagdad
168
an Klaus Mann schrieb.13 Dies führte sie in die Fremde,
hinzu kam ausgeprägte archäologische Neugier. Auf allen
ihren Orientreisen, sowohl im Nahen Osten als auch in
Persien und zuletzt in Afghanistan, beteiligte sie sich an
Ausgrabungen amerikanischer bzw. französischer Archäo-
logen. Man wird Annemarie Schwarzenbach deshalb nicht
zur großen Archäologin stilisieren, aber für die Historike-
rin, die über die Frühe Neuzeit promoviert hatte, war dies
doch eine Arbeit, die, wie sie ihrem nahen Freund Claude
Bourdet schrieb, »concret« und »objectif«14 schien – hand-
fest auch gegenüber der bisherigen literarischen Tätigkeit.
Auch ihre zahlreichen Fotografi en belegen dieses archäolo-
gische Interesse. »Wer einmal ›draußen‹ war«, schrieb sie
1935 in der Zürcher Illustrierten, »wird trotz Entbehrung und
Einsamkeit immer wieder in den Bereich der Ausgräber
zurückkehren.«15
Mit ihrem Romandebüt Freunde um Bernhard von 1931 hatte Annemarie Schwarzenbach lediglich einen Ach-
tungserfolg erzielt, ihr zweiter Roman, die Lyrische Novelle, Anfang 1933 bei Rowohlt erschienen, ging im Strudel der
NS-Machtübernahme unter. Aber dabei blieb es auch –
zahlreiche Erzählungen dieser Jahre blieben ebenso unge-
druckt wie zwei weitere Romane (Flucht nach oben, postum
erst 1999 erschienen, und Aufbruch im Herbst, verschollen)
sowie ihr Drama Cromwell. Als Autorin hatte sie sich
zu dieser Zeit weder in der Schweiz noch in Deutsch-
land durchsetzen können, und nach 1933 gab es für sie in
Deutschland keinerlei Publikationsmöglichkeiten mehr.
Den NS-Behörden war zwar bekannt, dass die Schweizer
Familie Schwarzenbach mehrheitlich mit den Nationalso-
zialisten sympathisierte, aber es war ebenso aktenkundig,
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dass Annemarie Schwarzenbach Kontakt zum antifaschis-
tischen Exil hielt, so zum Kreis um Klaus Manns Zeit-
schrift Die Sammlung. Die mit den Orientreisen beginnende neue Schreib phase
stieß in der Öffentlichkeit rasch auf Resonanz, Annemarie
Schwarzenbach reüssierte als Journalistin und Reporterin
und wurde auch als Berichterstatterin in Sachen Archäolo-
gie wahrgenommen. So brachte die Zürcher Illustrierte 1935
ihren groß aufgemachten Bildbericht über eine archäolo-
gische Grabungsstelle im Iran.16 Einen dezidiert politischen
Akzent dabei setzte Annemarie Schwarzenbach selbst, als
sie über ihre Ausgrabungen in der Nähe Teherans schrieb,
sie würde »hauptsächlich Schädel messen u. die Absurdi-
tät der deutschen Rassen-Idioten an iranischen Beispielen
kund tun, das allein kommt mir verführerisch vor.«17
Wenn das dritte Buch, das Annemarie Schwarzenbach
veröffentlichen konnte, Winter in Vorderasien von 1934, ein
Reisebuch war, so hing dies eben mit der ausgedehnten
Reise tätigkeit zusammen, und es war die Reisepublizis-
tik, die sie als Autorin zumindest in der Schweiz bekannt
machte, sie wurde als Verfasserin von Reportagen, Reise-
und Bildberichten aus dem Orient, aber auch aus Europa,
den USA und zuletzt aus Afrika und Portugal zunehmend
geschätzt (und übrigens auch dementsprechend hoch ho-
noriert). Die Bibliographie weist für das Jahr 1934 rund drei
Dutzend veröffentlichte Reportagen und Reiseberichte
aus, für 1940 bereits über 50.18
Dabei spielen die ›orientalischen Texte‹ eine zentrale
Rolle: Rund ein Drittel aller Zeitungs- und Zeitschrif-
tenartikel, die sie überhaupt publiziert hat, sind dem
Orient gewidmet, das sind gut 100 Texte, Bildreportagen
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eingerechnet (sie sind längst nicht alle ediert bzw. nachge-
druckt). Hinzu kommen die beiden Orientbücher Winter in Vorderasien (1934) und Das Glückliche Tal (1940) sowie die
zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Buchma-
nuskripte Der Falkenkäfi g (1934/35), Tod in Persien (1935) und
Die vierzig Säulen der Erinnerung (1939/40). Über keine der
von ihr bereisten Weltgegenden oder »Welt-Landschaften«
hat sie derart häufi g und umfangreich, auch so vielfältig
und intensiv geschrieben wie über den Orient.
4.
Welch ungeheure Faszinationskraft gerade der Orient aus-
übt, bezeugt eine Vielzahl von Reisenden aus Europa. Sei
es der Nahe Osten mit seinem Harun-al-Raschid-Glanz,
sei es das geheimnisvolle Persien, das bereits Montesquie u
zur Vorlage für eine Kritik der europäischen Zustände
nahm, sei es das weniger bekannte Afghanistan, über das
Theodor Fontane 1847 eine fi nstere Ballade verfasst hat
(»Das Trauerspiel von Afghanistan«, über den Untergang
einer britischen Heeresabteilung) – in der Konstruk tion
›des Orients‹ scheinen sich Abenteuerlust und Eskapismus,
Sehnsucht und Vorurteil, Fremdheit und 1001-Nacht-Träu-
me zu treffen. Insofern begab sich Annemarie Schwarzen-
bach in die Spuren ungezählter Vorbilder, von Pierre Loti
bis Gertrude Bell, von Leopold Weiß bis Freya Stark.
»Die Fremde begann«, schreibt Annemarie Schwarzen-
bach in »Neben dem Orient-Expreß«, »wir würden keine
Autostradas mehr haben, die Sprache der Bauern nicht
mehr verstehen.« Man sieht einerseits »all das Längstbe-
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kannte: den farbigen Orient«, aber eben auch: »das Nie-
ganz-zu-Erfahrende« (aus »Istanbul«). »Haben wir, früher
einmal, Sitten und Gebräuche fremder Völker studiert?
Gut und recht, aber wir lernten nicht, wie der Afghane
seinen Turban windet, und wußten nicht, wie der tägliche
›Palaw‹ schmeckt, in einem Land, wo man täglich Reis und
Schaffl eisch zu essen bekommt« (aus »Die Steppe«).
Schwarzenbachs Orient ist zwar geographisch hetero-
gen, aber er markiert einhellig das oder die Fremde. Wenn
von ›Orientreisen‹ gesprochen wird, so bleibt zu bedenken,
dass der in den Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnt e
so heftig diskutierte Begriff ›Orient‹ immer beides meint,
einen geographischen Raum und eine kulturelle Konstruk-
tion – eine politisch und ideologisch wirkungsmächtige
Konstruktion, die aus der Selbstbestimmung des Okzi-
dents abgeleitet ist. Nicht zuletzt dient sie der Abgrenzung
und auch Abwertung des Orientalischen, was nichts an der
Faszination für die Reisenden ändert. Annemarie Schwar-
zenbachs besonderer Umgang mit dem Orient ist als »lie-
bende Eroberung und Umarmung« bezeichnet worden.19
Ihre Annäherung an die orientalische Fremde hat gewiss
dieses Gesicht doppelter Besitzergreifung, ist aber noch
durch eine weitere Voraussetzung bestimmt, durch den ra-
dikalen Versuch, mit der äußeren auch die innere Fremde
zu erkennen oder zu bewältigen. Persönliche Krisenerfah-
rungen der familiären Konfl ikte, politisches Engagement,
innere Unsicherheiten hinsichtlich der künstlerischen Am-
bitionen, der sexuellen Orientierung, der Drogenabhängig-
keit, die Angst vor einem völligen Selbstverlust bilden ein
Ensemble tiefster Irritation, Verunsicherung bis hin zu den
Suizidversuchen. An einigen Stellen blitzt vor dem Hin-
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tergrund derartiger Konfl iktlagen ein Orientbild auf, das
auf einen friedlichen Raum verweist, in dem das Hetero-
gene, die Differenz in allseitiger Akzeptanz und Toleranz
aufgehoben scheinen: »Aber am liebsten waren wir doch in
Aleppo, am Fuß der herrlichen arabischen Zitadelle, in den
Soldatenkaffees, wo Neger, Leute aus Algier in hellen Tur-
banen, Araber und Franzosen zuhörten, wie Sängerinnen
aus Stambul und Kairo ihre traurigen Lieder vortrugen«
(aus: »Schrecken der orientalischen Landstraßen«).
Offenbar ermöglichten – und erforderten – Orient-
er fahrung und Orientwahrnehmung äußere und innere
Grenzüberschreitungen, ausgehend von dem Gefühl oder
dem Bewusstsein, innerlich wie äußerlich »am Ende der
Welt (zu) sein« (aus: »Persepolis«). Das verweist auf ein
enormes Irritationspotential. In »Dreimal der Hindu-
kusch« heißt es: »Die Gleichzeitigkeit von Nähe und Fer-
ne verwirrte mich, mir schien, Vergangenheit, Gegenwart
und zukünftige Stunde dürften sich wohl an einem Ort
vereinigt fi nden, um ihm den vollen Gehalt des Lebens zu
geben.« Die immer extremeren Landschaften, die Wüste,
die sie einmal »die ungeborene Welt« nennt (in: »Nacht-
fl ug über die Wüste«), die unwegsamen bedrohlichen Ge-
röllhalden und die Straßen und Wege ›ohne Ende‹ sind
auffälligste Bilder und Metaphern für einen Versuch, der-
artige Grenzüberschreitungen literarisch zu fassen – und
sie auch mental zu bewältigen. Jedenfalls mag dies für die
Suchbewegungen einer Autorin gelten, die derart heftig auf
eine Einheit von Leben, Reisen und Schreiben pocht, und
wenn die Fremde als ›Transgression‹ bis hin zu drohendem
Identitäts- oder Ich-Verlust erscheint, so ist dies gewiss
eine Grunderfahrung und ein Topthema der Moderne und
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ihrer Literatur überhaupt. Schwarzenbach hat mit ihrer
Reis e- und Erzählprosa daran ganz entschiedenen Anteil.
Das ist die eine, quasi existentialistische und durch und
durch subjektive Seite der Orientprosa von Annemarie
Schwarzenbach, egozentrisch womöglich bis hin zum Ego-
tripp. Ihr Pochen auf ein durch und durch selbstbestimm-
tes Leben, ihre Drogenabhängigkeit, ihre lesbische Orien-
tierung, ihr politisches Engagement, auch ihre Eskapaden
und Forderungen, die sie an Andere stellte, führten sie ja
nicht nur in die anhaltenden Konfl ikte mit der Familie und
mit Freunden und Freundinnen, zu tiefsten Depressionen
und Suizidversuchen, sondern auch zu Selbstprüfung und
Selbstrefl exion. Dieses aber unternahm sie auch und gera-
de im Feld der Literatur. Aber trotz aller Ichzentriertheit,
›Selbstentäußerung‹ und einer ja literarisch durchaus insze-
nierten radikalen Selbstprüfung bewahren ihre Texte doch
eine konkrete historische, soziale und zuletzt politische
Dimension. Die sich in den Dreißigerjahren immer weiter
zuspitzende tiefe Verunsicherung, wie gegen Faschismus
und dann gegen den Krieg zu kämpfen sei, holt Annemarie
Schwarzenbach auch im von den Schauplätzen der Krise
so weit entfernten Orient ein bzw. die Autorin stellt sich
der Frage. So legt die Archäologin jene Erdschichten der
Tradition und auch des Unterdrückten frei, auf denen al-
lererst gegenwärtige Konstruktionen des Lebens sich auf-
bauen. Und die Reporterin sieht sich gehalten, nicht nur
über die eigene Fremde, sondern auch über die Fremde des
und der Anderen zu schreiben – seien es Probleme von
Modernisierungsprozessen in der Türkei, im Iran und in
Afghanistan oder Themen wie das Bazarleben oder der
Tschador der orientalischen Frau.