Enzyklopädie der Neuzeit - Elektrizitt · 2015. 3. 25. · in der Antike bekannt. Durch Plinius...

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die Anbringung von B. bzw. deren ZerstɆrung belegt, etwa weil man diese fɒr das Ausbleiben des Nieder- schlags verantwortlich machte. Die Einfɒhrung des B. ist demnach auch unter men- talitȨtsgeschichtlicher Perspektive instruktiv [4]. Der Blitz galt lange als Strafinstrument Gottes. Die AufklȨrer – darunter auch viele Theologen – wollten im B. aber keinesfalls eine »Entwaffnung« Gottes sehen. In diesem neuen VerstȨndnis galt die ß Natur nicht mehr als zer- stɆrerisch und unkontrollierbar, sondern als der menschlichen Ratio zugȨnglich und auch als Ȩsthetisch. Denn nur wer sich vor BlitzschlȨgen sicher fɒhlt, kann auch die SchɆnheit eines Gewitters genießen. Der Abriss des metaphysischen Obdachs erzeugte andererseits aber auch Sinndefizite wie das »Skandalon des zufȨllig zu- schlagenden Blitzes« [2. 26]. Im letzten Viertel des 18. Jh.s war die Schutzfunktion des B. unter den Naturkundigen nicht mehr umstritten. Sehr heftig wurde hingegen die richtige Form und Anbringung des B. debattiert. Denn mit der flȨchen- deckenden Verbreitung des B. war ein betrȨchtlicher Markt entstanden. Nachgefragt wurden aber nicht nur Metallstangen, sondern auch Expertisen. Dafɒr sicherten sich im dt. Sprachraum v.a. die Professoren der Physik, in England und Frankreich die KɆniglichen Akademien der Wissenschaften das Monopol. Die mit den PhȨno- menen der ß ElektrizitȨt ebenfalls bestens vertrauten ß Instrumentenmacher und umherziehenden Elektrisie- rer wurden auf die Rolle bloßer Handwerker reduziert. Wissenschaftshistorisch bedeutsam ist die Kontro- verse von 1777/78 um den Schutz der Pulvermagazine von Purfleet in London. Benjamin Wilson propagierte »runde«, also mit einer Kugel versehene B. und ver- suchte nachzuweisen, dass die »spitzen« B. Franklins nicht sicher seien. Wilson unterlag letztlich, weil seine spektakulȨren Demonstrationen im Londoner Pan- theon ihm den Vorwurf des Betrugs einbrachten. Dass sich der britische KɆnig auf Wilsons Seite geschlagen hȨtte, weil Franklin ein Vertreter der aufstȨndigen Ko- lonien war, ist ein Mythos [3]. Richtig ist, dass Franklin durch die Kombination von aufgeklȨrter Naturfor- schung und emanzipativem politischen Engagement zu einer der großen Lichtgestalten der AufklȨrung stilisiert wurde, wie es in einem Epigramm von 1778 auf den Punkt gebracht wurde: Eripuit caelo fulmen sceptrumque tyrannis – »Dem Himmel hat er den Blitz entrissen, den Tyrannen das Szepter.« Þ ElektrizitȨt (mit Abb. 2); Meteorologie Quellen: [ 1 ] B. Franklin, Experiments and Observations on Electricity, 1751 (dt.: Briefe von der ElektricitȨt, 1758) Literatur: [2] O. Briese, Die Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben und Kometen im Gefɒge der AufklȨrung, 1998 [3] P. Heering / O. Hochadel (Hrsg.), Playing with Fire. A Cultural History of the Lightning Rod, 2005 [4] H.-D. Kittsteiner, Das Gewissen im Gewitter, in: Jb. fɒr Volkskunde N.F. 10, 1987, 7–26 [5] E. Weigl, Entzauberung der Natur durch Wissenschaft – dargestellt am Beispiel der Erfindung des Blitzableiters, in: Jb. der Jean-Paul-Gesellschaft 22, 1987, 7 40. Oliver Hochadel ElektrizitȨt 1. ElektrizitȨt vor 1700 2. Neue Fakten und Begriffe 3. Das goldene Zeitalter der ElektrizitȨt 4. Etablierte Wissenschaft Unter den Gebieten der Naturforschung hat die E. einen besonders markanten Werdegang genommen. Anders als ß Chemie, ß Mechanik, ß Astronomie, ß Optik oder ß Metallurgie hatte sie keine weit zurɒckreichende Tradition und noch im 17. Jh. waren die als »elektrisch« bezeichneten Effekte kaum bekannt. Um 1850 dagegen war E. im Begriff, die LebensverhȨltnisse in großem Maßstab zu verȨndern. Ihre rasante Entwicklung war das Resultat einer ungewɆhnlichen Dynamik zwischen Forschung, Technik und Gesellschaft. 1. ElektrizitȨt vor 1700 Dass geriebener Bernstein kleine Stɒckchen aus Stroh, Papier, Kork, Holz oder Metall anzog, war schon in der Antike bekannt. Durch Plinius und Lukrez ins SpȨt-MA ɒberliefert, gingen solche Berichte in Kom- pendien des 16. Jh.s ein. Der oberital. Arzt und Mathe- matiker Girolamo Cardano stellte 1550 die Wirkungen des Bernsteins systematisch dem ß Magnetismus gegen- ɒber. Entscheidend wurde ein 1600 verɆffentlichtes Werk, in dem William Gilbert, Leibarzt der KɆnigin Elisabeth, nicht nur das Wissen ɒber den Magnetismus zusammenfasste, sondern auch den Bernsteineffekten ein eigenes Kapitel widmete, sie ein fɒr allemal von den magnetischen schied und ein Nachweisinstrument (lat. versorium) vorschlug [ 1 . Buch II, Kap. 2]. In zahl- reichen Experimenten bemerkte Gilbert, dass auch an- dere Stoffe (z. B. Schwefel oder Glas) denselben Effekt zeigten und nannte diese Klasse von Substanzen electri- ca, nach dem griech. Namen des Bernsteins (griech. glektron/´ lektron). Damit waren »elektr.« Wirkungen als eigene Kate- gorie prȨsent und wurden in der experimentellen Na- turforschung des 17. Jh.s wiederholt untersucht, in Krei- sen von ß Jesuiten, ß Akademien und Privatgelehrten ElektrizitȨt 23 24

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die Anbringung von B. bzw. deren ZerstBrung belegt,etwa weil man diese f"r das Ausbleiben des Nieder-schlags verantwortlich machte.

Die Einf"hrung des B. ist demnach auch unter men-talit/tsgeschichtlicher Perspektive instruktiv [4]. DerBlitz galt lange als Strafinstrument Gottes. Die Aufkl/rer– darunter auch viele Theologen – wollten im B. aberkeinesfalls eine »Entwaffnung« Gottes sehen. In diesemneuen Verst/ndnis galt die �Natur nicht mehr als zer-stBrerisch und unkontrollierbar, sondern als dermenschlichen Ratio zug/nglich und auch als /sthetisch.Denn nur wer sich vor Blitzschl/gen sicher f"hlt, kannauch die SchBnheit eines Gewitters genießen. Der Abrissdes metaphysischen Obdachs erzeugte andererseits aberauch Sinndefizite wie das »Skandalon des zuf/llig zu-schlagenden Blitzes« [2. 26].

Im letzten Viertel des 18. Jh.s war die Schutzfunktiondes B. unter den Naturkundigen nicht mehr umstritten.Sehr heftig wurde hingegen die richtige Form undAnbringung des B. debattiert. Denn mit der fl/chen-deckenden Verbreitung des B. war ein betr/chtlicherMarkt entstanden. Nachgefragt wurden aber nicht nurMetallstangen, sondern auch Expertisen. Daf"r sichertensich im dt. Sprachraum v. a. die Professoren der Physik,in England und Frankreich die KBniglichen Akademiender Wissenschaften das Monopol. Die mit den Ph/no-menen der �Elektrizit/t ebenfalls bestens vertrauten� Instrumentenmacher und umherziehenden Elektrisie-rer wurden auf die Rolle bloßer Handwerker reduziert.

Wissenschaftshistorisch bedeutsam ist die Kontro-verse von 1777/78 um den Schutz der Pulvermagazinevon Purfleet in London. Benjamin Wilson propagierte»runde«, also mit einer Kugel versehene B. und ver-suchte nachzuweisen, dass die »spitzen« B. Franklinsnicht sicher seien. Wilson unterlag letztlich, weil seinespektakul/ren Demonstrationen im Londoner Pan-theon ihm den Vorwurf des Betrugs einbrachten. Dasssich der britische KBnig auf Wilsons Seite geschlagenh/tte, weil Franklin ein Vertreter der aufst/ndigen Ko-lonien war, ist ein Mythos [3]. Richtig ist, dass Franklindurch die Kombination von aufgekl/rter Naturfor-schung und emanzipativem politischen Engagement zueiner der großen Lichtgestalten der Aufkl/rung stilisiertwurde, wie es in einem Epigramm von 1778 auf denPunkt gebracht wurde: Eripuit caelo fulmen sceptrumquetyrannis – »Dem Himmel hat er den Blitz entrissen, denTyrannen das Szepter.«

� Elektrizit/t (mit Abb. 2); Meteorologie

Quellen:[1] B. Franklin, Experiments and Observations on Electricity,1751 (dt.: Briefe von der Elektricit/t, 1758)

Literatur:[2] O. Briese, Die Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben undKometen im Gef"ge der Aufkl/rung, 1998 [3] P. Heering /O. Hochadel (Hrsg.), Playing with Fire. A Cultural History ofthe Lightning Rod, 2005 [4] H.-D. Kittsteiner, Das Gewissenim Gewitter, in: Jb. f"r Volkskunde N. F. 10, 1987, 7–26[5] E. Weigl, Entzauberung der Natur durch Wissenschaft –dargestellt am Beispiel der Erfindung des Blitzableiters, in:Jb. der Jean-Paul-Gesellschaft 22, 1987, 7–40.

Oliver Hochadel

Elektrizit�t

1. Elektrizit�t vor 17002. Neue Fakten und Begriffe3. Das goldene Zeitalter der Elektrizit�t4. Etablierte Wissenschaft

Unter den Gebieten der Naturforschung hat die E.einen besonders markanten Werdegang genommen.Anders als �Chemie, �Mechanik, �Astronomie, �Optikoder �Metallurgie hatte sie keine weit zur"ckreichendeTradition und noch im 17. Jh. waren die als »elektrisch«bezeichneten Effekte kaum bekannt. Um 1850 dagegenwar E. im Begriff, die Lebensverh/ltnisse in großemMaßstab zu ver/ndern. Ihre rasante Entwicklung wardas Resultat einer ungewBhnlichen Dynamik zwischenForschung, Technik und Gesellschaft.

1. Elektrizit�t vor 1700

Dass geriebener Bernstein kleine St"ckchen ausStroh, Papier, Kork, Holz oder Metall anzog, war schonin der Antike bekannt. Durch Plinius und Lukrez insSp/t-MA "berliefert, gingen solche Berichte in Kom-pendien des 16. Jh.s ein. Der oberital. Arzt und Mathe-matiker Girolamo Cardano stellte 1550 die Wirkungendes Bernsteins systematisch dem �Magnetismus gegen-"ber. Entscheidend wurde ein 1600 verBffentlichtesWerk, in dem William Gilbert, Leibarzt der KBniginElisabeth, nicht nur das Wissen "ber den Magnetismuszusammenfasste, sondern auch den Bernsteineffektenein eigenes Kapitel widmete, sie ein f"r allemal vonden magnetischen schied und ein Nachweisinstrument(lat. versorium) vorschlug [1 . Buch II, Kap. 2]. In zahl-reichen Experimenten bemerkte Gilbert, dass auch an-dere Stoffe (z.B. Schwefel oder Glas) denselben Effektzeigten und nannte diese Klasse von Substanzen electri-ca, nach dem griech. Namen des Bernsteins (griech.glektron/elektron).

Damit waren »elektr.« Wirkungen als eigene Kate-gorie pr/sent und wurden in der experimentellen Na-turforschung des 17. Jh.s wiederholt untersucht, in Krei-sen von � Jesuiten, �Akademien und Privatgelehrten

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gleichermaßen [7]. Der Jesuit NiccolO Cabeo erweitertedie Liste der electrica und berichtete "ber elektr. Absto-ßungseffekte (1629), im Collegio Romano interessiertesich Athanasius Kircher f"r das Thema, HonorI FabriSJ (1655) zeigte die Gegenseitigkeit der elektr. Anzie-hung. Der engl. Diplomat Kenelm Digby entwarf 1644eine weitere Theorie, im selben Jahr erw/hnte RenIDescartes in seinem mechanistischen Weltentwurf E.im Anhang zur Behandlung des Magneten. Eher empi-risch orientiert waren die Arbeiten in der kurzlebigenFlorentiner Accademia del Cimento um 1660. RobertBoyle f"gte 1675 seinen zahlreichen Experimentalberich-ten auch einen zur E. hinzu, f"r Isaac Newton boten dieelektr. Wirkungen v. a. Anlass zu Spekulationen "berverborgene Strukturen der Materie. Otto von Guerickeexperimentierte im Rahmen kosmologischer <berle-gungen mit einer geriebenen Schwefelkugel (1672) undstellte den Bezug zur E. nur beil/ufig her.

Am Ende des 17. Jh.s bot der Stand der E. einzerfasertes Bild: Zwar hatte man die Liste der »elektr.«KBrper stetig erweitert, die elektr. Wirkungen warenaber schwach, die Experimente kapriziBs und oft nichtreproduzierbar. Noch disparater nahmen sich die Spe-kulationen "ber die Ursache der elektr. Anziehungenaus, die wechselweise in einer »feuchten« Grundeigen-schaft aller Materie, in feinstofflichen StrBmungen (lat.effluvia) oder in einer Verd"nnung der Luft gesuchtwurde. Einen <berblick "ber die empirischen Befunde,wie er im benachbarten Feld des Magnetismus "blichwar, gab es nicht. Der Besch/ftigung mit E. hafteteetwas Weltabgewandtes an: Weder f"r das Entwerfeneines Bildes vom Wirken der Natur noch f"r lebens-praktische Belange war eine Bedeutung der E. erkenn-bar. Hinzu kam der prek/re Status dieser »Natur«-Kraft:Sie konnte nur durch aktives Eingreifen hervorgerufenwerden! In universit/ren Lehrb"chern wurde E. allen-falls kurz erw/hnt, in den neuen Akademien in Parisund London kaum behandelt.

2. Neue Fakten und Begriffe

Dass das Thema an Sichtbarkeit gewann, hatte mitbiographischen Besonderheiten dreier Akteure zu tun.Francis Hauksbee, Mechaniker und Autodidakt in derNaturlehre, f"hrte als Experimentator der Royal Societyof London regelm/ßig Experimente vor und wurde "berdas Leuchten des Barometervakuums – ein weit disku-tiertes Thema der Zeit – auf die E. aufmerksam. Umverl/sslicher zu arbeiten, verwendete er zum Elektrisie-ren ein langes Glasrohr, das sich rasch als Standard-instrument etablieren sollte. An rotierenden Glaskugelndemonstrierte er elektr. Leuchteffekte und untersuchteden Einfluss des Luftdrucks. Seine Monographie (Phy-

sico-Mechanical Experiments on Various Subjects, Lon-don 1709) ist das erste der E. gewidmete Buch "ber-haupt. Mit seinem Tod (1713) verschwand E. wieder ausdem Blickfeld, um erst Anfang der 1730er Jahre durchdie Initiative eines Außenseiters abermals hervorzutre-ten. Stephen Gray, gelernter F/rber, Autodidakt undzeitweise Mitarbeiter bei astronomischen Beobachtun-gen in Greenwich, war durch Hauksbee auf E. aufmerk-sam geworden und unternahm als Pension/r umfang-reiche Experimente. U.a. bemerkte er, dass E. auf an-dere KBrper "bertragen werden konnte. Besondersspektakul/r war es, einen Knaben zu elektrifizieren,der dann mit magisch anmutenden Kr/ften kleine KBr-per anzog (vgl. Abb. 1). F"r die Theorie bot der <ber-tragungseffekt erhebliche Probleme – die effluvia konn-ten als vom elektr. KBrper aus- und zur"ckstrBmend,aber nie im Faden selbst strBmend vorgestellt werden.Mit diversen Ehrungen f"r Gray akzentuierte die RoyalSociety das Forschungsthema nun weithin.

Angeregt durch Grays Berichte, wandte sich derPariser Akademiker und intendant des KBniglich-bota-nischen Gartens, Charles Dufay, der E. zu. Die Konkur-renz zur Royal Society war hierbei ebenso wichtig wieDufays Vorliebe f"r das Systematisieren weitgestreuterempirischer Befunde – das hatte er zuvor f"r Lumines-zenzeffekte getan. Die Suche nach mikroskopischen»Ursachen« der E. sah er als nachgeordnet an; statt-dessen konnte er in einer umfassenden empirischenSichtung die experimentellen Verfahren stabilisieren,bemerkte den elektr. Schlag und Funken und kam zudem verbl"ffenden Ergebnis, dass alle festen Stoffedurch Reiben elektrisch wurden, mit Ausnahme derMetalle. Um die verwirrenden Befunde zu Anziehungund Abstoßung zu ordnen, schlug er vor, statt von E.im allgemeinen von zwei E. – »Glas-E.« und »Harz-E.«– zu sprechen, mit dem Gesetz, dass sich gleichnamigelektrifizierte KBrper (Glas-Glas bzw. Harz-Harz) ge-genseitig abstoßen, ungleichnamig elektrifizierte dage-gen anziehen. Die zwei E. wurden schon bald als »Fakt«pr/sentiert, Begrifflichkeit und Faktenlage hatten sich inein und demselben Zug fundamental verschoben – einmarkantes Beispiel f"r die Komplexit/t der »Entstehungwissenschaftlicher Tatsachen« [6].

3. Das goldene Zeitalter der Elektrizit�t

War E. bis 1740 eine zuf/llige Liebhaberei wenigerEinzelner gewesen, so wurde sie nun – deutlich sp/terals andere Forschungsfelder – in die Woge des aufkl/-rerischen Interesses an Naturwissenschaft einbezogen(�Physikalische Wissenschaften). Die Zahl der Journal-artikel und Monographien stieg sprunghaft an. Wach-sender Bedarf an Demonstrationsexperimenten, die

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Verbesserungen der Apparate und die Entdeckung neu-er Effekte verbanden sich in einer Dynamik gegenseiti-ger Verst/rkung. In Wittenberg versah Georg MathiasBose, Professor und Anbieter von Experimentalvortr/-gen, Hauksbees Kugelapparat mit einem metallischenAbleiter (dem »Ersten Konduktor«) und ersetzte diereibende Hand durch ein fest angebrachtes Kissen(1744); die Leipziger Professoren Christian A. Hausenund Johann H. Winkler machten /hnliche Vorschl/ge.Die Maschine brachte damit starke und verl/sslich re-produzierbare Effekte hervor. Das war entscheidend: Inganz Europa hielt E. nun Einzug in Experimentalvor-lesungen und konkurrierte mit den traditionellen The-men von Vakuum oder Brennglas. Neue Effekte kamenhinzu, etwa das Aufsetzen eines elektr. »Heiligensch-eins« (»Beatifikation«), der frivole »elektr. Kuss« oderdas Entz"nden von Alkohol durch Funken. F"r ihreNeuerBffnung 1745 schm"ckte sich die Berliner Akade-mie mit elektr. Spektakeln, in Paris entwarf Jean Antoi-

ne Nollet, ein ehemaliger Mitarbeiter Dufays, eine eige-ne Effluvia-Theorie (franz. syst+me Nollet) und trug E.in die �Salons (vgl. Abb. 1).

ErmBglicht war dieses experimentelle Fieber durchdie nun stabile Technik, die ihrerseits – das wird oft"bersehen – inhaltliche Voraussetzungen hatte, insbe-sondere die zwei E.: Bose hatte sich ausdr"cklich aufDufay bezogen. 1745 wurde durch »Fehlbedienungen«ein neuer Effekt entdeckt (Ewald J. von Kleist, Pietervan Musschenbroek): Mit einer innen und außen me-tallbelegten Glasflasche (»Leydener« oder »Kleistsche«Flasche) konnten viel st/rkere Schl/ge als zuvor erzeugtund sogar kleine Tiere getBtet werden. F"r die Theoriebot dieses Instrument ein weiteres Problem, doch verlordie E. nun endg"ltig den Beigeschmack einer schwachenund unbedeutenden Naturkraft.

Die Nachrichten "ber E. zogen weite Kreise. Ben-jamin Franklin, Buchdrucker in Philadelphia, f"hrte ab1745 elektr. Experimente durch [4]. Nicht durch akade-

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Abb. 1: Demonstration derElektrizit�t im Salon (Fron-tispiz zu J.-A. NolletsHauptwerk zur Elektrizit�t,Essai sur l'�lectricit� descorps, 1746). In einer typi-schen Pariser Salonszenewird Elektrizit�t vorgef9hrt:Ein an isolierenden Seilenh�ngender Knabe wird vomExperimentator mit einemgeriebenen Glasrohr elekt-risch aufgeladen und ziehtdann wie mit magischenKr�ften die auf einemSchemel bereitgestelltenPapierschnipsel an.

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mische Traditionen gebunden, entwarf er eine neuartigeTheorie, derzufolge elektr. Effekte aus einem <ber-schuss oder Mangel von »elektr. Feuer« gegen"ber ei-gentlicher Materie resultierten. Seine Terminologie von»positiv« und »negativ« verwies auf eine PerspektiveBkonomischen Bilanzierens [12], und er konnte dieEntladung der Leydener Flasche als Ausgleichsprozessverstehen. Anders als zuvor sah er Anziehung und Ab-stoßung nicht als erkl/rungsbed"rftig an, sondern alsGrundeigenschaft des elektr. Fluidum, und vollzog da-mit einen /hnlichen <bergang, wie er zu Jahrhundert-beginn, in Reaktion auf Newton, hinsichtlich der Gravi-tation stattgefunden hatte. Trotz ersichtlicher M/ngeletablierte sich Franklins Theorie als wesentliche Alter-native zum System Nollets, der in Frankreich zur zent-ralen Figur der E.-Forschung geworden war.

Nicht weniger folgenreich war Franklins Vorschlag,die schon /ltere Vermutung der elektr. Natur des Blitzesexperimentell zu pr"fen. Angeregt durch Experimentemit Metallspitzen entwarf er einen Apparat, der auchzum Schutz gegen Blitzeinschlag taugen sollte (�Blitz-ableiter). 1752 konnte der Pariser Botaniker ThomasDalibard damit erstmals aus der Atmosph/re Funken

ziehen – ein sensationelles Resultat, trat doch hier E.zum ersten Mal nicht als etwas k"nstlich Hervorge-brachtes auf, sondern als eine Naturkraft, mit der manschon immer zu tun hatte! Die in ganz Europa ein-setzende Welle von Experimenten wurde allerdingsstark ged/mpft, als der Petersburger PhysikprofessorGeorg Wilhelm Richmann 1753 nicht Funken, sonderneinen Blitz zog, und sein Tod die neu gewonnene Ge-walt der E. dramatisch vor Augen f"hrte.

4. Etablierte Wissenschaft

In der zweiten H/lfte des 18. Jh.s war E. ein breitesForschungsfeld. In Lehrb"chern, Vorlesungen und<berblicksdarstellungen wurde sie weitl/ufig behandelt([2]; vgl. Abb. 2). Neue Instrumente wurden erfunden,wie der Elektrophor (Alessandro Volta, 1775), eine Vor-richtung zum Akkumulieren von E. ohne (teure) Elekt-risiermaschinen, oder immer feinere »Elektrometer« f"rkleinste E.-Mengen. Besonders die Universit/ten inOberitalien spielten hier eine wichtige Rolle.

Zugleich wurden erstmals breite BevBlkerungskreisemit E. konfrontiert, am einschneidendsten durch die

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Abb. 2: Elektrizit�t im Lehrbuch (B. Hauser, Elementa philosophiae ad rationis et experientiae ductum conscripta atqueusibus scholasticis accomadata, Bd. 5, 1760, Tafel 15). Erst in der zweiten H�lfte des 18. Jh.s hielt Elektrizit�t Einzug in dieuniversit�ren Lehrb9cher. Auf einer Tafel von 1760 ist ein ganzes Panorama elektrischer Instrumente und Effekte dargestellt:Der Blitzableiter in der Bildmitte zeigt zugleich einige im Turm angebrachte Experimentierm*glichkeiten. Die rechts undlinks im Raum aufgestellten Elektrisiermaschinen sind mit Leydener Flaschen verbunden und erlauben u.a., dem isoliertsitzenden Experimentator einen elektrischen »Heiligenschein« aufzusetzen.

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Einf"hrung des �Blitzableiters, mit dem sogleich einkulturell und religiBs-theologisch sensibler Bereich be-r"hrt wurde: Blitzschl/ge galten vielerorts immer nochals Gottesgericht. Mit der Verf"gbarkeit verl/sslicherElektrisiermaschinen trat "berdies der schon /ltere Ge-danke mBglicher therapeutischer Effekte in den Vorder-grund, und die �Elektromedizin zog nach spektakul/-ren Behandlungen von L/hmungen weite Kreise [3. 11].F"r Unterhaltung und Schaulust wurde E. zum Breiten-erfolg. Entladungen der Leydener Flasche in verschie-densten Formen, Ketten von Menschen, die gleichzeitighochsprangen, Z"nden von Sprengstoff – solche Spek-takel wurden nicht nur von Professoren in HBrs/len,sondern auch von reisenden Elektrisierern auf F"rsten-hBfen, st/dtischen Gesellschaften und Jahrm/rkten dar-geboten, mit fließenden Grenzen zwischen akademi-scher Belehrung, Volksaufkl/rung und Unterhaltung[8].

E. gewann nun erstmals Bkonomische Bedeutung.Blitzstangen, Elektrisiermaschinen, Konduktoren undLeydener Flaschen (�Elektrische Instrumente) wurdenin Serie hergestellt, es entstand daf"r ein regelrechterMarkt. Bei der Heterogenit/t von Praktikern und Nut-zern der E. – Professoren, Schaustellern, Mechanici,�rzten, Apothekern, Instrumentenbauern, Schlossern– waren Kompetenz- und Abgrenzungskonflikte un-ausweichlich, zumal die T/tigkeitsbereiche sich geradeerst herausbildeten. E. war in der Gesellschaft ange-kommen.

Hinsichtlich experimenteller Stabilit/t, technischerAnwendung und Bffentlicher Aufmerksamkeit nimmtsich die Entwicklung der E. im 18. Jh., obgleich keines-falls geradlinig, doch wie eine Erfolgsgeschichte aus.Wenig Erfolg dagegen hatte die theoretische Entwick-lung. Effluvia-Theorien, allen voran Nollets syst+me,verschwanden in den 1780er Jahren. Zur Behebung derDefizite von Franklins Theorie schlug der schottischeDiplomat Robert Symmer schon 1759 eine Zwei-Fluida-Theorie vor. Die anschließende lange Debatte um einoder zwei Fluida blieb aber fruchtlos: Vermeintlich»entscheidende« Experimente bis hin zu meterlangenFunken"berschl/gen erwiesen sich als doppelt interpre-tierbar. Der gesellschaftliche Erfolg der E. war zwar anstabile Begriffe und empirische Gesetze gebunden, nichtaber an die Suche nach ihren »Ursachen«.

Gegen Ende des 18. Jh.s. traten zwei neue Arbeits-richtungen der E.-Forschung hervor. In Bologna be-sch/ftigte sich Luigi Galvani, Professor f"r Geburtshilfe,mit den durch E. stimulierten Muskelzuckungen undbemerkte unerkl/rliche Effekte, die er sich nur durchAnnahme einer vom organischen Gewebe verursachten»tierischen E.« erkl/ren konnte. Die bald »galvanisch«genannten Wirkungen erBffneten ein neues Forschungs-

feld, in dessen Rahmen die »elektr. S/ule«, eine ersteelektr. Batterie (Volta, 1799) erfunden wurde: Der raschexpandierende �Galvanismus verzweigte sich in Elekt-rochemie, Elektromagnetismus und tierische E. Eineandere Entwicklung reichte weiter zur"ck. 1759 hatteFranz Theodor Aepinus, Mathematiker an der Peters-burger Akademie, eine mathematische Behandlung derE. unternommen. Sein Werk wurde in den 1780er Jah-ren in Paris wiederentdeckt, als der Ingenieur Charles-Augustin Coulomb 1784 die erste elektr. Pr/zisionsmes-sung unternahm und damit das Programm einer �ma-thematischen Physik vorantrieb. Gegen Mitte des 19.Jh.s verschmolzen schließlich Galvanismusforschungund mathematische Theorie zur �Elektrodynamik [5],einem der wichtigsten Gebiete moderner Physik. Aus-gerechnet E., die zun/chst als »k"nstlichste« aller Natur-kr/fte erscheinen musste, galt nun als fundamental undbegann "berdies, die Lebenswelt in einem Ausmaß zuver/ndern wie kaum eine andere Naturkraft.

Die Entdeckung des �Elektromagnetismus durchden d/nischen Physiker Hans-Christian Ørsted (1820)rief nicht nur eine Welle experimenteller und theoreti-scher Arbeiten hervor, sondern gab auch der schon/lteren Idee einer �elektrischen Telegrafie neuen Auf-trieb. Vor allem durch das einfache Telegrafiesystem desals Kunstmaler erfolglosen Samuel F. B. Morse breitetesich die elektr. Telegrafie in den 1840er Jahren rasch ausund trug wesentlich zur raschen Expansion des Eisen-bahnnetzes bei (�Eisenbahn).

Wie grundlegend sich auch die Kommunikations-strukturen in Gesellschaft und Industrie zu ver/ndernbegannen, wurde in der zweiten H/lfte des 19. Jh.sdurch Telefon und drahtlose Telegrafie dramatisch vorAugen gef"hrt. <berdies wurden durch neuartige Ge-neratoren, Fern"bertragung, elektr. Beleuchtung undMotoren nicht nur die st/dtische � Infrastruktur, son-dern auch Arbeitsorganisation, -verteilung, und -rhyth-men fundamental verschoben. Vor diesem Hintergrundverwundert es nicht, dass der E. hohes gesellschaftsver-/nderndes Potential zugeschrieben wurde; Lenins Kenn-zeichnung des Kommunismus als »Sowjetmacht plusElektrifizierung« (1920) ist daf"r nur ein besondersmarkantes Beispiel.

Bis heute hat sich die E., neben ihrer Funktion alsEnergietr/ger, als die einzige Naturkraft erwiesen, mitderen Hilfe wir in großem Maßstab Informationstrans-fer und -verarbeitung aus uns »auslagern« kBnnen. Dietiefgreifenden Auswirkungen dieser Entwicklungen aufGesellschaft, Politik und Wirtschaft kBnnen wir im his-torischen R"ckblick wohl erkennen; angesichts der un-gebrochenen Dynamik der Mikroelektronik werden ver-mutlich weitere, noch gar nicht absehbare Ver/nderun-gen /hnlichen Ausmaßes bevorstehen.

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Page 6: Enzyklopädie der Neuzeit - Elektrizitt · 2015. 3. 25. · in der Antike bekannt. Durch Plinius und Lukrez ins Spt-MA berliefert, gingen solche Berichte in Kom-pendiendes16.Jh.sein.Deroberital.ArztundMathe-matikerGirolamoCardanostellte

� Energie; Elektrische Instrumente; Elektrodynamik;Elektromedizin; Experiment; Galvanismus;Naturwissenschaft; Magnetismus; MathematischePhysik; Physikalische Wissenschaften

Quellen:[1]W. Gilbert, De magnete magneticisque corporibus, London1600 (engl.: On the Loadstone and Magnetic Bodies, "bers. vonP. F. Mottelay, 1952) [2] J. Priestley, The History and PresentState of Electricity, London 1767 (dt.: Geschichte undgegenw/rtiger Zustand der Elektricit/t, 1772)

Literatur:[3] P. Bertucci / G. Pancaldi (Hrsg.), Electric Bodies, 2001[4] I. B. Cohen, Benjamin Franklin's Science, 1990[5] O. Darrigol, Electrodynamics from AmpEre to Einstein,2000 [6] L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einerwissenschaftlichen Tatsache, 1935 (1980) [7] J. L. Heilbron,Electricity in the 17th and 18thCenturies, 1979 [8]O. Hochadel,Nffentliche Wissenschaft. Elektrizit/t in der dt. Aufkl/rung,2003 [9] R.W. Home, Electricity and Experimental Physics inEighteenth-Century Europe, 1992 [10] J. Meya / H. O. Sibum,Das f"nfte Element. Wirkungen und Deutungen der Elektrizit/t,1987 [11] M. Rowbottom / C. Susskind, Electricity andMedicine: History of their Interaction, 1984 [12] H. O. Sibum,The Bookkeeper of Nature: Benjamin Franklin's ElectricalResearch, in: J. A. L. Lemay (Hrsg.), Reappraising BenjaminFranklin: A Bicentennial Perspective, 1993, 221 –242.

Friedrich Steinle

HonnÞte homme, HonnÞte femme

1. Begriff2. Vorbilder und Vermittler3. Geschichte

1. Begriff

Der erstmals 1538 begegnende Begriff – in seinemDictionarium latinogallicum definiert Robert Estienneihn als »vornehmen Gebildeten ohne D"nkel« – wurdeseit Anfang des 17. Jh.s zum Inbegriff vornehmer Welt-gewandtheit, zum sozialen Leitbild der neuen, hBfisch-urbanen Gesellschaft des Zeitalters Ludwigs XIV.(1661 – 1715). Anders als verwandte Worte wie courtisan,homme de qualit�, homme de bien, homme galant odergentilhomme war H. H. nicht sozial festgelegt, sondernin seiner m/nnlichen wie weiblichen Form ein st/nde-"bergreifendes PersBnlichkeitsideal f"r einen Menschen,der in Auftreten, Verhalten und Lebensart jederzeit alleGebote der �Ehre erf"llt und sich so als Mitglied der�Elite erweist. Weil Ehre in allen St/nden der fr"hnzl.Gesellschaft den hBchsten Leitwert bildete, deshalb aberentsprechend viele unterschiedliche Bedeutungen um-fasste, gewann das H. H.-Konzept allgemeine Verbind-lichkeit und große soziale Integrationskraft. Prinzipiellstellte die honnÞtet� an M/nner und Frauen /hnliche

Forderungen. Umstritten ist, ob sich das emanzipatori-sche Potential des Begriffs in der Praxis bei beidengleich entfaltete.

Das Ideal des H. H. war – als Antwort auf dasTrauma der �Religionskriege, welche die Zeitgenossenals fanatischen Vernichtungskampf konkurrierenderKonfessionen erlebt hatten –, Gegens/tze in seiner Um-gebung wie innerhalb seines eigenen Wesens harmo-nisch auszubalancieren. Er vermied, "berging oderneutralisierte weltanschauliche Konflikte, indem erDogmen und Spekulationen zugunsten der sinnlichenWirklichkeit zur"ckstellte und versuchte, diese f"r sichund andere mBglichst angenehm zu gestalten und dabeidurchaus auch ins Geistige zu sublimieren. Als unhomme poli et qui sait vivre (»ein Gebildeter, der zuleben weiß«; Roger de Bussy-Rabutin) war er bewandertin allen Fragen gesellschaftlicher Kultur, praktischerLebenskunst und perfekten Benehmens (biens�ance),v. a. in der �Konversation. Er besaß Kenntnisse aufunterschiedlichsten Gebieten, wusste sie, sofern nBtigund erw"nscht, auf unterhaltsame Weise darzubieten,mied jedoch jeden Anflug von Spezialistentum undPrinzipienreiterei. Dank seiner Welterfahrung besaß erbon sens, persBnliche Ausstrahlung und »jenes gewisseEtwas, das weder B"cher noch Gelehrte vermitteln kBn-nen« (Antoine Gombauld de MIrI). In seinem Bestre-ben, anderen zu gefallen, vereinte er in sich alle �Tu-genden urbaner Weltgewandtheit (civilit�, urbanit�, po-litesse, galant�rie und courteoisie). Er legte viel Wert aufsein �ußeres. Die hBfische �Liebe galt ihm als zentralesMoment gesellschaftlicher Kultur.

2. Vorbilder und Vermittler

Vorbilder des H. H.-Ideals waren ital. �Hofmann-Konzepte wie Baldassare Castigliones Libro del Cortegia-no (1528), dessen sprezzatura (die scheinbar nat"rliche,m"helose Virtuosit/t) zur grace oder negligence wurde,und der Galateo des Giovanni della Casa (1558). Ausden Essais des Michel de Montaigne (1580, 1588) undder Einf=hrung in das fromme Leben des Franz von Sales(1608) lernten die Zeitgenossen, Rollenspiel und Moralnicht als Konflikt zu empfinden, Schein und Sein heiterzu harmonisieren, christliche Einkehr und soziales En-gagement zu vereinen. HBfische �Romane wie Astr�edes HonorI d'UrfI (5 Bde., 1607– 1627) oder Artham+neou Le Grand Cyrus der Madeleine de ScudIry (10 Bde.,1649– 1653) und KomBdien wie die des Jean BaptisteMoliEre lieferten literarische Muster f"r Gef"hle undGespr/che im Sinne der honnÞtet�.

Als f"hrender kultureller Code wurde das H. H.-Ideal intensiv diskutiert. Dies geschah vorab im Me-dium von �Traktaten ("ber 30 bis zur Mitte des 18.

HonnÞte homme, HonnÞte femme33 34