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OETOGENESIS POETOGENESIS POETOGENESIS EMPIRIE IN DER LITERATURWISSENSCHAFT Philip Ajouri Katja Mellmann Christoph Rauen (Hrsg.)

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Bestandsaufnahmen undPerspektiven einesArbeitsfeldes

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Literaturwissenschaftler wie Geisteswissenschaftler überhaupt grenzen sich häufig von den sogenannten empirischen Wissenschaften ab. Dem liegt aber ein verengtes Verständnis von Empirie zu Grunde, hinter das der Sammelband zurückzusetzen versucht. Ausgangspunkt der Beiträ-ge ist eine Auffassung von Literaturwissenschaft als Realwissenschaft: Literarische Texte wie auch ihr historisches Bedingungsgefüge, die so-genannten ›Kontexte‹, gelten als empirisch beobachtbare Sachverhalte. Und auch wenn die eigentümliche ästhetische Erfahrung im Mittel-punkt steht, geht es nicht um Metaphysik, sondern um soziale und psychologische Realitäten, die anhand von Quellen rekonstruierbar und deren Gesetzmäßigkeiten interdisziplinär erforschbar sind. ›Empi-risch‹ bezeichnet dabei nicht einen bestimmten Satz an Methoden, sondern viel grundsätzlicher den Versuch, Aussagen beobachtungs-sprachlich zu formulieren und auf diese Weise kritisierbar zu machen – eine Herangehensweise, die Literaturwissenschaftler mit Vertretern anderer Disziplinen teilen und für die es in der Geschichte des Fachs viele Beispiele gibt. Diese Traditionen methodologisch zu reflektieren und fortzusetzen ist das Ziel der hier versammelten Beiträge.

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Pantone 282 CVC Pantone 136 CVC

EMPIRIE IN DER LITERATURWISSENSCHAFT

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Philip Ajouri Katja Mellmann Christoph Rauen (Hrsg.)

ISBN 978-3-89785-458-1

Ajouri /Mellmann/Rauen (Hrsg.) · Empirie in der Literaturwissenschaft

POETOGENESISStudien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur

herausgegeben vonKarl Eibl · Manfred Engel · Rüdiger Zymner

Band 8

Philip Ajouri, Katja Mellmann,Christoph Rauen (Hrsg.)

Empirie in derLiteraturwissenschaft

mentisMÜNSTER

Gedruckt mit Unterstützung der VolkswagenStiftung

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Printed in GermanyEinbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen

Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, KemptenISBN 978-3-89785-458-1

Inhalt

Empirisierung?

Philip Ajouri, Katja Mellmann, Christoph Rauen: Einleitung ............................................... 9

Karl Eibl: Ist Literaturwissenschaft als Erfahrungswissenschaft möglich? Mit einigen Anmerkungen zur Wissenschaftsphilosophie des Wiener Kreises ........ 19

Norbert Groeben: Was kann/soll ›Empirisierung (in) der Literaturwissenschaft‹ heißen? .......................................................................................................................... 47

Cornelis Menke: Über die Schwierigkeit, an der Erfahrung zu scheitern .................... 75

Textempirie

Per Röcken, Annika Rockenberger: Interessengeleitete Datenverarbeitung. Zur Empirie der neugermanistischen Editionsphilologie ..................................... 93

Jörg Schönert: Strukturale Textanalyse als empirie-nahes Verfahren? ........................ 131

Michael Titzmann: ›Empirie‹ in der Literaturwissenschaft. Text-›Interpretation‹ und ›Epochen‹-Konzept als Beispiele .................................................................... 149

Ralph Müller: Parallelstellenmethode – digital. Philologische Erfahrung, Empirisierung, Texte und Korpora ....................................................................... 181

Peer Trilcke: Social Network Analysis (SNA) als Methode einer textempirischen Literaturwissenschaft .................................................................. 201

Empirie der ›Kontexte‹

Christoph Rauen: Empirie und Gesetz. Wozu braucht kontextorientierte Literaturwissenschaft Daten? .................................................................................. 251

Katja Mellmann, Marcus Willand: Historische Rezeptionsanalyse. Zur Empirisierung von Textbedeutungen .................................................................... 263

Inhaltsverzeichnis 6

Philip Ajouri: Probleme der Empirisierung einer Gattung. Zum Erwartungshorizont und der sozialen Funktion des politischen Romans im 18. Jahrhundert ......................................................... 283

Gerhard Kaiser: Vom »höheren Dritten« und den »Unterhosen der Arbeiterklasse«. Zur Rolle des Empirischen in der feldsoziologischen Literaturforschung Pierre Bourdieus ..................................................................... 307

Cornel Zwierlein: Klimageschichte und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Zum Problem des interdisziplinären Dialogs ....................................... 331

Interdisziplinäre Vergleichsempirie

Margrit Schreier: Zur Rolle der qualitativ-sozialwissenschaftlichen Methoden in der Empirischen Literaturwissenschaft und Rezeptionsforschung .............. 355

Jost Schneider: Die Bestätigungsfunktion literarischer Kommunikation als Methodenproblem der empirischen literaturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung ................................................................................................ 379

Sophia Wege: Aufgehender Mond und der Kubikinhalt des Herzens. Zum Verhältnis von Empirie und Literatur in der Kognitiven Literaturwissenschaft ................................................................................................ 395

Katja Mellmann: Kontrollpeilung und Datensammlung. Zur wechselseitigen Empirisierung von Evolutionspsychologie und Literaturwissenschaft ............ 419

Annekathrin Schacht, Katrin Pollmann, Mareike Bayer: Leseerleben im Labor? Zu Potential und Limitationen psycho(physio)logischer Methoden in der empirischen Literaturwissenschaft .............................................................. 431

Autoren ............................................................................................................................. 445

Empirisierung?

Philip Ajouri, Katja Mellmann & Christoph Rauen

Einleitung

Literaturwissenschaftler wie Geisteswissenschaftler überhaupt formulieren

ihr disziplinäres Selbstverständnis häufig in Abgrenzung von den sogenann-

ten ›empirischen Wissenschaften‹. »Geisteswissenschaften sind keine empiri-

schen Wissenschaften«, schreiben z. B. die Verfasser der 2005 herausgege-

benen Broschüre Manifest Geisteswissenschaft; der »Forschungsbegriff« sei in

den Geisteswissenschaften ein grundsätzlich anderer als in den Natur- und

Sozialwissenschaften.1 Auch in der Einleitung zu einem Sammelband von

1982, also inmitten der damaligen Verwissenschaftlichungsdebatte, wird der

große »Unterschied zu den empirisch-analytischen Methoden benachbarter

Disziplinen, zumal der Sozialwissenschaften«2 betont. Die ästhetische Er-

fahrung »als Movens wissenschaftlicher Fragestellungen« müsse »sich im

Theorieverständnis der Disziplin niederschlagen. Theoriekonstitutiv« seien

in der Literaturwissenschaft »daher nicht primär die Kriterien der Wider-

spruchsfreiheit, der Subjekt-Objekt-Trennung und der terminologischen

Reinheit.«3

Auf der anderen Seite stehen seit nunmehr rund drei Jahrzehnten Ansätze

einer explizit »Empirischen Literaturwissenschaft«,4 die sich zuweilen als

__________ 1 Carl Friedrich Gethmann et al.: Manifest Geisteswissenschaft, hg. von der Berlin-Bran-

denburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2005, http://edoc.bbaw.de/volltex

te/2007/418/pdf/21Ifq1F5Q8k8U.pdf, 9. 2 Dietrich Harth: Einleitung. Strukturprobleme der Literaturwissenschaft, in: ders. & Peter

Gebhardt (Hg.): Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden, Stuttgart 1982,

1-7, hier 5. 3 Ebd., 6. 4 Dazu zählen u. a. die von Norbert Groeben (Rezeptionsforschung als empirische Litera-

turwissenschaft, Kronberg 1977) initiierte Literaturpsychologie, die vielleicht gerade durch

die vielfältige Kritik, die sie hervorgerufen hat, impulsgebende »Empirische Theorie der

Literatur« (ETL) nach Siegfried J. Schmidt (Grundriß der Empirischen Literaturwissen-

schaft, Braunschweig 1980) und ein internationales Ensemble von Forschungsunterneh-

mungen, das sich etwa in den Zeitschriften Poetics (1971ff.) und SPIEL (Siegener Periodicum

zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft, 1982ff.) und in der Internationalen Ge-

sellschaft für Empirische Literaturwissenschaft (IGEL, gegr. 1987) zusammenfindet.

Einleitung

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neues Paradigma5 der Literaturwissenschaft präsentiert haben. Beide Ex-

trempositionen erfassen das spezifisch literaturwissenschaftliche Erkennt-

nisproblem jedoch nur unzureichend. Die strikte Abgrenzung gegenüber

den ›empirischen Wissenschaften‹ beruht auf einem reduktionistischen Ver-

ständnis von Empirizität. Wer bei ›empirisch‹ nur an experimentelle Verfah-

ren und Statistik denkt, übersieht die vielfältigen Formen von Erfahrung,6

mit denen auch eine hermeneutisch7 verfahrende Textwissenschaft umzuge-

hen hat. Und auch die Befürworter empirischer Verfahren in der Literatur-

wissenschaft scheinen mitunter denselben engen Begriff von Empirizität im

Sinn zu haben, wenn sie z. B. die historisch-gegenständliche Welt aus ihrer

Konzeption des Empirisierbaren ausschließen8 und weite Bereiche des in

sich vielfältigen Faches als letztlich ›unwissenschaftlich‹ verwerfen. Wahr ist

indes, dass die »Einsichten der […] Analytischen Erkenntnis- und Wissen-

schaftstheorie – vom ›Wiener Kreis‹ aus durch emigrierte Protagonisten wie

Rudolf Carnap, Carl G. Hempel oder Karl Popper besonders in die angel-

sächsische Welt verbreitet – […] in erheblichen Teilen literarhistorischer

Alltagsforschung [noch immer] kaum Berücksichtigung erfahren« haben.9

Hier gilt es anzusetzen. Der Blick auf die allgemeine Wissenschaftstheorie

und -geschichte erleichtert den Aufbau einer facheigenen Methodologie, die

von Vorurteilen und falschen Generalisierungen, wie sie z. B. die Entgegen-

setzung von Geistes- und Natur- oder ›empirischen‹ und ›nichtempirischen‹

Wissenschaften kennzeichnen, frei ist und ein Konzept von Empirie bereit-

stellt, das den Besonderheiten des jeweiligen Faches Rechnung trägt und

__________ 5 Abwägendes dazu bei Norbert Groeben: Der Paradigma-Anspruch der Empirischen

Literaturwissenschaft, in: Achim Barsch, Gebhard Rusch & Reinhold Viehoff (Hg.): Em-

pirische Literaturwissenschaft in der Diskussion, Frankfurt/M. 1994, 21-38. 6 Vgl. z. B. die Auffächerung in »philologische«, »historische« und »experimentelle Erfah-

rung« bei Harald Fricke: Zur Rolle von Theorie und Erfahrung in der Literaturwissen-

schaft, in: Colloquium Helveticum 4 (1986), 5-21, und ders.: Erkenntnis- und wissen-

schaftstheoretische Grundlagen, in: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft.

Gegenstände, Konzepte, Institutionen, Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart & Wei-

mar 2007, 41-54, hier 51f. 7 Vgl. etwa das Manifest der Gruppe Erklärende Hermeneutik, deren »Anliegen eine erfah-

rungswissenschaftliche Orientierung innerhalb der Hermeneutik ist« (http://www.mythos

-magazin.de/erklaerendehermeneutik/manifest-deutsch.pdf, 1). 8 Vgl. die Kritik bei Claus Michael Ort: ›Empirical‹ Literary History? Theoretical Comments

on the Concept of Historical Change in Empirical Literary Science, in: Poetics 18 (1989),

73-84, hier 78f. 9 Fricke 2007: Grundlagen (wie Anm. 6), 41.

Einleitung

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dadurch ein disziplinäres Selbstverständnis befördert, das sich positiver auf

die Praxis auswirkt als das derzeitige.

Will man in diesem Sinne einer ›Empirisierung‹ der Literaturwissenschaft

das Wort reden, so ist es nicht nötig, erst eine fundamentale Krise unseres

Faches zu konstatieren, die nur durch ein neues Paradigma abgelöst werden

könnte. Vielmehr lässt sich an lange vorhandene und bewährte Forschungs-

praktiken anknüpfen. Schon 1877 dekretierte Wilhelm Scherer: »Die ele-

mentaren philologischen Thätigkeiten sind Herausgeben und Erklären«,10 und

legte damit den Grundstein für eine ›positive‹ Wissenschaft von der Litera-

tur. Als jüngste Errungenschaften auf dem Gebiet des Herausgebens nannte er

Michael Bernays’ Rekonstruktion »des echten Werthertextes« und Karl Goe-

dekes historisch-kritische Schiller-Edition. Die Anwendung der textkriti-

schen Prinzipien aus der Klassischen Philologie auf neusprachliche Texte

war in der Tat ein Novum und markiert einen entscheidenden Schritt bei

der Etablierung der Literaturwissenschaft als eigenständiger akademischer

Disziplin. Scherers Rede vom Erklären der Literatur bezog sich zunächst auf

das Erstellen von Werkkommentaren (Explikation), wofür er zahlreiche

Beispiele anführen konnte. Denn die Kontextdaten des ›Ererbten‹, ›Erlern-

ten‹ und ›Erlebten‹ müssen ebenso gesammelt und gesichert (empirisch

erhoben) werden wie die primären Textdaten. Um einzelne solcher Daten

zur Erklärung im Sinne einer Ableitung von Gesetzen (Explanation) einzu-

setzen, bedürfe es »aber noch eine[r] andere[n] Seite als wissenschaftliche[r]

Edition und Erklärung«: nämlich einer zweckmäßigen Theorie.11

In Anlehnung an diesen Grundriss philologischer Forschungstätigkeit bei

Scherer untergliedern wir unseren Band nach drei literaturwissenschaftlich

relevanten Erfahrungsbereichen: In Abschnitt I stehen Beiträge, die sich mit

der Sicherung und intersubjektiven Beschreibung der literarischen Primärtex-

te befassen; die Beiträge zu Abschnitt II fragen nach den Möglichkeiten

einer Empirisierung des realgeschichtlichen Bedingungsgefüges literarischer

Kommunikation (der ›Kontexte‹ von Literatur); und Abschnitt III gilt dem

allgemeinen Weltwissen, das in literaturwissenschaftlichen Argumentationen

implizit oder explizit zum Tragen kommt, d. h. den mannigfaltigen wissen-

schaftlichen Theorien darüber, was auf der Welt ›der Fall ist‹ und was nicht.

__________ 10 Wilhelm Scherer: Goethe-Philologie [1877], in: ders.: Aufsätze zu Goethe, Berlin 21900, 3-

27, hier 10 (unsere Hervorhebung). 11 Insbesondere einer »Philosophie der Geschichte«, wie Scherer sie in Wundts »Völkerpsy-

chologie« oder der »Sociologie« entstehen sah, und einer psychologischen »Theorie der

Genialität« (Scherer 1877: Goethe-Philologie [wie Anm. 10], 11f.).

Einleitung

12

Als ›empirisch‹ fassen wir also nicht einen bestimmten Satz an Methoden auf,

sondern viel grundsätzlicher das beobachtungssprachliche (empirisch ›ge-

haltvolle‹, referentialisierbare12) Formulieren von Aussagen, das diese Aussa-

gen somit der Gefahr des Scheiterns aussetzt; sei es an der Empirie des

Textes, eines ›Kontextes‹ oder an anderweitiger Erfahrung.

I. Textempirie

Der Text bildet die Basis aller wissenschaftlichen Rede über Literatur. Sei es

als Einzelwerk in einer begründet gewählten Fassung, sei es in Gestalt grö-

ßerer Werkgruppen (›die Lyrik des Barock‹, ›das bürgerliche Trauerspiel‹,

›der Symbolismus‹) oder in Form umfangreicher oder gar auf Vollständigkeit

hin angelegter Corpora – präzise anzugeben, worüber wir sprechen, wenn

wir über Literatur sprechen, ist Voraussetzung und Ausgangspunkt aller

Literaturwissenschaft. Zu Recht hat man deshalb den editorisch gesicherten

Wortlaut als die genuin literaturwissenschaftliche Empirie angesehen und

von »philologische[r] Erfahrung«13 gesprochen.

Philologische Empirie beginnt bei der Frage, welche unterschiedlichen

Textfassungen es überhaupt gab und wie sie vorlagen. Sie bezieht ggf. auch

zahlreiche Detailfragen der Textgenese, der Attribution und Bewertung

einzelner Lesarten und des Zusammenhangs der verschiedenen Textzeugen

untereinander mit ein. Zur philologischen Datenerhebung gehört jedoch

nicht nur die textkritische Tätigkeit in der Tradition Lachmanns, sie umfasst

auch noch die analytische Deskription des Textes, kurz: die professionelle

Lektüre. Um zu wissen, was in einem Text der Fall ist (und was nicht), be-

darf es eines Vorrats an Beschreibungskategorien (z. B. aus Metrik, Rheto-

rik, Narratologie …), die eine intersubjektiv vermittelbare Beobachtung

dessen, was vorliegt, ermöglichen. Auf diesem Gebiet ist seit Scherers Zei-

ten ein beachtlicher Präzisionsgewinn zu verzeichnen. Textlinguistik und

strukturale Analyse14 haben in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts Me-

thoden der klassifizierenden Beschreibung von Texteigenschaften bereitge-

stellt, die auf dem Weg zur methodisch kontrollierten Textbeobachtung

gewichtige Fortschritte bedeuten. Neben dem individuellen close reading, in

__________ 12 Vgl. Eibl (in diesem Band), 25-29. 13 Fricke 2007: Grundlagen (wie Anm. 6), 51. 14 Vgl. auch deren Erwähnung bei Ort 1989: Empirical (wie Anm. 8), 80, wenn es um die

Erweiterung des verengten Empiriebegriffs um »text data« geht.

Einleitung

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dem solche Kategorien Anwendung finden, sind standardisierte Verfahren

wie z. B. die Inhaltsanalyse oder jüngst hinzutretende Möglichkeiten der

rechnergestützten Analyse15 zu nennen. Solche Verfahren des ›distant read-

ing‹16 ermöglichen insbesondere quantifizierende Aussagen über größere

Textmengen und stellen so eine wichtige Ergänzung der traditionellen philo-

logischen Erhebungsverfahren dar.

II. Empirie der ›Kontexte‹

Ein zweiter Bereich literaturwissenschaftlicher Empirie liegt in der Rekon-

struktion des historisch vergangenen Wirklichkeitsausschnitts, der für die

Genese, Semantik oder Wirkung von Texten relevant ist. Die hermeneuti-

sche Aufmerksamkeit auf die Differenz von Textdatum und Deutungsakt

hat insbesondere den verständnisleitenden ›Erwartungshorizont‹ stärker ins

Bewusstsein gehoben – und damit alle textexternen Instanzen und Faktoren

literarischer Kommunikation wie Produzent und Rezipient, kulturelle

›Codes‹ und was sie bedingt, kurz: den historischen ›Kontext‹ von Literatur.

Aktuelle literaturwissenschaftliche Strömungen reduzieren die relevanten

Kontexte häufig auf text- bzw. zeichenförmige, blenden die materiellen,

institutionellen und kognitiven Umwelten der Literatur also aus und begnü-

gen sich damit, Text-zu-Text-Beziehungen festzustellen.17 Im Unterschied

dazu zielt der hier verwendete Kontextbegriff auf die Gesamtheit der histo-

rischen Textumgebung, die in einem real gegebenen »Erfahrungszusam-

menhang«18 mit dem Primärtext steht. Dazu gehören insbesondere Ge-

__________ 15 Vgl. die Übersicht bei Fotis Jannidis: Methoden der computergestützten Textanalyse, in:

Vera Nünning & Ansgar Nünning (Hg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaft-

lichen Textanalyse. Ansätze, Grundlagen, Modellanalysen, Stuttgart 2010, 109-132. 16 Vgl. Franco Moretti: Conjectures on World Literature, in: New Left Review 1 (2000), 54-

66, und ders.: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturge-

schichte [La letteratura vista da lontano, 2005], Frankfurt/M. 2009. 17 Der Unterschied zwischen inter- und extratextuellen Kontexten wird in solchen Ansätzen

eingeebnet; vgl. die Unterscheidung bei Lutz Danneberg: Kontext, in: Klaus Weimar, Ha-

rald Fricke & Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.

Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Berlin & New York

1997-2003, Bd. 2, 333-337, hier 334. 18 Vgl. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissen-

schaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen & Basel 2005, 54-57, der das Verhältnis von

Text und Kontext in Anlehnung an den linguistischen Kontextbegriff als ein Verhältnis

der Kontiguität definiert und diese Bereichsverwandtschaft zwischen Text und Kontext

Einleitung

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wohnheiten und Erwartungen zeitgenössischer Autoren und Leser, die

ihrerseits von literatursystemischen Bedingungen, sozialen Positionen, reli-

giösen, weltanschaulichen oder philosophischen Diskursen und gesellschaft-

lichen Problemlagen beeinflusst19 sind. Zwar rekonstruieren und belegen wir

solche Wirklichkeitselemente in der Regel anhand von Texten, das heißt

aber nicht, dass diese uns auch »nur in ihrer textuellen Fassung interessie-

ren«.20 Sie interessieren uns vielmehr als Dokumente21 einer historischen

Realität.

Damit ist das umfangreiche Methodenspektrum des geschichtswissen-

schaftlichen Quellenstudiums aufgerufen, zu dem nota bene auch die Quel-

lenkritik gehört. Das immer wieder erneute Aufsuchen und kritische Ver-

gleichen der Quellen, wie sie in Werkkommentaren, literaturgeschichtlichen

Darstellungen und Autorbiographien gesammelt sind, sowie die Erschlie-

ßung neuer Quellen stellen zentrale Aufgaben einer empirischen Literatur-

wissenschaft dar. Freilich kann die Rekonstruktion vergangener Wirklich-

keit immer nur selektiv und – selbst unter den jeweils ausgewählten Einzel-

aspekten – immer nur approximativ erfolgen. Die daraus sich ergebende

grundsätzlich erkenntniskritische Haltung, in der sich der moderne Geistes-

wissenschaftler so geübt zeigt, sollte jedoch nicht zu einem Redeverbot über

alles Außertextliche führen. Denn auch unsere literaturgeschichtlichen Aus-

sagen beziehen sich in der Regel ja nicht auf die zu Hilfszwecken herange-

zogenen Quellentexte, sondern auf die dahinter stehende Wirklichkeit.

__________

näherhin als Erfahrungszusammenhang charakterisiert. Er bleibt dann aber in der linguis-

tischen Analogie stecken, wenn er diesen Erfahrungszusammenhang »letztlich als usuelle

Kookkurrenz« (57) intra- und extratextueller Zeichen reformuliert. Ähnlich Wolfgang

Hallet: Intertextualität als methodisches Konzept einer kulturwissenschaftlichen Litera-

turwissenschaft, in: Marion Gymnich, Birgit Neumann & Ansgar Nünning (Hg.): Kultu-

relles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextuali-

sierung von Literatur, Trier 2006, 53-70. 19 Vgl. Danneberg 2000: Kontext (wie Anm. 17), 334, und ders.: Einfluß, in: Weimar/Fri-

cke/Müller 1997-2003: Reallexikon (wie Anm. 17), Bd. 1, 424-427. 20 »Ohne eine Welt außerhalb des Textes zu behaupten oder zu bezweifeln – was ontologi-

sche Aussagen implizieren würde –, bleibt es uns aufgegeben, die operativen Begriffe als

textuelle zu bestimmen, um analytisch sinnvoll mit ihnen arbeiten zu können. Ob Erfah-

rungskontexte nun wesentlich sprachlich bestimmte Gebilde sind oder nicht – uns kön-

nen sie nur in ihrer textuellen Fassung interessieren,« meint Baßler 2005: Archiv (wie

Anm. 18), 57. 21 Vgl. Titzmann (in diesem Band), 153, 158, zur »indirekten« Empirie der »Anzeichen«.