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132 8. Mai 1991: Das «Annus horribilis» der Pariser Orgelwelt nimmt seinen Anfang: der blinde Or- gelmeister Jean Langlais stirbt, innerhalb von wenigen Monaten folgten ihm mit Gaston Li- taize und Olivier Messiaen zwei weitere Grosse seiner Generation nach. Jean Langlais war eine der prägendsten Ge- stalten der französischen Orgelwelt des 20. Jahr- hunderts und während rund sechzig Jahren rast- los als Interpret, Improvisator, Komponist und Lehrer in seiner Heimat tätig, aber auch im Aus- land und hier besonders in den Vereinigten Staa- ten. Nun trifft dies alles für eine ganze Reihe von Orgelmeistern seiner Generation zu, für seine blinden Kollegen Gaston Litaize und André Marchal, aber auch etwa für Maurice Duruflé, André Fleury und Olivier Messiaen, den Mitstu- denten und lebenslangen Freund. Dass hier ge- rade er Gegenstand eines längeren Beitrages sein soll, steht nicht nur im Zusammenhang mit dem Jubiläumsjahr 2007, es hat auch praktische Gründe: So finden sich nur bei Langlais eine grössere Zahl von Orgelwerken, die unmittelbar für die liturgische Praxis verwendet werden kön- nen und auch entlegenere Gebiete berühren wie etwa die Kombination der Orgel mit anderen Instrumenten und dem Orchester. Im Übrigen hat Langlais während seiner vielen Reisen die verschiedensten Orgeltypen kennengelernt und Kompositionsaufträge aus aller Welt erhalten, sodass die Interpretation seine Musik weniger ausschliesslich als bei anderen einen französi- schen Orgeltypen voraussetzt. Bevor sein rund 250 Werke umfassendes Œuvre näher angeschaut werden soll, ist es viel- leicht hilfreich, ein Streiflicht auf sein Leben und Wirken zu werfen. Dabei werden vielleicht Ursa- chen für Langlais Produktivität zu Tage treten, die in seinem Land und seiner Zeit durchaus aus dem Rahmen fällt. Herkunft und Studienjahre Jean Langlais wurde im kleinen bretonischen Dorf La Fontenelle, nahe der Grenze zur Nor- mandie und auch unweit des berühmten Mont- St-Michel am 15.Februar 1907 geboren. Seine Eltern waren arme, aber nicht ungebildete Men- schen. Der Vater übte, wie viele seiner Landsleu- te, den Beruf des Steinmetzen aus. Langlais war wohl Bretone, stammte aber aus dem östlichsten Zipfel des Landstriches, wo nicht das eigentliche Bretonische (eine Sprache für sich) sondern der französische Dialekt Gallo gesprochen wurde. Im Alter von sechs Monaten wurden nun die Au- gen des kleinen Jean von einem kindlichen Glau- kom befallen, welcher ihn sogleich und unwi- derruflich erblinden liess. Somit war der stets schwächliche und sensible Bub von Anfang an ein Aussenseiter. Emanuele Jannibelli l Jean Langlais (1907–1991). Licht und Schatten 1 1 Der nachfolgende Text stellt eine freie Übersetzung und Zusammenfassung des Buches von Marie-Louise Ja- quet-Langlais «Ombre et lumière» (Editions Combre, Paris 1995) dar. Mit freundlicher Genehmigung der Au- torin. Jean Langlais mit Mutter und Schwester Flavie 1916

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8. Mai 1991: Das «Annus horribilis» der PariserOrgelwelt nimmt seinen Anfang: der blinde Or-gelmeister Jean Langlais stirbt, innerhalb vonwenigen Monaten folgten ihm mit Gaston Li-taize und Olivier Messiaen zwei weitere Grosseseiner Generation nach.

Jean Langlais war eine der prägendsten Ge-stalten der französischen Orgelwelt des 20. Jahr-hunderts und während rund sechzig Jahren rast-los als Interpret, Improvisator, Komponist undLehrer in seiner Heimat tätig, aber auch im Aus-land und hier besonders in den Vereinigten Staa-ten. Nun trifft dies alles für eine ganze Reihe vonOrgelmeistern seiner Generation zu, für seineblinden Kollegen Gaston Litaize und AndréMarchal, aber auch etwa für Maurice Duruflé,André Fleury und Olivier Messiaen, den Mitstu-denten und lebenslangen Freund. Dass hier ge-rade er Gegenstand eines längeren Beitrages seinsoll, steht nicht nur im Zusammenhang mit demJubiläumsjahr 2007, es hat auch praktischeGründe: So finden sich nur bei Langlais einegrössere Zahl von Orgelwerken, die unmittelbarfür die liturgische Praxis verwendet werden kön-nen und auch entlegenere Gebiete berühren wieetwa die Kombination der Orgel mit anderenInstrumenten und dem Orchester. Im Übrigenhat Langlais während seiner vielen Reisen dieverschiedensten Orgeltypen kennengelernt undKompositionsaufträge aus aller Welt erhalten,sodass die Interpretation seine Musik wenigerausschliesslich als bei anderen einen französi-schen Orgeltypen voraussetzt.

Bevor sein rund 250 Werke umfassendesŒuvre näher angeschaut werden soll, ist es viel-leicht hilfreich, ein Streiflicht auf sein Leben undWirken zu werfen. Dabei werden vielleicht Ursa-chen für Langlais Produktivität zu Tage treten,die in seinem Land und seiner Zeit durchaus ausdem Rahmen fällt.

Herkunft und StudienjahreJean Langlais wurde im kleinen bretonischenDorf La Fontenelle, nahe der Grenze zur Nor-mandie und auch unweit des berühmten Mont-St-Michel am 15.Februar 1907 geboren. SeineEltern waren arme, aber nicht ungebildete Men-schen. Der Vater übte, wie viele seiner Landsleu-te, den Beruf des Steinmetzen aus. Langlais warwohl Bretone, stammte aber aus dem östlichstenZipfel des Landstriches, wo nicht das eigentlicheBretonische (eine Sprache für sich) sondern derfranzösische Dialekt Gallo gesprochen wurde.Im Alter von sechs Monaten wurden nun die Au-gen des kleinen Jean von einem kindlichen Glau-kom befallen, welcher ihn sogleich und unwi-derruflich erblinden liess. Somit war der stetsschwächliche und sensible Bub von Anfang anein Aussenseiter.

Emanuele Jannibelli lJean Langlais (1907–1991).Licht und Schatten1

1 Der nachfolgende Text stellt eine freie Übersetzung undZusammenfassung des Buches von Marie-Louise Ja-quet-Langlais «Ombre et lumière» (Editions Combre,Paris 1995) dar. Mit freundlicher Genehmigung der Au-torin. Jean Langlais mit Mutter und Schwester Flavie 1916

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Später nach seiner Haltung zu seinem Schicksalbefragt, bemerkte Langlais etwas pathetisch, dasser, wenn er nicht blind gewesen wäre, den übli-chen Weg aller jungen Männer seiner Heimathätte gehen müssen: er wäre Steinmetz geworden– oder ausgewandert. Letzteres blieb ihm aller-dings nicht erspart. Als Kind besuchte er diegewöhnlichen Dorfschulen, seiner Behinderungwurde überhaupt nicht Rechnung getragen.Nun stellte sich aber, mitten im Ersten Weltkrieg,immer drängender die Frage nach der Zukunftdes aufgeweckten Buben. Hier trat nun ein etwasskurriler Verwandter auf den Plan, der OnkelJules Langlais. Dieser Berufsoffizier riet der Mut-ter, den kleinen Jean in die beste Spezialschulefür Blinde zu schicken, die Nationale Anstalt fürjunge Blinde (Institution Nationale des JeunesAveugles INJA) in Paris.

Blenden wir zurück: Der Pionier ValentinHaüy hatte 1784 eine erste Schule für Blinde ge-gründet. Der Nationalkonvent gab ihr währendder Revolution den Status einer staatlichen Insti-tution. Im Jahre 1843 bezog sie dann die monu-mentalen Gebäulichkeiten am Boulevard des In-valides in Paris, wo sie heute noch ihr Zentrumhat. In der Zwischenzeit hatte aber 1825 ein ka-pitales Ereignis die Welt der Blinden auf denKopf gestellt: Louis Braille, damals sechzehnJahre alt, hatte ein Schriftsystem erfunden, wel-ches dem Blinden dank seines Tastsinnes das Le-sen von Buchstaben und Zahlen ermöglicht. Einweiterer blinder Lehrer, Gabriel Gauthier, er-kannte die Wichtigkeit der Musik als Beruf fürNicht-Sehende. Ein korrekt ausgebildeter Blin-der konnte mühelos für eine Familie aufkom-men, indem er Gemeindeorganist wurde. Sowurde der Orgelunterricht zu einem Mittel-punkt der Ausbildung. 1847 zählte man allein inParis dreissig blinde Organisten, die zum Teilprestigeträchtige Stellen innehatten. Es ist zuwenig bekannt, dass auch Louis Braille selber da-zugehörte. Er war Organist der bekannten Kir-che St-Vincent-de-Paul, später St-Nicolas-des-Champs. In seiner musikalischen Praxis hatte ervon Anfang an ein System entwickelt, mit demsich seine Blindenschrift auch für die musika-lische Notation verwenden liess. Einigen blindenOrganisten gelang sogar der Einzug in die Or-gelklasse des berühmten staatlichen Conserva-toires. Zu diesen gehörten Adolphe Marty, Al-bert Mahaut (der spätere Lehrer von Langlais)und natürlich der berühmteste von allen, LouisVierne. Der Schulbetrieb in dem Institut war

quasi-militärisch, der Tagesablauf streng gere-gelt. Jeder Schüler war nebst den üblichen Schul-fächern zum Erlernen der Orgel und einesOrchesterinstrumentes verpflichtet. Danebenwaren manuelle Berufe vorgesehen, von denennur die musikalisch besonders Begabten (wieLanglais) dispensiert waren.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundertserhielt das Orgelwesen am Blindeninstitut nuneine Art Schirmherr und Übervater in der Personvon César Franck. Er fungierte an den alljährli-chen Schlussprüfungen als Experte, nahm dieoben erwähnten drei Hochbegabten in seine Or-gelklasse auf und komponierte seinen wunder-schönen 150. Psalm für Chor, Orchester undOrgel zur Einweihung der Cavaillé-Coll-Orgelim Festsaal am Boulevard des Invalides. Franckunterzog sich auch der riesigen Arbeit, die Aus-gabe bachscher Orgelwerke in Braille-Schrift mitFinger- und Fusssätzen zu versehen, ein Doku-ment, welches heute als wichtige Quelle zur da-maligen Spielpraxis geschätzt wird. So ist es ver-ständlich, dass die blinden Orgelspieler dem Va-ter Franck eine riesengrosse Verehrung zukom-men liessen. Langlais erlebte natürlich die PersonCésar Francks nicht direkt, erhielt aber von des-sen Meisterschüler Albert Mahaut Eindrücke auserster Hand.

Albert Mahaut an der Orgel des Pariser Blindeninstituts

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Im Jahre 1917 nun begann für Langlais dieUnterweisung in diesem berühmten Haus, indem die musikalische Erziehung einer derGrundpfeiler der ganzen Lehre bildete. Spätes-tens hier stellt sich deshalb die Frage, welcheRolle bisher die Musik im Leben des zukünftigenMeisters gespielt hatte. Antwort: praktisch kei-ne. Und so wurde er als Schüler von Albert Ma-haut, dem damaligen Orgellehrer an der INJA,gleich ins kalte Wasser geworfen. Dieser ersteblinde Franck-Schüler hatte auch als erster diezwölf grossen Orgelwerke seines Lehrers in ei-nem einzigen Konzert (!) aufgeführt. Es ist des-halb verständlich, dass der junge Jean für denwortkargen und strengen Mann eine Bewunde-rung ohne Grenzen hegte.

Unserem Meister wurde nun zusätzlich dasViolinspiel aufgetragen. In dieser Kunst brachteer es so weit, dass sein Lehrer, ein bekanntesMitglied des Pariser Opernorchesters, ihm einebrillante Karriere als Solist vorhersagte und dieausschliessliche Zuwendung zur Orgel lebhaftbedauerte.

Später wurde Langlais einer der erstenSchüler einer anderen markanten blinden Lehr-persönlichkeit, die in der Folge von sich redenmachte: André Marchal, damals 29 Jahre alt undnoch ganz neu am Blindeninstitut. Im Jahre1926 traf Langlais dann auf einen neuen Mit-schüler, der es als einziger an Begabung mit ihmaufnehmen konnte: Gaston Litaize. Eine lebens-lange Freundschaft nahm ihren Anfang. Die bei-den wohnten ihr Leben lang an derselben PariserStrasse in unmittelbarer Nachbarschaft der INJAund der Fondation Valentin Haüy, versahen spä-ter den Orgeldienst in zwei benachbarten Kir-chen (Litaize in St-François-Xavier, Langlais inSte-Clothilde) und wurden im Ausland häufig ineinem Atemzug genannt. Ein gewichtiger Unter-schied muss aber vermerkt werden: Obwohl sichdie Tätigkeitsfelder der beiden nahezu deckten,widmete Litaize der Komposition nichtannähernd so viel Zeit wie sein Freund, was zurFolge hat, dass von ihm ungleich weniger ge-druckte Werke erhalten sind. In ihrer Studienzeittraten die beiden auch häufig als Duo auf – Li-taize als Pianist, Langlais als Geiger – und dieslängst nicht nur in hehren Hallen, sondern, zurAufbesserung des persönlichen Budgets, auch inBars und sogar Variétés!

Oberstes Ziel eines Orgelschülers der INJAwar aber der Übertritt in die Orgelklasse desConservatoires, des Allerheiligsten der damali-

gen französischen Orgelwelt. Ein Ziel, welches,nota bene, nur die wenigsten ins Auge fassenkonnten, war es doch schon für Sehende nahezuunerreichbar. Nun amtete dort seit einigen weni-gen Jahren eine besonders charismatische Per-sönlichkeit: Marcel Dupré. Langlais sollte, zu-sammen mit Litaize und Messiaen – von demnoch die Rede sein wird – einer der ersten in derunglaublichen Reihe von späteren Berühmthei-ten sein, die bei dem damals noch jungen Meis-ter studierten. Duprés Regime war militärischstreng. Den jungen Blinden, die sich Ähnlichesaus ihrem Institut gewöhnt waren, machte dieskeine Schwierigkeiten. Entsprechend waren dieFortschritte. Das Besondere an Duprés Unter-richt, wie auch an seiner Kunst überhaupt, wardie Prinzipiengleichheit bei Improvisation undKomposition. Beides wurde mit der gleichenStrenge vermittelt und geschult, was zur Folgehatte, dass Schüler wie Lehrer in der Lage waren,eine Fuge mit obligatem Gegenthema und inschnellem Tempo zu improvisieren.

Im Jahre 1927 wurde nun Langlais als Hörerin die Klasse von Dupré aufgenommen. In dieseZeit fällt auch die Komposition des ersten Or-gelwerkes (Prélude et fugue), welches aber erst1982 herausgegeben werde sollte. Das Jahr en-dete freilich für die beiden Freunde mit einerErnüchterung: Langlais wurde gar nicht zurSchlussprüfung zugelassen, Litaize erhielt keineAuszeichnung.

Langlais kannte seine Lücken in der Fugen-komposition und bemühte sich deshalb imnächsten Schuljahr um entsprechenden Unter-richt bei Noël-Gallon. Auch die Übernahmeerster Orgeldienste fällt in dieses Jahr 1928. Einweiterer Glücksfall war 1939 die altershalber er-folgte Demission des Franck-Schülers AdolpheMarty als Orgellehrer an der INJA, welche dieNeubesetzung des Postens nötig machte. Langlaisunterzog sich dem strengen Bewerbungsverfah-ren – und gewann. Dies war der Beginn seiner le-benslangen Unterrichtstätigkeit an dem Institut,welches ihn selber geformt hatte. Mit diesem Er-folg im Rücken stellte er sich dem Jahresend-examen in der Klasse von Dupré und gewannauch hier: Klassenerster – Premier prix!

Die Dreissigerjahre sollten als besondersglanzvolle Zeit in der an Höhepunkten nicht ar-men Orgelgeschichte des Landes in Erinnerungbleiben. Eine ganze Reihe von jungen, hoff-nungsvollen Talenten sass in den Startlöchern:Messiaen, Duruflé, Alain, Langlais, Litaize,

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Fleury. Mit verantwortlich für diese Erfolgsge-schichte war sicher auch die Gründung der «So-ciété des Amis de l’Orgue» durch den orgelbegeis-terten Grafen Bérenger de Miramon Fitz-Jamesund den jungen Musikwissenschafter NorbertDufourq. Dieser Verein lancierte nun etwas fürdie damalige Zeit ganz Neues: einen jährlichenOrgelwettbewerb für junge Organisten. Dabeiwar abwechslungsweise ein Preis für Komposi-tion und dann für Interpretation und Improvisa-tion zu vergeben. Maurice Duruflé hatte ebendie Messlatte sehr hoch angesetzt, indem er 1929den Interpretations- und Improvisationswettbe-werb und 1930 auch noch den Kompositions-wettbewerb gewonnen hatte, letzteren mit dembekannten «Triptychon Prélude, Adagio et Choralvarié sur le Veni Creator». Langlais beschlossgleich, an der dritten Austragung von 1931 teil-zunehmen. Weil die Aufgabenstellung des Im-provisationsteils ein symphonisches Allegro ent-hielt und er sich auf diesem Gebiet, welchesnicht im Zentrum von Duprés Unterrichts-bemühungen stand, nicht sattelfest fühlte, such-te er einen weiteren Lehrer. Die Wahl fiel auf

Charles Tournemire, der sich damals gerade mit-ten in der Arbeit an seinem monumentalenWerk «L’orgue mystique» befand. Damit ist nunder zweitletzte bedeutende Name der Jugendzeitunserer Meisters gefallen (Paul Dukas sollte derletzte sein). Und gleichzeitig sollte auch eineOrgel in seinen Gesichtskreis rücken, die ihnfortan sein Leben lang begleiten sollte: die Ca-vaillé-Coll-Orgel der neogotischen Basilika vonSte-Clothilde, an der Tournemire amtete. Leiderwurde Langlais enttäuscht, was sein primäresZiel betrifft: In diesem Jahr sprachen die Orgel-freunde niemandem einen Preis zu. Immerhinwar nun der Kontakt zum zurückgezogen leben-den und als schwierig geltenden Meister aus Bor-deaux hergestellt. Direkte Folge: Langlais wurdesein Stellvertreter an der berühmten Franck-Or-gel. Tournemire hatte allerdings das Instrumentin seinem Sinne umbauen lassen. Dies ein inFrankreich nicht unüblicher Vorgang, der dazugeführt hat, dass praktisch keine historische Or-gel unverändert überlebt hat. Als historisch kön-nen die Instrumente trotzdem bezeichnet wer-den, da sie Zeugen des Wirkens verschiedener

Duprés Orgelklasse im Schuljahr 1928/29. Man erkennt unter anderem Gaston Litaize (Zweiter von links in derersten Reihe), Olivier Messiaen (Dritter von links in der ersten Reihe) und Jean Langlais (Dritter von links in derzweiten Reihe).

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berühmter Meister sind. Vor allem das in diesereher frühen Cavaillé-Coll-Orgel klein ausgefalle-ne Schwellwerk erfuhr eine bedeutende Vergrös-serung. Langlais sollte dann in den Sechzigerjah-ren gleich verfahren. Davon wird noch die Redesein.

Im Jahre 1933 wurde Langlais zum Organis-ten der Kirche Notre-Dame-de-la Croix im Pa-riser Arbeiterquartier Ménilmontant ernannt.Kurz darauf erfuhr er vom tragischen Tod seinesersten Klavierlehrers Maurice Blazy, womit die

len Œuvres, von dem heute ungerechterweisenur die symphonische Dichtung «L’apprenti sor-cier» bekannt ist, galt als Meister der Instrumen-tationskunst. Und vor allen in diesem Fach woll-te sich Langlais vervollkommnen. Er war in gu-ter Gesellschaft: zu Dukas’ Klasse gehörten auchDuruflé, Alain und – wiederum Olivier Mes-siaen. Leider verstarb Dukas unerwarteterweisekurz nach Langlais’ Studienbeginn.

Die Kompositionsklasse von Paul Dukas im Jahr 1934. x Jean Langlais, xx Jehan Alain

Organistenstelle in St-Pierre de Montrouge imSüden von Paris frei wurde. Diesen Posten (einePfarrei von 64000 Seelen(!) und entsprechen-dem Arbeitsanfall), der während Jahrzehntenvon blinden Meistern gehalten wurde – vor Bla-zy war mit Albert Mahaut ein anderer Lehrer vonLanglais Titularorganist gewesen – erhielt nununser junger Virtuose. Er sollte ihn während elfJahren versehen, bevor er zum Organisten vonSte-Clothilde ernannt wurde.

Langlais sah allerdings seine Ausbildungszeitnoch nicht als abgeschlossen an. Er ging PaulDukas, damals Kompositionslehrer am Conser-vatoire, im Jahre 1934 um Unterricht an. Deräusserst selbstkritische Komponist eines schma-

Mit Messiaen, seinem Klassenkameraden beiDupré und Dukas, verband Langlais eine lebens-lange Freundschaft, was heute längst nicht allenbekannt ist. Messiaen spielte seinem blindenFreund, der nur wenige Partituren in Braille-Schrift besass, während der Unterrichtszeit beiDukas viele Meisterwerke der Orchesterliteraturgeduldig auf dem Klavier vor – Partie um Partie,von der Piccoloflöte bis zum Kontrabass – damiter sie sich einprägen konnte. Auch später tausch-ten die beiden Freunde Kompositionen aus.Messiaen schätze Langlais’ Musik sehr. VieleBriefstellen mit überaus lobenden Aussprüchenbezeugen dies.

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Reifezeit – Langlais als Interpret,Improvisator und LehrerNach Abschluss der Studien wurde Langlaisrasch zu einer Galionsfigur der französischenOrgelszene. Als Interpret hatte er glanzvolle Auf-

tritte: So konzertierte er mehrfach im ausver-kauften Palais Chaillot auf der mittlerweile um-gebauten ehemaligen Cavaillé-Coll-Orgel desPalais du Trocadéro, die durch Alexandre Guil-mants’ Wirken Berühmtheit erlangt hatte.

Ein weiterer Markstein war im Jahre 1936die Uraufführung des Zyklus’ «La Nativité duSeigneur» seines Freundes Messiaen, die er zu-sammen mit Jean-Jacques Grunenwald und Da-niel-Lesur bestritt. Langlais fiel dabei die Aus-führung der Teilstücke «Le verbe», «Les Enfantsde Dieu» und «Les Anges» zu. Noch Jahre spätererinnerte sich unser Meister an die harte Arbeitbeim Memorieren des Cornetsolos von Le verbemit seinen vielen kleinen Abweichungen.

Auch als Komponist begann Langlais einerastlose Tätigkeit. Von den Stücken dieser erstenPeriode wird im entsprechenden Abschnitt dieRede sein. Zu bemerken ist, dass er sich damalsdurchaus in verschiedenen Gattungen versuchteund auch exotischere Besetzungen berücksich-tigte. Dies, obwohl ihm bewusst war, dass es einOrganist immer schwer haben würde, sich aus-serhalb seiner Sphäre als Komponist durchzuset-zen. Daran hat sich auch heute kaum etwas geän-dert. In späteren Lebensjahren konzentrierte ersich immer mehr auf sein ureigenstes Instru-ment, nicht zuletzt auch in Folge der vielenKompositionsaufträge. Leider sollte ihm dieNachwelt Recht geben: Praktisch nur Orgelwer-

ke (und vielleicht noch einige Kammermusik-werke mit Orgel) und geistliche Chorwerke(schon diese aber in weit geringerem Mass) sindin der praktischen Musikpflege vertreten. Vielesausserhalb dieser Gebiete ist sogar Manuskriptgeblieben.

Als Lehrer blieb Langlais eine zentrale Figurdes Unterrichts am Blindeninstitut, wo er zuerstdie Jünglinge, später die Mädchen unterrichtete.Eine gewisse Ausweitung erfuhr die Unterrichts-tätigkeit durch die Berufung an das berühmtePrivatkonservatorium Schola cantorum im Jahre1961. Hier unterrichtete er bis zuletzt einekleine, aber feine Schülerschar, darunter vieleAusländer (namentlich Amerikaner). Eine offizi-elle staatliche Konservatoriumsstelle bekleideteer nie.

Einige Schüler von Langlais wurden berühm-te Musiker. Zu nennen ist hier zu allervorderstNaji Hakim, Nachfolger Olivier Messiaens ander Trinité, welcher vom Meister stets als seinmusikalischer Adoptivsohn bezeichnet wurde,aber auch Namen wie Michelle Leclerc, PierreCogen, Louis Robillard, Stefan Kagl und EwaldKooimann. Auch aus der Schweiz pilgerten im-mer wieder junge Musiker nach Paris, um denUnterricht des grossen Franzosen zu besuchen,wie etwa Wolfgang Sieber, Markus Kühnis oderSusanne Kern.

Ste-ClothildeZu universellem Ruhm gelangte Langlais wohlerst durch seine Ernennung zum Titularorga-nisten der knapp hundertjährigen neugotischenBasilique de Ste-Clothilde nach dem unerwarte-ten und nie wirklich geklärten Hinschied vonCharles Tournemire im Jahre 1939. Freilich warder Weg dorthin unerwartet dornenreich. Dies,obwohl ihn Tournemire kurz vor seinem Tod vorZeugen als Nachfolger bestimmt hatte.

Dieses Vorgehen, welches heute wohl unter«Ämterschacher» figurieren würde, war damalsin Frankreich gang und gäbe und wurde im All-gemeinen auch vom Klerus gedeckt, welcher for-mell das letzte Wort besass. Allerdings gab es be-merkenswerte Ausnahmen. Eine war eben anhöchst exponierter Stelle durchexerziert worden:So ernannte das Kapitel von Notre-Dame mitdem Grafen Leonce de St-Martin einen besserenAmateur zum Nachfolger von Louis Vierne undüberging somit sowohl den Wunsch des verstor-benen Meisters als auch die einhellige Meinungder Fachwelt. Alle waren sich einig gewesen, dass

Langlais 1943 an der Orgel des Palais de Chaillot

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der Posten nur Maurice Duruflé zugestandenwäre.

Im Falle von Langlais schien ebenfalls allesschief zu gehen. So schrieb das Pfarramt vonSte-Clothilde zwar die Stelle aus, ernannte abersogleich den schon recht betagten Joseph Er-mend-Bonnal zum neuen Organisten. Langlaiswurde mit Hinweis auf das Alter des wie Tour-nemire aus Südwestfrankreich stammendenMeisters des aparten, impressionistisch ange-hauchten Triptychons «paysages euskariens» undder schönen Orgelsinfonie «Media in vita» aufspäter vertröstet. Aber auch nach Ermend-Bon-nals frühem Tod im Jahre 1944 brauchte es einepersönliche Intervention des Kardinals von Pa-ris, damit der Pfarrer von Ste-Clothilde einlenk-te und die Ernennung besiegelte. Somit wurdeLanglais gegen Ende des Krieges der sechste Or-ganist an dieser prestigeträchtigen Stelle. Er sel-

ber betrachtete sich allerdings immer als der drit-te der Reihe und überging damit bewusst dieVorgänger Gabriel Pierné, Ermend-Bonnal unddessen Vertreter im Zweiten Weltkrieg, denSchweizer Bernard Schulé, die zugegebenermas-sen jeweils nur für kurze Zeit amteten.

Nun wurde Langlais zunehmend als Organistund Sachwalter der Musik wahrgenommen, diefür diese Orgel geschrieben worden war und un-ter dem Namen «Ecole de Ste-Clothilde» be-kannt wurde. Einladungen in alle Welt, nament-lich nach Amerika, waren die Folge. Im Gegen-satz zu seine Vorgängern, die kaum je verreistenund darum wenig andere Orgeltypen kennenlernten, schrieb er weit weniger spezifisch für«seine» Orgel. Langlais’ Musik erweist sich alsrecht unverwüstlich, was die klangliche Realisa-tion betrifft. Auch dazu später mehr.

Allerdings sollen hier einige Worte zu derberühmten Franck-Orgel verloren werden, die inmancherlei Hinsicht nicht als typisch für Ca-vaillé-Colls Schaffen angesehen werden kann.Zum einen besass das Instrument als Werk derfrühen bis mittleren Phase kein sehr gross dispo-niertes Schwellwerk. Dank seiner räumlichenAufstellung war, ähnlich wie in St-Sulpice, dieWirkung im Raum allerdings überdurchschnitt-lich. Zum anderen besass sie – und dies ist nuneine Besonderheit, die sie mit fast keiner anderenOrgel teilt – mit Hauptwerk und Positiv überzwei praktisch gleich starke klangliche Ebenen.

Aufnahme von Charles Tournemire aus dem Jahre1935 mit Widmung an Jean Langlais

Langlais 1945 am (alten) Spieltisch der Ste-Clothilde-Orgel

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Wie in der Grafik ersichtlich, ist dies eben-falls zum Teil auf die Aufstellung zurückzu-führen. Auch das Pedal ist relativ klein dispo-niert, was zu häufigem Koppeln zwingt. Aller-dings sind die drei langbechrigen Zungen äus-serst klangstark. Fast alle späteren Eingriffe ander Orgel zielten auch darauf hin, diese speziel-len Kräfteverhältnisse zu modifizieren. Insbeson-

dere genügte das kleine Schwellwerk ohne Ali-quoten und Mixturen den Ansprüchen der mitdem Neoklassizismus in Berührung gekomme-nen Generation nicht mehr.

So sah nun die Orgel aus, als Langlais seineStelle antrat. Die von Tournemire 1933 hinzuge-fügten Register sind unterstrichen.

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AmerikaFranzösische Organisten genossen seit langem inden Vereinigten Staaten einen hervorragendenRuf. Begründet wurde dieser von AlexandreGuilmant, der mehrere triumphale Konzert-tourneen in dem riesigen Land durchführenkonnte und auch eine grosse Zahl amerikani-scher Schüler unterrichtete. Einer von ihnengründete sogar ein privates Orgelkonservato-rium mit Namen Guilmant Organ School. LouisVierne, später Joseph Bonnet und Marcel Duprélösten ihn ab und verfestigten den Ruf der fran-zösischen Orgelkultur, der bis in die jüngste Ver-gangenheit wohl nirgends so gut war wie inÜbersee.

Langlais sollte nun ein würdiges Glied in die-ser beeindruckenden Reihe werden. Dazu war esdurch die Vermittlung von Marcel Dupré ge-kommen, der seinen Impresario auf den in derVollblüte seines Wirkens stehenden Bretonenaufmerksam gemacht hatte. Dieser bot nun Or-ganisation und Durchführung einer Tourneedurch Nordamerika für 1952 an. Langlais nahmmit einigem Bangen an und machte sich sogleichmit grösster Sorgfalt an die Vorbereitung vondrei verschiedenen Konzertprogrammen, in wel-chen Werke der jungen französischen Komponis-tengeneration den Löwenanteil der Stücke aus-machen sollten. Langlais nahm also nun im Al-ter von 45 Jahren eine zweite Karriere in Angriff,welche ihn dazu führte, rund 300 Rezitale in derZeitspanne von dreissig Jahren zu geben. Stetsüberwältigt war er vom Publikumsinteresse derAmerikaner, wenn ihn auch gewisse Auswüchsezum Schmunzeln brachten (etwa die sensations-lüsterne Art, mit welcher einige Zeitungen aufseine Behinderung hinwiesen). Nach dem Erfolgvon 1952 wurde allsogleich für 1954 eine zweiteReise ins Auge gefasst. Auf den Heimweg vondiesem Ausflug nahm Langlais bereits einen un-terschriebenen Vertrag für eine dritte Tournee imJahre 1956 mit nach Hause. Anlässlich dieserReise gab er nicht weniger als 32 Rezitale undMeisterkurse und dies in einer Zeitspanne vonnur zwei Monaten. Daneben fand er sogar nochZeit zu komponieren: Seine «Huit pièces moda-les» entstanden, auf verschiedene Etappen ver-teilt, bei dieser Gelegenheit. Die vierte Tournee(1959) führte ihn schliesslich in Gegenden, dieer bisher nicht aufgesucht hatte, und übertraf dievorhergehenden noch, was die Anzahl der Kon-zerte betrifft. Im Nachgang zu diesen Erlebnis-sen komponierte er bei seiner Heimkehr die

«American Suite», welche in Frankreich aber aufgeteiltes Echo stiess. Di<es verleitete den Kom-ponisten dazu, einzelne Sätze später umzuarbei-ten und seiner dritten Orgelsinfonie einzuverlei-ben. In Folge dieser engen Beziehungen zum an-gelsächsischen Raum tragen etliche Stücke vonLanglais englische Namen (Trial, Organ Book,Christmas Carol Hymn Settings, Folkloric Suiteu. a.). Ein anderes, für uns eher lästiges Resultat:Langlais rechnet häufig mit dem auf amerikani-schen Orgeln üblichen Umfang von C-c’’’’ bzw.C–g’, der ihm seit 1933 auch in Ste-Clothildezur Verfügung stand. Viele Stücke gerade dermittleren und späten Lebensphase gehen auchauf Kompositionsaufträge seiner immer zahlrei-cheren amerikanischen Schüler zurück. Undheute noch ist die Pflege seiner Musik nirgendsso rege wie in Amerika.

Der Ruhm in Übersee trug ihm auch dreiEhrendoktortitel ein: jenen der Universitäten

von Forth Worth (1974), Pittsburgh (1976) undder Katholischen Universität von Washington(1981).

Weitere Tätigkeiten, PrivatlebenLanglais heiratete im Jahre 1931 die Südwest-französin Jeanne, die er stets Jeannette nannte.Dieser Ehe entsprossen die Tochter Janine imJahre 1936 und der Sohn Claude im Jahre 1943.

Langlais wohnte stets im noblen und etwaskühlen siebten Pariser Bezirk, dem Stadtkreis derVerwaltungsbehörden und Botschaften, unweitder Place des Invalides und in unmittelbarerNähe des Blindeninstituts, wo schon damals die

Langlais begleitet seine «Messe solennelle» in der Sym-phony Hall von Boston am 27.März 1954.

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öffentlichen Einrichtungen Rücksicht auf dieseArt von Behinderung nahmen. Langlais hielt im-mer wieder Hunde, so den berühmten, stets stör-rischen Scherzo, der in der Erinnerung vielerSchüler haften blieb, besass aber nie einen ei-gentlichen Blindenführhund.

Trotzdem bewegte er sich mit erstaunlicherSicherheit inner- und ausserhalb seiner Wohnung.Da er nicht einmal hell und dunkel unterschei-den konnte, kam es nicht selten vor, dass er see-lenruhig in finsteren Räumen umherging undarbeitete, dies zum Schrecken von uneingeweih-ten Besuchern. Langlais, klein von Wuchs, besassbis ins hohe Alter eine helle und hohe Sprech-stimme. Leider war seine Singstimme weit ge-hend ungeniessbar, wie er selber zugab. Zu seineroriginellen Erscheinung, die schon sehr früh voneiner Glatze gekennzeichnet war, gehörten einedunkle Sonnebrille, eine Baskenmütze und einePfeife. Letzere musste allerdings nach seinemersten Herzinfarkt auf Anraten der Ärzte weg-bleiben.

Trotz seiner kleinen Grösse besass Langlais,wie seine berühmten Vorgänger, riesige Händemit langen, dünnen Fingern. Ehemalige Schülerberichten auch von der ungeheuren Ausstrah-lung, welche von seiner Person ausging.

Auf einige Ereignisse aus der Zeit der Reifesei besonders hingewiesen:

Die (erste) Gesamtaufnahme der Orgelwerke vonCésar FranckLanglais war als Vertreter einer der Hauptrich-tungen der Franck-Interpetation dazu prädesti-niert, eine Referenzaufnahme dieses kapitalenŒuvres zu realisieren. Dies geschah zum erstenMale im Jahre 1963 kurz nach der von ihm selbstverfügten Vergrösserung der Orgel. 1975 nahmer dieselben Stücke nochmals in Stereo auf.Leider sind beide Aufnahmen heute nur nochantiquarisch erhältlich. Bei Anhören dieserInterpretationen ist man hingerissen von derNatürlichkeit der Agogik und der insgesamt sou-veränen und unspektakulären Spielweise. Wohlkeinem modernen Interpreten ist es bisher ge-lungen, so frei zu spielen und doch nicht dertotalen Anarchie zu verfallen oder aus der jederäusseren Wirkung abholden Franckschen Musikzu viel zu machen.

Der Umbau der Orgel von Ste-ClothildeAuch Langlais erachtete eine Reihe von Umbau-ten an dem kostbaren Erbe für nötig, welches dieSte-Clothilde-Orgel darstellt. Dies wurde ihmspäter sehr verübelt. Freilich darf man nicht demFehler verfallen, sein Handeln von einer späterenWarte aus zu verurteilen. Er bewegte sich durch-aus in der Strömung seiner Zeit. So war er durch

Langlais mit seiner Familie

Langlais und sein getreuer Scherzo

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und durch von der alten Musik und den ebenentdeckten Orgeln der Barockzeit fasziniert. DieErgänzungen gingen darum auch alle in Rich-tung von mehr Helligkeit und Schärfe. Im Übri-gen war sein Vorgehen auch rechtlich ganz legal:Die Orgel von César Franck war, für uns völligunverständlich, in jener Zeit nicht als Denkmals-instrument klassifiziert. Am gravierendsten er-scheint aus heutiger Sicht natürlich die Elektrifi-zierung der Trakturen, durch welche sowohl diegesamte Cavaillé-Collsche Mechanik als auchder originale Spieltisch verloren gingen. Nun,auch hier ist Vorsicht angebracht: Im Jahre 1962fand sich einfach kein Orgelbauer, der in der La-ge gewesen wäre, eine mechanische Traktur die-ser Grösse zu revidieren und zu ergänzen. Die ur-sprüngliche, barkerunterstützte Mechanik war,nicht zuletzt wegen der Ergänzungen von 1933,sehr schwer spielbar geworden. Langlais hattedarüber hinaus in Amerika die damals hochmo-dernen elektrischen Trakturen mit ihren freienKombinationen kennen gelernt und war faszi-niert von den praktischen Möglichkeiten, wel-che sie dem Spieler boten.

Folgende Dispositionsänderungen liess Lan-glais anbringen: Entfernung der Suboktav-koppeln, Hinzufügung der Register Prestant 4’und Doublette 2’ im Pedal, von Principal italien4’ und Cornet 2’ im Schwellwerk. Die ursprüng-lich 46 Register grosse Orgel besass von1962 analso deren 60. Dass dies alles vom damaligen Or-gelbauer Beuchet-Debierre aus Nantes nicht un-bedingt auf sehr gelungene Weise realisiert wur-de, darf ebenfalls nicht allein dem Auftraggeberangelastet werden. Verurteilt man Langlais fürdieses Sakrileg, so müsste der Bannstrahl eineganze Generation von Organisten und Orgel-bauern treffen. Davon ausgenommen wären diegrössten Berühmtheiten nicht, allen voran Oli-vier Messiaen, der mit «seiner» Trinité-Orgelähnlich verfuhr. Langlais gab zu, sich nicht be-sonders für Orgelbau zu interessieren. Sinn-gemäss soll er einmal gesagt haben, für ihn gebees nur zwei Orgeltypen: gute und schlechte.

In Klammern muss noch angefügt werden,dass man in dieser Hinsicht offenbar auch anno2005 nichts dazugelernt hat. Nach dem Rücktrittvon Langlais’ Nachfolger Pierre Cogen erachteteder neue Titularorganist, Jacques Taddei, eine wei-tere Umgestaltung für nötig, welche das Instru-ment endgültig verunstaltet hat. Mit der Hinzu-fügung einer Bombarde 32’ im Pedal, von Hori-

zontalzungen und weiteren schrillen Registernund der Versetzung des Spieltisches auf die untereEmpore an den Platz der alten «Chororgel» ist dasurspünglich eher zurückhaltend intonierte Ins-trument im für französische Verhältnisse nichtübergrossen Kirchenraum definitv zu einemMonstrum geworden. Man reibt sich die Augen!

Das Zweite Vatikanum und der Verzicht auf dieKomposition von geistlicher Musik für die LiturgieEin markanter Einschnitt in die Geschichte dergeistlichen Musik katholischer Länder, nur ver-gleichbar mit dem Motu proprio von 1903 (Trale sollecitudini), waren die Beschlüsse des Zwei-ten Vatikanums in Sachen Musik. An sich hattealles günstig ausgesehen. Die beabsichtigte grös-sere Nähe zum Volk hätte nicht per se zu ungüns-tigeren Umständen führen müssen. Die Praxiswies aber leider in eine andere Richtung. Am fol-genreichsten war die Absetzung des Lateins alsSprache der Messe und das damit einher gehen-de Verschwinden des gregorianischen Chorals.Für Langlais, der wie die meisten französischenOrgelmeister ganz in seinem Bann stand, kamdies einem Todesstoss gleich. In der Folge sah ersich ausser Stande, weiter geistliche Chormusikzu schreiben. Bei der Orgelmusik war die Sacheinsofern etwas anders, als vieles schon immerausserhalb der Liturgie gestanden war. In derFolge liess er aber keine Gelegenheit aus, denNiedergang der einst so stolzen und reichen Kir-chenmusik seines Landes mit scharfen Wortenzu geisseln, dies vor allem im Vergleich zurblühenden angelsächsischen Tradition, die er im-mer besser kennen lernte. Aus heutiger Sicht

Langlais 1965 am neuen Spieltisch der Ste-Clothilde-Orgel

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muss aber angefügt werden, dass Langlais die vielbeschworene «Gnade der frühen Geburt» beses-sen hat. Was hätte er zu den heutigen Zuständenin seiner Heimat gesagt?

AltersjahreIm Jahre 1979 verstarb seine geliebte Frau Jean-ne. Für einen blinden Menschen ist der Verlustder Lebenspartnerin vielleicht noch gravierenderals für einen sehenden. Dies traf auf den sensib-len Bretonen in hohem Mass zu, umso mehr,als die beiden eine wahrhaft ideale Ehe geführthatten. Langlais war zu Tode betrübt. In diesemTiefpunkt hatte er das Glück, von einer seinerbegabtesten Schülerinnen aufgefangen zu wer-den: Marie-Louise Jaquet, Tochter eines Schwei-

zers aus La-Chaux-de-Fonds, die nicht nur einewunderbare Partnerin und Mitarbeiterin wurde,sondern auch nach dem Ableben des um fast 40Jahre älterer Ehegatten rastlos in seinem Geden-ken tätig war und ist. Auch seine zweite Gemah-lin schenkte ihm eine Tochter, Caroline (1980).

Insbesondere übernahm sie auch die wich-tige Tätigkeit der Niederschrift von Langlais’Kompositionen. Dem blinden Meister war es javerwehrt, seine Gedanken auf übliche Art undWeise zu Papier zu bringen. Gewöhnlich notier-te Langlais seine Musik selber in Blindenschrift,indem er mit einer Hand spielte und mit deranderen schrieb.

War diese erste Niederschrift beendet, wurdedas Ganze einer kundigen Person diktiert, infrühen Jahren meist seiner Frau Jeanne. Die Ma-nuskripte jener Epoche, die wir von Langlais’Musik besitzen, tragen also fast immer ihreHandschrift. Hier legte Langlais, sonst die Sanft-mütigkeit selber, eine bemerkenswerte Unge-duld an den Tag und erwartete von den Schrei-

bern ein sehr rasches Fortschreiten. War einStück fertig in traditioneller Notenschrift aufge-schrieben, wurde es dem Komponisten vorge-spielt und allfällige Korrekturen angebracht. Esversteht sich von selbst, dass dieses Verfahrenrecht fehlerträchtig sein kann. Leider ist der No-tentext von Langlais’ Musik tatsächlich reichlichmit Fehlern, Inkonsequenzen und Ungeschick-lichkeiten gespickt. Vom heutigen Interpreten istdarum recht viel Abstraktionsvermögen gefor-dert.

Im Jahre 1973 erlitt Langlais einen erstenHerzinfarkt, von dem er sich aber recht gut er-holte. Dieses Erlebnis verleitete ihn zur Kompo-sition eines seiner persönlichsten Orgelwerke,der «Cinq méditations sur l’Apocalypse».

Ein weiterer bedeutender Einschnitt im Le-ben von Langlais war ein Schlaganfall im Jahre1984, den er knapp überlebte, der aber Läh-mungen und einen fast vollständigen Verlust derSprachfähigkeit zur Folge hatte. Bildeten sichErstere rasch spontan zurück, wog Zweiteres we-sentlich schwerer. Langlais war es nun nicht ein-mal mehr möglich, sich sprachlich einigermas-sen verständlich mitzuteilen, nachdem er alsBlinder ja keine Möglichkeit hatte, seine Aus-sagen in normaler Schrift zu notieren. In uner-

Langlais spielt zusammen mit Marie-Louise Jaquet sei-ne «Double fantaisie pour deux organistes».

Langlais übt auf der Bratsche.

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müdlichem Training und mit Hilfe von ausge-wiesenen Fachleuten erlangte er einen Teil sei-ner Sprachfähigkeit zurück. Eine bedeutendeStörung blieb aber bis ans Lebensende erhalten.Das Bemerkenswerte am Ganzen war nun aber,das Langlais’ musikalische Fähigkeiten nahezuunangetastet waren. Dies war umso erstaunli-cher, als er ja alles auswendig spielen musste:Aphasie ohne Amusie (dies auch der Titel einerFachpublikation zum «Fall» Langlais), so lauteteder medizinisch schon fast sensationelle Befund.Mit einer bemerkenswerten Ausnahme: seine ei-gene Musik, selbst Stücke wie das hundertfachgespielte «Te Deum», war wie aus dem Gedächt-nis ausgelöscht. Das Spiel der gewohnten Orgel-literatur, wie auch die improvisatorischen undkompositorischen Fähigkeiten, waren aber inkeiner Art und Weise beeinträchtigt. So zeichne-te er eine bemerkenswerte Improvisation für dasfranzösische Radio auf – und komponierte. Letz-teres nicht allzu knapp. Ja, er wurde von seinerimmer zahlreicheren Anhängerschaft mit Aufträ-gen geradezu überhäuft. Meist ging es um ganzspezifische Wünsche. So kommt es, dass in die-sen Jahren fast 28% des Orgelwerkes entstand.

Am 8.Mai 1991 verstarb Langlais nach ei-nem weiteren Herzanfall.

3 � 4 – ein KaleidoskopLanglais war volle sechzig Jahre lang komposito-risch tätig. Während dieser grossen Zeitspannegingen in der Musikgeschichte des 20. Jahrhun-derts ungeheure Veränderungen vor sich. Lan-glais blieb sein Leben lang überaus anpassungs-fähig und sog verschiedenartigste Einflüsse gierigauf.Drei und vier.

Drei Zeitabschnitte lassen sich in der Konti-nuität seines Schafens ausmachen. In Frankreichist es üblich geworden, von den trois manières zusprechen. Vier Sphären beeinflussten von An-fang an Langlais’ Komponieren: das symphoni-sche Erbe, der gregorianische Choral, die Volksmu-sik seiner bretonischen Heimat, die alte Musik.

In unterschiedlicher Gewichtung schimmer-ten nun die Einflüsse durch alle drei Zeitab-schnitte seines künstlerischen Wirkens hindurchund gehen Wechselwirkungen ein. So gleichtsein Werk einem riesigen Kaleidoskop (beizeich-nenderweise auch der Titel einer seiner Stücke-sammlungen!). Unter dem Titel «Im Dickichtder Stücke» folgt im übernächsten Heft ein Bei-trag, der sich mit praktischen Aspekten und derInterpretation befasst. Besonderes Augenmerkwird dabei auf die leichten und liturgisch ver-wendbaren Stücke gelegt, von denen es hier wohlmehr zu finden gibt als in jedem anderen Œuv-re des 20. Jahrhunderts.