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"Gegen das Böse ist Kultur nicht genug", sagt Elie Wiesel am 9. Mai 1995 im Foyer der Landeskreditbank zu den fast 1.000 Zuhörern und Zuhörerinnen. Es gibt in der Geschichte und im Leben eines einzelnen Augenblicke, in denen er oder sie sich selbst für das Gute oder das Böse entscheiden muß. "Ich hoffe, daß Sie die richtige Ent- scheidung treffen", fährt Elie Wiesel fort und fügt schon fast beschwörend an die Adresse der vielen Jugendli- chen im Saal gerichtet hinzu: "Rechtfertigen Sie das Vertrauen, das wir in Ihre Herzen und Hände setzen!" Elie Wiesel Abendveranstaltung mit dem Friedensnobelpreis- träger 1986 9. Mai Landeskreditbank Baden-Württemberg, Stuttgart 978 Teilnehmerinnen und Teilnehmer Leitung: Dagmar Mensink Dr. Reinhold Boschki, Tübingen Dr. Gebhard Fürst Grußworte: Christian Brand, Stellv. Vorstandsvorsitzender der L-Bank, Stuttgart Akademiedirektor Dr. Gebhard Fürst Weihbischof Bernhard Rieger, Rottenburg Minister Klaus von Trotha, Stuttgart Musik: Arnan Wiesel, Kelkheim (Flügel) Übersetzung: Werner Töpperwien, Dossenheim 42 Der Schriftsteller, Literaturprofessor und Friedensnobel- preisträger aus Boston spricht leise und eindringlich, ist klein von Gestalt, sein Haar zerzaust. Seine Worte sind sorgsam gewählt, präzise, ohne dick aufgestrichenes Pathos und zutiefst menschlich. Sein Besuch, 50 Jahre und einen Tag nach Kriegsende, im Rahmen des interna- tionalen Symposiums zu seinem Werk, ist keineswegs selbstverständlich. Nach Deutschland zu kommen, fällt dem 66jährigen noch immer schwer. 1928 in dem kleinen Ort Sighet in Siebenbürgen im ungarisch-rumänischen Grenzgebiet als Sohn jüdischer Eltern geboren, wächst er zunächst in der Tradition der frommen orthodoxen Lehre auf. Er studiert Thora und Talmud und ist begierig, in der Kabbala unterrichtet zu werden. Schon früh kommt er in Kontakt mit einer der bedeutendsten Strömungen des osteuropäischen Ju- dentums, dem Chassidismus. Seine Welt zerbrichtjäh, als der 15jährige im Sommer 1944 zusammen mit seiner Familie, Nachbarn und Freunden direkt in das Vernich- tungslager Auschwitz deportiert wird. Seine Mutter und seine Schwester sieht er an der Rampe zum letzten Mal. Sein Vater stirbt 1945 am Ende des langen Todesmar- sches nach Buchenwald. Der Sohn kann überleben, geht nach Frankreich, studiert, wird Journalist. Seit 1956 lebt er in New York und lehrtJüdische Studien an der Univer- sität Boston. Zehn Jahre schweigt er über seine Erlebnisse im Lager. Erst nach dieser Zeit der Distanz kann er seine grausamen Erfahrungen niederschreiben. Zunächst erscheinen sei- ne Erinnerungen in jiddischer Sprache unter dem Titel "Und die Welt hat geschwiegen". In gekürzter Fassung wird das Buch mit dem Titel "Nacht" dann zu einem Welterfolg. Weitere Werke folgen. Er veröffentlicht Ro- mane, talmudische und chassidische Geschichten, Dra- men und Essays. Elie Wiesel schreibt, weil er will, daß die Erinnerung wach bleibt: die Erinnerung an das Leiden von Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationsla- gern während des Zweiten Weltkrieges ermordet wur- den, und "vielleicht, um nicht verrückt zu werden oder im Gegenteil: um die Tiefe des Wahnsinns zu ergründen". Doch Schreiben ist nur eine Seite: Die andere heißt Engagement: für Menschenrechte überall dort, wo die fundamentalen Grundsätze einer humanen Gesellschaft mit Füßen getreten werden. So forderte er in Südafrika die Aufhebung der Apartheid ein, er protestierte gegen

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"Gegen das Böse ist Kultur nicht genug", sagt Elie Wieselam 9. Mai 1995 im Foyer der Landeskreditbank zu denfast 1.000 Zuhörern und Zuhörerinnen. Es gibt in derGeschichte und im Leben eines einzelnen Augenblicke, indenen er oder sie sich selbst für das Gute oder das Böseentscheiden muß. "Ich hoffe, daß Sie die richtige Ent­scheidung treffen", fährt Elie Wiesel fort und fügt schonfast beschwörend an die Adresse der vielen Jugendli­chen im Saal gerichtet hinzu: "Rechtfertigen Sie dasVertrauen, das wir in Ihre Herzen und Hände setzen!"

Elie WieselAbendveranstaltung mit dem Friedensnobelpreis­träger 1986

9. MaiLandeskreditbank Baden-Württemberg, Stuttgart978 Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Leitung:Dagmar MensinkDr. Reinhold Boschki, TübingenDr. Gebhard Fürst

Grußworte:Christian Brand, Stellv. Vorstandsvorsitzender derL-Bank, StuttgartAkademiedirektor Dr. Gebhard FürstWeihbischof Bernhard Rieger, RottenburgMinister Klaus von Trotha, Stuttgart

Musik:Arnan Wiesel, Kelkheim (Flügel)

Übersetzung:Werner Töpperwien, Dossenheim

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Der Schriftsteller, Literaturprofessor und Friedensnobel­preisträger aus Boston spricht leise und eindringlich, istklein von Gestalt, sein Haar zerzaust. Seine Worte sindsorgsam gewählt, präzise, ohne dick aufgestrichenesPathos und zutiefst menschlich. Sein Besuch, 50 Jahreund einen Tag nach Kriegsende, im Rahmen des interna­tionalen Symposiums zu seinem Werk, ist keineswegsselbstverständlich. Nach Deutschland zu kommen, fälltdem 66jährigen noch immer schwer.1928 in dem kleinen Ort Sighet in Siebenbürgen imungarisch-rumänischen Grenzgebiet als Sohn jüdischerEltern geboren, wächst er zunächst in der Tradition derfrommen orthodoxen Lehre auf. Er studiert Thora undTalmud und ist begierig, in der Kabbala unterrichtet zuwerden. Schon früh kommt er in Kontakt mit einer derbedeutendsten Strömungen des osteuropäischen Ju­dentums, dem Chassidismus. Seine Welt zerbrichtjäh, alsder 15jährige im Sommer 1944 zusammen mit seinerFamilie, Nachbarn und Freunden direkt in das Vernich­tungslager Auschwitz deportiert wird. Seine Mutter undseine Schwester sieht er an der Rampe zum letzten Mal.Sein Vater stirbt 1945 am Ende des langen Todesmar­sches nach Buchenwald. Der Sohn kann überleben, gehtnach Frankreich, studiert, wird Journalist. Seit 1956 lebter in New York und lehrtJüdische Studien an der Univer­sität Boston.Zehn Jahre schweigt er über seine Erlebnisse im Lager.Erst nach dieser Zeit der Distanz kann er seine grausamenErfahrungen niederschreiben. Zunächst erscheinen sei­ne Erinnerungen in jiddischer Sprache unter dem Titel"Und die Welt hat geschwiegen". In gekürzter Fassungwird das Buch mit dem Titel "Nacht" dann zu einemWelterfolg. Weitere Werke folgen. Er veröffentlicht Ro­mane, talmudische und chassidische Geschichten, Dra­men und Essays. Elie Wiesel schreibt, weil er will, daß dieErinnerung wach bleibt: die Erinnerung an das Leidenvon Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationsla­gern während des Zweiten Weltkrieges ermordet wur­den, und "vielleicht, um nicht verrückt zu werden oderim Gegenteil: um die Tiefe des Wahnsinns zu ergründen".Doch Schreiben ist nur eine Seite: Die andere heißtEngagement: für Menschenrechte überall dort, wo diefundamentalen Grundsätze einer humanen Gesellschaftmit Füßen getreten werden. So forderte er in Südafrikadie Aufhebung der Apartheid ein, er protestierte gegen

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die Zustände in kambodschanischen Flüchtlingslagern,und er flog in den letzten Jahren häufig in den Krisen­herd Jugoslawien, um dort gegen die sogenannten eth­nischen Säuberungen zu protestieren. 1986 wurde er alsunermüdlicher Mahner gegen Gewalt und Unterdrük­kung mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. DasNobelpreiskomitee würdigte ihn in der Laudatio als einen"der wichtigsten geistigen Wegweiser unserer Zeit". Er­innerung an Auschwitz ist also für den Überlebendenwesentlich eine praktische Erinnerung, eine Erinnerungmit Folgen, insofern sie den Blick schärft für Ungerech­tigkeit und Menschenrechtsverletzungen auch in derGegenwart. Die Erinnerung, für die Wiesel einsteht, läßtsich deshalb nicht einfach "auf den Begriff bringen".Denn sie läßt sich nicht stilistelien, weder praktisch nochtheoretisch. Das Wissen um das Geschehene verschärftauch auf der theoretischen Ebene die Fragen: Wo warder Mensch in Auschwitz, und wo war Gott in Auschwitz?Diese Fragen standen auch im Mittelpunkt des interna­tionalen Symposiums zum Werk des Friedensnobelpreis­trägers, das vom 7. bis 10. Mai in der Akademie stattfand.

Wie illustriert man das Programmheft zu einem Elie-Wiesel­Symposium, das sich mit der Vernichtung des europäischenJudentums auseinandersetzt? Diese Entscheidung ist der Gra­fikerin Elke Karoline Löffler nicht leicht gefallen. Die Studentinder Staatlichen Akademie der Bildenden Künste und freie Grafi­kerin in Weil im Schönbuch suchte dabei nach Bildern, in denenneben der Trauer und den Zweifeln der Überlebenden Hoffnun­gen des Lebens aufscheinen: blühende Ölzweige, Grabsteine,die vom unzerstörbaren Glauben an ein besseres Leben künden,Leitern, die in den Himmel ragen, und ein Himmel, der mitDavidssternen übersät ist. Läßt sich das Grauen darstellen? EineFigur auf der Titelseite kennzeichnet die Art und Weise, in dervielleicht Annäherung möglich ist: behutsam, mit tastendemGang wie aufZehenspitzen. Verstörend die Tatsache, daß da ausder Tiefe Hände hilfesuchend ins Bild greifen: Die Opfer, soscheint es, wollen, daß wir sie sehen, uns ihrer erinnern.

Das Eintauchen in die zunächst fremde Weltjüdischer Symbolewurde für die Künstlerin zu einer faszinierenden Herausforde­rung an Kreativität und handwerkliches Können. So spiegeln dieIllustrationen zum Programmheft, das Uwe Reinhardt vomBüro Reinhardt& Linse umgesetzthat, schließlich einen eigenenZugang zum Thema der Tagung.

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Elie-Wiesel-symposiumsein Werk als Herausforderung für Religion undGesellschaft heute

7,-10, Maistuttgart-Hohenheim209 Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Tagungsleitung:Dagmar MensinkDr, Reinhold Boschki, TübingenKlaus Barwig

ReferentinnenlReferenten:Prof. Dr, Irving Abrahamson, ChicagoAngela Albert, stuttgartProf. Dr. Alan L, Berger, New YorkLandesrabbiner Joel Berger, stuttgartRuth Bergida, BostonProf, Dr, Micha Brumlik, Heidelberg/Frankfurt a, M,Prof. Dr, Alice L, Eckardt, Coopersburg PAProf, Dr. A, Roy Eckardt, coopersburg PADr, Anat Feinberg, HeidelbergProf. Dr, Albert H, Friedlander, LondonRudolf Guckeisberger, stuttgartMartha Liptzin Hauptman, BostonJoseph A, Kanofsky, BostonDr, Volkhard Knigge, WeimarPriv,-Doz, Dr, Karl-Josef KuscheL TübingenProf. Dr, Lawrence L. Langer, BostonPriv,-Doz, Dr, Verena Lenzen, BonnHaim Zvi Lider, SaarbrückenProf. DDr, Johann Baptist Metz, WienDr, Christoph Münz, DriedorfProf. Dr, Nehemia polen, BostonProf, Dr, Rolf Rendtorff, HeidelbergProf. Dr. Alan Rosen, Ramat Gan/lsraelProf. Dr. John K, Roth, ClaremontiUSADr, Janet Schenk McCord, BostonWerner Schneider, Frankfurt a, M,Prof. Dr, Dorothee Sölle, HamburgJonathan Steffen, HeidelbergDr, Rudolf Walter, Freiburg i. Br,

Nicht um eine Rückschau in die Vergangenheit ging es,auch nicht nur um die wissenschaftliche Analyse einesder gewiß herausragendsten literarischen Zeugnisse desHolocaust, sondern um die Frage, inwiefern Werke wiedie Elie Wiesels dazu beitragen können, die Erinnerungan diese Zeit so lebendig zu halten, daß daraus die Kraftfür die Gestaltung einer menschengerechten Gegenwartund Zukunft erwächst. An moralischen Appellen in dieseRichtung fehlt es ja nicht. Das haben die Feierlichkeitenzum 8, Mai 1995 hinlänglich gezeigt, und künftig werdenwir am 27, Januar, dem neuen Gedenktag des Holocaust,sicher wieder mahnende Worte hören, Der kategorischeImperativ, wie ihn Theodor W, Adorno formuliert hat,bleibt gewiß ohne Einschränkung gültig: daß alles Er­denkliche zu tun sei, um zu verhindern, daß sichje wiederetwas Ähnliches wie in der Zeit des Nationalsozialismusereignet. Doch er bleibt ein Imperativ, das heißt, demAppell muß die Tat folgen, Und hier setzte die Aufgabedes Symposiums an: Denn wenn die Zeit der Zeugenvorbei ist, das direkte Gespräch in den Familien nichtmehr möglich ist, welchen Beitrag kann dann Literatur ­exemplarisch gefragt die Literatur Elie Wiesels - für einein Wiesels Sinne "praktische" Erinnerung leisten?Um eine Antwort zu finden, war zunächst das WerkWiesels im Kontext anderer Holocaust-Zeugnisse zu be­trachten, Was versteht man überhaupt unter dem Be­griff Holocaust-Literatur? Die LiteraturwissenschaftlerinAnat Feinberg-Jütte faßt darunter jene Werke, die sichmit der Verfolgung und Vernichtung der europäischenJuden im Zeitraum von 1933 bis 1945 befassen, Es han­delt sich dabei also sowohl um Bücher, die damals, alsowährend der Judenverfolgung, verfaßt wurden, als auchum solche, die danach zu papier gebracht wurden, Auto­ren und Autorinnen sind Juden wie Nichtjuden, DieBeschäftigung mit diesem Genre der Literatur ist relativjung, genauerhin geschieht sie erst seit etwa 20 Jahren,Wesentlich angestoßen wurde die Forschung von La­wrence L. Langer, der ebenfalls als Referent zugegenwar, Es besteht dabei kein Zweifel, so Anat Feinberg, "daßElie Wiesels Werk die literaturwissenschaftliche Erfor­schung des neuentdeckten Kontinents menschlicherErfahrung stimuliert und teilweise geprägt hat": "Als deramerikanische Literaturwissenschaftler Alvin Rosenfeldseine große studie ,A Double Dying: Reflexions on Holo­caust Literature' betitelte, bezog er sich sogar explizit auf

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Wiesels Diktum, wonach in Auschwitz sowohl Menschenals auch die Idee des Menschen umgebracht wurden."Im Gegensatz zur historischen Dokumentierung geht esder Holocaust-Literatur nicht in erster Linie darum, diechronologischen Ereignisse nachzuzeichnen, sondernderen subjektive Seite zu verstehen. Aber kann man inWorte fassen, was die menschliche Phantasie sich nurschwer vorstellen kann? Kann man eine Hölle in sprach­lichen Bildern malen? Diese Schlüsselfrage beschäftigtnicht erst spätere Autoren, sondern bereits diejenigen,die die Zeit damals im Wortfesthielten. In dieser Frage, soAnat Feinberg, verdichtet sich aber zugleich der unver­meidliche Zusammenhang von Literatur und Ethik diesesForschungsfeldes. Das gilt nicht nur für die Seite derSchreibenden, sondern auch für die der Lesenden. DieRezeption erweist sich oft als der schwierige Weg zwi­schen Scilla und Charybdis. Oft werden Texte von Über­lebenden und Opfern als "heilige Schriften" betrachtet,die der Kritik entzogen sind, doch liegt darin die Gefahr,durch Kritik-Immunisierung zur Mythologisierung desHolocausts beizutragen. Die gegenteilige Haltung je­doch, in jeder literarischen Form des Zeugnisses eineVerfälschung, eine unangemessene Ästhetisierung desLeidens zu sehen, kann ungewollt einen Beitrag zurAmnesie, also zum Vergessenwerden der nationalsozia­listischen Greuelleisten. "Das Übermaß an realem Leidenduldet kein Vergessen", konstatierte TheodorW. Adornoaber bereits in seinen "Noten zur Literatur" und korri­gierte damit sein Verdikt, nach Auschwitz ein Gedicht zuschreiben, sei barbarisch. Ruth Klüger berichtet in ihrerAutobiographie schlicht: "Ich hab' den Verstand nichtverloren, ich hab' Reime gemacht."Menschen, die die Konzentrationslager überlebten, ha­ben sehr unterschiedlich reagiert, nachdem sie "in dasnormale Leben" zurückgekehrt waren. Fast alle brauch­ten einen enormen zeitlichen Abstand, um überhauptüber das Erlebte sprechen zu können. Manche reagier­ten mit Haß und Feindseligkeit, andere suchten Entschä­digung für das, was ihnen an Entbehrung zugemutetwurde. Oder sie fanden keinen Weg in ein zweites Lebenund suchten, von der Scham überwältigt, überlebt zuhaben, den Freitod. Elie Wiesel gehört zu denen, die ihreAufgabe darin fanden, Zeugnis abzulegen von dem un­vorstellbaren Maß an erlebter Dehumanisierung. "Aber",so die Journalistin Barbara Traub, "er hat noch mehr

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geleistet, indem er Beispiel gibt, daß es möglich ist, alsÜberlebender den Haß auf die Täter zu überwinden undan eine friedliche Entwicklung nicht nur zu glauben,sondern daran mitzuwirken."Der Prozeß des Erinnerns, betont Anat Feinberg, ist einkognitiver Akt. Historische Erkenntnisse müssen darumauch als eine Form der Erinnerung gelten. Deshalb wähl­te etwa Saul Friedlanderfür seine Memoiren, die 1978auffranzösisch erschienen, den Satz Gustav Meyrinks alsMotto: "Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommtauch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dassel­be." Die Felder der Erinnerung beschreibt Shlomo Bres­nitz in seinen Ende 1995 in deutscher Übersetzungerschienenen Memoiren als "reiche archäologische Stät­te, die SchichtfürSchicht aus den Artefakten verschiede­ner Epochen entstanden ist, bis sie eines Tages von einergewaltigen Eruption getroffen wurde, die alle Schichtendurcheinanderwirbelte". Und in kritischer Reflexion aufsein eigenes Schaffen fährt er fort: "Da die Eruption esjedoch selber ist, die den Stoff für meine Geschichtelieferte, überlebte nur ein Teil der Wahrheit. Allein auf­grund ihrer Aufrichtigkeit werden persönliche Erinne­rungen noch nicht zu Geschichte, und auch meine sindallenfalls eine Geschichte."Die literarische Form kann dabei aber Halt geben. "Ichhabe die Form des Romans gewählt, weil ich Distanz zumeinen Erfahrungen brauchte", erklärt Louis Begley ein­mal in einem Interview (Stern 3/1995, 122f.l. Die Komple­xität der Holocaust-Literatur, so schließt Anat Feinbergihren einleitenden Vortrag, läßt sich begreifen als Resul­tat der Gemengelage von literarischen und außerliterari­schen Kriterien. "Es ist eine Landschaft der Stille, ja derTotenstille, durch die ein Aufschrei hallt. Als Nachkom­men der Opfer und Täter ist es uns Pflicht und Vorrecht,dieser Stille zu lauschen, sie nicht totzuschweigen. Denndie Auseinandersetzung mit der Stille ist eine Form derErinnerung."Schweigen oder Sprechen - diese Frage zieht sich wie einroter Faden durch das Werk des Schriftstellers Elie Wie­sel. In ihrem Vortrag "Die Sprache des Schweigens" weistRuth Bergida, eine Schülerin Wiesels an der Boston Uni­versity, jedoch auf, daß es falsch wäre, daraus zu schlie­ßen, daß alle Analysen sich auf dieselbe Art von Schwei­gen beziehen. Im Gegenteil: Es gibt ein Schweigen, wei­ches erstickt, und ein Schweigen, das reinigt. Ein Schwei-

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gen über Dinge, die kein Wort in Worte fassen kann, undein Schweigen, das sich am besten in den Räumenzwischen wenigen Worten verortet. Das letztere, so RuthBergida, ist ein mystisches Schweigen, die Sprache derSeele, und um die ist es Elie Wiesel zu tun. Deshalbbegreift er das Schweigen als "den Raum zwischen Wor­ten", den er versucht, in seinen Werken möglichst großwerden zu lassen. Bis zu einer endgültigen Veröffentli­chung ringt er mitdem motjust, mit dem richtigen Wort;er streicht und konzentriert. Die französische Sprache istihm dabei aufgrund ihrer Klarheit und Direktheit einwertvolles Medium. Als ein Beispiel für diese Konstellati­on des Schweigens zwischen genau gewählten Wortenführt Ruth Bergida den letzten Abschnitt von "Morgen­grauen" an: "Bald blieb von der Nacht nur noch ein Stück,ein ganz kleines Stück, übrig. Es schwebte auf der ande­ren Seite des Fensters. Ich betrachtete dieses StückNacht, und die Angst packte mich an der Kehle. Das ausSchattenfetzen bestehende schwarze Stück hatte einGesicht. Ich sah es an und begriff meine Angst. Es warmein Gesicht." Ruth Bergida: "Jedes zusätzliche Wort,jede Klassifizierung oder Begründung würde das delika­te, visuelle Gewebe dieser einfachen Worte zerstören."Aufgrund seines scheinbar nüchternen Stils gilt Elie Wie­sels Schreiben als journalistisch. In der Tat betont er anvielen Stellen den Einfluß des journalistischen Arbeitensauf sein literarisches Schaffen, doch ist der Stil eineFunktion der Aussageabsicht und nicht umgekehrt.Charakteristisch ist für Elie Wiesel ferner die Strukturie­rung seiner Bücher. Anfang und Ende seiner Geschichtenstellen ein Gerüst dar, in dem sich die ganze Erzählungspiegelt und entwickelt. Als ein Beispiel mag "Der Schwurvon Kolvillag" gelten. Der Roman beginnt mit einem altenMann, der schweigend trauert, und seinem Schwur,seine Geschichte niemals zu erzählen. Und das Buchendet damit, daß dieser Mann die Geschichte einemjungen Mann erzählt, der dann seine Trauer weiterführt.Der Kreis wird geschlossen. Dennoch ist es mehr als einKreis, denn das Bild des Kreises, so Ruth Bergida, sugge­riert, daß wir einen Weg gegangen sind, der uns anunsere Ausgangsstelle zurückführt, und daß wir diesenWeg immer wieder gehen könnten. Doch die Geschich­ten Elie Wiesels verändern uns, wenn wir sie durchlebtund durchlesen haben. Die Struktur seiner Büchergleicht deshalb mehr einer Spirale, auf der wir so nahe an

unseren Ausgangspunkt kommen, daß wir ihn sehenund spüren können, er aber doch unerreichbar bleibt, dawir selbst nie wieder so sein werden, wie wir am Anfangwaren. Seine Werke schließen nicht ab, bilden keinenendgültigen Schluß. Dies verbindet Elie Wiesel mit FranzKafka, dem großen Meister der unvollendeten Geschich­ten, der so beklemmend wie kein anderer die Abwesen­heit von Freiheit vor Augen führt, den unbehaustenMenschen, der ausgeliefert ist an ein System, das er nichtdurchschaut und das einen Zweck hat, den er nichtbegreift. Die Verlorenheit des einzelnen und seine Ein­samkeit in einer ordnungslos gewordenen Welt, diegroßen Themen Franz Kafkas, wurden auf dem Hinter­grund seiner Erfahrungen auch für Wiesel zum Leitmo­tiv. Deshalb gibt es in seinem literarischen Werk nacheigener Aussage auch eine Ära vor Kafka und eine Äranach Kafka.Neben der Frage nach dem Menschen ist es die Fragenach Gott angesichts von Auschwitz, die den Kern vonWiesels Schreiben ausmacht. Beide Fragen gehören un­trennbar zusammen. Der Autor sieht sich dabei in einerReihe mit anderen jüdischen Glaubens-Rebellen, die an­gesichts des Leidens in der Welt Gott anklagten. Aber inAuschwitz erfuhr die jüdische Tradition der Gottesklageeine ungeheure Radikalisierung. Um dies zu verdeutli­chen, erzählt Elie Wiesel stets ein Erlebnis im Konzentra­tionslager, bei dem er Zeuge eines Tribunals gegen Gottwurde, das drei Rabbiner einberiefen. Sie beschlossen,Gott anzuklagen mit der ganzen Schärfe ihres diskursi­ven Verstandes. "Was sie taten, war vollständig in Über­einstimmung mit dem jüdischen Gesetz und der jüdi­schen Tradition ... Schließlich verkündete der Vorsitzen­de das Urteil: Schuldig. Und dann herrschte Schweigen.Ein Schweigen, das mich an das Schweigen am Sinaierinnerte. Ein endloses, ewiges Schweigen. Aber schließ­lich sagte mein Lehrer, der Rabbi: Und nun, Freunde, laßtuns gehen und beten. Und wir beteten zu Gott, dergerade, wenige Minuten vorher, für schuldig erklärtworden war." Es gibt angesichts des Unrechts auf derWelt keinen heiligen Glauben an einen unverbindlichlieben Gott, nicht nach Auschwitz und eigentlich auchnicht davor. Ebenso wenig gibt es eine Rückkehr in dieUnschuld der Kindheit. Was aber bleibt, ist die Sehnsuchtnach echter Menschlichkeit, nach Mitmenschlichkeit undgegenseitiger Achtung. Diese Sehnsucht findet im poli-

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tischen Engagement Wiesels ihren Ausdruck. Er wirdnicht müde zu fordern, daß die Suche nach Humanitätund nach der Spur Gottes im Alltag konkret werden mußin der Sensibilität für die Leidenden unserer Tage und imKampf gegen den schlimmsten Feind: die schiere Gleich­gültigkeit.Auf diesem Hintergrund und mit diesem politischen Zielliest Elie Wiesel seine eigene Tradition neu. TalmudischesErbe, so der Rabbiner und Freund Elie Wiesels, Albert H.Friedlander, finden wir deshalb injedem Buch und in denmeisten Gestalten. Es ist eine affektive Beziehung. "DerTalmud", sagt Elie Wiesel, "ist ein unvergeßlicher Gesang,der aus meiner Kindheit herübertönt." Im weiteren Sinnesind seine Erzählungen daher Midrasch, Auslegung; eineFortschreibung der Tradition in dem Bewußtsein, daßAuschwitz das Vertrauen in das Überlieferte nachhaltigerschüttert hat. Immer wieder betont Wiesel auch dieUnabgeschlossenheit seines eigenen Schreibens, diesich, wie wir sahen, schon in der Form des Erzählensausdrückt. In einem Interview (New York Times, 27. Mai1972) erklärte er: "Auf die wirklichen Fragen gibt es keineAntworten. Es gibt nur gute Fragen. Manchmal sind sieschmerzlich, manchmal in den Augen anderer zu über­schwenglich. Alles, was ich in meinem Leben gelernthabe, ist, Fragen zu stellen. Was immer ich mit Freundenzu teilen versuche, sind Fragen."Elie Wiesel ist aber noch mehr als ein Schriftsteller, mehrals ein unermüdlicher Kämpfer für die Menschenrechte.Er ist, und vielleicht das vor allem anderen, ein leiden­schaftlicher Lehrer. Martha Hauptmann, seit mehr als 18Jahren seine persönliche Assistentin an der BostonerUniversität, beschreibt seinen Einfluß auf junge Leute,die zu ihm kommen, um bei ihm zu lernen. Elie Wiesel istfür die meisten mehr als ein Dozent. Die Begegnung mitihm hat im Leben vieler Studenten einen tiefen Eindruckhinterlassen und beeinflußt ihr weiteres Leben. Dochauch über seinen unmittelbaren Wirkungsraum hinausist er Lehrer - ein Rebbe für das amerikanische Juden­tum, wie Joseph A. Kanofsky zeigt. Gemeint istdamit, daßElie Wiesel für viele amerikanische Juden und Jüdinneneine spirituelle (und tatsächliche) Autorität ist. Im Vorder­grund aber bleibt immer ein persönliches Lehrer-Schü­ler-Verhältnis. Wiesel bemerkte in einem Interview ausdem letzten Jahr: "Ich bin so leidenschaftlich beschäftigtmit Unterrichten und meinem eigenen Lernen und mit

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Dr. Anat Feinberg,Prof. Dr. Albert H. Friedlander,Prof. Dr. Nehemia Polen,Prof. Dr. Dorothee Sälle,Prof. Dr. A. Roy Eckardt,Priv.-Doz, Dr, Karl-JosefKuschel,LandesrabbmerJoelBerge~

Prof. Dr. Alan Rosen,Prof. Dr. Irving Abrahamson,Dr, Reinhold Boschki,Werner Schneider,Prof, Dr, Micha Brumlik,Dagmar Mensink

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meinen Studenten, daß ich gar nicht ohne leben könn­te." Dieses Engagement ist ein Ausdruck der Hoffnungund des Vertrauens in die nächste Generation - einGedanke, der auch seine Rede in der Landeskreditbank inStuttgart bestimmte. "Die jungen Menschen, die KinderDeutschlands, sind in einer sehr schweren Situation. Wirerinnern sie an Dinge, die sie zur Verzweiflung treibenmüssen. Aber ich will sie nicht dieser Verzweiflung auslie­fern. Ich will keinen Haß säen, im Gegenteil. Wir solltendiese Geschichte erzählen, um die Verzweiflung zu be­kämpfen." Und zum Schluß, direktan diejungen Leute imSaal gewandt: "Irgendwann werden auch Sie, meinelieben jungen Zuhörer, vor der Wahl stehen, ja oder neinzu sagen. Im Moment der Entscheidung, so glaube ich,werden Sie daran denken, was Sie von mir und anderengehört haben, und die richtige Entscheidung treffen."Schmerzlich, ja fast unerträglich, ist das Zeugnis ElieWiesels für Christen. Vielleicht ist es deshalb bezeich­nend, daß nur sehr wenige Theologen und Theologinnenin Deutschland das Werk Wiesels überhaupt als einesolche Anfrage wahrgenommen haben. Der Jude ElieWiesel formuliert die Herausforderung, die die Shoafür das Christentum darstellt, unmißverständlich: "Esschmerzt, es auszusprechen, aber es muß sein: Wenn dieOpfer ein Problem für die Juden darstellen, dann stellendie Mörder ein Problem für die Christen dar." Denn "dernachdenkliche Christ weiß, daß in Auschwitz nicht dasjüdische Volk gestorben ist, sondern das Christentum",Der evangelische Theologe Rolf Rendtorff folgert darauseinen wichtigen Aspekt der Botschaft Elie Wiesels an unsChristen nach Auschwitz: daß wir uns vorbehaltlos unse­rer eigenen christlichen Geschichte stellen müssen. Zudiesem Zweck die Literatur Elie Wiesels zu Rate zu ziehen,ist aber nicht frei von der Gefahr christlicher Vereinnah­mungo Dies zeigte derTheologe Karl-Josef Kuschel an derchristlichen Rezeption der wohl berühmtesten Szeneaus Wiesels Buch "Nacht", dem gehenkten Kind im Kon­zentrationslager von Auschwitz. Vor den Augen derLagerinsassen kämpft es seinen Todeskampf. Hinter Elie­zer fragt ein Mann: Wo ist Gott? Und Eliezer hört eineStimme in sich antworten: "Wo er ist? Dort, dort hängt eram Galgen." Dieser Satz des Juden Elie Wiesel "Dort hängter am Galgen" wurde als theologischer Satz interpretiertund diente dem christlichen Theologen zur Bestätigungdafür, daß auch ein jüdischer Zeitgenosse von der Lei-

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densfähigkeit Gottes reden kann. Diese Interpretationübersieht jedoch, daß Wiesel an dieser Stelle wederTheologie treiben noch gar eine Theologie des Kreuzesausdrücken will. Vielmehr ist die Frage Ausdruck derGottlosigkeit dieser Szene. Der Gott, der am Galgenhängt, ist dem teuflischen Tun des Menschen erlegen,dem Bösen ausgeliefert, verkörpert Tod und Ohnmacht,nicht Leben und Macht. Das Bild von einem Gott, der amGalgen hängt, ist eine Absage an Gott, die freilich Gott alsAdressaten dieser Absage noch braucht. Dieser Gott istein Gott, dessen Realpräsenz die Suppe in Leichnamverwandelt.Das Ereignis der Shoa bestimmt bis in die Grundlagenhinein die Theologie Dorothee Sölles und ihre Versuche,den christlichen Glauben neu zu formulieren. "MeinGrundgefühl ist", so Dorothee Sölle in Stuttgart, "daseiner unauslöschlichen Scham: zu diesem Volk zu gehö­ren, diese Sprache der KZ-Wächter zu sprechen, dieseLieder, die auch in der Hitlerjugend und im BDM gesun­gen wurden, zu singen. Diese Scham verjährt nicht .. ,Kollektive Scham ist das Minimum, das ein Volk mit einerGeschichte wie der deutschen braucht. Sie enthält zu­gleich ein vorwärtstreibendes, veränderndes Moment.Wie ein großerdeutscher Philosoph sagte, ist Scham eine,revolutionäre Tugend'." Sölles Schritt zu einer Theolo­gie, die sich ausdrücklich als eine Theologie nach Ausch­witz und im Bewußtsein von Auschwitz versteht, istbiographisch begründet. Er hänge zusammen mit demihr selbst lange nicht bewußten Gefühl, daß der liberaleProtestantismus und die deutsche Kultur ihres Eltern­hauses, wo man eher Goethe las als die Bibel, so hilflosgewesen waren und 1933 nicht verhindern konnten.Nach Auschwitz habe dadurch auch die Sprache dertheologischen Tradition ihre vermeintliche Unschuldverloren. Dorothee Sölle nennt drei Themen der christli­chen Theologie, die der Revision bedürfen, will das Chri­stentum nicht an der Shoa ersticken: Sünde, Christologieund besonders die Frage nach der Macht Gottes. Denndas Bild von dem himmlischen Souverän, der, allmächtigim Himmel thronend, Ereignisse wie die der Shoa ge­schehen läßt, sei ein fatales Zerrbild. In Wirklichkeit seiGott sehr klein gewesen in der Zeit, die 50 Jahre zurück­liegt. Wir aber sind verantwortlich für solche Gottesbilderpatriarchaler Omnipotenz und für ihre Folgen. DieseVerantwortung drückte Elie Wiesel in einem Gespäch mit

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Reinhold Boschki so aus: "Der großartige Gedanke inunserer, der jüdischen Tradition, ist, daß wir Menschenfüreinander verantwortlich sind. Wir sind es auch fürGott. Vielleicht hört sich das hochnäsig an, aber es ist esnicht. Es ist der Wille Gottes, daß wir für seine Schöpfungverantwortlich sind, für seine Geschöpfe und für denSchöpfer selbst." Die Aufgabe der Theologen und Theo­loginnen bestehtfür Dorothee Sölle demnach darin, eineTheologie zu entwickeln, die Verbindlichkeit ohne Exklu­sivität, Glauben ohne Herrschaftsanspruch, Hoffnungohne autoritären Zwang zu artikulieren vermag.Sich derGeschichte zu stellen, heißtferner, die unheilvol­len theologischen Verhältnisbestimmungen von Juden"tum und Christentum zu revidieren. Schon das jungeChristentum entwickelte eine regelrechte institutionelleund intellektuelle Enterbungsstrategie gegenüber Israel.Es verstand sich selbst als das neue Israel, als das neueJerusalem, als das eigentliche Volk Gottes. In der Ver­schwisterung mit der hellenistischen Tradition im Zugeder Theologiewerdung des Christentums sieht derTheo­loge Johann Baptist Metz zudem eine "Halbierung desGeistes des Christentums". "Man berief sich zwar auf dieGlaubenstraditionen Israels, den Geist aber holte mansich ausschließlich aus Athen oder genauer, aus denhellenistischen Traditionen. Also aus einem subjektlosenund geschichtsfernen Seins- und Identitätsdenken, fürdas Ideen allemal fundierender sind als Erinnerungen.""Das Christentum hat eine Geschichte, das Judentumlebt mit einem Gedächtnis." Das ist das Fazit jahrelangerForschung des Historikers Christoph Münz. "Wenn wirden Nationalsozialismus und die für ihn zutiefst charak­teristische Untat, den Holocaust, als Höhepunkt - oderpräziser: als Tiefpunkt - einer jahrtausendelangen, kon­tinuierlichen, stufenweise sich verschärfenden Entwick­lung und dynamischen Entfaltung des Antisemitismusansehen, und wenn wir bedenken, daß ein entscheiden­der Motor dabei die geschilderten, im Christentum wur­zelnden gedächtnis- und geschichtsfeindlichen Eigen­schaften christlich geprägter Kulturen sind, dann scheintes mir nicht übertrieben zu sagen, daß die Vernichtungdes europäischen Judentums, aus dieser Perspektivebetrachtet, auch ein Gedächtnismord, ein Mnemozid,war: der Versuch, das Gedächtnis der Welt in Gestalt desJudentums auszulöschen." Metz fragt, wo es in Europaeine Gegenkultur zu der um sich greifenden Zivilisation

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Vergessens geben könnte. Wo eine Kultur des Ein­A""rionvo,,,, zu finden ist, die den richtungslosen Turbu­

unserer Beschleunigungsgesellschaften humaneIrlol"tit;;t abringt. Er findet sie genau in den Reminiszen-

an den anamnetisch verfaßten jüdisch geprägtender zusammen mit dem Judentum ausgelöscht

IA/Ärrl'::'n sollte. Die Entwicklung einer anamnetischen, die ihr Vorbild in der jüdischen Erinnerungskultur

wäre also nötig, um angemessen wahrzunehmenauszusagen. Zur Ausbildung und Stützung einer

",..,I."hcm anamnetischen Kultur aber sei der BeistandLiteratur unerläßlich, die das geschichtliche Szena­mit den Augen seiner Opfer wahrzunehmen lehrt.

sieht Johann Baptist Metz den Ort des Werks von ElieOb fremdes Leid respektiert und zur Sprache

""d,r",~htwird, entscheidet letztlich darüber, ob ein ethi­Partikularismus überwunden werden kann, das"ob Europa eine blühende oder eine brennende

Landschaft sein wird. Ob eine Friedens­l"'nrlcr·h.,·Ft oder eine Landschaft eskalierender Bürger­

. Die Aufgabe des Christentums liege darin, diePerspElkti\/e eines ethischen Universalismus nach Ausch-

zu stützen und zu unterstützen, indem es sichals Anwalt einer leidensempfindlichen Moral ver­

- im Blick auf Jesus, dessen erste Sorge eben demder anderen galt. Theologie nach Auschwitz, wiesie zu formulieren versucht, ist daher vor alleman der idealistischen Verblüffungsfestigkeit der

lheolo1gie gegenüber der Katastrophe des Humanum.sie ist der Versuch, angesichts von Auschwitz auch

Christentum die sogenannte Theodizeefrage zu ent-jene Frage nach Gott angesichts der abgründi­

Leidensgeschichte seiner Welt. Ein erster Schritt aufWeg, so Metz, könnte darin liegen, die Sprache

Gebete wiederzuentdecken, die "nicht nur univer­sondern auch spannender und dramatischer, viel

rebelli~;chE~r und radikaler ist als die Sprache der Theolo­. "Vielleicht ist diese Sprache der Gebete ... die einzi­in der der Mensch noch als Mensch gestikuliert,

er den sekundären Sprachwelten unseres fort­geschrittensten Bewußtseins immer mehr abhandenkommt, nachdem er dort nur noch als nachträglichgereimtes, imaginäres Subjekt von Zeichen und Codie­rungssystemen und eines Tages nur noch als Zahl vor­kommen wird."

Die theoretische Reflexion über die Bedingungen eineranamnetischen Kultur erspart nicht die Klärung, wie impolitischen Alltag unserer Gesellschaft eine angemesse­ne Erinnerung an den Nationalsozialismus statthabenkann. Nein, richtig verstanden, steht sie ganz oben aufdie Liste der politischen Tagesordnung. Doch konkreteFormen der Erinnerung fallen gerade im Täterland sehrschwer. Diese Tatsache verdeutlichte der Leiter der Ge­denkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, anhand derGeschichte des Ortes. Die Lagergeschichte ist mit demJahre '45 noch nicht zu Ende, denn von August 1945 bisin das Jahr 1950 diente Buchenwald wiederum als Inter­nierungslager für politische Häftlinge. Auf Druck einigerVerantwortlicher der sowjetischen MilitäradministrationThüringens wurde 1950 die Konzeption durchgesetzt,Buchenwald in ein Nationalmuseum zu verwandeln ­nach dem Vorbild in den sozialistischen Bruderländern,wie dies bereits mit dem Stammlager von Auschwitzgeschehen war. In einem ersten Schritt wurden fast allehistorischen Sachzeugen beseitigt. Das ist nicht nurkennzeichnend für Buchenwald, sondern ist ganz ähn­lich auch in Dachau geschehen, so daß Knigge darausfolgert, daß im Täterland "Minimierung der historischenReliquien, der historischen Sachzeugen, und Maximie­rung historischer Sinnbildung" Hand in Hand gehen. Inden "Opferländern", beispielsweise in Polen, verläuft dieEntwicklung genau umgekehrt. Dort stellte man, soKnigge, alles unter Denkmalschutz. Was hierzulande"minimiert wird und neutralisiert, sind die historischenSachzeugen in ihrer doppelten Funktion: einmal als cor­pus delicti, als Beweis des Verbrechens, und dann auch,aus der Perspektive der Häftlingserinnerung, in ihrerFunktion als Reliquie, stellvertretendes Grabdenkmal zusein". In Deutschland Gedenkstätten zu bauen, hieß alsozunächst, "die eigenen Geschichtsgewißheiten wieder inKraft zu setzen, anstatt sie durch das Verbrechen infragestellen zu lassen". Deshalb gab es keine Gedenkstätte inDeutschland, in der der Täterbereich überhaupt eineRolle spielte. Hier setzen die Überlegungen für Buchen­waid heute an. So wird der Täterbereich ausgegraben,um zu zeigen, "daß Konzentrations- und Vernichtungs­lager keine Inseln des Bösen waren, die vom Himmelfielen, sondern von Menschen gewollt worden sind, vonMenschen, die sich entschieden haben, an diesen Ortenso zu handeln, wie sie gehandelt haben". Das problem

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der pädagogischen Arbeit besteht darin, lernen zu müs­sen, Sinnlosigkeit auszuhalten, ohne dabei selbst un­menschlich oder zynisch zu werden. Diese Arbeit ist eineGratwanderung.Welchen Beitrag kann nun konkret die Literatur ElieWiesels für eine "Kultur der Erinnerung" in Deutschlandleisten? Diese Frage bildete den kontroversen Schluß­punkt des Symposiums. John K. Roth, Professor fürPhilosophie in den USA, hatte in seinem Vortrag beimSymposium unter dem Titel "The Shadow of Birkenau"einige grundsätzliche Überlegungen angestellt, indemer fragte, wo heute überhaupt Einflußnahme und Mei­nungsbildung stattfinden. Seine Antwort: In Amerika, alseiner "Nation ofTalkers", am ehesten im Fernsehen (unddas gilt mutatis mutandis sicher auch für Deutschland).Und so analysiert er zur Beantwortung dieser Frage dasGespräch Elie Wiesels mit einer der bekanntesten ameri­kanischen Talkmasterinnen. Darin werde deutlich, wei­che Bedeutung der Persönlichkeit dessen zukomme, derüber das Thema spricht. Das Gespräch habe sich zu einerechten Begegnung entwickelt, und das sei den Zuschau­ern auch spürbar gewesen. Es sei deshalb ein Beispieldafür gewesen, daß man sehr wohl über religiöse undethische Dinge öffentlich angemessen reden könne(und müsse), und dafür, wie der öffentliche Diskurs überReligion sensibler und menschlicher gestaltet werdenkönnte. Auf der Sachebene sei bezüglich der öffentli­chen Verhandlung des Holocaust dreierlei deutlich ge­worden: Erstens verlange der Holocaust nach Nachfrageund Wissen über ihn, während er seinerseits alles infragestelle. Traditionelle Ideen und akzeptierte Werte, philo­sophische Systeme und soziale Theorien, alles müsse imSchatten von Birkenau einer kritischen Relektüre unter­zogen werden. Zweitens: Die Frage bleibt eine Frage. Sieendgültig abzuschließen, hieße unter Umständen ideo­logische Verhärtung. Hitler und seine Nazischergen wuß­tenja, daß sie "recht hatten", und gerade diese Sicherheitmachte sie zu Mördern. Zum dritten dränge die Unab­schließbarkeit der Beschäftigung mit dem Holocaust zurKlärung dessen, was der nächste Schritt zur Vermeidungvon Barbarei sein kann. So verstanden, trägt der Dialog,sogar wenn er in einer Talkshow stattfindet, gerade nichtzur Entscheidungslosigkeit, zum endlosen Prolongierendes Gesprächs beL sondern führt zu einer informiertenUrteilsfähigkeit und zu konkretem Handeln.

Skeptischer als John K. Roth sieht Micha Brumlik, wiehierzulande Elie Wiesel und sein Werk rezipiert werden."Elie Wiesel ist die zweifelhafte Ehre widerfahren, zueiner - wie man das so nennt - moralischen Autorität zuwerden, zu jemandem, der als Mischung aus MartinBuber und Ephraim Kishon Trost. Zuspruch, höhere Be­deutung und einen Hauch von Versöhnung zu vermit­teln scheint", erklärt er provozierend. Brumlik fürchtet,daß Wiesels Bücher, die er als "eine der düstersten, ammeisten antinomischen, unendlich traurigen Zeugnisseliterarischen Schaffens" interpretiert, dadurch "einemvolksbildnerischen Zusammenhang assimiliert" werden,in den sie seiner Intention und vor allem ihrem objektivenGehalt nach nicht gehören. Als eine "Erziehung nachAuschwitz" habe sich vor allem eine solche erwiesen, dieAuschwitz unmittelbarzum Thema hat. Sie stehtvor dengleichen Problemen wie eine Wissenschaft oder Kunstnach Auschwitz. Deshalb wird auch sie nicht nur dashistorische Ereignis aufarbeiten und darstellen, sondernzugleich den Versuch unternehmen müssen, im Geden­ken zu unterweisen. Dieses Gedenken dürfe aber nichtals ein Problem individueller Erschütterung verstandenwerden, sondern es ist eine Frage von politischer Bildungund der Entwicklung einer symbolischen Liturgie desGedenkens. Unter Liturgie versteht Brumlik dabei jeneRituale, deren Zweck die Bewahrung gesellschaftlich fürbedeutsam gehaltener vergangener Ereignisse im kol­lektiven Gedächtnis ist. Mehr als ein solches Eingeden­ken, das den Blick nicht in die Zukunft. sondern in dieVergangenheit lenkt. könne Erziehung nach Auschwitznicht tun. Aber das ist so wenig nicht. soll Auschwitz nichtzu einer beliebigen Metapher für alle möglichen Konflik­te dieser Gesellschaft verharmlost werden, die in derZukunft zu vermeiden seien. Der Besuch einer Gedenk­stätte und das Gespräch mit Zeitzeugen hätten demnachzunächst keinen anderen Zweck, als in Erfahrung zubringen, wie es dort gewesen ist und wie für die Opferdes historischen Unrechts Zeugnis abgelegt werdenkann. Im Werk Wiesels sieht Brumlik zwar ein hervorra­gendes Medium für die Kristallisierung humaner Haltun­gen in dieser Gesellschaft und einen idealen Katalysatorfür eine Auseinandersetzung mit der Massenvernich­tung. Trotzdem warnt er davor, den Gehalt seiner Werkediesem Zweck einfach unterzuordnen und ihn damit zuverharmlosen. Die Ausführungen Brumliks waren getra-

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gen von der Warnung, Erinnerungskultur zu einem Ent­lastungsbegriff zu machen, indem durch den globalenHinweis auf eine menschenwürdigere Zukunft die ganzspezifische Erinnerung an die Shoah in den Hintergrundtritt. Dieser Gefahr, seinem Holocaust-Zeugnis den sta­chel zu nehmen, immer wieder zu wehren, so das Fazitder meisten Symposiumsteilnehmer, gelingt am besten,indem man die Texte Wiesels, insbesondere sein Haupt­werk "Nacht", für sich selbst sprechen läßt. Vorausge­setzt ist freilich eine Haltung, die Ruth Klüger ihrenLeserinnen im Blick auf ihre eigenen Lebenserinnerun­gen zuruft: "Laßt Euch doch mindestens reizen, ver­schanzt Euch nicht. sagt nicht von vornherein, das geheEuch nichts an ... Werdet streittüchtig, sucht die Ausein­andersetzung!"

DieVerahstaItUn9 wurde unterstützt

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Auszug aus der Rede VOll Elie Wieselam 9. Mai 1995 in Stuttgart

Liebe Freunde, ich bin hierhergekommen, um zu­zuhören. Ich bin in erster Linie ein guter Zuhörer.Und ich lehre meine Studenten das Zuhören, indemich ihnen ein Beispiel gebe. (... ) Die Themen, diemeine Freunde undIhre Freunde gestern und heutediskutiert haben, sind von überaus großer Wichtig­keit. Und ich bin der Meinung, sie handeln vondem 'Nichtigsten Ereignis in der Geschichte über­haupt ~ in meiner Religion würde ich sagen, deml'vichtigsten Ereignis nach der Gabe des Sinai­Gebotes. (... ) Alles an diesem Thema ist sehr kom­plex, sehr schmerzlich. Wie kann ich als Jude nachDeutschland kommen? Wie kann ich zu Deutschensprechen? Wie kann ich als Jude glm~ben, daß esnötig ist, daß Juden und Christen für eine bessereZukunft zusammenarbeiten? Wie kann ich als Judeleben und anderen helfen, das Böse und das Un­glück zu übelwinden?Die Frage bleibt eine Frage. Doch ich glaube, dieAntwortmuß immer eine bejahende sein: Ja, ich alsJude nn(/3 kommen, ich 11n(/3 auch zu Leuten spre­chen, die Nichtjuden sind, ich 11n(/3 mit ihnen meineElfahrungen, Gedanken, meine Arbeit, meinSchweigen und den Drang nach Verständnis teilen- und zwar mit so vielen Menschen wie möglich,jungen und alten, Männern und Frauen, inDeutschland und anderswo. Ich 11U(/3 es, und wennich es nicht täte, würde ich eine Sünde begehen. Inmeiner Tradition glauben wir, daß es eine Sündegegen Gott und die Menschheit ist, eine Nachricht,eine Lehre (learning message) zu empfangen undsie für sich zu behalten. (. .. )

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Ich möchte Ihnen eine vvunderbare und wahreGeschichte erzählen, die von Martin Buber han­delt. Martin Buber nahm an einemjüdisch-christ­lichen Dialog teil, an dem viele Juden und nochmehr Christen beteiligt waren. Als er an der Reihewar zu sprechen, sagte er: "Meine Damen undHerren, wir haben vieles gemeinsam. Wir wartenauf den Messias. Sie sind der Meinung, daß erbereits da war und wieder gegangen ist und nocheinmal zurückkehren wird, ich bin der Meinung,daß er noch nicht da war und kommen wird. Ichmache Ihnen einen Vorschlag. Lassen Sie uns ge­meinsam warten." Und dann fuhr Buber fort:"Wenn er kommt, dann können wir ilmfragen, ober schon einmal da war. Aber ich werde dannversuchen, ihm ganz nah zu sein und ihm zuzuflü­stern: Geben Sie keine Antwort!"Warten wir also gemeinsam. Aber wir wollen nichtpassiv bleiben. In meiner Tradition heißt es, daßdas Kommen des Messias vom Handeln der Men­schen abhängt. Ich und jeder von uns kann mitseinem Verhalten den Messias herbeibringen.Wenn wir uns menschlich verhalten, kann dasbedeuten, daß sich der Messias mit seinem Kom­men beeilt. Wenn wir gemeinsam warten, solltenwir miteinander sprechen, uns gegenseitig zulä­cheln. Wir sollten gemeinsam weinen, manchmalstill. Gibt es Gründe zu weinen? Es gibt Gründe.Aber es gibt auch sehr viele Gründe für die Men­schen heute und für die Menschen morgen, so zuarbeiten, daß das Weinen nicht mehr nötig seinwird. (. .. )Meine Mutter liebte die deutsche Literatur. Sie wareine Chassida, eine religiöse Frau. Von Zeit zu Zeitlas sie mir Stücke und Gedichte vor. Ich liebte diese

Stücke und verstand sie, da ichjiddisch sprach, undwerjiddisch spricht,jiddisch versteht, versteht zumgroßen Teil auch deutsch. Meine Mutter ~war sehroptimistisch. So optimistisch, daß sie 43 und An­fang 44 noch nicht glauben konnte, daß etwasderartig Schreckliches jemals durch Deutsche ge­schehen könnte. Sie war davon überzeugt, daß dieDeutschen mit ihrem kulturellen Erbe niemals soetwas gegen die Juden tun könnten. Ich sage dasganz im Ernst. Sie sind ein großes Kulturvolk. AberIhre Kultur hat dem Bösen nicht widerstanden, alsdas Böse die Macht hatte. Das schmerzt mich, dasschmerzt Sie, und unsere jungen Freunde schmerztdas ebenso. Es ist aber ein gesunder Schmerz, denwir nicht versuchen sollten, abzustreifen. LernenSie, eine Kultur anzunehmen und dann in ein In­strument der Menschlichkeit zu verwandeln. Ler­nen Sie, was ich gelernt habe. Die Kultur allein istnicht genug, die Menschlichkeit, sie ist bedeutend.Der andere dmfuns nicht der Ausländer oder derFeind sein. Wenn Sie mich ansehen, dann sehen Siehoffentlich in mir einen guten Lehrer. Aber sehenSie bitte in mir auch einen Mann, der Ihr Freundsein kann und möchte.Ich komme nach Deutschland ganz und garfrei vonGefühlen des Hasses. Denn mit all meiner Kraftlehne ich Haß ab. Ich komme mit dem Gefühl derFreundschaft. Ich möchte, daß Sie lernen, daß mansich an die Geschichte erinnern muß, aber nicht,um böse Gedanken hervorzurufen. Man muß sicherinnern, um eine bessere Zukunftfür Ihr Volk undfür alle Völker zu schaffen. Denn diese Welt wirdzunehmend kleiner. (. .. )Wir müssen auch an die Verantwortung füreinan­der glauben, mystisch gesprochen, an die Verant-

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wortung für Gott. Und damit sind wir bei derunlösbaren Frage, bei der Frage nach Gott. (... )Ich bin nicht der Polizist Gottes. Und wenn jemandsagt, ich kann wegen Auschwitz nicht mehr glau­ben, dann ist auch das eine religiöse Aussage. Ichselbstprotestiere mehr. Ich protestiere auch gegenGott (... ) Gott bleibt für mich der Gott unsererVäter Abrahams, Isaaks und Jakobs. Ich liebe es,zu beten und zu lernen. Ich habe die Bibel gelesen,die Kommentare, und ich glaube, daß es sehr viel inder Bibel gibt, was für unsere heutige Zeit wichtigist.Adam und Eva hatten zwei Söhne: Kain und Abel.Zwei junge Menschen aufdieser großen Welt, nurzwei Menschen, und doch wurde der eine zumMörder und der andere zum Opfer. Man könntefragen, warum die erste Familiengeschichte in derGeschichte überhaupt so deprimierend endet. Sollsie uns einen Rat geben, nicht zu heiraten, keineKinder zu bekommen, weil es damit Probleme gibt?Oder soll man sichfragen, wo die Eltern waren, alsdie Söhne miteinander kämpften? Warum kamnicht der Vater und sagte: Hört auf zu kämpfen,stopf Stattdessen hat der Bruderzwist dazu geführt,daß der eine den anderen tötete und damit seinenBruder tötete. Und jeder, der tötet, tötet einenBruder.Wir alle durchleben große Turbulenzen der Ge­schichte, eine Zeit des Aufruhrs, in positiver undnegativer Hinsicht. Das Negative ist der Haß, dersich aufder ganzen Welt manifestiert. Ich halte ihnfür etwas wie den fall-out der Zeit von 1939 bis1945. Und wir erleben die Gewalt, die gewaltigeVersuchung, die in ihr liegt, und die Faszinationdes Todes, die ebenfalls nicht neu ist, sondern am

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fall-out von 1939 bis 45 betrachtet werden kann.Was können wir hier tun? Wir können uns, wirmüssen uns selbst erziehen, gegen Gewalt einzutre­ten und gegen Fanatismus, der die größte Bedro­hung für das 21. Jahrhundert darstellt. Stellen Siesich Fanatismus in Kombination mit Macht vor,mit Atommacht, und was das für die Menschen mitsich bringen kann. Es kann aber auch Positivesgeben. Die menschlichen Wunder. (. .. ) Was heißtdas jetzt für uns? Es heißt, daß wir die Verantwor­tung in unserer Hand haben. Es gibt Momente, daSie eine Entscheidung treffen müssen, ja oder neinzu etwas Gutem oder etwas Bösem zu sagen. Undich als Lehrer, ich als Lernender und als Autorhoffe, daß Sie in dem Moment, in dem Sie einesolche Wahl treffen müssen, im Moment der Ent­scheidung, an das denken, was Sie heute und ge­stern von mir und anderen gehört haben, daß Sie andie Bücher denken, die wir und andere gelesenhaben, und daß Sie eine gute Entscheidung treffenwerden. Was Sie dann tun, tun Sie in meinem und inunserem Namen. Rechtfertigen Sie das große Ver­trauen und die Hoffnung, die so viele von uns in Siesetzen, in Ihre Hände und in Ihre Herzen legen!

(nicht autorisierte Fassung nach der Simultan­Übersetzung von Werner Töpperwien)

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